Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Fünfzehntes Kapitel.

Geheimnisse.

Während sich das alles mit mir begab, war es dem unglücklichen Philipp am Abend nach der Entkerkerung der Fanny noch weit schlimmer ergangen. Daß er beim Anblick der heiligen Hermandad der Reißmehlschen Pforte zufloh, ist bereits gemeldet, wie auch, daß der Jammervolle, trotz allen Beteuerns seiner Unschuld, beim Kragen genommen und hinweggeschleppt wurde. Glücklicherweise war Philipp von allen schrecklichem Ereignissen des Abends so zusammengedonnert, daß er, als nun jene Katastrophe eintrat, nach den ersten ohnmächtigen Versuchen, sich zu verteidigen, in völlige Apathie versank und sich wie das Lamm zur Schlachtbank ruhig fortschleppen ließ. Es waren zwei handfeste Polizeisoldaten, die ihn im wahren Sinne des Wortes durch die Straßen schleiften. Philipps Kniee waren eingesunken, und seine unendlich langen Arme und sein Kopf hingen schlaff hernieder. Obendrein hatte er seine Pantoffeln verloren – es waren ein Paar abgeschnittene Stiefel, die er in den Feierstunden an den Füßen trug – und während das Wasser von unten seine Beine benetzte, drang der Regen von oben in sein herabhängendes Haar und näßte seine bunte Kattunjacke. Hierzu kam noch, daß durch das kräftige Anfassen der Häscher Philipps Hemdkragen auf der einen Seite gewaltig in die Höhe gezogen wurde. Alle diese Umstände trugen nicht wenig dazu bei, daß der Schließer des Polizeigefängnisses, wo man nun anlangte, den unschuldigen Philipp mißtrauisch anschaute und sein Aussehen für sehr verdächtig erklärte.

Philipp kannte das Polizeigefängnis nur dem Namen nach, und oft, wenn er in Aufträgen seines Prinzipals an diesen hohen, grauen Mauern vorbeigegangen war, hatte er mit Entsetzen die fest verschlossenen Türen, die stark vergitterten Fenster angeschaut, und wenn sich an letzteren hier und da ein mageres Gesicht mit langem, struppigem Bart zeigte, hatte der menschenfreundliche junge Mensch geseufzt und bei sich gesprochen: »Man sollte selbst einen Mörder nicht unmenschlich halten!« Und jetzt, jetzt stand er selbst in der Vorhalle dieses schrecklichen Gebäudes, und vor ihm saß der diensthabende Polizeiwachtmeister, einige Fragen nach seinem Namen, Stand usw. an ihn richtend. Wenngleich Philipp diese aufs wahrhaftigste beantwortete, schüttelte doch der Polizeimann ungläubig den Kopf und entgegnete: »Ist alles erlogen, alles erlogen; kenne wohl den Herrn Reißmehl; ein sehr ordentlicher Geschäftsmann und ruhiger Bürger, hat in seinem Laden zwei Subjekte, eines, das schon ein paar Jahre dort ist und sich beständig gut aufgeführt hat, von dem auch die Polizei nichts Schlimmes weiß . . .« – »Bitte recht sehr, verehrtester Herr Kommissär, aber der bin ich ja selber.« – »Er?« entgegnete der Kommissär mit einem sehr verächtlichen Blick, »halt Er das Maul mit Seinem Lügen, oder ich will Ihm . . .« – Der arme Philipp, den das gräßliche Lokal, wo er sich befand, kaum wieder etwas zu sich selber gebracht hatte, war im Begriff, den Verstand zu verlieren, als er hörte, daß man ihm beweisen wollte, er sei nicht er selber.

