Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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18

Unteroffiziers-Ball

Mathilde war in einer ganz unbegreiflichen Lage. Wenn einer ihr nahen gewollt und sagen: Mädel – wie töricht du bist! Du hast deinen Saleck, und hast ein lustiges, gesundes Kind, du hast deinen guten Verdienst, und du könntest so schön und geordnet und in aller Anständigkeit leben – was tust du? der hätte wohl recht. Nur daß er nicht begriff, daß alle diese Worte kommen, wenn das Blut nicht zu heiß ist und die Visionen des Auges nicht in Verklärung stehen, daß man Ordnung und gute Worte und Achtung und Anstand nicht mehr wittert. Denn so war es jetzt mit Mathilde. Wer sie sah, sah ihr an, daß Gram eine Stätte hatte in ihr. Sie war Bauernblut. Sie empfand es wie einen Schmerz, daß sie Saleck sah, wie einen huckigen Kümmerer, dem es zuerst die Seele zerbrach, wie sie anders geworden, wie er merkte, daß Mathilde eine Sehnsucht erfüllte, die er nicht begriff. Und der Gram lag in ihren steinigen Augen, daß sie nur wie feucht glänzten und einer Reumütigen Grund daraus hervorschimmerte. Aber aus diesen Augen, die aus dem Grunde aus Trauer und Reue ganz weich und verzweifelt schienen, ging auch eine Lebenslust, wenn sie sich endlich aus allen Zweifeln aufgerafft, alles hinter sich geworfen, nur ihre hellen Visionen ansah; daß man dann begriff, daß jedes Wort abprallen müßte, wie von Diamantfelsen die tosenden Wellen oder an einer wahrhaft Liebenden ein noch so weises Mahnen: »Es wird dein Unglück!« Mathilde war wirklich wie eine Unsinnige. Sie konnte ihrer nicht mehr Herr werden. Es war in ihr aufgegangen, wie eine Lawine und angeschwollen, so leidenschaftlich, daß sie nicht fragte, ob es sie schließlich verderben müßte. Und sie wagte alles. Sie wußte, welchen Haß der Huckige aufbrachte. Sie wußte, daß er nicht wissen würde, was er tat, und sie wagte doch alles. Sie wußte, oder wenigstens, ehe sie es wagte, sah sie in sich und es zerriß sie, daß sie treulos und gottlos hinwarf, was ihr im Grunde lieb und sogar ganz fest einmal ein ewiger Besitz geschienen, wie das Kind. Aber sie mußte es hinwerfen, so brannte ihr Verlangen zu Hallmann, dem jungen, gesunden, schmucken, weichen Bauernsohne, daß sie alles wagte, und wenn sie Saleck gar in seiner Wut erdrosseln, oder mit einem Revolver erschießen würde, wenn sie heimkäme. Da gab es keine Worte mehr, die das Blut stillen konnten. – Das ist das Wunder, was da einmal umrinnt und Gedanken auslöscht und Träume aufweckt, das zeichnet mit der Hand der tiefsten Macht, deren Wesen uns oft ganz unbegreiflich ist, unsere Menschenwege und schmiedet sie wie in eiserne Schranken – was auch Ordnung und Anstand, Verdienst und Ruhe uns locken und verheißen und abmahnen mögen, daß wir sie schreiten müssen, schließlich verwundet und zernagt und verzehrt, und oft um unseres Lebens Zucht und Frucht gebracht, als gingen wir dann an der Hand eines, der unbarmherzig wider unseren eigenen Lebenssinn uns leitet, uns zu seinem dunklen Sinne hinführend. Auch in Mathilde waren die Mächte lebendig, die sie nicht gekannt hatte. Und die sie nicht mehr bannen konnte. Wie sie daheim gewesen neben Saleck, sie hatte es ein paarmal gar nicht begreifen können, daß sie nicht ein schnelles Ende machte. Sie konnte nicht begreifen, daß sie ihm nicht alles einfach vor die Füße warf und hart sagte: »Ich ertrag es nicht!« Sie konnte gar nicht begreifen, daß sie immer wieder in den Wochen zu ihm zurückkehrte und immer noch wieder ein Spiel trieb mit ihm, ihm es halb zu verbergen. Ja aber, was sollte sie auch tun? Sie wohnte doch bei ihm. Und Hallmann war Soldat. Er war den Tag und die Nacht draußen in der Kaserne, und sie begegnete ihm nur auf Stunden. Flüchtig nur saßen sie dann draußen in der kleinen Schenke im Winkel, und er ließ sich Bier geben, und sie plauderten. Aber nur Stunden, in der ganzen Woche wenige! Sie mußte ja doch zurück. Sie konnte doch nicht obdachlos plötzlich umherirren und ihre Wohnung so Knall und Fall verlassen, das hätte ein Aufsehen ohnegleichen in der Fabrik gegeben, und die Schale des Hohnes unbarmherzig über Salecks Kummer ausgegossen. Deshalb gewann sie sich immer noch soweit wieder, um wenigstens von einem offenen Bruche zwischen ihm und ihr zurückzuschrecken. Nun hatte Mathilde Hallmanns Bitte nicht widerstanden und zugesagt, zum Unteroffiziersballe in die Kaserne zu kommen.

