Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Mathilde lernt auf seltsame Weise Dominick kennen

An der Sandbrücke lag eine alte Mühle gegen den Fluß und daran alte, mächtige, verwitterte Speicher. Wenn man aus der Straße einbog in den Mühlhof, standen bretterne Lastwagen, das Pflaster war grob, und man trat in weite Räume ein, in denen es rumpelte und lärmte, und in denen Mehlstaub flog, die Treppen vom Mehlstaube dampften, und weil alles darin alt und verfallen war, krachten und zitterten. Die Wellen schäumten und tosten und erfüllten die Flure mit rauschendem Lärm, und die mächtigen Mühlsteine gingen wirbelnd um und machten alles zittern und beben. Oben im Anbau waren weite Flure und Tür an Tür, wo allerhand Leute wohnten, die nicht reichlicher zahlen konnten, Arbeiter und Arbeiterinnen, und dann auch ein Student, ein junger Mann, der am äußersten Ende des langen Ganges sein Stübchen hatte, und der ein seltsam braunes, tiefes, leuchtendes Auge besaß, wenn er lachte, der aber immer ernst und eilig lief, in einem ärmlichen Knabenkittel fast, mit beschäftigten Mienen, ein junger Mensch, dem eine braune, straffe Stirnlocke jedesmal niederfiel, wenn er in Gedanken den vergriffenen, kleinen Hut abnahm, um zu grüßen oder sich den Kopf zu kühlen. Er war arm und ewig beschäftigt hin und her und konnte nur am Abend und in der Nacht einige Ruhe finden. Man sah sein Lämpchen manchmal um drei, vier am Wintermorgen herausscheinen, wenn Leute unten liefen, die das große, schwarze, mächtige Ungeheuer von Mühle mit seinem unsäglichen Gerattert und Gerumpel schon von ferne beim Heimgehen aus der Schenke anstaunten. Max Dominick hieß der Student. Alle im Hause kannten ihn mit Namen, weil er eine selbstgeschriebene Karte an der Tür angeklebt hatte, worauf der Name stand. Aber niemand hatte mit ihm groß gesprochen, man wußte nur, daß er immer sehr eilig war, und daß er sich Tag und Nacht keine Ruhe gönnte, auch wenn er daheim einsam in seinem ärmlichen und engen Stübel bei der Lampe saß.

Es war Dämmerstunde. Auch in einem Stübel, wo drei Betten standen und ein Tisch vor einer Holzbank, und worin Fabrikarbeiterinnen zusammenwohnten. Ein heller Frauenkopf am Fenster hob sich gegen das Licht des Abends ab, das in den hastenden Wellen des Flusses glänzte. Unten in der Flut zogen dunkle Lastkähne schon mit kleinen, bunten Laternenlichtern langsam aus der Ferne, die in Nebel und Dämmer lag, heran, rätselhaft, hastig bedient von einer fast unsichtbaren Bemannung. Es war alles ins Unbestimmte und Schemenhafte eingesunken, und nur die Kuppeln und Türme hoben sich silbergrau und goldumsäumt aus Dämmer und Nebel. Die Frau am Fenster saß in Träume versunken, die der Sonne nachgingen, deren Glut in den Dünsten der Erde langsam erlosch. Die Hände an einer Nähterei im Schoße, die rührten sich nicht. Der Blick glitt hinaus über die Wellen, die sich silbern hindehnten, und auf denen die dunklen Fahrzeuge sich kaum fühlbar näherten, als könnten sie nicht recht von der Stelle. Es war laut im Hause. Man hörte Arbeiter lachend den Flur lang kommen und ihre Türen schlagen, und dann drang, ewig dumpf, mit leisem Erzittern Tag und Nacht das Rumpeln der Mühle. Aus dem Dunkel, das nun hereingesunken, klang eine Frauenstimme, die offenbar in einer Nebenkammer beschäftigt war. Man hörte es an dem Tone der Rede, die innerlich unterbrochen klang und nur sozusagen in den Pausen einer sorglichen Hantierung neu einsetzte:

»Ich begreif dich nee« – klang es frisch und frech herein.

Die am Fenster rührte sich nicht. Sie hörte nicht.

