Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Vierzigstes Kapitel.

Ein zweites Verhör und Ende des Buches.

So stand ich auf dem Gange allein an dem Treppengeländer und schaute lange, lange in das finstere Haus hinab. Unten aus der Küche drang ein Lichtstrahl, und ich hörte die Mägde zusammen flüstern, unterschied auch die Stimme des Herrn Block, welcher nach dem Buchhalter fragte. Wer hätte glauben können, daß in diesem sonst so ruhigen Hause soviel Jammer für mich entstehen könnte? Willenlos stieg ich eine Stufe um die andere hinab, ging bei der Wiegkammer vorbei und befand mich bald an dem Zimmer der Prinzipalin, welches durch ein Vorgemach von dem Treppenflur getrennt war. Sowohl dieses Vorgemach als die Zimmertür waren nicht fest verschlossen, ein Lichtstrahl drang aus den Zimmern der Madame Stieglitz, doch wurde in denselben nichts gesprochen. Ich ging langsam näher und konnte jetzt das ganze innere Gemach übersehen: da saß die alte Frau in ihrem Lehnstuhl, und zu ihren Füßen, auf einem niederen Schemel, sah ich meine Nichte Emma, welche ihren Kopf auf die Knie der alten Frau gelegt hatte, und das Zucken ihres Körpers verriet, daß sie heftig geweint. Ihre Haarflechten waren aufgegangen, und lang und golden fielen sie über ihre Schultern herab. Madame Stieglitz hielt mit einer Hand einen Brief hinter das Licht, um ihn deutlich lesen zu können, und das, was sie las, mußte für sie sehr ergreifend sein, denn das Papier zitterte, und während des Lesens legte sie ihre andere Hand auf das blonde Haar des Mädchens, sie fest an sich drückend. Jetzt ließ sie den Brief fallen, schüttelte finster mit dem Kopfe und beugte sich dann zu Emma hinab, hob ihr Gesicht sanft am Kinn in die Höhe und sagte: »Mein gutes, armes Kind.«

»Nicht wahr,« sagte das Mädchen schluchzend und küßte ihre Hand, »nicht wahr, Sie glauben nicht, daß ich etwas Unrechtes getan?« – »Nein, mein Kind,« tröstete sie die alte Frau, »ich hätte schon deiner wahrhaften Erzählung über den Vorfall geglaubt, und nun erst der Brief, den du mir gegeben; – wann hast du ihn von dem Doktor erhalten?« – »Es war nicht lange, nachdem ich in Ihr Haus kam.« –»Ganz richtig, ungefähr vier Wochen vorher verließ die unglückliche Therese dasselbe; o, das ist ganz entsetzlich, ganz schrecklich!« – »Verzeihen Sie mir eine Frage, eine Bitte,« sagte das Mädchen dringend. »Nicht wahr, Sie übergeben die Sache meines – Vetters – nicht den Gerichten, wie der Buchhalter gedroht?« – »Gott soll mich bewahren,« sagte die Frau, »das würde ich schon nicht getan haben, wenn der junge Mensch auch keine so warme und eifrige Fürsprecherin hätte, wie du bist, mein liebes Kind; dies Papier da – sie zeigte auf den Brief – läßt mich sehr Schlimmes ahnen, doch wäre eine solche Schlechtigkeit unerhört. Du bist überzeugt,« fuhr sie fort, »daß dein Vetter unschuldig ist?« –

Das Mädchen richtete sich halb in die Höhe und hob die rechte Hand empor. »So wahr ich an einen Gott glaube,« sagte sie feierlich, »und an eine Vergeltung für alles, was wir Böses tun, so wahr glaube ich, daß er nichts Böses und nichts Schlechtes getan.«

»Ei, ei, Mädchen,« sagte Madame Stieglitz freundlicher und küßte sie wiederholt auf die Stirn, »du bist eine eifrige Verteidigerin und nimmst großen, großen Anteil an deinem Vetter; ist das vielleicht mehr als verwandtschaftliche Liebe?«

Es entstand eine kleine Pause, Emma drückte ihr Gesicht auf die Hand der würdigen Frau, dann erhob sie es wieder und sagte schüchtern und leise: »Warum soll ich ein Geheimnis vor Ihnen haben, vor Ihnen, die mir wohl will und die mich liebt wie meine Mutter? Ja, es ist mehr als verwandtschaftliche Liebe; verzeihen Sie mir, ich habe dies noch gegen niemand, Gott ist mein Zeuge, gegen niemand ausgesprochen; aber ich liebe meinen Vetter mehr als alles auf der Welt! Alles, alles würde ich verlassen und ihm folgen, und würde ihm um so bereitwilliger folgen, wenn er, mit Verdacht beladen, ins Unglück ginge.«

