Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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13

Salecks Krankheit

Frau Weber selber machte ein Gesicht voll tiefer Sorge, runzelte die Stirn hoch und sah lange vor sich hin, wie Vater Weber, der immer nur breit in seinem Sofa saß, sie gefragt hatte. Sie war eben aus Mathildes Stübchen herübergekommen, wo Saleck schwer krank lag. Mathilde hatte in sein in Kissen vergrabenes Gesicht gestarrt – mit Mutter Weber zusammen, sie hatten fast sprachlos die Umschläge erneuert, und dann hatte Mathilde nur innerlich, fast stumm hinausgemurmelt: »Wird'r denn wieder?« – »In Gottes Hand«, hatte Frau Weber abgerissen gesagt, wie sie nun wieder den bleichen Huckigen, der mit geschlossenen Augen stöhnte, lange angesehen. Und Frau Weber sagte zum Alten, der auch lange schwieg: »Ja, wer weiß, ob ihn Gott erhält!« –und sie dachte an Mathilde, die nicht von dem Krankenbette kam. Man hätte es ihr nicht angesehen, was für eine Sorge unter der Kraft und der scheinbaren Kälte wohnte, wenn sie so heimlich um das Krankenbett herumging. Frau Weber sah es in Gedanken noch einmal, wie Mathilde, die starke, kräftige, junge Mathilde, die den Krummen umarmen konnte, daß er fast dachte, sie zerbräche ihn, und die jetzt gar in ihrer runden und schwer machenden Fülle etwas behaglich und mühsam geworden war, ums Krankenbett nicht ging – schwebte – Tag und Nacht, sorglich und wachend, und der Krumme in Pflege lag wie nie.

Alle Träume waren in Mathilde ausgelöscht. Mathilde erfüllte kein Denken. Sie konnte nicht vor und nicht zurück. Sie war jetzt in der Schule der Liebe, die sie gleich klar und voll und ins Blut hinein lehrte, daß unser Leben auf und nieder schwankt in Freuden und Leiden, in Aussicht und in Dunkel, und daß ein jeder von uns einmal auch ein Pfleger sein und sein ganzes Wesen nur in sorglich stumme, von heimlicher Angst getriebene, und von leiser Hoffnung immer neu erhellte, liebende und wachende Handreichungen verwandeln muß. Für Mathilde war jetzt die Zeit gekommen. Sie hatte es nicht anders gelernt, als von dem seltenen Lehrmeister, der in ihr saß und in ihr sprach, daß sie nun war wie eine ganz zarte, liebende Schwester, und die Sorge sich eingrub, daß ihre Augen ganz hohl blickten, nur die leise Hoffnung in Stunden einmal hervorbrach wie aus hellen Kinderaugen, wenn Frau Weber zu ihr kam und ihr ein Wort voll Güte zuflüsterte. Sie hatte es sonst von niemand gelernt. Wenn eins im Gemeindehause krank lag, da gab es nicht viel Federlesen. Der Zank dauerte fort. Und jeder war unzufrieden. Und zu pflegen hätte fast allen etwas geschienen, worüber ein jedes lachen gemußt. »Albernheet, was sull ins denn a Krankes? Die Gesunden han nischt zu fressen!« sagte die Heintken. – Und es wurde nur getan, was das allernotwendigste war; und auch das mit rücksichtslosen, lauten, groben Worten. Man hatte keine Zeit, sich in den andern hineinzufühlen, nun gar noch, wenn er Schmerzen hatte. Wer gesund war, war gesund und gleichgültig, hungerte einmal und noch einmal und benutzte den letzten Groschen, um sich einen Tag Vergessen einzutränken, soff und torkelte und zankte dann, ganz noch vollends ohne Möglichkeit, zu verstehen, was Schmerzen und Leiden in der Welt darstellen. Denn Freude und Leiden sind aus einem Grunde und kommen beide aus Tiefen, die uns Kraft geben und unsere Wege mit lebendigem Sinn bedecken, wie der Frühling mit Blumen. Nicht jedem ist geschenkt, in Gründe zu tauchen. Nicht jeder ist gewürdigt, aus der Tiefe zu schöpfen, nicht in Freuden, nicht im Leiden.