»Ich begreif dich weeß Gott nee«, rief es wieder, und man spürte, daß es eine Junge war, die sich in ihrer Beschäftigung nicht stören ließ. Sie stand drin vor einem Spiegel, obgleich es ganz dunkel war, und knöpfte ihre Halskrause, und so im Zarten, Schemenhaften sah sie im Spiegel ihr junges Gesicht an, daß wer nicht Augen wie eine Eule oder wie ein Uhu hatte, wirklich nichts erkennen konnte. Aber sie hatte es im Gefühl, wohin Knöpfchen und Haken am Feierkleide gehörten – und dann auch die kleinen Kämmchen im Haar, und wie die braunen Locken liegen müßten, die sie sich sorgfältig an die Stirn preßte. Es war ein Abend vor Feiertag, und Toni wollte ausgehen.

»Du hust gar kee bissel Lebensmut«, sagte lässig Toni wieder und kam in die Stube, um in einem Schranke zu kramen. Ein gleichgültiges Lachen kam flüchtig vom Fenster, das nicht wie Schwäche klang, nur hart und verächtlich.

»Ewig derheeme sitzen und Kinderkleeder nähen Hot au' keenen Zweck.«

»Ich muß doch au' noch zum Jungen«, sagte jetzt die am Fenster gänzlich gleichmütig, ohne ihre Stellung zu ändern, mit dem Blick in die einsinkende Nacht und die über Dunst und Wellen aufblitzenden Sterne. »Wenn ich mit dem Gelumpe ni fertig wer', gih ich erscht morne«, setzte sie hinzu, indem sie wie erwacht ihre Nähterei neu ergriff und aufstand. Die Junge begann Licht zu machen. Ein kleiner Schein fiel auf die am Fenster, die gramvoll und versonnen, immer von neuem erstarrte. Gram hatte ihren Ausdruck groß gemacht und streng – ob sie gleich einfach und schlicht erschien. Es war noch immer Mathilde – jung sah sie noch aus – kräftig und schlank – ein wenig verwahrlost in der Haltung und im Kleide – sie hatte eine alte Kattunjacke angelegt, und saß im Unterrock; weil sie für sich und das Kind sorgen mußte, mußte sie sparen. Sie stand und sann – wie in Sehnsucht emporgereckt erschien ihr Kopf mit dem Blick in die Nachtdämmer und die treibenden Wellen. Gram klang im lässigen Ton und Verachtung und ein halbes Sichdreingeben –; »Wenn ich heut ni fertig wer', gih ich morne«, sagte sie langsam, zögernd die Füße vom Tritt setzend, und sah Toni an, die zum Tische kam:

»Steck mir amol de Brosche vir«, sagte Toni und stellte sich in Positur, daß Mathilde sich gleich an die Mühe machte und es ihr nach einigen vergeblichen Versuchen mit der derben Arbeitshand auch bald gelungen war. Und Toni hatte sie dabei ganz nahe angeblickt.

»Wenn du wüßtest, wie tolle Simoneit uf dich is«, sagte sie stillhaltend, indem sie die hellen Augen Mathildes im geheimen anstaunte, die fast feucht waren, und groß und treu aussahen, und die rosige Gesichtshaut, die zart geworden war in den Zeiten, wo Mathilde am Kummer trug. Aber Mathilde war nicht weich geworden. Gar nicht.

»Kumm mite, Mathilde«, sagte noch einmal die Braune vergnügt, wie sie endlich wieder frei dastand und sich um und um wandte, daß Mathilde sie von allen Seiten prüfen konnte. »Kumm ock mite!«

»Wirst zerknillt heemkummen«, lachte Mathilde verächtlich und gab sonst keine Antwort.

»Giht de Frisur?« fragte Toni geschäftig.

»Ja ja – freilich – 's is alles gut,« sagte Mathilde gelangweilt, »o mein Gott, du, du, mach ock endlich, daß Ruhe wird, 's is mir zuwider«.

Und die kleine, nichtige Toni lachte, ehe sie hinaushuschte, und begriff schon aus Hast gar nichts, kam noch einmal zurück in Aufregung, flüchtig und geschäftig mit ihrem spitzen Kinn und ihrer kleinen spitzen Nase im engen Gesichtchen, das nur pfiffige Mäuseaugen hatte, nichtsnutzige, bewegliche, die schnell nach allen Seiten gingen, und die sie auch schnell auf ein Paar nicht mehr ganz reine Zwirnhandschuhe warf, um derer Willen sie zurückkam, um dann endlich ganz wegzuhuschen ....