Einen Augenblick sah die Prinzipalin die Sprecherin gerührt an, dann legte sie ihr beide Hände auf das Haupt und sagte feierlich: »Gott segne dich, mein Kind; ich hoffe auf Licht von oben und will zu Gott bitten, daß er ihn nicht ins Unglück gehen lasse.«

Meine Gefühle, als ich das alles hörte und sah, sind nicht zu beschreiben; ich wollte ins Zimmer, wollte zu den Füßen der alten Frau stürzen und ihr in den feurigsten, beredtsten Worten von meiner Unschuld sprechen; doch faßte mich in demselben Augenblick eine Hand und drückte herzlich die meinige, und ich vernahm die Stimme des Doktors, welcher unvermerkt an meine Seite gekommen war. »Nicht immer hört der Horcher an der Wand seine eigene Schand',« sagte er, »wir wollen sehen, was zu tun ist; noch weiß ich freilich nicht viel mehr als heute morgen.«

Bei unserem Eintritt blickte Madame Stieglitz erstaunt auf, und Emma eilte mit einem leisen Schrei an das andere Ende des Zimmers. Ich hielt mich an der Tür, der Doktor setzte sich auf einen Sessel, den ihm die Prinzipalin mit einer Handbewegung anbot.

»Bei uns sind heute merkwürdige Dinge vorgefallen,« sagte sie, »Dinge, die mir ein schauerliches Licht in die Seele geworfen; wo ist das arme Mädchen, die Therese?« setzte sie mit leiser Stimme hinzu.

Ebenso leise antwortete der Doktor: »Sie ist gut aufgehoben, und es geht ihr leidlich.« –»Und glauben Sie, daß das Mädchen die reine Wahrheit gesagt hat, daß mein Buchhalter wirklich –?« Sie sah, ohne ihren Satz zu beendigen, den Doktor fragend an.

»Ohne Zweifel,« entgegnete dieser; »in solchen Momenten pflegt man nicht zu lügen, auch hat sie mir Briefe des saubern Herrn Specht vorgezeigt, welche keinen Zweifel übrig ließen.« – »Gott schütze die arme Person, es war im Grunde ein braves Mädchen; doch jetzt zu der andern Angelegenheit. Sie wissen, wie die Sachen stehen; was kann man tun, wie kann es uns gelingen, die Wahrheit an den Tag zu bringen?«

Der Doktor zuckte die Achseln, stützte den Kopf auf seinen Stock – eine Lieblingsattitüde aller Aerzte – und entgegnete: »Madame, verzeihen Sie mir den Ausdruck, aber wir haben es mit einem verstockten Sünder zu tun; daß der Brief an das Bankierhaus falsch sei, daß er unterschoben wurde, um unseren Freund ins Unglück zu bringen, ist für mich klar, doch ist es schwer, dies zu beweisen.«

Auf der Straße ließ sich jetzt das Rollen eines Wagens vernehmen und gleich darauf das Klirren der Hufe von Pferden auf dem Pflaster, die vor dem Hause scharf pariert wurden; wenige Sekunden nachher sprang der Herr Block ins Zimmer und meldete die Ankunft des Herrn Kommerzienrats Schilderer, welcher die Prinzipalin zu sprechen wünschte.

Der Herr Kommerzienrat Schilderer war ein sehr gewichtiger und bedeutender Mann in der Handelswelt; als Chef des ersten Bankhauses des ganzen Landes hatte er das Wohl und Wehe einer großen Menge Kaufleute in der Hand, und da er zugleich Präses der Handelskammer und des Fabrikgerichts war, so entschied er zu gleicher Zeit über das Schicksal von Tausenden von Arbeitern, die ihn als einen unparteiischen Richter verehrten, liebten und fürchteten.

