Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Mathilde träumt vom Frühling

Wie wieder einmal das Frühjahr kam, war in der Stadt ein großes Kaiserfest. Man hatte geflaggt, und am Tage war alles in Glanz; überall bis in die letzten Gassen und Schenken sah man die Schaufenster mit Büsten und Lorbeer geschmückt und in bunten Landesfarben ausstaffiert. Auch Soldaten eilten hin und her. Man merkte jeder der Uniformen, wo man ihnen begegnete, an, daß sich etwas begeben mußte. Alles war eilig und freudig. Alles in besonders beweglicher Verfassung. Allenthalben eilige Helmbüsche, die aus dem Gewimmel der Bürgerköpfe und Bürgerhüte und über die blumigen Kopfschmücke der feinen Damen auf den Trottoirs hervorragten. Überall auch sah man auf dem Fahrdamm, je näher man dem großen Exerzierplatz, der in der Stadt vor dem Königlichen Schlosse lag, kam, zwischen Droschken und Omnibussen berittene hohe Offiziere mit ihren Ordonnanzen – Pferde, die noch in Decken gehüllt waren, wurden von andern Ordonnanzen zu Pferd herangeführt, und dann später kam Regiment an Regiment, daß man Musik wie etwas Freudiges schon in der Luft fühlte, ehe man Klänge vernahm. Nur wie einen seltsamen Hauch, wie ein fernes Bewegtes, das aus der Seele aufschwoll. Nun kamen sie alle mit klingendem Spiel und mit dumpfem, festen Tritt, der sich in die Musik wie eine mächtige Begleitung in Baß einmischte. Und Volk zog mit. Die Fabriken alle waren geschlossen. Junge, kräftige Männer und junge Frauenzimmer, alles ausgelassen, mit lachenden Mündern und lustigen Augen, alles schritt im Takt auf Damm und Bürgersteig. Wie ein Heerhaufe, so kräftig kam es mit jedem Regimente neu an und säuberte den Weg. Man mußte sich vorsehen, wenn man nicht wünschte, mit im Takte und Tone weiter zu ziehen, zu lachen und den Kopf stolz zu erheben.

Auch Mathilde hatte es in ihrem Stübel nicht gelitten, wie die lustigen Klänge kaum hörbar durchs offene Fenster herein in der Luft zitterten. Sie ging, wie sie war. Sie hatte auch Feiertag und außerdem für niemand zu sorgen. Warum sollte sie nicht neugierig auf die Straße treten? Eine Blonde, Kräftige, wie sie war, entschlossen, aber nun schon lange einsam und für sich und nichts suchend und nichts begehrend, frisch und sicher und doch fast scheu, wenn sie dachte, daß jemand sie sähe. So unsichtbar für sich hatte sie sich zu leben lange gewöhnt. Nun waren, die mit ihr wohnten, alle in Aufregung hinausgeeilt. Alle festlich in guten Sonntagskleidern und hatten sie gelockt. Und dann hielt sie es nicht aus und nahm ihr Tüchel um die Haare, schaute aus ihren kühlen, frischen Augen straßauf, straßab, wie sie aus dem Haus trat, in der engen Gasse, wo sie schon im Anfang gewohnt – und noch einmal lange und neugierig straßauf und straßab – und eilte dann nach der Seite, wohin die letzten Arbeiterinnen eben forteilten, zog ihr Tüchel fest unterm Kinn zusammen, ganz achtlos und war bald mitten im Getümmel.

Am Exerzierplatz, wohin sie im tollen, wogenden Schwarme, eingekeilt und gedrückt allmählich gelangte, konnte man nicht vor- und nicht rückwärts, und es war lange eine ganz hoffnungslose Lage. Wenn sie auf die Zehen trat, konnte sie einen Blick tun, hinüber über das sonnige Paradefeld, wo die Regimenter in weiten Reihen standen, bunt schimmernd und blitzend, und die Offiziere mit köstlichen, weißen Federbüschen und mit glänzenden Schärpen heransprengten, und ein Durcheinander sich ihrem Auge enthüllte, daß sie es fast geblendet einige Augenblicke schloß, sich wieder niederließ und nur dem Grollen der Trommeln, die angesetzt hatten, und den klingenden Pfeifenlauten, die durch die Luft schrillten, zuhörte.