Mathilde war jetzt allein. Es war ihr angenehm, allein zu sein, seitdem sie wieder mit allerlei Leuten leben mußte, weil ein Stübel allein für sie nicht zu erschwingen war.

Mädchen aus der Fabrik, mit denen sie arbeitete, wohnten mit ihr. Ein alter Rauchfang von Wohnung war's, nicht so schlimm wie im Gemeindehaus. Aber die Wände kahl ohne Schmuck, auch nur den kleinsten. Nicht eine Blume gemalt an Decke oder Wand, kahl und grau. Und die Betten und das Gerümpel dürftig und verbraucht. Was kümmerte das Mathilde. Sie war jetzt froh, daß sie allein war. Sie war ein Arbeitstier, das sich einmal seiner Ruhe freute. Zum Jungen lief sie oft. Wenn sie aus der Fabrik kam – fast jedesmal. Dann spielte sie stumm mit ihm, oft versonnen, wenn sie sah, wie er heranwuchs, einer aus Hallmanns Leben, der aus tausend zerbrochenen Hoffnungen ein einziges Lebendiges zurückgeblieben. Im ganzen resolut und bestimmt, denn sie mußte die Zeit wahrnehmen, wenn sie ihn und sich in Ordnung halten sollte, übrigens war es lange her, seit sie oben in den Bergen gewesen und in Hallmanns Gut Schmach und Schimpf erfahren hatte. In der Zeit hatte sie manches im geheimen durchgemacht. Einmal hatte sie auch vor Salecks Tür gestanden – seltsam, – als wenn sie nicht ihre Absicht, sondern ein dunkler Zufall hingeführt, so erkannte sie auf einmal, wo sie war; sie hatte sich nach dem ersten Kinde gesehnt. Denn in der ersten Zeit nach den Tagen in der Heimat hatte sie fast überall eine stille Angst erfüllt und ihr nirgends Ruhe gelassen. In dieser dunklen Inbrunst war sie auch vor Salecks Tür geraten. Und sie hatte gestanden und heimlich lange emporgestarrt – aber dann war sie, wie gescheucht aus allerlei Visionen, die ihr aufwachten, ebenso plötzlich weggeschlichen, daß sie jetzt niemals mehr auf den Gedanken kam. Er mochte es haben – das Kind – dachte sie – und sie wußte auch, weswegen. Längst war alles still, und sie hatte sich ganz zurechtgefunden. Sie rückte ihre kleine Rauchlampe an den Tisch und setzte ihre Näharbeit am Kinderröckchen fort. Es war völlig ruhig geworden im Hause, nachdem auch die Arbeiter lachend und schwatzend mit schweren Tritten in den hölzernen Korridoren entlang und ins Freie getreten waren, so daß sie ihre Tritte auf den Treppen und unten auf dem steingepflasterten Mühlhof noch eine Weile verfolgt hatte. Noch ein Trupp – und ein paar einzelne, die ruhig sprachen – und dann klang nur dumpf, indem von Zeit zu Zeit ein Zittern den Boden ergriff und ihre Lampe fein klirren machte, die Mühle wieder von den Wellen, die über das Rad schäumten, und von den Kolossen von Mühlsteinen, die die klappernden Riemen in wirbeliger Hast umrissen. Sonst war alles still ....

Mathilde mochte lange gesessen haben, als sie Geräusche im Hausflur hörte und das Gehen einer Tür. Es hatte sie erschrocken. Sie dachte, sie wäre allein und mußte sich außerdem besinnen, wie es um sie wäre, weil die Gedanken sie in unaufhaltsamer Flucht durch ein ganzes Leben voll Hoffnung und Aufregung hindurchgeführt hatten. Wie sie die leisen Schritte hörte, war sie gar nicht bei sich. Sie hatte ihre Nähterei aus der Hand gleiten lassen und richtete sich auf. Wahrhaftig – es mußte doch jemand zu Hause sein. Sie gab sich alle Mühe gleich dahinter zu kommen. Leise Tritte schienen es zu sein, die den Flur lang tasteten – und dann und wann stehenblieben. Wie, wenn jemand auf Zehen schritte, und Geräusche vermiede, um zu horchen. Und die Tür war gegangen. Der Student – dachte Mathilde – der in Schlafschuhen in den Hof geht. Sie horchte noch einmal und gab sich zufrieden. –Ja nun! – nein – noch immer! Die Fußbretter knackten und es schien vor der Türe stillzustehen. Sie war aufgesprungen und war an ihre Tür getreten. Sogar den Riegel riß sie plötzlich vor – in einer unbestimmten Angst, die ihr sonst nicht eigen war, und über die sie auch sofort lachen mußte, während sie die Tür wieder frei machte und mit der Lampe in der Hand gleich danach öffnete. »O mein Gott«, sagte sie, als sie den jungen Dominick sofort erkannte, der vor ihrer Türe gestanden und gelauscht haben mußte. »O mein Gott«, sagte sie und sah ganz erschrocken aus.