Aber Mathilde war eine. Man hörte es, wie sie weinen konnte. Man sah es, wie sie pflegte. Die schwerfällige, kräftige, junge Mutter, wie ihre Augen eingefallen waren und ihr Blick wachend, als würde sie den Mut haben, Gott selber zu verscheuchen, wenn er ans Bett Salecks treten und seinen Atem gar ganz nehmen wollte. Und zudem war eine unbegreifliche, hohe Ruhe in ihr, die Frau Weber selbst ganz seltsam berührte. Sie hatte nicht geweint. Keinen Augenblick. Auch nicht, wie einer zu ihr gekommen war durch den langen Arbeitssaal mit den weiten, hohen Fenstern und ihr zugeraunt hatte, daß Saleck ohnmächtig umgefallen wäre und heimgeschafft würde. Sie war wie steinern gewesen, aber sie hatte sich kaum besonnen. Alles im Stich gelassen, was dalag, ihre Tasche und ihre Frühstückskanne und ihr Tuch, und war zum Portier gelaufen, wo man auch den Kranken eben durchgetragen, hatte Urlaub genommen und war ihm sofort in ungemessener und ganz unbedachter Entschlossenheit ins Feld hinein gefolgt, hatte gesehen und geschwiegen, hatte mit angegriffen, sofort Anordnungen gegeben, daß man den Kranken zu ihr bringe, war voraus zu Frau Weber gekommen, es anzumelden, die auch gleich mit gesorgt hatte, und nun ging das schon vier Tage.

Und sie weinte nicht eine Träne. Nur die Angst sah aus ihren Augen heraus, die ganz rätselstumm immer nur nach Seufzer und Stöhnen ausblickten, und ihre Hände, die sonst schwielig waren, und nicht weich wie Lilienhände, die man in Milch badet, waren doch nur sanftes Bewegen und Liebe und Güte – und leise, fast als wenn die Seele darin auch in zitternder Angst lebte, in jedem Finger ihrer kräftigen Hand – wand sie zögernd die Schläfen mit nassen Tüchern um, sie so rückhaltend und zagend berührend, wenn sie seine dunklen Haare aus der Stirne strich, daß mancher Finger wie erstarrt in die Höhe stand und zauderte, mit anzugreifen – fast zierlich und in ungedachter Anmut.

Der Fabrikarzt kam heute gegen Abend wieder. Er sagte nicht viel. Daß es ernst wäre, hatte er gleich beim ersten Male gesagt. Sonst war er kurz und überlegte, während er den Puls fühlte, und sah wohl auch Mathilde an und gab eine Hoffnung, wenn erst der fünfte, wohl auch gar der siebente Tag vorüber wäre. Er nannte es eine Krise. Mathilde wußte nicht, was das wäre. Aber sie hatte an dem Abend eine ganz unbegreifliche Angst vor etwas, was doch noch kommen könnte. Wie der Doktor hinaus war, saß sie am Ofen, und es fiel über sie herein, daß sie beinahe plötzlich aufgeschrien hätte. Der Gedanke, daß Saleck sterben könnte, war ihr nicht gekommen. Wie er kam, brannte er sie. Sie begann in sich zu schluchzen – nein – nein – sie ertrug es gar nicht –und sprang auf und sah ihn an, ob er bleicher geworden, hörte seinem Atem zu, war plötzlich so hart und in innerem Trotze so emporgerichtet, so dem Angstgedanken zugekehrt mit aller Wachsamkeit und Bereitschaft, daß wenn Gott selbst ans Bett gekommen und ihm, dem Saleck, seinen Lebensatem hätte nehmen wollen, sie nicht gewankt und gezaudert hätte. Sie stand lange – verträumte sich und vergaß das Wort. Sie wußte nicht, was es bedeutete – was der Arzt im Grunde gemeint hätte, und sie wollte auf der Hut sein.

