Carl Hauptmann
Mathilde
Carl Hauptmann

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Mathilde sieht einen aus der Heimat

Mathilde hatte sich von der Pflege erholt, daß sie stark und gesund war, wie die Zeit gekommen, daß sie gebären sollte; daß sie auch in Kraft den Schmerz ertrug, der sie wenige Stunden zerriß, und daß sie ohne Not und nur mit Frau Webers Hilfe einen kräftigen Knaben geboren hatte.

Nun saß sie im Felde unter Bäumen, das Kind an der vollen Brust und war glücklich, daß sie allein leben durfte mit dem lustigen Kinde, das Salecks Entzücken war, der auch schon längst genesen, mit ihr oft am Raine draußen die Feierabende im Juni genoß. Saleck ging täglich in die Fabrik, nun allein. Er war sorglich und außer Maßen arbeitsam, und hätte um keinen Preis auch nur den Gedanken ertragen, daß sie, die Gesunde und Kräftige, nicht ihren anvertrauten Pflegling selbst an weicher Brust nähren und mit stiller Muttersorge umgeben sollte. »Wenn der Junge a su weit is, daß er laufen kann,« sagte er, »ni ehnder«, und meinte, daß es dann Zeit sein würde, daran zu denken, ihn andern Menschen anzuvertrauen. Mathilde war also die schönen Junitage fast immer im Felde; sie saß da und strickte, oder wusch ihre Windeln am Raine – dort, wo ein Bach durch die Wiesen rann – stand da hell und schlank –, ein weißes Tüchel ums Haar, das ihr viele Male in den Nacken glitt und ihre goldenen Haare frei wehen und flattern ließ. Sie stand fern von allem Lärm ganz in Einsamkeit, weil die Ackerarbeiten getan waren, und man jetzt auf das Reifen des Korns und auf das Emporwachsen all der tausend lispelnden und zitternden Gräser und Blumen wartete. Oh, sie waren schon reichlich aufgewachsen, sie standen so hoch, daß das Kind in Decken in ihnen versank – und Mathilde wie ein Nest eindrückte, schon fast versunken auch hinter grünem Korn unterm weiten, blauen Himmel. Und Mathilde wand aus Sauerampfer und Klee und aus Maßliebchen und Kamillen Kränze für ihr Kleines, dem sie es um die Stirn legte, nur einen Augenblick, weil es nichts davon begriff.

Und wenn Mathilde so saß, wußte sie nicht, wie sie hierher gekommen. Welches seltsame Geschick ihr einen solchen Sommermorgen in den Schoß geworfen, mit Blumen und wehenden, duftigen Lüften – sie mußte fast lachen, daß sie es war; daß sie gar auch die Mutter dieses Kindes war, das vor ihr lag und den unförmlich kleinen Mund zum Schreien verzog – daß sie es sein sollte, die da plötzlich einem Kinde eine lautere Quelle geworden, an der es sog mit so gierigen Zügen – und sie begriff nichts – und war belustigt und lachte über sich und über den hellen, grünen Kornstreif, worüber eine Lerche im Licht wogte und hinein in weiße helle Wolken, die im Blauen vom Horizont auftauchten und im Zuge langsam herschwammen – still und zu Träumen ladend.

Auch eine Chaussee kam heran aus der Ferne, die näher an ihr vorbeiging, nicht nahe genug, daß der Staub sie traf, den vereinzelte Wagen aufwirbelten. Auch nicht nahe genug, um das Rattern einer Karre zu hören, die eine Landfrau im bunten Kopftuch vor sich herschob, obzwar Mathilde nach all dem neugierig aussah, und es sie still belustigte.