»Entschuldigen Sie, Fräulein Mathilde«, sagte er zutraulich und nicht ohne einen Ton von resignierender Sicherheit.

»Nee – aber – Herr Dominick, einen Menschen so zu erschrecken«, sagte sie und mußte unwillkürlich lachen.

»Entschuldigen Sie nur,« sagte er, »ich wollte nur wissen, ob Sie allein wären.« Er war ein wenig verlegen, aber ziemlich ruhig doch – und sah Mathilde mit einem Zuge von Unwirschheit in die Augen, daß Mathilde gleich ernst war.

»Es ist niemand zu Hause außer mir. Wenn Sie es wünschen, können Sie eintreten.« Dominick trat ein, während Mathilde die Lampe zögernd auf den Tisch brachte.

»Ich dachte, Sie säßen heute auch allein,« sagte er, »und ich wollte Gesellschaft haben. Ich sehe, Sie sind immer zu Hause.«

»Mein Gott«, sagte Mathilde, als wenn sie plötzlich ein Gram ergriffe, und sah nun Dominick nicht an, nur wieder auf ihre Nähterei, die sie ruhig von dem Tische aufnahm, um achtlos zu arbeiten. Sie kannte ja Dominick. Er schien ihr plötzlich ganz bekannt. Geredet hatte sie nie mit ihm. Aber sein Licht hatte sie hundertmal blinken sehen. Manchmal noch früh am Morgen und manchmal spät am Abend – und jetzt wußte sie auch, daß er einsam saß im engen Stübel wie sie, und daß er nicht viel hoffte – so schien es ihr plötzlich aus seinen Worten. Er stand in Schlafschuhen vor ihr. Den braunen Kittel, den er immer trug, wenn er draußen oder drinnen ihr begegnete, ob es Sonntag oder Woche war. Immer denselben Kittel, der an Rücken und Aermel abgewetzt und verschabt war, immer den braunen Haarsträhn, flüchtig und scheu schien er – und sein feines, braunes Auge voll Güte – und wenn es einmal aufleuchtete, auch voll sicheren, frohen Begehrens –, so saß jetzt Dominick an Mathildes Tische und schien unbestimmt bewegt, tastend und voll rücksichtslosen Unmuts: »Was sollte ich tun«, sagte er. »Ich wollte ein Menschengesicht sehen – und da dachte ich an Sie.« Aber ehe Mathilde ihn angesehen, und indem sie ihre Stichelei in den Schoß niederlegend ein Wort erwidern wollte – ein seltsames Erstaunen und Prüfen, wie es sie noch immer erfüllte – hatte er längst Lust gehabt, weiterzureden, weil sie zudem still und gütig und vertraulich schien.

»Wissen Sie,« sagte er, »wer mir den Mut gab, zu Ihnen zu kommen? Hahahaha – weil Sie auch Leiden haben – nicht? Sie haben irgend etwas – nicht? Jedesmal, wenn ich Sie sah, dachte ich mir, daß Sie stumm litten.«

Mathilde waren seine Worte unangenehm, weil sie eine Wunde aufwühlten. Dominick sah sie an und lachte beinah höhnisch.

»Seien Sie nicht böse,« sagte er, »ich werde nicht lange bleiben. Aber sehen Sie, deshalb mußte ich einmal kommen, weil ich Sie daran erkannte.«

Mathilde sann und ihr Unmut schwand, wie sie ihre hellen Augen, die fast feucht waren, lange auf ihm ruhen ließ: »O mein Gott,« sagte sie, »ja ja.« – »Ach lassen wir die Leiden«, sagte sie plötzlich, als wenn sie jetzt alles mögliche verscheuchen wollte, was sich dunkel um sie legte, lachte hell auf und nahm einen überlegenen Ausdruck an: »Sind Sie nicht Student?« fragte sie bestimmt.

