Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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37

Dominicks Ende

Mathilde war außer sich. Es war im November. Dominick war nicht zu finden. Er war eine Woche nicht heimgekommen, und nur einmal wollte ihn jemand mit einer Blondine am Arm gesehen haben.

»O Gott«, Mathilde war zerwühlt bis zum Grunde. Am Sonntag hatte sie ihn überall gesucht und nicht gefunden. Auch nicht in der Weiberkneipe, nirgends. Es war eine sinnlose Unruhe, die sie Tag und Nacht erfüllte. Einen ganzen Tag lang hatte sie versäumt in der Fabrik, Krankheit angegeben. Und dann am Montag endlich war er wiedergekommen. Nein – nicht gekommen – wie ein Mensch kommt frei und kühn, nicht wie er sonst kam, auch nur versonnen – schleichend an Mathildes Tür vorüber, und gedemütigt zum Erschrecken. Und wie Mathilde ins Zimmer kam am Morgen, lag er auf seinem Sopha zusammengekrochen in sich, er hatte sich nicht einmal zugedeckt. »Max,« rief sie, »Gott, Max«, und sie holte eine Decke und hüllte ihn ein. Da erwachte er, und er erwachte gleich, sprang auf seine Füße und sagte hart: »Pfui – gehen Sie – gehen Sie weg – Mathilde – ich kann es nicht ertragen. Ich kann Ihr Mitleid nicht ertragen. – Zum Teufel! Gehen Sie! «

Mathilde blieb stehen und sah ihn an. »Raffen Sie sich doch auf«, sagte sie plötzlich hart, als wenn jetzt alles darauf ankäme, ihn zu sich zu bringen, und kein Mittel zu schlecht wäre, um ihn zu erheben. »Raffen Sie sich, Sie leben ja noch«, sagte sie fast höhnisch.

Das traf ihn augenblicklich, daß er sie fast wie geschlagen ansah und sich zur Erwiderung aufrichtete.

»Was is denn? wo warst du denn um Gotteswillen, Max? ach, ich habe dich gesucht und gesucht – und ich fand nichts. Kummer und Elend scheint mich zu treffen«, begann sie zu weinen.

Dominick sah sie erstaunt an. Er wußte nicht, er sah sie flehend vor sich und wußte nicht, warum sie sich kindlich niederbeugte, seine Hand preßte und bitter und hoffnungslos weinte. Er sah sie an und sein Gram wich, als wenn es im Zimmer ganz hell würde. Es war früh am Morgen, und nur das Morgengrau kam herein. Aber gleich danach an sich herabblickend: »Mein Gott, gehe doch – gehe doch – es hat ja keinen Zweck – laß mich verkommen!« sagte er sogleich gelassen. »Ich bin nichts wert. Ich habe mein Leben weggeworfen, es ist nicht zu retten«, sagte er. »Nun ist's aus –!«

»Nein,« sagte sie – »du, der du vor mir stehst, besinn' dich doch auf dich.«

»Hier am Orte kann ich nicht bleiben, ich muß fort.«

»Wohin?« sagte Mathilde.

»Heim, zu meinen Eltern, und ich will ihnen alles sagen und vorstellen – ich will vielleicht eine Schreiberstelle auf dem Gute nehmen. Hahaha, ein Schreiber weißt du –«

»So gehe bald«, und sie sah ihn mit Trost an, weil er vernünftig sprach.

»Gehe bald«, sagte sie noch einmal. »Gehe heute

noch – gehe! – «

»Ja, heute noch« – sagte er tonlos. Es war noch dunkel in der Stube, obgleich die Vorhänge nicht geschlossen waren, und wie bleiern lag es in der Luft. Mathilde mußte in die Fabrik.

»Ich gehe denselben Weg wie du«, sagte Dominick, und suchte seinen Hut, der im Sopha zusammengedrückt lag.

»Hast du denn gegessen?«

»Nein nein nein – nichts – « sagte er ganz versunken. »Nichts – ich will auch nichts – ich brauche auch nichts.« Und dann sah er sie an, und eine Träne nach der andern rann aus seinen Augen, daß Mathilde nicht wußte, was vorging. Und stumm stand sie und er.

»Du warst eine Gute,« sagte er – »du wolltest immer alles gut machen«, aber weil ihn die Tränen leise erstickten, und er es nicht zeigen wollte, drückte er nur ihre Hand in sinnloser Kraft, daß sie Schmerz fühlte, und dann ließ er sie los, wie ihm plötzlich das Stübel heller schien. Er blickte sich wie gleichgültig noch einmal um.

»Wir gehen noch eine Weile zusammen. Mein Weg führt über die Dörfer. Ich muß an der Fabrik vorbei. O du,« sagte er plötzlich, »vergiß nur nicht, daß ich zu verachten bin, ob ich nun geboren oder gestorben bin.«

»Nein – du wirst noch einmal klar und frei sein, wie dein Wesen im Grunde.«

Mathilde sagte es und wußte nicht, wer es in ihr sprach. Aber sie sagte es, daß es die Stunde verklärte, und Dominick sie strahlend ansah wie ein Kind, das man bekränzt. Aber dann ging er gebeugt neben ihr. Und sie reichten sich am Tor die Hände wie Freunde. Und er schritt in den Wintermorgen, der kalt, aber schneelos war hinein, während sie an die Arbeit ging, ein oft stockender, junger, müder Mensch, der ein Bündel nicht hatte, nur ein paar Papierfetzen, die er peinlich in der Tasche trug, und die er seinem Schube rasch entnommen hatte, wie er noch einmal zurücklief vor seinem Gange. –