Im Geschäft streng und unnachsichtlich, war er doch im gewöhnlichen Leben wohlwollend und freundlich, half den Bedrängten und übte Wohltaten au rechter Stelle, wo er nur konnte. Im Aeußern war der Kommerzienrat groß und schlank, hoch in den Fünfzigen, durch eine geschmackvolle und sorgfältig auserwählte Toilette, sowie durch eine glänzend schwarze Perücke in den Augen der Welt als gut konserviert dastehend. Etwas Blendenderes und Frischeres, als die weiße Halsbinde war, die er trug, konnte man nicht leicht sehen; aus derselben hervor streckten sich unendlich steife und sehr lange Vatermörder, welche ihm nicht erlaubten, den Kopf schnell auf die Seite zu drehen. Er mußte diese Bewegung durch eine halbe Wendung des Oberkörpers hervorbringen, was seiner ganzen Erscheinung etwas Steifes, aber zugleich Feierliches verlieh. Sein Kleid war vom feinsten schwarzen Tuch, und im Knopfloch bemerkte man ein farbiges Bändchen.

So kam er die Treppen herauf, im Vorgemach stand der Herr Block und nahm seinen Paletot in Empfang mit der Absicht, bei dieser Gelegenheit etwas von dem Gespräch vernehmen zu können. Ich unterstützte dies Vorhaben des jungen Herrn Block, indem ich an der Tür stehen blieb und dieselbe hinter mir offen ließ.

Der Kommerzienrat drohte mir leicht, aber nicht unfreundlich mit dem Finger, und mir war, als müsse durch sein Erscheinen meine Sache eine plötzliche und sehr günstige Wendung nehmen. »Guten Abend, Madame Stieglitz; sieh da! Doktor,« sagte der Bankier beim Hereintreten und ließ sich gravitätisch auf einen Sessel nieder, den der letztere hinschob. »Sie werden erstaunen, mich so spät zu sehen, doch hat mir der Doktor da, natürlich im Vertrauen, eine Geschichte erzählt, die ich mir, da ich jenen Leichtsinn wohl kenne, zu Herzen nahm.« Er versuchte bei diesen Worten, mich anzusehen, was ihm aber seine Krawatte nicht erlaubte, da ich ganz in seinem Rücken stand. »Mein Kassierer,« fuhr er fort, »im Geschäft ein sehr brauchbarer Mensch, aber außerhalb ebenfalls etwas lustiger Natur, kam heute abend, nachdem Sie eben fort waren, Doktor, in einem fürchterlichen Katzenjammer – Madame, Sie verzeihen mir dies Wort – auf die Kasse geschlichen, um noch einige notwendige Zahlungen zu besorgen; ich habe ihm natürlich einigermaßen den Text gelesen, doch als er die große Kasse öffnet – sie war seit Samstag verschlossen, denn ich lasse nur in der äußersten Not einen meiner anderen Leute für den Kassierer eintreten – siehe da! unter dem Deckel lag das Paket mit den fünfhundert Talern Kassenanweisungen, um welches es sich handelt.«

»Gelobt sei Gott!« rief ich laut auf, eilte auf den Bankier zu und empfing mit zitternden Händen das verloren geglaubte Geld.

»Die jungen, leichtsinnigen Menschen,« fuhr der Bankier ernst fort, »dachten am Samstag-Abend, wie mir scheint, mehr an ihre Vergnügungen als an das Geschäft, und statt das Paket einzuschieben, ließen sie es in der Kasse liegen.« Der Doktor reichte mir gerührt die Hand, und die Prinzipalin winkte mir freundlich zu, und aus der Ecke des Zimmers glaubte ich einen frohen Ausruf zu vernehmen.

»Es schiene mir jetzt das rätlichste,« sagte Herr Schilderer, »wenn man Ihren Buchhalter, den Herrn Specht, hier erscheinen ließe und ihn veranlaßte, seine Klagepunkte, die mir, aufrichtig gesagt, unbegründet erscheinen, nochmals zu wiederholen.«

Die Prinzipalin sagte eifrig: »Ja, ja,« und zog an der Klingelschnur, die ins Kontor führte; doch hatte der junge Herr Block draußen in der Freude seines Herzens den Paletot des Kommerzienrats in einen Winkel geworfen und sprang eiligst die Treppen hinauf. Daß er in diesem Augenblick nicht ein lautes Hurra ausstieß, war eine Mäßigung, die ich ihm nicht zugetraut hätte.