Daran hatte Saleck nicht gedacht. Er irrte unterdessen draußen in der Vorstadt von Tanzsaal zu Tanzsaal und sah sich um.

Und Mathilde hatte allen Gram hinter sich geworfen. Zum ersten Male fast getrieben und getragen von der Leidenschaft, die Hallmann in ihr aufgeweckt, war sie eingetreten in die etwas niedrigen, aber sonst reich mit Tannenreisern und Fahnen ausgeschmückten Kasernenräume. Soldaten waren überall. Die Unteroffiziere saßen im Vorzimmer, wo ein Büfett stand, und wodurch alle, die ankamen, schreiten mußten. Die Bierausgeber waren in Uniform, die Kellner waren in Uniform, alles fein und im bunten Glanze, daß es Mathilde ganz wirbelig schien. Wie sie durch den Büfettraum durchschritt, folgten ihr sofort alle Blicke. Sie war einfach, aber anständig gekleidet. Seltsam, daß sie darauf gekommen war, sich ein kleines Kränzel wie von Myrthen und ein paar bunte Nelken ins Haar zu legen, was ihrem Gesicht eine doppelte Frische gab. Eine volle Flechte blonder Haare hatte sie um ihren jungen Kopf gewunden. Sie hatte alle Gewissensschmerzen sogleich ganz vergessen, und es tat ihr wohl, daß die Unteroffiziere sie eifrig und gespannt in den Saal verfolgten, obgleich sie sich nicht umzusehen wagte. Und sie sah sich auch im Saale nicht um, als wenn sie wie eine ganz Keusche hinstarrte und fast ängstlich nur Schritt für Schritt tat und nicht wußte, was kommen könnte. Nun war Hallmann herangetreten, aber sie war ganz steif und förmlich und ängstlich, lachte nicht und sprach, als wenn sie zögerte – und leise – und Hallmann, der sich ganz zu Hause fühlte, auch einen Unteroffizier noch gleich jovial heranzog, mußte über Mathilde lachen. »Das ist aber schien, Mathilde. Warum bist'n su stille, Mathilde? Heute woll'n mir ins aber amol an Lust machen, das heeßt!« Und er lachte und nannte dem Unteroffizier ihren Namen, während er ihm großmütig dann eine Zigarre anbot, aber sie gleich wieder erschrocken einsteckte, als er von ihm hörte, daß man erst nach dem eigentlichen Schluß im Saale rauchen dürfe.

