Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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32

Mathildes Kind stirbt

Am großen Tor, das der grobe Portier bewachte, stand ein alte Frau und fragte nach Mathilde.

»'s is Arbeitszeit«, sagte der Mann in der Uniform, der gerade eine Schnitzarbeit vor sich aufstellte, die er in seiner kleinen Stube in der Muße angefertigt, und sah kaum auf mit seinem etwas roten, runzeligen Gesicht, in dem der Schnurr- und Kinnbart eine unbestimmt gelbgrüne Farbe hatte. Es war gegen Abend.

»'s is jetzt Arbeitszeit, Sie müssen warten, bis es schlägt.« Die Frau wollte sich zufrieden geben, weil sie sich unwillkürlich im ersten Augenblick vor dem betreffenden Menschen und seiner groben Rede fürchtete. »Jesses,« sagte sie zögernd, »müßt ich warten, – 's giht ock ni gut.«

»Das wär schön, wenn jedes immer jeden in jeder Stunde herausrufen könnte. Da hätten wir viel zu tun;« und der Portier hatte das Fensterchen wieder geschlossen. Und die alte Reichelt, die Pflegefrau, bei der Mathildes Kind untergebracht war, gab sich eine Weile zufrieden, trat auf die Straße hinaus und sah durch die Latten des weiten Hofes vor der Fabrik, wo Leute hin und her gingen, die aus den großen Unterfahrten traten und wohl alle in Geschäften eilig waren und sich kaum umblickten. Eine Weile stand sie. Nicht, daß es kalt gewesen wäre, obwohl Märzwetter herrschte, und die Straßen schneeig, die Luft trübe war und rauh. Sie war nur zu sehr in Sorge. Sie sah durch die Latten und hoffte, sie würde vielleicht auch Mathilde zufällig entdecken können, unter denen, die im Hofe sichtbar wurden. Und sie zögerte noch immer und blickte noch einmal hinüber. Aber dann wagte sie es doch, an das Tor zurückzukehren. »Ich müßte sie aber sprechen – « sagte sie ganz vorsichtig, um den alten Griesgram gut zu stimmen, »weil jemand daheem krank is.« – Mit Unwillen und Überlegenheit sah sie der Portier an und erhob sich langsam: »Krank ist jemand!« – und er blieb immer noch stehen und ordnete an seinem Schnitzwerk. »So – ja – nun – wenn jemand krank ist«, sagte er phlegmatisch – »ist wirklich jemand krank« so sagte er noch einmal, als er endlich mit seiner Arbeit im Reinen und aus seinen Gedanken heraus war. »Ju, ju, fein's ock so gut – warten könnt ich ni a sulange – daß mir daheeme nischt passiert – nämlich – das Kleene is krank.« »Ja zum Teufel – nun gut, das ist ja die, die eine ganze Herde schon zu Hause hat«, sagte der Portier lachend und fing sich an, langsam seine Hände zu waschen und zu trocknen, ehe er Miene machte, Mathilde zu rufen. »Aber fleißig ist sie, sie kommt seit Jahren pünktlich, und der Herr hat's ihr nachgesehen«, sagte er mit Würde, »warten Sie!«

»Se mißte glei heem kummen«, sagte die alte Reichelt, »ich war ni erst warten, se mißte glei kummen«, sagte sie noch einmal, »'s muß a Rat war'n.«

Mathilde warf ihre Arbeit beiseite, hastend und rücksichtslos, daß ihr jeder, auch der alte Portier ansah, wie sehr sie eine unerwartete Angst fortscheuchte, eilte die Treppen nieder, daß der Portier ihr gar nicht so schnell folgen konnte – kein Wort sprechend, nur in fliehender Sorge, daß sie auf dem Hofe sich nicht einmal die Zeit nahm, sich ihr Jäckchen umzuwerfen, und ans Tor lief. »Wo ist denn die Frau?« sagte sie in die Luft. Aber es war niemand mehr da. Sie lief ohne Aufenthalt durchs Tor, ohne sich noch umzusehen. Sie dachte nur an das Kind. Eine Reihe peinlicher Schrecken folterten sie sofort, als wenn sie einen Augenblick hell sähe. Sie lief, die Jacke überm Arm hastig über die Straßen, im Halbdunkel, und hielt ihr Körbchen vor sich, als wenn sie etwas Zerbrechliches trüge, obwohl das Körbchen leer war und es nur aus ihrer plötzlichen Verwirrung in sie kam. »Es ist tot«, sagte sie hastig. »Nee ach!« Denn sie sah immerfort vor sich ein Leichengesicht. Bald das eines Mannes, der wie Saleck aussah, bald das ihres Kindes. Um Saleck handelte es sich ganz und gar nicht. »Nee, ums Himmelswillen«, entfuhr es ihr in Aufregung, als sie in die letzte Straßenecke umbog, wo einige Häuser querstanden, daß eine Sackgasse entstanden war. Sie verlor fast den Atem, als sie endlich im Hause stand und mußte auf der zweiten Treppe stehenbleiben. Es war noch kein Licht auf den Treppen und alles ruhig. »Es ist tot«, dachte sie wieder und wagte fast nicht mehr weiterzugehen. »Ach nee«, ermannte sie sich und sprang hastig in die Höhe, die letzte Treppe unter Dach hinauf, wo sie vor der alten Reichelt stand. Sie begriff alles. Das Kind war in entsetzlicher Verfassung. Diphterie ging im Orte um. Der kleine Hallmann lag und röchelte und war aufgetrieben im Gesicht und blau und gab entsetzliche Laute von sich, die Verquollenheit auszuspeien. Keine Möglichkeit. – »Der Arzt muß kummen.« Mathilde war schnell entschlossen. Sie stand und sagte nichts, mit entsetztem und gequältem Ausdruck – und dann lief sie, wo sie einen Arzt fand. Aber der Fabrikarzt war nicht zu Hause, und sie kam unverrichteter Sache wieder. Sie wollte das Kind aufnehmen, das mit verdrehten Augen dalag und kaum noch röchelte. Dann und wann schreiend mit entsetzlichen, verquollenen Lauten und Husten. Der Arzt kam. »Was soll geschehend« fragte sie bestimmt. »Eine Operation ist zu spät«, sagte er. Sie sah den Doktor verständnislos an. »Die Krankheit ist schnell,« sagte er nur ruhig, »wenn das Kind nur Kraft behält!« – »Wird es Kraft behalten?« fragte sie hastig. »Das Herz ist schwach«, sagte er. »Es wird sterben«, sagte sie – worauf der Arzt gar nichts erwiderte, nur versuchte, es zu befühlen, und es lange ratlos ansah und dann auch die Alte ansah und die junge Mutter. »Wann begann es zu fiebern?« fragte er endlich.