Wenige Augenblicke darauf trat der Herr Specht ins Zimmer, sein Gesicht war etwas blaß, und der Ton, mit dem er guten Abend wünschte, war weniger fest und salbungsvoll als sonst. Ich sah diesem zweiten Verhör mit mehr Ruhe entgegen, als dem gestrigen, und zog mich ins Vorzimmer zurück, um dem Doktor vollkommen Spielraum zu lassen, seine Fragen gegen den Buchhalter zu stellen. Mich überwältigten tausend frohe Gedanken; den Namen Emma wiederholte ich unzählige Male, und einmal ums andere herzlicher und inniger. Stand ich doch jetzt schon von dem schlimmen Verdacht gerechtfertigt da, hatte ich doch ihr süßes Geständnis gehört; nur wie sich das Dunkel hinsichtlich des untergeschobenen Briefes aufklären würde, war ich begierig, zu erfahren. Daß die Unterschrift sehr ähnlich war, konnte man nicht leugnen – die Unterschrift der Prinzipalin – ich dachte nach, dachte eifrigst nach, und auf einmal dämmerte mir ein Licht auf. Ja, so war es, so mußte es sein. Ich trat wieder ins Zimmer in dem Augenblick, als der Doktor sagte: »Sie werden jetzt deutlich einsehen, Herr Specht, daß Ihr Kollege das bewußte Geld in keiner böswilligen Absicht erhob; denn wenn man sich unrechtes Gut aneignen will, so läßt man dies Gut nicht leichtsinnigerweise liegen, sondern nimmt es mit sich. Sagen Sie mir deswegen offen Ihre Meinung: Was glauben Sie, wie konnte jener Brief auf das Pult kommen, wer ist wohl imstande, diese Unterschrift so täuschend nachzumachen?«

Der Buchhalter zuckte die Achseln und hob die Augen gen Himmel; doch ich trat festen Schrittes an den Tisch und entgegnete, die Frage des Doktors beantwortend: »Ich glaube zu wissen, wer jene Unterschrift gemacht, und glaube ebenfalls sagen zu können, wer den Brief darüber schrieb, den man auf mein Pult legte.« Alles sah mich erstaunt an, und der Buchhalter zuckte unmerklich zusammen, als ich einen festen Blick auf ihn warf; doch verwandelte sich dieses Erstaunen in Schrecken, als ich ruhig fortfuhr: »Ich selbst habe jene Unterschrift gemacht, ja, ich selbst, aber im Beisein des Herrn Buchhalters.«

Sein triumphierender Blick verwandelte sich plötzlich, und er stotterte: »In meinem Beisein?« – »Ja, Herr, in Ihrem Beisein! Sie werden sich jenes Abends erinnern, wo wir von der Schrift der Madame Stieglitz sprachen, wo Sie behaupteten, die Schrift sei sehr schwer nachzumachen, und wo Sie mich scherzend ersuchten, den Namen der Prinzipalin auf ein Blatt Papier zu schreiben.« – »Das ist eine häßliche, verabscheuungswürdige Erfindung,« sagte der Buchhalter mit gefalteten Händen, »so wahr mir Gott helfe!« – »Wenn sich das beweisen ließe,« sagte der Kommerzienrat, »so wäre freilich viel gewonnen.« – »Beweise, um Gottes willen, Beweise!« rief der Doktor.

»Dies Papier mit der Unterschrift,« fuhr ich fort, »dort auf dem Tisch liegt es, und ich erkenne es jetzt wieder, warf der Buchhalter nachlässig in eine Mappe, in eine Mappe von grünem Saffian mit einem Stahlschloß, und zugleich ein anderes Papier, worauf ich mehrere Male vergeblich versucht, die Unterschrift nachzubilden, ehe es mir vollkommen gelang; vielleicht, wenn man jene Mappe untersucht, fände sich auch das zweite Papier darin.«

»Allerdings, allerdings,« entgegnete der Doktor, und der Buchhalter rief hastig: »O, diese Mappe kann ich vorzeigen, ich werde sie im Augenblick von meinem Zimmer holen.« Er wollte davoneilen, doch sagte der Kommerzienrat lächelnd: »Ich glaube, ohne den Herrn Buchhalter verdächtigen zu wollen, es wäre nicht unzweckmäßig, wenn vielleicht der Doktor den Herrn Buchhalter auf dessen Zimmer begleitete; die Sache handelt sich um Ehre und guten Namen eines anderen, und da muß man schon vorsichtig sein.«

»Ich werde den Herrn begleiten,« sagte der Doktor und sprang auf, doch hielt ihn die Prinzipalin beim Arm zurück und sprach: »Verzeihen Sie, meine Herren, ich bin hier vollkommen Ihrer Ansicht, doch glaube ich, es wird besser sein, wenn ich meinen Buchhalter begleite, mir wird derselbe aus dem Inhalt seiner Mappe gewiß kein Geheimnis machen.«

Der Buchhalter stand bei diesem Vorschlage da – ein Bild des Jammers und Entsetzens, die stieren Augen traten ihm fast aus dem Kopfe, er schnappte mühsam nach Atem, und seine zitternde Hand knöpfte den Rock, den er trug, auf und zu.

