Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Wie Mathilde mit der Schwester lebt

Mathildes Leben hatte jetzt eine sonderbare Aufgabe. Die junge Schwester war unversehens gekommen. Nun war es Mathilde recht, daß sie sie bei sich hatte und für sie sorgen mußte. Sie gingen zusammen in die Fabrik, wo ihr Mathilde gleich eine Stelle verschafft hatte. Wenn sie so nebeneinander, Mathilde wie immer streng und schnell, und die Schwester in kleineren Schritten und zum Umsehen geneigt, ins Fabriktor schritten, sah man es, daß sie zusammengehörten. Marta war ein kleines, pfiffiges Mädel, die zu Mathilde immer ein gelehriges Gesicht machte und hinter'm Rücken an die Freiheit dachte und überlegte, wie sie zu Abenteuern käme. Es war nicht leicht, sie in der Obhut zu haben. Sie war auch faul. Auch eine ganz andere wie Mathilde gewesen. Im Grunde war sie gar nicht schüchtern, trotz ihrer jungen Jahre. Und daß sie eine Schwester am Ort fand, die ihr die Wege bahnte, machte sie schnell sicher. Sie war schon mit ganz anderen Gefühlen in die Stadt gekommen, gar nicht sie eigentlich. Es war der alten Heintken Wunsch gewesen, sie müßte ein ordentliches Leben führen, weil in der Zeit oben in den Bergen eine Eisenbahn gebaut wurde, und die jungen Kroaten, die bauten, hübsche, braune Kerls mit großen Kindsaugen und roten Käppis und mit ledergestickten Wämsern und Hosen, die Sonntags singend um ihre Suppenkessel im Freien lagen und in den Wäldern streiften, nach den Ortsmädeln aussahen, zumal wenn eine in die Ausländer toll war, wie die Junge. So war Marta in die Stadt gekommen und wäre im Grunde viel lieber daheim geblieben im Gemeindehause, das die Kleine nicht gestört hatte, und im freien, verwahrlosten Leben gleich in der Jugend. Jetzt hatte sie eine Strenge neben sich. Mathilde war wie eine gute Mutter zuerst. Wie sie es merkte, daß Marta nach jedem jungen Kerl aussah und nicht an sich hielt, mahnte sie. »Nee, Mädel,« sagte sie im Gebirgston, »mach d'r ock nee 's Leben schwer.«

Und Marta ging und hörte es sich an, weil sie vor niemand sonst, aber vor Mathilde doch Achtung empfand. Marta war ein zartes Mädchen, sie war blaß und kaum jungfräulich. Ihr Körperchen noch schlank, und ihr Auge hatte etwas Trauriges und Weiches. Wenn sie Mathilde ansah, schwankte und irrlichterierte es hin und her und sah ins Weite. Aber es kam eine verborgene Lust manchmal, daß es über alles fortsah so in Neugier und so kühl, so flüchtig es versinken konnte und traurig sein.

»Bleib du derheeme und spar dir was und tu deine Arbeit! – wie viele, die untergihn, weil se ni an sich ha'ln, wenn se die Feierabende für sich ha'n«, sagte Mathilde, wenn sie nach getaner Arbeit in ihr gemeinsames Stübel kamen, und die Große sich in Ordnung brachte, wusch und ihre stillere Arbeit begann.

Und Marta sah sie an und tat in der ersten Zeit gelehrig. Dann kamen Sommerabende, wo sie andere abholten und sie mitlief – und wo sie spät heimkam, elend und frech schien – und ewig am Morgen nicht zu erwecken war.

»Stih uf, Martel«, sagte Mathilde, die, wie gewohnt, von selbst pünktlich erwacht war, wenn sie längst in ihren Röcken stand und vor der Waschschüssel am Spiegel ihre schweren Blondhaare aufband, die Arme hoch in die Luft gereckt und den Kamm zwischen den Zähnen. »Stih uf!« rief sie – und dann begann sie, sie zu mahnen: »Warum kimmst du a su spät heem?« und sie machte ein mürrisches, auch noch müdes, verschlafenes Gesicht, sah unfreundlich und spröde aus, wenn ein Sonnenstrahl über sie kam und die glatten Wasserlocken an der Stirn und das eben gewaschene, glänzende Gesicht traf.