»Gewiß – gewiß ich studiere und suche mir noch immer Trost in der Gottesgelahrtheit – nur finde ich ihn nicht –«

»O mein Gott, wie nannten Sie es?« –

»Gottesgelahrtheit!«

»Gottesgelahrtheit – wie das klingt –«. Mathilde hatte nie im Leben davon gehört. Es kam ihr groß und unheimlich vor. »Gottesgelahrtheit – Tag und Nacht solche Mühen – «, sagte sie.

»Ja ja, ich suche immer – und suche –.«

»Wo suchen Sie denn? – «

»In Büchern – – übrigens lassen wir das.« Mathilde hatte gar nicht mehr gehört.

»Und Sie wollen mir Gesellschaft leisten?« rief sie lachend. – »O Gott! o Gott! – ich bin einsam – und still für mich – ich bin nicht viel« – sagte sie und ein Kummer lag lange in ihren Augen, wie sie von neuem niedersah. »Man ist nichts,« sagte sie hart, »ein Fabrikmädel bin ich.«

Dominick war aufgestanden und hatte sich ohne Rücksicht in der Stube umgesehen.

»Wenn ich den Tag meine zehn, zwölf Stunden unten in der Fabrik gewesen, muß ich daheim nähen und flicken, sonst verwahrlost man auch am Leibe.« Sie sah nach Dominick hinüber, der in der Stube hinzögerte und jetzt auf ihre Arbeit niederblickte.

»Ich bin auch ein elendes Vieh,« sagte er plötzlich ebenso hart, daß ihn Mathilde erstaunt ansah, »aber wenn ich nicht viel zu fressen hab', lese ich. Mein Vater ist nämlich ein elender Gutsinspektor, muß irgendeinem Großen die Kartoffeln gar und das Vieh fett machen und hat eine zahllose Schar Kinder, nun ist er voll Haß gegen alles, auch gegen uns, und gibt mir nichts. So muß ich mir alleine durchhelfen und möchte leben.«

»O Gott, Gott«, seufzte Mathilde.

»Aber ich lese Bücher, das amüsiert mich. Und außerdem – wie alt sind Sie denn eigentlich? – Sie heißen doch Mathilde, nicht?«

»Alt genug – und noch immer nicht klug geworden. Unsereins muß sich in Verachtung totschinden, wie eine Maschine – wie alt?« – lachte sie – »das sagt man nicht gern – nun – über vierundzwanzig.«

»Ich bin auch dreiundzwanzig«, – sagte er gleichgültig. –

»Und meinen Namen kennen Sie auch?« fragte sie neugierig.

»Ja – weil ich immer schon in Gedanken bei Ihnen war – ehe ich mich hereinwagte. Also – jetzt bin ich doch wenigstens da – und das freut mich – ich sehe Sie gern an – Sie tragen auch eine Last? – nicht? Es ist auch außerdem sehr angenehm, einmal ein lebendiges Frauenzimmer vor sich zu haben, wenn man immer nur die Bücher und die Gottesgelahrtheiten vor sich hat, nicht?« lachte er finster. Und er begann hastig fortzureden, daß Mathilde ihm gespannt zuhörte und ihn anstaunte.

»Soll ich Ihnen manchmal etwas lesen kommen – oder Sie zu mir?« sagte er plötzlich. »Ich habe jetzt tolle Sachen, die einem erst das Leben ganz auftun«, erklärte er lebendig und mit einem lichteren Schein. Wie eine helle Geistflamme zuckte im Auge:

