Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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40

Die junge Schwester verwahrlost

Wie der Herbst kam und die Bäume auf den Promenaden schnell windverweht und kahl standen, erfüllte Mathilde heimliche Sorge. Die junge Schwester war nicht zu hüten. So sanft und weich, wie sie sein konnte, um Mathilde ein Bändchen um den Hut, oder ein Jäckchen, oder sonst einen schmückenden oder wärmenden Umhang oder Shawl abzuschmeicheln, sonst konnte Mathilde fein oder grob reden, im Zorn, wenn sie spät heimkam, und liederlich und vergriffen aussah, sogar nach ihr schlagen, wie es die Mutter tat – nichts half. Wenn der Hang und Drang über sie kam, da half nichts. Da saß Mathilde über die Nähterei gebückt und wartete und wartete und saß und stichelte bis in die Nacht, ging ans Fenster, um in die Nacht hinauszuhorchen und beruhigte sich ein wenig bei jedem Schritt, der unten die Straßenecke heran klang, um dann gepeinigter als je an die Uhr zu blicken und ihre Arbeit neu in die Hand zu nehmen. Marta war erst sechzehn Jahr, und schon, wie's in den Winter hineinging, hatte ihr ganzes Verhalten nicht Sinn und Art. In der Fabrikarbeit lief sie verwahrlost wie viele andere, die auch nichts auf sich hielten. Mathilde, die adrett und reinlich und tüchtig aussah und mit festem Schritt und sicherem Blick ging, konnte reden und reden. Es half nichts. Es hing alles an dem Mädel herum. Noch dazu, weil ihre Gestalt schmächtig blieb und nicht wuchs infolge ihres unstäten Lebens. Gleich in der ersten Zeit – wovon Mathilde gar nichts ahnte, denn die Kleine war schlau und wußte das so einzurichten – war sie mit einem Bäckerstift gelaufen, der ihr in einem Wassergange auflauerte, wenn sie einen eiligen Umweg aus der Fabrik machte. Das gefiel ihr. Es war ein ganz leichtfertiges Ding. Nun war sie kaum flügge, nun lag sie schon in allen möglichen Armen und blieb, wenn sie aus irgend einem Grunde von Mathilde sich losgemacht, mit verfänglichen Blicken an jedem Schaufenster stehen, wenn Männer kamen, um ihnen dann Zeichen zu geben und Geld zu bekommen. Dann sah sie auch ganz drollig-feierlich aus. Sie nahm sogar einen Schein von Traurigkeit an – das kam von der Mutter. Das war Mathilde überaus zuwider. Wenn Mathilde einen Kummer je gehabt, den verbarg sie. Verschlossenheit war ihr Wesen – und Mißtrauen. Sie dachte fast, ein Schmerz ist ein Gut, den hütete sie – und mißtraute nun denen, die um sie waren, daß sie es nicht wert wären, und ihr Mitleiden ein Gift, statt Liebe. Die Kleine ging langsam, sah sich um, wenn ein Mann, der ihr gefiel, ahnungslos die Straße kam – und dann sah sie ihn an, wie eine feine Unschuld, die es elend hat in der Welt, mit demütigen Bettelaugen, die wie zufällig seitlich fielen und trat ahnungslos und arglos an ein Schaufenster, und lockte so manchen. Dann war sie zu allem bereit. Dann galt ihr nur, mit heimlichem Gelde in ihre Stube zu kommen, dann waren ihr auch Worte und der Zorn Mathildes gleichgültig. Dann lachte sie frech, wenn Mathilde ihr das Verkommene ansah, wenn sie nach ihr schlug und schimpfte.

»Verfluchtes Mensch«, sagte Mathilde einmal, als sie um neun Uhr eintrat, gezaust und lässig und ganz versonnen und matt. »Du sollst dich schämen.« Marta zog sich bald ihre Arbeitslumpen herunter und wollte ins Bett kriechen. Da hörte Mathilde Geld klimpern in der Schwester Rocke. Sie sprang auf wie eine, die eine Wespe gestochen.

»Wu is das Geld har?« schrie sie plötzlich und eilte mit wütender Hast, den Rock heranreißend und ihn am Tische im Licht untersuchend, daß sie fast noch die Lampe umstieß. »Wu is das Geld har?« Marta sagte gar nichts, sie versuchte, frech zu lachen. »Wu is das Geld har?« schrie Mathilde noch einmal und konnte in der Hast gar nicht den Eingang in die Tasche finden, so erfüllte sie die Angst und der Zorn. Dann fand sie es, es waren einige Taler.

»So –« sagte sie. »Also – an sulche bist du!« und sie sah das Geld an, das sie in der Hand hielt, und sah Marta an, die sich gleichgültig ausgezogen und auf alles heimlich gefaßt war. Und es war eine dumpfe Spannung in dem kleinen, arm erleuchteten Stübel, einem elenden Stübel, in dem die beiden Betten standen und die alte Sophalehne am Tische und die beiden Schübe der Mädchen. Mathilde sah, wie die Junge ihre Lumpen fallen ließ und ins Bett kroch.