Und Mathilde zögerte noch immer. Sie wagte gar nicht zu sehen, wer da wäre. Rings standen Gruppen. Die Frauen sahen sich um nach ihr. Auch die Männer. Sie empfand es und blickte vor sich nieder. Bis sie es selbst merkte, daß sie wie eine Scheue stand und gleich den Blick hart und bestimmt zu erheben anfing, sich auch langsam umzublicken wagte und heimlich sich Rechenschaft gab, wer die Umstehenden wären. Und sie wurde immer freier. Es schien niemand da, der sie kannte. Es waren wohl Unteroffiziersfrauen; und einige kleine Schneiderinnen erkannte sie auch, die sie beim Vorbeigehen nach der Fabrik manchmal hatte am Fenster sitzen gesehen. Und dann auch einige Bürgermädchen, denen sie nachgeblickt hatte, wenn sie im Laden einkaufen kamen mit Körben, oder wenn sie Sonntags am Arm eines Kommis an ihr feierlich und mit ausgesuchtem Anstand vorbeischritten. Sie lief in der letzten Zeit nicht sehr anständig, ging es ihr eilig durch den Sinn. Sie hastete immer etwas, wenn sie auf der Straße war und blickte sich auch nicht groß um. Es war ihr, die daran gewöhnt war, im Arbeitskittel aus der Fabrik heimzulaufen, jetzt gewöhnlich gleichgültig, wie sie gekleidet war, und sie erwog, ob auch sie nun jemand erkennen würde in ihrem soliden bläulichen Wollkleide, wie sie scheu dastand. Und sie sah genau von Gruppe zu Gruppe, während Hallmanns Sohn neben ihr stand und heitere Unterhaltung teils zu dem Unteroffizier, teils mit einem Gefreiten in der Nähe zu machen suchte, der übrigens auch vor einem etwas zu schweigsamen und eingeschüchterten Mädchen stand, und Mathilde den Rücken kehrte. Und Mathilde sah nun Gesicht um Gesicht von den Frauen an. Sie waren alle nicht mehr jung. Und alle schienen sie angesehen zu haben, und dann wie gleichgültig fortzublicken, als wie in einiger Empörung, daß die Männer im Saale immer sie wieder aufs Korn nahmen. Hallmann brachte jetzt auch seinen Feldwebel herzu und zeigte ihm Mathilde, ganz strahlend – so daß Mathilde fast beschämt war, und es in ihr zu rumoren begann, wie sie einen Augenblick sich vorstellte, daß plötzlich Saleck unvermerkt hereintreten könnte. Aber auch der Feldwebel, ein noch junger, frischer Mann mit einem roten Schnurrbart und sanfter Haut mit Sommersprossen, tat sehr galant. Ihm gefiel sie auch. Er mühte sich, ganz ausgesucht den Eleganten zu spielen und noch dazu hier, wo er eine besondere Autorität war. Er war leutselig, daß einige Frauen sich heimlich drüben in der Ecke wunderten, wielange er sich bei ihr und Hallmann aufhielt.

Das Fest hatte längst begonnen. Die Musik spielte und umbrauste Mathilde schon mit Windeseile. Sie begann sich noch freier zu fühlen, nun sie ganz sicher geworden, daß niemand da war, der sie kannte. Hallmann tanzte mit ihr wie rasend. Und die Unteroffiziere standen schon in der Saaltür, daß sie es merken mußte, und warteten darauf, wann sie einmal zu sitzen kam, um sie sofort im Wirbel fortzuführen. Es war gar nicht mehr zur Besinnung zu kommen. Keiner achtete groß mehr auf den andern. Es war ein ganz wildes und fortreißendes Getümmel. Die Uniformen kamen und gingen und drehten sich mit bunten und weißen Mullkleidern allüberall in dunstiger Trübe, die wie Sonnendämmer über allem lag und in dünnen Nebeln aufstieg. Mathildens Blut kochte, und sie schmiegte sich an Hallmann mit einer Inbrunst, daß er es merken mußte, und daß er ihr zärtliche Worte im Tanze zuzuflüstern begann. Es war ein ganz tolles Umgehen jetzt außen und im Blute. Und Hallmann drückte hundertmal ihre Hand, daß sie fast Schmerzen davon empfand, und daß sie wie aus Höhlen ihre hellen Augenblicke aussandte, um ihn ohne Worte zu fragen, ob er sie auch so ohne Grenzen liebte, wie sie ihn. Und es war eine ziellose und grenzenlose Bewegung unter den Uniformen und unter den hellen Kleidern und den Mädchen« und Frauenköpfen unter Blumen. Eben wandte sich eine ganze Schar Augen aus Frauengesichtern in ihre Ecke, wo sie saß mit Hallmann Hand in Hand. Die Frauen alle hatten, ohne erst groß zu rechnen, gleich begriffen, daß sie es war, die am meisten und am leidenschaftlichsten umschwärmt war. Und alle begannen sich zu ärgern. »Das Frauenzimmer«, hatte eine junge Sergeantenfrau, auf sie zeigend, gesagt, »ich glaube, die geht in de Fabrik.« Es war eine gelinde Aufregung, daß Mathilde gar noch so jubelnd hintanzte, daß man ihr den Sieg anmerken konnte. Und sie tanzte wieder mit dem jungen, unverheirateten Feldwebel, der schon zu Anfang so leutselig und lachend zu ihr geredet und ewig bei ihr gestanden hatte.