»Wu warst de denn wieder de halbe Nacht?« Marta gab gar keine Antwort.

»Du mußt raus, nu mußt de raus!« rief Mathilde im engen Stubenschlitz, wo die Betten neben einander standen. »Ich gih suhste alleene«, und sie schüttelte die Junge, die ohne Hemd, leichtsinnig wie im Gemeindehaus, im Bette lag, und tief verschlafen und blaß sich nun im Morgenstrahl aufrichtete, jugendlich unbeholfen fast, so völlig schlafbenommen, herausstieg, schlank und nackt und lange dastand – und nichts tat, nur immer mit halb offenen Augen ins Bett starrte, daß sie Mathilde mit Wasser plötzlich lachend besprengte, weil es ihr zu arg war und die Bewußtlosigkeit ihr Lust machte.

»Du sullst mich lo'n!« sagte Marta nun wütend und griff ins Bett und suchte ihren Hemdlumpen und sagte lange gar nichts, sah nur dann und wann zur Großen hin und war mürrisch den ganzen Weg, wenn sie endlich auf der Straße waren, und Mathilde neben ihr redete:

»Nee, um Himmelswillen, Mädel, wie sihst de ock aus?« worauf sie gar keine Antwort erhielt. – Bis dann am Abend nach der Arbeit Marta freundlich schien, gutmütig mit der Schwester heimschritt, und einige Abende nun kamen, wo sie gemeinsam an das Wasser gingen und auch in den Promenaden still mit einander unter blühenden Kastanien oder Linden spazierten, den Duft einsogen und die Feierstunde fühlten, nicht viel sprachen, die Große die Ruhe empfand, und daß es Frühling war – und die Kleine sich heimlich nach jedem Mannsbilde umsah, das ihren Blick nur irgend zu suchen schien: Die Kleine frisch und leicht – die weder an Sommer noch Winter dachte; – nicht dachte, daß Blüten eben in der Abendluft dufteten – die im Grunde launig und lustig und eine echte Tochter der Heintken war, bereit und sinnlos toll, sich wegzuwerfen, wo ein flüchtige Gelegenheit sich darbot. Mathilde wußte es gar nicht so, sie ahnte es kaum. Sie war dann gutmütig und liebte die Kleine.

Dann hielt sie sie fest am Arm. Dann legte sie ihren festen Arm in den der Kleinen. Dann konnte die Kleine schon aus Achtung nicht entweichen. Dann versuchte Mathilde zu sprechen und sprach Dinge, über die Marta einfach lachen mußte. Hohe Dinge, wie vergänglich alles wäre – auch der Frühling – und wie geplagt die Kreatur wäre, und daß jeder sehen müßte, sich in einer Welt zurechtzufinden, die voll Blüten wäre, und die doch voller Räuber und Feinde starrte, die jeden Augenblick aus allen Ecken, aus jeder Schönheit, aus jeder Knospe, aus jedem Strahle hervorbrechen könnten. »Überall wäre Glück und Leid verborgen in einem Schein« – sagte sie – so hatte es ihr einmal Dominick gesagt. Sie wußte Wort für Wort, und es kam natürlich heraus aus ihr. Aber Marta lachte sie aus. Für sie war das keine Sprache. Sie hörte gar nicht. Sie sah, daß einige junge Männer an ihr vorüberschritten und sie pfiffig ansahen, einige aus der Fabrik – daß sie sie pfiffig ansahen und an ihr heruntersahen, verlockend und deutlich ihre ganze Gestalt maßen, so daß ein Vergnügen in der Kleinen Blick aufwachte und sie noch einmal Mathilde auslachte und gar nichts sagte, sich nur dann, wie zufällig umdrehte, um denen noch einen Wunschblick nachzusenden.

An einem solchen Abend, wie sie unter einer duftenden Kastanie auf einer Promenadenbank stumm saßen und nieder auf den Fluß, der breit spiegelte und einen Nachthimmel in seiner Tiefe hielt, und dann hinüber in die seltenen, hoch gemauerten Gärten der alten Dompriester sahen, die mit ungeheurem Baumschatten tief in den Wassergrund zu tauchen schienen am jenseitigen Ufer – da trat Simoneit zu ihnen.