Frau Weber kam noch einmal vor der Nacht und brachte Mathilde eine Suppe und bat sie zu essen. Mathilde nahm die Suppe, ohne eine Miene zu ändern – begann zu löffeln – lautlos – und vergaß zu danken. Sie versank ins Vorausschauen, während sie lautlos Löffel um Löffel einnahm. Frau Weber stand allein am Bett, als wenn sich Mathilde gar nicht um sie und ihn kümmerte. Sie trat zu Mathilde. Aber Mathilde sah sie nicht an, aß und schlürfte – und sagte nichts, auch wie ihr Frau Weber über ihre hudeligen Haare strich, die im Lampenschein glänzten, fühlte sie es nicht. Sie erwachte nicht. Es kamen immer wieder innere Schrecken – und sie sah sie an – und wankte nicht. Und war versunken, und erwachte nicht. Wie Frau Weber hinüber zu dem Alten kam, der in der Sofaecke lehnte und im Dunkel, die Hände gefaltet, dasaß, hatte Mathilde nicht ein Wort gesagt. Es war dumpf im Stübel Mathildes gewesen. Die Alten empfanden jetzt ganz mit ihr. Sie sprachen auch kein Wort. Auch Frau Weber nicht, wie sie zum Alten eintrat. Und der alte Fünfundachtzigjährige empfand es aus ihrem Gange und ihrem Eintreten, aus ihrem Sinnen und Zaudern, wie die Lampe langsam auf den Tisch kam im Dämmer und zögernd sich hellte, daß der Tod unter ihrem Dache sich nahen wollte – und beide Alten lagen oft wach in ihren Betten die Nacht und beteten ums leben.

Und drüben saß Mathilde über seinem Bette – die Lampe fast hinter dem Ofen verborgen, daß die Kante einen langen Schatten warf im engen Raume und sah hinein in sein Gesicht, gespannt; sie wankte nicht. Sie sah hinein – wie ein Unbegreifliches lag es da, groß, ausgearbeitet in den Zügen und geistig, wie es ihr nie erschienen war, und die Atemzüge gingen und jagten bis zum Stöhnen und Röcheln und wurden unhörbar und matt – und ganz unhörbar, daß Mathilde lauschte, nach ihnen brennend lauschte, und ihn anstarrte, noch tiefer und geängstigter, bis sie doch wieder kamen, leise neu begannen und wieder ihre alte Hast gewannen. Sie war wie auf der ewigen Jagd, wie angeschmiedet an diese Atemlaute, die auch in ihr auf und ab gingen, wie Verzweifeln und Hoffen. Und Saleck erwachte einmal und sah sich wild und fremd um; ganz besinnungslos: »Da, da –«, sagte er, »nee, stille, 's is was ei der Nähe –stille, was is denn das? – furt! – furt! – gihste! – wer is denn das? – Ich kann's nee sahn – gihste – sufte erwürg ich dich – «

»Juseph – du – du – ich bin's ju – nee – leg dich ock wieder – leg dich ock wieder« – und er legte sich in ihren Armen von neuem in die Kissen und starrte sie ganz sinnlos an: »Ju, ju, ich kenn dich – du – bist – ju – der – Portier!«

»Juseph«, sagte Mathilde noch einmal.