Und in die ziellose Bewegung, aus der man dann und wann ein unruhiges Gesicht heller beleuchtet herausblicken sah, kam plötzlich ein ganze Veränderung. Alle Blicke wandten sich der Tür zu. Man schrie: »Richt' euch!« Mathilde wußte nicht, was das bedeuten könnte. Sie war auf einmal tief erschrocken, und hatte danach gleich, als alle plötzlich wie erstarrt standen, der Tanz stockte und die Mienen der Leute, auch der Frauen, ganz ernst und feierlich geworden waren, nichts anderes gedacht, als daß nun ein Gericht über sie hereinbrechen würde, so daß sie fast mit einem Blick voll Haß nach der Tür gesehen, ganz gewappnet, wie keine andere. Und Hallmann, der sie angesehen, war entzückt, wie stolz und kühn sie in diesem Augenblicke aussah. Er drückte ihr noch einmal wie im Krampfe die Hand, ehe er seine Stellung von neuem einnahm, und er wie alle wieder nach der Tür sah, wo nun Tritte, bestimmte herrische Tritte und Sporengeklimper hörbar wurden, und eine ganze Reihe Offiziere, ein ganz hoher, leicht vorgebeugter, vornehmer Herr und einige ältere ihn umringend, alles in blitzenden Uniformen und ein Kranz ganz jugendlicher, frischer Männer eintraten, die sich sofort lachend umblickten und die Reihen musterten, während der hohe vorgebeugte Herr sich nur überlegen umsah, und wie kaum sein Zeichen und sein Wort »Rührt euch!« verklungen war, auch schon von Fanfaren umbrandet, ein Hoch auf den Herrn Obersten rings im Saale schwanken und brausen fühlte.

Und nun ging es erst in Saus und Braus. Nun hörte man harte Männerstimmen überlegen lachen, und der Oberst guckte in die wirbelnden Paare. Einige junge Offiziere waren gleich in die Ecken geschritten, sich die hübschesten Frauenzimmer zu holen. Auch zu Mathilde war ein lustiger Oberleutnant gekommen, mit einem lachenden Kompliment, der bald mit ihr hinfegte, einer der tollsten und lebenslustigsten im Regiment. Und Hallmann stand da und sah ihm nach und freute sich – und Mathilde lag im Arm des Offiziers, so gelassen schon und so siegestrunken, daß sie sich selber wie ganz verzaubert erschien, als wenn sie in den Erdboden gesunken und in einen Elfenpalast gekommen wäre. Die Musik erfüllte sie bis in den Hals, daß Blut und Pulse tanzten in ihr und sie beim Rückkehren auf ihren Platz schon als ganz natürlich empfand, daß einige Frauengesichter sich ihr scheel zuwandten, die sich hatten mit Gemeinen und Gefreiten begnügen müssen. Und sie sah Hallmann an wie eine, die in der Luft stand und nicht auf dem Erdboden, verliebt und selig – ganz nur in seine Augen sich einbohrend, ihm ohne Worte immer wieder sagend, »ich tanze mit allen, siehst du, und alle suchen mich. Aber keiner als du – dir gehöre ich, nur dir gehöre ich.« – Und ihr Blut drängte nach ihm so ohne Grenzen und Halt, daß sie gar nicht aussah, als hätte sie im Gemeindehaus gelebt und Mißtrauen und Haß gegen Menschen eingesogen aus der verworfenen Mutter Brust. Auch nicht wie eine, die einmal selbst wie ein erwachendes Kind draußen in der Sommerluft gestanden, im Glück nur den kleinen Schreihals an der Brust, rings nur summende Bienen im Klee und die weißen Wolken am Himmel, nein, als wenn sie jetzt dastand, nur reif und strahlend und lockend unter denen, die um sie waren, so sich sehnend in Siegesgefühl und Rausch, der sie belebte, daß sie auch Hallmanns Hand nur wieder suchte, ihm zuflüsterte, was ihn wie taumelig machte – und sie nur zu sinnen begann, wie sie mit ihm allein sein und seine Leidenschaft genießen könnte. Sie war wie fiebernd – sie lachte fast nicht mehr, es war auch in ihr fast eine schmerzhafte Hast, wie eine heimliche, nagende Lebensqual, eine Hoheit zugleich, die emporbrannte – ein Vergessen derer, die um sie waren und auf die sie nur noch absichtslos und gleichgültig niedersah. Und es durchzuckte sie ohne Denken, daß das Leben gewagt sein will und gewagt sein muß, ehe ein Krallenarm sie zurückreißen könnte. Groß und sicher, wie in sich bestimmt, wußte sie jetzt, daß sie sich nie trennen könnte. Sie warf alles hinter sich. Auch dann, wie gegen drei Uhr in der Nacht Hallmann sie heimführte, und sie im Taumel an seinem Halse hing und er ihr Liebesschwüre zuflüsterte, brennend in unstillbarem Lebensdurst.


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