Die Prinzipalin hatte einen Leuchter ergriffen, sagte ernst und befehlend: »Folgen Sie mir!« und stieg dem Buchhalter voraus die Treppen hinan.

»Ich gehe auch mit,« flüsterte mir der Herr Block zu, »dieser Kerl ist zu allem fähig, ich will für alle Fälle bei der Hand sein.«

Wir blieben unten in gespannter Erwartung und sahen erschüttert den Dingen entgegen, die da kommen würden; uns alle beschlich ein eigenes, unheimliches Gefühl, und als wir nach einiger Zeit droben den festen Schritt der Prinzipalin vernahmen, welche langsam die Treppe herabkam, schnürte mir jeder Schritt die Brust zusammen, so daß ich kaum imstande war, zu atmen. Sie mochte eine Viertelstunde ausgeblieben sein, und Emma sagte mir später, sie habe während dieser Zeit auf ihren Knien gelegen und eifrig gebetet.

Endlich trat die alte Frau wieder ins Zimmer, und man sah, daß sie sich Mühe gab, den Leuchter fest in der einen Hand zu halten, in der andern Hand trug sie einige Papiere, die sie mit allen Zeichen des Abscheus auf den Tisch warf. Obgleich sie heftig ergriffen schien, obgleich ihr ernstes Gesicht von einer erschreckenden Blässe bedeckt war, ging sie doch stolz und festen Schrittes auf ihren Sessel zu; doch als sie sich niedergelassen, rückte sie ihren Lichtschirm so, daß ihre Züge von tiefem Schatten bedeckt waren.

»Die Sache ist aus und entschieden,« sprach sie, »mein bisheriger Buchhalter, der Herr Specht, hat mir die Wahrheit dessen, was Sie,« sie wandte sich zu mir, »was Sie vorhin ausgesagt, eingestanden, er habe Sie fälschlich angeklagt, er habe Sie absichtlich ins Unglück stürzen wollen. Der Buchhalter verläßt morgen mein Haus für immer; Sie sind von dem Verdacht, der auf Ihnen geruht, vollkommen gereinigt, und ich sage es offen, daß es mir sehr leid tut und daß ich bedaure, etwas Uebles von Ihnen geglaubt zu haben; geben Sie mir Ihre Hand!« – »Gott sei Dank!« sagte der Kommerzienrat und erhob sich von seinem Sitz; »die Angst, die Sie ausgestanden, haben Sie einigermaßen verdient, indem Sie das Geld, Sie an meiner Kasse erhoben, leichtsinnigerweise liegen ließen.« – »Ja, ja,« fügte der Doktor bei, »allverehrter Fabrikant, und wenn zufällig das Geld auf der Straße verloren ging, so kam Ihre Unschuld nicht sobald an den Tag, lassen Sie sich das eine Lehre sein!«

Ich dankte dem Kommerzienrat herzlich für seine Freundlichkeit und seine Worte; der junge Herr Block half ihm ganz entzückt den Paletot anziehen, und der Bankier empfahl sich mit einigen freundlichen Worten. Der Wagen rollte fort, und der Doktor nahm seinen Hut. »Ich muß meiner Frau,« sagte er, »die glückliche Entwickelung dieser Geschichte anzeigen, sie hat sich sehr um diesen jungen, leichtsinnigen Menschen gegrämt!« Dann setzte er leise, zu mir gewandt, hinzu: »Ich lasse Sie hier allein in der besten Gesellschaft, kommen Sie morgen früh zu mir und erzählen, was Sie heute abend hier noch Neues und Liebes erfahren. Gute Nacht!« Er ging davon, und der junge Herr Block, dem von der Prinzipalin ein freier Abend bewilligt wurde, folgte ihm. Wie ich nachher erfuhr, nahm ihn der Doktor mit nach Haus und hängte ihm in der Freude seines Herzens einen kleinen Rausch an.