»Wollen Sie nicht mehr vortreten«, sagte plötzlich eine sanfte, freundliche Stimme, daß sie ihre Augen auch gleich auftat. »Nun kommt der Kaiser.« Und sie fühlte sich von einer freundlichen Hand in eine vordere Reihe gezogen und stand mitten in Brausen und Schauen. Hurrah-Rufe erschütterten zehntausendstimmig die Lüfte, und klingendes Spiel, wie Cimbeln und Trompeten, schütterten und jubilierten. Dazwischen schrien die Pfeifen, und rumorten und donnerten die Trommeln, und eine Jubelfreude weitete die Gesichter rings, alles erhob sich, so hoch ein jeder konnte, alles schwenkte mit Hüten und Tüchern im Sonnenlicht, so weit Köpfe an Köpfe ragten – zu Tausenden – alles lachte und rief – hinein in die blitzenden Reihen in dem freien Felde, wo nun ein reisiges Wehen von Reiherbüschen, hoch auf tanzenden Pferden heranritt unter dem unerhörten Getümmel sich hochreckender Menschenköpfe, die eng eingekeilt weder vor- noch rückwärts konnten und nur ins Paradefeld starrten, mit lachenden, lichtgeblendeten Augen. Mathilde hatte nichts gesagt, als der sanfte Mann ihr seinen Platz anwies und nicht bemerkt, daß er froh war, wie sie ihm so willig folgte, nur ganz erfüllt von Neugier und flüchtiger Dankbarkeit, wie sie endlich alles ungestört überblicken konnte. Sie merkte auch nicht, daß es ein helles Gesicht war, fast wie einer aus der Heimat. Das Gesicht des schüchternen Menschen, der jetzt neben ihr stand und dessen Arm sie festhielt, unterdessen er immer wieder aus dem Getümmel weg verstohlen sie ansah, so lustig und gut und jung sah sie aus, wie ein Rotkäppchen in ihrem böhmischen Tüchel und so außer Maßen gelassen und fest zugleich. Zum Sprechen war keine Zeit weiter. Denn Mathilde hatte den Mund offen und rührte ihn nicht. Sie staunte nur in Lärm und Glanz und lachte ohne einen Ton übers ganze Gesicht, daß man ihre Augen sah, wie zwei helle Tropfen, und ihre großen weißen Zähne wie elfene Perlen. Bis das Schauspiel sich änderte. Bis die wehenden Reiherbüsche nahe herankamen, bis dann die Regimenter sich zu bewegen anfingen, ein Zug nach dem andern sicher stampfend vorbeimarschierte, im ewigen Kling- und Pauken- und Trommel- und Pfeifenspiel, bis man gar nicht wußte, was sich begab, weil sich die Soldaten nach ihrer Seite zusammenscharten und die Aussicht eine Weile ganz benahmen, und bis man sah, daß jetzt das geordnete Bild sich langsam zu lösen begann, und auch in die schauende Menge ein Gefühl der Erlösung kam.

Da sah sich Mathilde um, daß sie immer noch den Arm des blonden Mannes hielt.

»Mein Gott,« sagte sie, »entschuldigen Sie nur!« wie es jetzt leerer in der Reihe wurde, weil einiges Volk schon einem Regiment, das vom Platze marschierte, nachlief.

»Nicht wahr, Sie haben gut gesehen«, sagte er lachend. »Das freut mich.«

Mathilde wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Sie begriff nicht, was er wollte. Er war sehr freundlich und machte keine Anstalten, Abschied zu nehmen.

»Wie heißen Sie denn, Fräulein?« sagte er.

»Ach Gott«, sagte sie zögernd, von einer Rotte Jungens weggedrängt, die aus den tieferen Reihen durch die Menge sich einen Weg bahnten. Und Mathilde und der junge Mann liefen auch vorwärts.

»Ich muß nach Haus«, sagte Mathilde.

»Es ist doch heute ein Festtag«, sagte er fast schüchtern.

»Ja, aber ich muß trotzdem nach Haus. Ein armes Fabrikmädel muß die Festtage benutzen, sonst verlumpt man«, sagte sie lachend.

»Wenn ich Sie nun begleitete«, sagte er auf einmal, munter gemacht durch ihr Lachen.

»Ich wohne mit andern«, sagte sie rasch, und sie wollte in die Straße einbiegen, aber der schüchterne Mann sah sie fast bittend an – und dann hatte er plötzlich ihre Hand ergriffen, und hielt sie wie eine gute Bekannte.

»Nein, das dürfen Sie nicht.« Und er zog sie einige Schritte aus dem Gedränge in die Promenade hinein, wo es freier war, und sie ließ es sich lachend gefallen.

»Wie Sie nur sind?« sagte sie plötzlich belustigt, »was kann Ihnen nur daran liegen?«

Und sie gingen eine Weile am Wasser lang und dann an schönen Beeten, die in Tulpenpracht standen, rot glühend im grünen Sammetrasen. Stumm schienen sie jetzt beide zu sein.

»Nein, wissen Sie – ach Gott – sagen Sie einmal, wie heißen Sie denn eigentlich? – was sind Sie denn eigentlich? – Sie sehen so freundlich und unverdorben aus«, sagte Mathilde, die von der Zartheit und Rücksicht kindlich bewegt war und ganz erstaunt und neugierig.

»Ja – sehen Sie – wenn Sie mitgehen – nein wirklich, Fräulein, wir könnten doch hinausgehen – einen Spaziergang, es ist lichter Frühling – es ist ein Festtag, es ist so lärmend, wollen Sie denn den ganzen Nachmittag in dem Getümmel bleiben?«

Mathilde überlegte und lachte wieder. »Nur oben – in meiner Wohnung.«

»Nein, nein, kommen Sie mit«, sagte er dringlich und ließ sie nicht los.

»Es ist so komisch«, sagte sie.