»Oh! 's hot die Nacht schon ni gut geschlofen«, sagte die Alte ängstlich.

Der Arzt verschrieb was, was Mathilde eilig aus der Apotheke holen ging. Er saß am Bett; ging noch einmal weg, um sich Werkzeug zu holen und kam wieder.

»Wir wollen es noch versuchen«, sagte er, wie er eintrat.

»Ach mein Gott«, sagte leise Mathilde.

Es kam auch ein wenig Hilfe, als der Doktor den Luftröhrenschnitt ausgeführt. Mathilde sah es mit Staunen.

Sie sah mit Staunen, wie das Gesichtchen sich verfärbte und natürlicher wurde. Aber wie er dann hinaus war – immer noch mit einer kleinen Hoffnung – in der Nacht – wurde es leiser und leiser – schwach auch das Wimmern –- und schwächer; seine kleinen, nun unterlaufenen Augen, die sonst hell waren und Mathildes Freude –, schlossen sich – und der Atem sog sich einwärts – es kam eine entsetzliche Veränderung. Der Atem sog sich einwärts – und eine Blase stieg aus dem Munde, daß es auf einmal völlig still war.

Mathilde starrte auf das Kind. Es war um zwei Uhr morgens. Es faßte sie, daß sie sich ganz außer Maßen verworren an Frau Reichelt hing, die noch immer mit ihr im Zimmer saß, im Lampenschein, der klein und arm war. Mathilde sah und hörte nichts um sich. Sie starrte ins Bettchen, als wenn sich dort etwas begeben, was sie nicht glauben könnte, was sie fliehen müßte. Als wenn ein Verfolger hinter ihr wäre, und sie um Schutz flehen müßte um jeden Preis, so umarmte sie wie rasend und heimlich in sie einredend und sie küssend, Frau Reichelt. »Jeses, Jeses«, sagte sie immer nur und flehte. – Frau Reichelt wußte nicht, wie sie sie sollte zur Besinnung bringen. Mathilde, die Starke, hing an Frau Reichelt, innerlich kraftlos geworden; so klammerte sie sich an sie, um nicht niederzufallen. Und alles sagte sie im inbrünstigsten Flüstertone, als wenn sie etwas wecken könnte, das Unheil wecken könnte, das im Bettchen längst das Kind bleich gemacht. Und Mathilde sank nun zurück und ermannte sich auch gleich wie eine Wütende. Sie griff nach dem Kinde, sie fühlte, daß es schlaff war, sie riß es heraus und wollte es auf den Arm nehmen. Es war völlig schlaff und tot. Sie legte es staunend ins Bett – sah es erstarrt aus großen Augen an, die ganz trocken waren – »was machen wir denn?« fragte sie ratlos Frau Reichelt.

»Es ist nischte zu machen«, gab die leise hinzu. Und Mathilde schrie auf – einmal – dann begann sie zu weinen – wie eine Mutter weinen kann. O furchtbar – ihre ganze Seele weinte sie aus – sie weinte und weinte, allen Trost und alle Hoffnung weinte sie aus – nichts blieb in ihr. Sie saß am Bette und starrte hinein, wo das Kind lag und weinte ohne Unterlaß, wie eine traurige, weite, graue Wolke weint über ein weites Frühlingsland, das in Blüten liegt, so weinte sie – und rührte sich nicht, daß die alte Reichelt sie mahnte – und dann auch die Söhne der Alten kamen – halb angekleidet, auch Fabrikarbeiter – und sie auch das Kind ansahen und nichts zu sagen wußten, gar nichts – wieder hinausgingen, und in der Wohnung eine düstere Trauerempfindung alles erfüllte und tränende Augen in die Nacht emporsahen, während Mathilde stumm und leise zerrann im ungestillten Schmerze.

Wie der Morgen dämmerte, fand sie sich schlafend am Kinderbett. Ihre Augen waren trocken. Sie begann alles fürs Einsargen herzurichten und besann sich auf mancherlei Arbeit.


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