Wir blieben allein in dem Zimmer, die Prinzipalin, Emma und ich; das Mädchen eilte, vor Freude laut schluchzend, aus ihrem Winkel hervor und ließ sich, wie früher, zu den Füßen der Prinzipalin nieder; auch ich eilte herbei und dankte in herzlichen Worten für alle Liebe und Güte, die sie mir erwiesen.

»Meine Kinder,« sagte die alte Frau, und während sie mir ihre rechte Hand gab, legte sie ihre linke auf das Haupt des Mädchens, »meine Kinder, Gott hat euch in seinen Schutz genommen und alles wohlgemacht; ihr liebt einander, ich freue mich darüber, laßt mich für euer Schicksal sorgen; ich habe niemand auf der Welt, ihr beide steht ebenfalls allein da, und so glaube ich, könnte es gelingen, daß wir unsere Tage in Frieden zusammen genießen können; ich will euch Mutter sein, seid ihr meine Kinder – ja, meine Kinder, mit allen Rechten, die ich euch einräumen kann.«

Das war ein höchst seliger Moment, der sich nicht beschreiben läßt, und wer einen ähnlichen schon erlebt hat, denke an seine glücklichste Zeit zurück; wer ihn noch vor sich hat, hoffe darauf als auf das Seligste, was ihm diese arme Erde bieten kann.

»Jetzt geht, Kinder,« sagte nach einer langen, langen Pause die Prinzipalin, jetzt unsere Mutter; »geht, es ist spät, und ich fühle mich sehr ergriffen. Du, Emma, wirst schon heute nacht die Zimmer neben mir beziehen, und du,« sagte die Prinzipalin zu mir und fügte lächelnd hinzu, indem sie auf Emma zeigte: »sieht Er, Er ist durch sie zum du gekommen – du gehst auf dein Zimmer, und morgen sprechen wir weiter.« Ich begab mich voll Glück und Seligkeit hinweg, und da es mir als ganz notwendig erschien, daß Emma von ihrem Zimmer noch einiges ganz Notwendiges holen mußte, so wartete ich auf der Treppe auf meine kleine Geliebte. Vor zwei Stunden stand ich ebenfalls hier, aber mit welch ganz andern Gefühlen, in welch ganz anderer Lage! Endlich kam Emma, und ich muß gestehen, daß der lange, lange Kuß, den ich jetzt bekam, andere Empfindungen erweckte, als die Küsse, welche früher dem Vetter bewilligt wurden.

Am andern Morgen verließ der Buchhalter das Haus, nicht, ohne daß vorher der Pfarrer Sproßer den Versuch gemacht hätte, zu gunsten seines Glaubensgenossen den Entschluß der Madame Stieglitz umzustimmen; doch dauerte die Unterredung, die der Geistliche deswegen mit ihr hatte, nur sehr kurze Zeit; er kam mit einem sehr langen Gesicht, von welchem die gewöhnliche Sicherheit und das ewig lächelnde Behagen gewichen waren. Er verhüllte sein Haupt, als er mich sah, und machte vor der Haustür eine Bewegung, als schüttle er den Staub von den Füßen. Sein Reich in diesem Hause war zu Ende. – Den Herrn Specht aber sah ich nie wieder.

Der Doktor freute sich innigst und herzlichst über mein Glück und hatte noch an demselben Tage eine lange Unterredung mit der Prinzipalin, deren Resultat war, daß ich, mit Empfehlungs- und Kreditbriefen wohl ausgerüstet, ein Jahr lang die Seidenfabriken Südfrankreichs besuchen sollte, mittlerweile aber wollte die Prinzipalin das Ladengeschäft verkaufen und die daraus zu erlösenden Fonds sollten nach meiner Rückkehr zur Vergrößerung des Fabrikgeschäfts benutzt werden. Die Nutzung ihres ansehnlichen Privatvermögens, welches in Staatsobligationen und sonst angelegt war, behielt sich Madame Stieglitz bis zu ihrem Tode vor; doch traf sie auch für den Fall ihre Verfügungen, und der Doktor, der als Testamentszeuge zugegen war, sagte nachher: »Ich versichere Ihnen, Sie haben ein unverdientes Glück!«