»Nu, Mathilde –«, sagte er ganz arglos.

Alles, was passiert war, lag längst vergessen. Er war ein ruhigerer Mann geworden – Simoneit. Er hatte auch sein Mütchen gekühlt, und jetzt kam er einsam und genoß, die Pfeife im Munde, den Abend hier.

»'s is schön hier,« sagte Mathilde, »ich seh die Wasserlichter gerne, und wenn die Dampfer herkommen – mit den bunten Laternen –«

»Ich werd' mich au' wing setzen«, sagte er, wie er Platz nahm. Und sie saßen eine Weile stumm und sahen hinaus auf den Fluß, wo ein Dampfer heranstampfte, und näher und näher zog, endlich mit einem grellen Glockensignal die Nacht belebend.

»Das is wohl an kleene Schwester?« sagte er und besah mit ganzer Ruhe die Junge, die neben ihr saß.

»An Stiefschwester«, sagte Mathilde gleichgültig.

»Aber sie sieht d'r ähnlich – nich so sicher und stark is se, wie du warst – damals.«

Mathilde ärgerte es, daß er sie an damals erinnern mochte, und es gingen ihr einige undeutbare Gefühle durch den Sinn, sie mußte an Saleck denken und an den Kampf der Beiden, und sie mußte sogar lachen über das Leben und über sich, wie sie jetzt so friedlich saßen; – er die Dampfwolken aushauchend, daß man dann und wann den Feuerfunken seiner Pfeife im Dämmer sah, nur dann und wann ein Wort sprechend und in Gedanken versunken. – Und Marta prüfte die Beiden und wußte nicht, ob sie ein Einvernehmen verbände. Sie dachte es fast, so sanft und zutraulich war der Ton – ob Mathilde gleich kühl und sicher dann aufstand und sie am Arme mitzog.

»Warum wollt 'r denn schon gihn?« fragte Simoneit, fast unzufrieden.

»'s ist Zeit«, meinte Mathilde.

»Jeses, an Viertelstunde noch«, sagte Simoneit.

»Warum willste denn schon gihn?« sagte jetzt auch die Kleine.

»'s is uf Elfe zu, morne is au' Tag«, sagte Mathilde wie ablenkend und harmlos. »Du kannst so wie so ni aus 'm Bette«, sagte sie zur Schwester.

»Ach nee,« sagte die Junge, »ich war schun können.«

Aber Simoneit hatte sich auch erhoben und ging, vor sich hinrauchend, mit. Sie sprachen gar nicht, wie sie unter den Bäumen im Dunkeln schritten und kamen dann in die Straße hinein, wo unten die Mühle lag. Simoneit blieb am Hause stehen, und Mathilde wollte mit der Kleinen hinauf. Man sah es ihm an, daß er etwas hatte. Er paffte heftig und sah beide an. »Luß ock die Kleene alleene nuff gihn«, sagte er unwillig.

»Ach, zu was ock?« sagte Mathilde. »Was mir Zwee zusammen han, kann jedes hörn – «

»Bist de immer noch biese uf mich?« fragte Simoneit, phlegmatisch rauchend.

»Warum nee gar«, lachte Mathilde jäh. »Die Zeiten sein vorüber«, rief sie und wunderte sich.

»Gib mir wenigstens de Hand, Mathilde«, sagte er gutmütig und reichte ihr seine Hand hin.

»Nu, wenn d'r das gelegen is, die kannste ha'n«, sagte sie lachend und heimlich halb verlegen und versonnen, wie sie sie ihm reichte. Aber dann verschwanden beide rasch ins Haus – daß Simoneit noch ewig unten stand – und Schritt um Schritt endlich sinnend heimging – die Mädchen oben in der Halbdunkelheit ohne Licht ins Bett krochen, und Mathilde lange lag, an tausend Sachen dachte und weinte – ohne sich aufzuhalten bei Gedanken, nur so unbestimmt aus dem Lebensgrunde und nach etwas, was sie geahnt hatte, wie sie mit Dominick gut, und was längst versunken war.


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