»Wie du aussihst«, sagte sie hart. »Jung und kaum ufgewachsen – und vergriffen wie 'ne Hure«, sagte sie noch einmal.

»Hahaha«, lachte Marta, und ihre zarten, bleichen Züge, die jünger waren, als man dachte, und in denen nur die Lust und jetzt die Ermattung umging, belebten sich in Hohn, daß Mathilde kaum an sich hielt. Sie war vor ihr Bett getreten und wollte sie angreifen, an den Schultern zerren und sie aufrichten – irgend etwas – Mathilde griff nach der Schwester. Aber Marta wich aus – und sagte, sich nach der Seite wendend: »luß mich, greif mich nee a!«

Und Mathilde schrie aus vollem Halse: »Hahaha, an sulche bist du, pfui Teufel – nee, nee, ich werd dich lieber ni anrühren, daß ich mich ni a' dir besudele, du Mensch du –«

»Spiel du dich ock uf,« sagte Marta ganz gleichmütig, »ich dächte, du hättst 's nötig – ich wiß schun. «

Und Mathilde warf das Geld auf den Tisch, daß ein Taler herunterkollerte und in eine Ecke rollte. Marta kroch aus dem Bett und suchte danach, halb nackt, wie sie dastand, eine feine, dürftige Gestalt im Hemdlaken, mit mageren Beinchen und langen, schmalen Händen.

»Verschmeiß mir mei Geld!« sagte sie verächtlich.

»Pfui Teufel!« sagte Mathilde und starrte auf den Tisch, wo der andere Taler lag, den jetzt Marta auch holen kam, um ihn vor Mathilde in ihr Ledersäckchen zu tun und unter ihr Kopfkissen zu bergen.

»Ich war mir's ock sicher legen,« sagte sie ganz bedächtig, »daß du ni erscht uf Gedanken kimmst«, und sie lag nun unter ihrem Deckbett verborgen und sah auf Mathilde, die sich nicht rührte.

» Du brauchst ni tun,« sagte sie noch einmal gelassen und niederträchtig, »mir wissen schun, was du bist – und wenn dich Hallmann-Bauer ni zur Schwiegertuchter muchte – hahaha – du bist grade nischt bessers wie ich – und die Mutter.«

Es kam Stille in die Stube. Marta lag und sann auf Mathilde, und Mathilde sank ganz in Gedanken ein. Sie redete kein Wort mehr. Es ging ihr Blick in die ganze ferne Zeit ihres Lebens und ihrer Jugend, und sie fühlte, wie sie gelebt hatte, immer mit einem anderen Wunsche, als nur verachtet und eine Gemeine zu sein; fühlte, wie sie jetzt neu das alte Leben anspülte, als hätte sie ihr Haus und ihre Seele an Totengewässer angebaut. Immer kam eine stinkende Moderflut da herauf – und ein junges Ding von Hexe – fein und jung und zart gebildet, wie ein rosiges Kind, schwamm drin herum, die sie höhnte, und die ihr zurief, was sie schaudern machte – daß sie die Augen schloß –, daß ihr jetzt einfiel, als ob sie ihn noch einmal erkämpfen müßte, den jungen Soldaten und Bauern – den sie weiß Gott – – »Ach Gott! – nein – fort – alles –!« Nichts wollte sie denken – nichts – gar nichts. – Und Dominick erschien ihr vor Augen, und sie sah an ihm empor, sie sah ihn stehen, wie er las – sie sah ihn stehen, leidend und zerrissen mit fast entrückter Seele – sie hörte ihn zu sich reden. »Oh – nichts denken – nein, fort – nein – nichts – gar nichts –.« Sie rang nach Atem, sie sah, daß die Lampe tief brannte, daß das Petroleum zu schmauchen begann, daß es lange in der Nacht war, daß die Junge eingeschlafen war und nun atmete aus dem jungen, von Schuld und Drang befreiten Leben. Sie löschte die Lampe und entzündete ein Talglicht. Sie hielt es hoch über die junge Schlafende, deren bleicher Kopf schuldlos und weich, in weichen, sanft umkränzenden Lidern die schlafenden Augen versunken, in feinen, rosigen Lippen ein paar leicht blinkende Zähne, deren Rändchen heraussahen, dalag. Da kam ihr ein langes Erinnern an Dominicks Todesschlaf – und sie wußte nicht, ob die junge Freche auch gestorben im Todesreich – und sie hoffte – und liebte die junge Seele von neuem. Sie sah sie an, die so tief und zart und rein und reich versunken dalag – so bleich und mädchenhaft und von einem leichten Rosenhauch des Schlafes getroffen – sie konnte sich nicht trennen. Sie nahm sich vor, ihr beizustehen, sie zu führen, sie zu hüten. Sie sah sie noch einmal an, strich ihr einen Strähn aus dem Munde, der sich eingebissen – und suchte endlich ihr Lager.


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