Die gute alte Frau hatte Emma und mich zu ihren Erben eingesetzt unter zwei Bedingungen: die eine war, daß die Fonds des Hauses Stieglitz u. Comp. in Amsterdam ihrem dortigen Vetter verblieben, und die andere war, daß wir erst in den Besitz des übrigen Vermögens kommen sollten, wenn ich das Fabrikgeschäft, das sie mir übergeben, durch Fleiß und Umsicht zu einer gewissen Höhe gebracht haben würde. Unverdiente Unglücksfälle wurden mir nicht angerechnet, doch wurde dies Geschäft durch den Verkauf des beträchtlichen Ladengeschäfts schon so dotiert, daß wohl dies als die alleinige Ursache anzusehen ist, weshalb es in einigen Jahren eines der besten und glänzendsten wurde.

Bald darauf reiste ich meiner neuen Bestimmung entgegen. Es war ein klarer, kalter Winterabend, und nachdem ich zu Hause einen herzlichen, aber schweren Abschied sowohl von meiner zweiten Mutter wie von Emma genommen, ging ich in Begleitung des Doktors auf die Post. Vorher aber nahm ich bei Sibylle die zahlreichen Grüße in Empfang, welche sie mir für sämtliche Familienmitglieder, die ich der Reihe nach besuchen sollte, mitgab. Der junge Herr Block ließ es sich nicht nehmen, meine Geldtasche zu tragen, und bald stand ich wieder auf dem Posthofe, wie an jenem unvergeßlichen Abend, und reiste mit demselben Eilwagen, den damals der dicke, alte, höfliche Herr mit der grauen Reisemütze bestiegen. Der Doktor händigte mir eine kleine Summe ein und bat mich, damit einige seiner kleinen Schulden in B. zu bezahlen. »Vergessen Sie nicht,« sagte er lachend, »meine Hauswirtin zu besuchen, und sehen Sie nach, ob die Freskogemälde auf meinem Zimmer noch existieren. Apropos! grüßen Sie Jungfer Barbara, jetzige Madame Philipp, und wenn mein Skelett zufällig noch in ihrem Besitz ist, so kaufen Sie es ihr um jeden Preis ab. Auf baldiges fröhliches Wiedersehen!«

Der Wagen eilte davon, und bei Tagesanbruch war ich noch eine kleine Stunde von der Mühle entfernt. Beinahe um dieselbe Stunde wie damals stand ich an dem alten Kreuz, und so licht und hell wie meine Zukunft, so war auch heute meine Aussicht auf das Tal unter mir; da wogte kein trüber Nebel, und alles war mit des Winters Festkleid, dem weißen Schnee, aufgeputzt. Die kahlen Aeste der Bäume und Sträucher ließen mich tief unten die freundliche Mühle sehen, kerzengerade stieg aus dem Schornstein der blaue Rauch und wurde oben vergoldet durch den ersten Strahl der Morgensonne, der über die Berge brach. Das Wasser rauschte über das angeschwollene Wehr, das Mühlrad lief lustig und geschwind herum, als wollte es sich in der Kälte warm machen, und zerbrach dabei die kostbaren, schön geformten Eiszapfen, die sich über Nacht angehängt hatten, und stäubte sie in tausend funkelnden Brillanten in die klare Luft. –

Jetzt hatte ich das Gehege erreicht, das den Hof umschloß; jetzt erblickte mich der Baas, der eben im Begriff war, den schweren Rappen in seinen Schlitten zu spannen. Alles war wohl auf und freute sich, mich wiederzusehen; ich mußte der Müllerin von ihrer Tochter, der Doktorin, erzählen, und tat es auch zu ihrer größten Befriedigung. Elsbeth war noch unverheiratet, Kaspar dagegen hatte sich noch ein paar dicke Kinder zugelegt, und den guten Franz konnte ich leider nicht sehen, da er über Feld war. Nach einer Stunde verließ ich mit dem Vetter auf dessen Schlitten die Mühle wieder, und auf der glatten Schneebahn flogen wir pfeilgeschwind gegen B. – An all den Orten kam ich vorbei, wo ich damals mit dem Doktor Burbus gerastet; in dem Wirtshaus, wo er die Gendarmerie geneckt, hielten wir eine halbe Stunde an. Wenige Stunden darauf erreichten wir die Stadt, und mit einbrechender Nacht trat ich in das Zimmer meiner Großmutter.