»Wissen Sie – einstweilen habe ich all den gelehrten Prast hingeworfen. Ich lese Romane – hahaha – wie das Leben so ist. Ein Dummkopf ist man – ein Lastträger – ein verkümmertes Menschenvieh – die Welt müßte ja ganz anders aussehen, wenn man nur immer kühn zugriffe – und sich nicht unterkriegen ließ. Ich werde Ihnen da einmal einen Roman lesen – dieses Volk – nun freilich – die Sache hatte auch ein Ende – wie der Schwefel und die Asche niederfielen, war's zu Ende. Haben Sie einmal was von Pompeji gehört? Es ist ja alles nur flüchtig in der Welt – aber man muß doch wenigstens etwas vom Leben mitnehmen. – Hier, sehen Sie – Ihr blondes Haar – herrlich – auf einmal erkenn ich es – das reine Gold ist es – ein Wunder – Gott hat es gemacht und die Theologen verachten es. Sind Sie mir böse, wenn ich es einmal anfühle? Nie im Leben habe ich ein Frauenhaar angefühlt. Oh – und es ist weich und fein –«

»Nicht doch«, sagte Mathilde, fast errötend – und wehrte ihm doch nicht.

»Und Ihr Kopf – groß im Raume – wie nur einer und keiner weiter so wesenhaft – so mächtig – so traurig. Warum sind Sie traurig?«

»Ich bin nicht traurig«, sagte Mathilde scheu und sah ins Weite.

»Und ich sage Ihnen, wenn ich oft zu Ihnen komme, werden Sie nicht einsam sein.«

»Ich habe viel Arbeit, immer, das ist gut,« sagte Mathilde zögernd, »und meine Gedanken kommen und gehen und kümmern niemand in der Welt, das ist auch gut.«

»Und dann werde ich mit Ihnen vertraulich sein und Ihnen sagen und zeigen, wie man leben muß.« Er war ganz lebendig in ihren Anblick versunken und seine Augen leuchteten unter der Strenge und Bestimmtheit, so sah er sie an. »Haben Sie nicht den Wunsch, mit jemand vertraulich zu sein? – Wie ich?«

»Nein,« sagte Mathilde kühl, »da muß man vorsichtig sein. Vertrauen ist selten. Jeder ist ein Tier. – Es gibt wenige, die es geben dürfen und nehmen. – O mein Gott.«

»O mein Gott,« wiederholte er, fast auch wieder ratlos, »aber ich kam doch zu Ihnen.«

»Ja ja«, sagte sie ganz verträumt. »Es ist gut. Bleiben Sie nur. Sie stören mich nicht.« So ging der Abend hin – stumm und still – im Flüsterton fast. Dominick sann und dachte »nun bin ich nicht allein« – nahm auch Mathildes heiße Hand, derweil er kühl und gleichgültig, fast verächtlich und grausam tat, und es ihn nur erstaunte, daß er eine Frauenhand hielt – und er sprach oft in Haß und oft in Güte, daß seine Augen flammten von einer Geistfreude. Und Mathilde saß da – ein wirklicher Frauenkopf im Lampenscheine, mit Augen, in Gram und in Zögern –: und im Raume ging eine seltsame Heimlichkeit um, daß Stunde um Stunde verrann, unbestimmt, ziellos, ohne Wunsch und Begehren, bis längst Mitternacht vorüber war, und der Wächter unten im Mühlhofe die Stunde pfiff. Da besann sich endlich Mathilde.

»'s is Zeit,« sagte sie, »'s geht zum Morgen.«

»Oh,« sagte er hart, »warum wecken Sie mich? Mir war so wohl in dieser Minute« – und er sah Mathilde an, erstaunt wie im Anfang.

»Sie müssen jetzt gehen«, sagte sie.

»Darf ich wiederkommen«, fragte er hastig, fast inbrünstig.

Mathilde zögerte.

»Sind Sie mir böse, daß ich kam«, fragte er hastig.

»Oh,« sagte sie, »nicht, wenn Sie gut sind.«

Und er riß unversehens ihre Hand an sich, die er küßte.

»Wir passen zueinander,« sagte sie lächelnd, »um uns zu trösten. Wir haben beide verloren.«

»Nein, nein – nicht Gram«, flammte es plötzlich in ihm. »Sehen Sie, wenn ich jetzt kommen darf, werden Sie es auch hören, wie es in der Welt steht, und wie man leben muß.« Und er wollte neu, lebendig und eindringlich reden, aber dann sah er, daß Mathilde müde vor ihm stand, tief müde vom Nagen der Gedanken, daß sie dastand mit ausgehöhlten Augen, und ihr Gesicht mager und bleich und fast verworren schien. Da ergriff er rasch ihre Hand, drückte sie sinnlos und eilte versunken hinaus.


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