Mathilde konnte Trauergefühle nicht los werden. Sie war den ganzen Tag – und dann Tag und Nacht immer wieder erfüllt von Trauergefühlen. Sie sah hundertmal auf, als wenn ein Hilferuf käme, der wie aus Dominicks Munde klang. Geld hatte sie ihm auch ihr letztes mitgegeben. Wenig. Hundertmal aus dem Lärm in der Fabrik, oder dem Lärm der Straße schoß es in diesen Tagen ihr zusammen wie ein Angstlaut und wie eine rufende Stimme:

»O mein Gott! – – – –

Nach Tagen kam der alle Dominick. Er war ein Mann wie ein Russe, strotzend, bärtig und mächtig und hart, im langen, dicken Mantel wie ein Viehhändler; und wie er gleich Nachsuchung hielt, wurde er an Mathilde verwiesen. Er war fast nichtachtend zu ihr. Er dachte natürlich, sie wäre in erster Linie schuld an allem. Mathilde fühlte seine Verachtung – und achtete es nicht. Sie blieb aus der Fabrik, sie half suchen. Sie wußte seinen letzten Gang. Am Morgen war sie mit ihm gesehen worden. Sie kam gar nicht zu sich.

Nie und nimmer konnte sie auch nur so etwas denken. Er hatte ihr nur am Tore die Hand gegeben, und es war wie Hoffnung gewesen. Und der Vater hatte einen Brief bekommen, der den Sohn anmeldete, nun war der Sohn nicht zu finden. Nirgends. Sie fingen an in den Dörfern zu fragen. Sie gingen gemeinsam suchen. Durch ein ärmliches Dorf kamen sie, da stand ein schönes, freies Schloß mit breiten Freitreppen inmitten der uralten kahlen Eichen, und am Dorfteiche trieben sich am Schmutzwasser Gänse und Kinder herum.

»Jeses! Nee Ihr Leute! 's is aber au' gar!« sagte ein alter Dorfmann, der die Straße heranhumpelte. »Drieben eim Kretscham Hot sich eener erschussen.« Und eine alte Frau und ein ganz blonder Junge, der trotz Winter noch barfuß lief, stellten sich dazu und bestätigten es. »Es hot sich a junger Mensch aus der Stadt erschussen.«

»Wo denn? – genauer – «, sagte der alte Dominick. Mathilde sah aus wie eine Gemarterte, und sie liefen eilig übers Feld weiter. Sie war so erschüttert, daß sie kreidig aussah und immer heimlich nach Atem rang, so eng und gefangen war alles. »Im Gasthause«, sagte der alte Dominick, wie sie mit Eilschritten liefen, wie Leute, die schon wußten. Es zeigte ihnen auch niemand erst den Weg. Alle sahen sie nur, und sie gingen durch, als wenn ihnen nur die Blicke den Weg bahnten. So kamen sie und fanden in einem kleinen, kalten, kahlen Zimmer den entseelten Leib Dominicks im Bette, mit der Stirn im Blute noch, weil die Wirtsleute ihn nicht anzurühren gewagt und nun erschüttert dastanden – und leise untereinander wisperten, wie sie den Vater an der Leiche sahen.

Der Alte sagte nichts. Mathilde stand starr.

Der Alte hob des Toten Kopf auf, daß die eine Hand sich regte.

Der Revolver lag am Bettrande. Der Alte sah alles.

Inbrünstige Tränen quollen Mathilde, daß sie die Welt ganz nur im Traume sah.

Sie hätte ihn fortheben mögen empor, in Licht, in Liebe –.

Unter seinem Kopfkissen ein Heft! Da! –

»Jesus!« sagte Mathilde und nahm es, wie erstaunt.

Der Alte schlug es auf.

Es war der Ostergesang, den Dominick gemacht und Mathilde gelesen hatte.

Der Alte las – und Mathilde – still:

Ratlos irrend und schauernd in bleichem Erregen,
Wo sie den lieben Herrn ins Grab gelegt,
Daß das Licht erlosch –
Wandelt Maria her auf nächtig«Wegen:
»Gärtner, wo habt Ihr ihn hingelegt?
»Ach, das Grab ist leer und tot!
« Und der Gärtner lächelt sanft und spricht: »Weine nicht!
»Maria!«
Und der Liebereichen Wange färbt sich rot.

Atem aus Knospen, aus kaum geöffneten, zagen
 –   .  .  .  .  .  .  .  .  .
  .  .  .  .  .  .  .  .  .
»Ostern!« – schweigende, reine Jungfraun schreiten,
Ihrer Augen heimliche Feuer glühn.
»Noch ist Nacht.« –
  .  .  .  .  .  .  .  .  .
  .  .  .  .  .  .  .  .  .

Blüten! – Blüten! die kaum geöffneten, zagen –
»Ja, der Lebendige wacht.«
Bäche tosen in schäumenden Ufern zu Tale.
Tausend Stimmen jauchzen:
»Mit einem Male
»Schwanden Tod und Nacht!«
Wieder, wie wenn heilige Feuer lohten
Über Gräbern Männer in glänzenden Kleidern –:
»Engel!«
Und ein Ewiger spricht:
»Weinet nicht!
»Suchet nimmer den lebendigen
»Unter Toten!«

Es war stumm, und kein Laut rührte sich, weil die Seelen ins Unbegreifliche verstrickt schienen, die Lebenden und die Toten.


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