Da lachte er endlich, und es kam eine Ahnung Licht in seine Augen, daß er wie zufrieden sich umzudrehen versuchte, und nur vor sich murmelte: »Wu is denn – wu is denn de Mathilde?«

»Ich bin's!« schrie Mathilde fast – nein, nein, sie sagte es, daß es ein Schmetterling hätte sagen können, oder ein lispelndes Frühlingsblatt im Winde, so leise und so entsetzt doch, daß es Salecks Ohr wie ein Vorwurf traf, ihn ganz weckte, daß er sich ihr ganz zuwandte und sie sah – sie auch gleich erkannte und lächelte – aber gleich darauf auch schon die Augen schloß, um von neuem hinzudämmern in Verwirrungen und Staunen und Hin und Her – ohne Sinn und Namen – und Auf und Ab, als wenn er losgebunden wäre aus allem Erdensein – hin- und herginge in Sternen und in tiefen und unermessenen Nächten. Daß Mathilde, die in Schweiß gebadet bei ihm saß, nur langsam wieder Ruhe gewann – und das Spiel von neuem einsetzte mit allen Schrecken. –

Aber am Morgen tat Saleck plötzlich die Augen auf, als wenn er erwachte. Mathilde wußte nicht recht, ob sie noch sich auf den Füßen halten konnte. Er richtete sich auf, er sah sie an – und sagte laut und bestimmt: »Mathilde –«

»Jeses – Juseph«, sagte sie aus ganz gierig leuchtenden Augen, denn die Frühlingssonne fiel herein durch eine Ritze des dunklen Vorhangs, der noch geschlossen war, und malte Kringel auf die Diele. »Jeses, Juseph –« und sie lief von der Ofenbank, wo sie ein nasses Tuch auswand, um es frisch auf seinen Kopf zu legen, zu ihm – und wollte ihm auch schon mit Entsetzen wieder zuspringen, weil er sich auf die andere Seite drehte, sie dachte gleich darnach, sie hätte sich getäuscht. Aber Saleck lachte sie an – er tat alles in freier, sorglicher Bewegung und wandte sich um, griff ihre Hand und hob seine Hand langsam zu ihrem Gesicht, das sich über ihn beugte, und sagte ganz bedächtig, aber bestimmt: »'s is besser – ich bin gerettet.«

Wer kann begreifen, was das heißt »gerettet«, wenn einer schon ganz versunken war in unbegreiflichen dumpfen Schmerzen und Schrecken.

»Gerettet« – Mathilde sagte nun, als wenn es ihr ganz klar gewesen: »Ju, ju – ach nee – Juseph – du bist gerettet! – ni wuhr? – du bist gerettet!? – du sterbst nee! – du sterbst nee!« – und sie hatte fast auch ihr ganzes Pflegertum vergessen in ihrer Freude, so wollte sie ihn an der Hand nehmen und in die Höhe richten.

»A suweit is noch ni« – sagte er vorsichtig, auch mit Lachen noch ganz vorsichtig – und als wenn er die Genesung, die zart wie Eisblumen am Fenster sich jetzt in ihm zu ordnen anfing, mit einem Hauche trüben und verwischen könnte. »Ha ich dich gedrückt, Juseph,« sagte Mathilde, »Jeses«, und sie wagte nun gar nichts. Aber er sagte nur freundlich: »'s muß besser sein – ich fühl's« – daß Mathilde lange stand und dann zu Frau Weber lief, die auch hereintrat mit ihr, und wie sie zögernd Leises mit dem Kranken gesprochen, von Mathilde bis auf den Flur fast begierig verfolgt, gesagt hatte: »Nee, nee – nu is er gerettet.«

»Gerettet« – Mathilde stand lange auf dem Flur und hörte dann den Alten durch die Wände, leise und fast verhalten, sein Morgenlied singen, und sie ging auf den Zehen in ihr Stübel zurück. Ihre Hantierung am Herde erstarb, ihr Gesicht war frei und groß, sie sah empor – von Sonnenlicht des Frühlingmorgens heimlich getroffen, das sie wie eine schöne Heilige umfloß, so voll Dank und kindlicher Kraft und voll Aufgang war sie. »Es war die Krisis«, sagte sie dann, wie es der Doktor gesagt – und trat ans Bett und sagte, über Saleck sich beugend, noch einmal: »Nee, Juseph, du sterbst mir nee.«


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