Und wie sie auch einmal so saß, das Kind tränkend und sich erlabend an seinem kräftigen Saugen, das sie bis ins Blut fühlte, hörte sie plötzlich trommeln von der Ferne. Es war ihr zuerst die Feuerwehr eingefallen, oder sie dachte auch an die alten Krieger – die zum Kriegerfeste oder zur Reformation vom Gemeindeältesten geführt, daheim mit Trommeln auf der Dorfstraße und ins Kirchtor zogen; oder ans Kinderfest, wo ein paar Jungen aus Bauernhäusern dem Zuge vorausschritten mit stolzen Wirbeln, und woran sie niemals teilnehmen gedurft, einfach weil sie in ihren, von allem Frohsinn abstechenden Lumpen trotzig nicht hatte daran teilnehmen mögen. Auch weil man an solche Belustigungen im Gemeindehause nie hatte denken können. Aber wie sie zusah, war es eine lange, glitzernde, in sonnigen Staubwolken funkelnde Heerschlange, die sich nahte – und die näher und näher heranzog. Mathilde war so aufgeregt, und so neugierig, daß sie fast den Jungen mit Gewalt von der Brust nahm. Er schnappte ab wie ein kleiner Blutegel und schrie. Sie hörte es gar nicht, so sah sie aus, was es geben möchte. Es kam näher. Es war ein hörbares Dröhnen von vielen harten Tritten, die gleichmäßig die Staubwolke weitertrugen. Voran ritt einer – und einige, vornehm Aussehende liefen hinter dem Tambourzug und den Pfeifen. Obwohl sie noch niemals Soldaten im Freien marschieren gesehen, wußte sie es gleich – und ließ den Jungen im Grase liegen. Sie war wirklich aufgeregt: eine ganze Kolonne mit Trommeln und Pfeifen und mit luftigen, dumpfen Tönen zwischen den Wirbeln, die ordentlich auch in sie wie elektrisierend einfuhren, daß sie das Summen der Bienen, das Schwirren in den Sommerwiesen, das Geschrei des Jungen im zitternden Grase –; daß sie den hellen Himmel mit den weißen Wolken und sich selber vergaß, bis sie von Neugier erfaßt, schauend und staunend, langsam Schritt für Schritt an dem grünen Kornfelde entlang fast bis zu den blühenden Ebereschkronen der Chaussee heran war. Ganz wagte sie es nicht. Und sie hatte auch eilig noch einmal zum Kinde zurückgesehen und gemerkt, daß es sich ganz beruhigt hatte und in Groll über die erzwungene Entsagung eingeschlafen war. So stand sie zögernd mit nackten Füßen, die unter ihrem leichten, roten Rocke hervorschimmerten – und sah neugierig, wie ein gutes Kind selbst, hinüber –, das blonde Haar ganz nachlässig flatternd, ob auch die pralle Sonne darauf schien, weil sie gar nicht mehr merken konnte, daß ihr das Kopftüchel halb auf der Schulter hing – und ließ den trappenden und klappenden, gleichmäßig einherschreitenden Zug heran und vorüber – hörte kaum, daß alle ihr zulachten – sie »Minna« und »Anna« und ausgelassen untereinander mit allerhand anderen Namen wie Bekannte anriefen, einer den Helm und der andere das Trinkgeschirr ihr zuschwenkte, auch die Offiziere ihr zulachten, ein Soldat aus der Kolonne laut schrie: »Kumm ock mite, Marie, dich könn' mir grade brauchen«, und andere sogar einen Gesang anstimmen wollten, der aber über dem Lachen und Rufen nur leicht aufwachte und gleich wieder versank. Daß jetzt aber einer aus dem hintersten Gliede plötzlich ihr wirklich zuzunicken schien, wie ein Bekannter. »Mein Gott!« Daß sie seine Stimme auch wie bekannt hören konnte und fast ihren Ohren nicht traute, wie er ihr zurief: »Jeses, Mathilde« – und beim Weiterziehen noch einmal ganz überrascht sich zurück bog und immer wieder sich umwandte mit einigen andern und winkte. »Guten Tag, Mathilde.«

Sie hatte ihn gleich erkannt. Gleich – aber es war ihr gar nicht, als wenn es ihr gegolten. Sie hatte sich unwillkürlich umgesehen, ob noch jemand hinter ihr stünde. Dann hatte sie ihm doch freundlich zugenickt, als wenn sie sagen wollte: Hahaha – du bist es, der mich sonst gar nicht angesehen, nur einmal ein paar Ohrfeigen von mir besehen hat in der Schule, wie ich unter den letzten im grauen Kittel arm und mißachtet saß, und du gewagt hattest, mich anzurühren. Nun bist du aber ein Schmucker geworden, nun gefällst du mir! Und sie lachte ein über das andere Mal, wie sie endlich zögernd zu ihrem Kinde zurückging, das still mit offenen Augen unter Blumen lag – mit ganz kleinen Augen, die sich zur Sonne noch nicht auftun konnten, und sie lachte – und sie kostete sinnend, wie es doch anders geworden. Sie stand und träumte und sah immer wieder hinüber in die Ferne. Und es kam noch einmal über sie, als ob sie sich fragen müßte, wer ihr den hellen Sommertag und all das Reinliche und Frische, das sie umgab, in den Schoß geworfen, und sie geriet in Zweifel, ob sie einmal auch mißachtet in der Schule gesessen hatte, und alle Neckereien der Soldaten fielen ihr nun ein, und sie lachte und dachte dann: »Ob das wirklich der Sohn vom Hallmann-Bauer war?« und sie konnte, auch wie sie daheim war, nicht ein Vergnügen aus der Seele verlieren. So komisch und drollig war es ihr vorgekommen, und auch wie eine unbestimmte Sehnsucht schien seitdem in ihr, so oft sie denken mußte, wie sie hingezogen im Sonnenlicht, blinkend und männlich – so ausgelassen –, so mit festem Stampfen und Trappen, und der fröhliche Gesang aus der Ferne über die Felder herüberklang. Und sie sah junge, rote, schweißige Gesichter ihr zulachen – die, wer weiß, woher kamen, um, wer weiß wohin, fortzumarschieren, unter Trommel- und Pfeifengetöne und unter den Ebereschkronen, die alle blühten.


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