»Nicht komisch«, sagte er, »gar nicht komisch, ganz ernst!« Und er sah, dieser sanfte Mensch mit einem dünnen Kinnflaum – und hellen blauen Augen wie sie, der sich zudem ein wenig unbeholfen und linkisch bewegte, er sah sie an und ließ sie nicht von sich.

»Ach Gott, nein –« sagte sie zögernd und nun fast unzufrieden.

»Sie sollen nicht böse sein«, sagte er.

»Wer sind Sie?« sagte sie halb lachend schnell.

»Wenn wir am Flusse sitzen, draußen im Frühling, sage ich Ihnen alles.«

»Ich habe nicht einmal gegessen«, sann sie.

»Dann kaufe ich etwas im Vorbeigehen.«

»Nein, nein,« lachte sie, »ich habe eine tüchtige Schnitte im Sack« – und sie kramte in ihrer Tasche und zog ein Papier mit einem mächtigen Brote heraus, das sie ihm lachend hinhielt.

»Das langt«, sagte er lustig.

»Sie können mitessen, wenn Sie mögen«, sagte sie, als sie schritten.

»Wenn wir allein im Freien sitzen, wie gerne!«

Er konnte sich nicht halten vor Vergnügen. Er schritt jetzt schnell, schneller als sie, daß sie ihn an der Hand faßte.

»Nee,« sagte sie, »immer langsam voran.« Und sie gingen am hohen Ufer, wo sie mit Dominick auch geschritten war. Alles lag hinter ihr. Es war ein Frühling wie alle. In den Wellen, die vorbeieilten, spiegelten sich goldene Weiden, und einzelne Menschen kamen hell und froh. Und sie beide gingen hin, Hand in Hand, die sich eben erst begegnet hatten, als wenn sie Freunde wären, und kamen hinaus in einsame Uferhügel, worin sie saßen. In den Weidenbüschen lagen Blüten und Immergrün, und niemand dachte vor, noch zurück. Mathilde wußte nicht, daß sie Jahre einsam gewesen, daß ein fernes Träumen ernst und in Eigensinn in ihren Augen lag, wie ein heimlicher Schatz, daß ihre frische Gestalt lockend, wie ein junger Buchenbaum, stark einherschritt und sich frei wiegte, wie seit Ewigkeit kein Gefühl in ihr sich mehr aufgetan.

»Oh, was Sie für einer sind,« sagte sie lachend, »bringen mich einsames Ding hier unter die Blüten, und machen, daß ich leichtsinnig werde. Nun also – wer sind Sie denn?« fragte sie energisch, als sie sich niederließen im Ufergras.

»Hahaha,« lachte er kindlich, »nun also – einer – ja – wie denn nun – wie fange ich's nur gleich an, daß ich Sie nicht verscheuche,« sagte er lachend – »ein armer Schlucker – hahaha.«

»Nun, das ist klar. An einen Grafen habe ich nicht gedacht, wie ich Sie sah«, sagte Mathilde in ihrer graden Art. –

Und sie tändelten allerlei, wie sie saßen – und er erzählte auch, daß er ein Schreiber beim Magistrat wäre, der an nichts denken sollte, als an seine Akten, und nun gar ganz vernarrt wäre.

»Oh – Sie –« sagte sie lachend, »Sie wollen mir schmeicheln.«

Und sie aßen zusammen, nachdem sie christlich das Brot gebrochen und ihm die große Seite hingereicht hatte. Sie aßen und sahen in die Wellen und spaßten, und ihr war, als wenn sie verzaubert wäre.

»Zu komisch«, sagte sie und sann in die Flußwogen. Denn Erinnerungen, wie ferne Laute kamen, die die Wellen, in die sie Blüten warf, forttrugen, ohne daß ihre Augen naß waren. Nein – Frühling fiel hinein und Güte und Sonnenschein – heimliches Dämmern, daß das Vergangene im Glanze lebendig wurde. Sie war umsponnen und kam nicht zu sich. Sie war froh. Sie begehrte nichts. Sie schaute und genoß lachend, wie eine, die nie den Tod gesehen und nie das Leere und Dumpfe. – Und sie legte sich dann in die Blütensträucher am Ufer – auf ihr Tüchel, sah ihn an, schwieg lange und schlief ein Weilchen ein, behütet von des ärmlichen Schreibers sorgenden Blicken, bis Glockentöne verloren über die Wellen wehten und Sonnenfunken im Wasser tanzten.

»Nein«, sagte sie, weil sie seltsam durcheinander geträumt. »Wissen Sie, daß ich gar nicht mehr jung bin, um mich mit Blumen zu schmücken – daß ich alt bin und voll Unruhe und den Tod kenne.«

»Oh«, sagte er, der sie schlafend versunken gesehen und sich von ihrem Anblick nicht trennen gewollt. »Oh, wie Sie nur aussahen, wie verklärt und einig und so still und groß, oh!«

Und dann saßen sie lange noch froh und leise zusammen, und sie kamen spät in die Stadt zurück.

»Ich habe ein Stübel allein. – Oh, ich muß Sie wiedersehen«, sagte er leidenschaftlich, wie sie sich trennten.

Mathilde lachte verloren.

»Wer weiß«, sagte sie nur und sah vor sich nieder.


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