Die Freude der alten Frau war unbeschreiblich, als ich ihr, so stattlich angetan, unter die Augen trat; sie setzte die Brille des alten Generals auf die Nase, und nachdem sie mich von allen Seiten betrachtet, wurde ich der großen Ehre teilhaftig, eine Prise aus der goldenen Dose der verstorbenen Gräfin nehmen zu dürfen.

Wir plauderten über dies und das; ich erfuhr unter anderem, daß die Haushälterin des Vormunds vor einigen Tagen gestorben, und daß die älteste Tochter sich nächstens verheiraten werde. Die alte Katze der Großmutter hatte ebenfalls das Zeitliche gesegnet, sowie auch der Schuster im Hinterhause – seine Witwe setzte das Geschäft fort.

Ein lautes Schluchzen vor der Tür verkündigte mir die Ankunft der Schmiedin. »Wo ist das Kind?« sagte die gute Person, und als ich ihr entgegentrat und die Hand gab, liefen ihr die hellen Tränen über die alten, eingefallenen Backen. Ich mußte meine Schicksale umständlich erzählen, und das dauerte bis tief in die Nacht hinein.

Am andern Morgen steckte ich eine Zigarre an und besuchte mit seltsamen Gefühlen die Orte, wo ich während meines hiesigen Aufenthaltes Leid und Freud' genossen: dort war die Kirche, wo ich meine geliebte Emma zum erstenmal gesehen, jetzt betrat ich mit klopfendem Herzen die Straße, wo das Reißmehlsche Haus stand.

In der Wohnung des Doktors war man vergnügt über die paar Taler, die ich in seinem Namen bezahlte; sein Zimmer mochte ich nicht sehen, es sei nun geweißt und frisch herausgeputzt, sagte die Wirtin. Vor dem Zwischenraume der beiden Häuser blieb ich einen Augenblick stehen: ich sah die beiden Fensteröffnungen, welche wir durch eine Bretterplanke verbunden hatten. Dieser Winkel hatte sich in seiner grauen Trübseligkeit in gar nichts geändert; unten lagen große Haufen Kehricht, an den Fenstern flatterten, wie damals, die Schnüre zum Wäschetrocknen. Mir war, als sei meine Flucht aus dem Reißmehlschen Hause erst gestern vor sich gegangen; dort hing auch die bewußte Laterne, auf ihrem Deckel lag eine zierliche Schneekappe. Auch an dem Reißmehlschen Hause hatte sich gar nichts geändert: vor der Tür wankte der getrocknete Stockfisch hin und her, da standen die Fässer mit Mehl und Butter, und neben ihnen der alte, steinerne Kriegsknecht, an seiner langen Nase hing ein schwerer Eiszapfen. Ich trat in den Laden, da saß Philipp, jetzt der Prinzipal, auf dem Stuhle des seligen Herrn Reißmehl. Es war noch dieselbe trübselige Gestalt, doch hatte er sich eine Brille zugelegt; er erkannte mich nicht wieder, und als ich Zigarren verlangte, pries er mir geschäftig verschiedene Blätter. Als ich darauf meinen Namen nannte, rückte er die Brille in die Höhe, und seine Züge überflog ein melancholisches Lächeln; das Wiedersehen machte aber wenig Eindruck auf ihn, er sagte, seine Frau sei abwesend, und ich empfahl mich bald wieder.

So hatte ich denn auch das hinter mir, ich nahm einen herzlichen Abschied von der Großmutter sowie von der Schmiedin und meiner Tante, und mittags saß ich im Coupé des Eilwagens; vor mir trabten die vier Pferde lustig auf dem gefrorenen, steinharten Boden, und ich nahm für kurze Zeit Abschied von der heimatlichen Erde, wie ich auch jetzt von dir, geliebter Leser, einen freundlichen Abschied nehme.

Wen übrigens die kleinen Abenteuer meines Lebens so sehr interessierten, daß er erfahren möchte, ob ich auch von meiner Reise nach Südfrankreich glücklich heimgekehrt sei, dem will ich anvertrauen, daß in diesem Augenblick Emma, meine Frau, ins Zimmer tritt – es ist Abend, die große Lampe brennt und das Kaminfeuer knistert – und mich ersucht, endlich einmal die lange Geschichte vom »Handel und Wandel«, die ich in meinen Freistunden, wenn Wiegkammer und Kontor geschlossen sind, niederschrieb, zu beendigen, was denn auch hiermit geschieht.

 

Ende.


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