»Märtens!« rief der Wachtmeister in eine kleine, räucherige Nebenstube hinein, wo man beim Schein einer trüben Oellampe mehrere bewaffnete Leute erblickte, die auf einer Pritsche zu schlafen schienen, »Märtens, komm Er heraus und seh Er diesen Burschen genau an. Er treibt sich ja in dem Stadtviertel, wo der Herr Reißmehl wohnt, beständig umher und sollte dessen Leute wohl kennen.« – »Kenn' sie auch,« antwortete drinnen eine sehr heisere Stimme, und ein alter Polizeisoldat erschien in der Tür, der gähnend und sich reckend näher schlich; »kenn' sie alle, Herr Wachtmeister.«

»Dann ist's gut,« dachte Philipp bei sich, »man wird gleich sehen, woran man ist,« und freudig durchzuckte ihn ein kleiner Hoffnungsstrahl. Er wandte seinen Kopf gegen den Polizeisoldaten, der ihn einen Augenblick gleichgültig ansah und darauf seinem Vorgesetzten ebenso gleichgültig meldete, den Menschen kenne er nicht. – Auf diesen schrecklichen Ausspruch hin fing es an in Philipps Kopf ernstlich umzugehen; es sauste ihm vor den Ohren, und er begann an sich selbst zu zweifeln. Sein erster Gedanke war, wenn er nur einen Spiegel hätte, in dem er sich betrachten könnte, um ins reine zu kommen, ob er es denn wirklich sei. Doch dauerten diese leichten, aber schrecklichen Anfälle nicht lange; denn Philipp war moralisch und physisch zu sehr von sich selber überzeugt. Gerechter Gott! dies waren ja seine langen, dürren Beine, dies waren seine magern Finger, und wenn sein Haar, in welchem er jetzt verzweiflungsvoll umherfuhr, nicht so strohdachähnlich geordnet, wie sonst, herunterhing, so war es doch immer das alte, lang, fahl, blond und struppig.

»Sieht Er, junger Landstreicher,« fuhr der Wachtmeister fort, »sieht Er, daß man vor hoher Polizei mit dem Lügen nicht weit kommt? Doch wird sich Seine Sache morgen früh beim Verhör schon aufklären. Wir wollen unterdessen Sein Nationale aufnehmen und Ihn in Numro 4 unterbringen, da wird Er gut aufgehoben sein.« – Philipp stellte sich ein ehrsames Polizeigefängnis ungefähr so vor, wie er in alten Ritterbüchern von den Verließen gelesen hatte: tiefe, feuchte, haarsträubende Löcher, bevölkert von Ratten, Eidechsen und Fledermäusen – ach! und letztere fürchtete Philipp entsetzlich; tief im Grunde modern einige Skelette, an den Wänden herab fließt trübe Feuchtigkeit, dumpfes Kettengerassel, und nur oben durch wankendes Gesträuch fällt ein einziger Mondstrahl in den schauerlichen Raum. Das alles schwebte vor Philipps Phantasie, und er machte noch einen letzten, aber ebenso fruchtlosen Versuch, den Polizeimann von der Identität seiner Person zu überzeugen. Vergebens; es war elf Uhr, der Schließer sehnte sich nach Ruhe, die Tat der Laternenzertrümmerung war so gut wie bewiesen, und Märtens, der schon wieder auf seine Pritsche hinaufgekrochen war, beteuerte nochmals schon halb im Schlafe mit schwerer Zunge, den Herrn Philipp beim Herrn Reißmehl, den kenne er ganz genau, das sei ein scharmanter junger Mensch, und er wolle sich morgen früh einen Gang nicht gereuen lassen, um ihm zu erzählen, daß sich dieses polizeiwidrige Subjekt für ihn ausgegeben.

Wie dem Unglücklichen, der dem Schließer durch einen Hof eine steinerne Wendeltreppe hinauf folgte, zu Mute war, kann man sich leicht denken, und obgleich ihm der Polizeimann versicherte, daß er ihn aus Gnade und Barmherzigkeit in Numro 4, eines der bessern Lokale, bringe, wo er anständige Gesellschaft finden werde, so konnte sich doch Philipp eines neuen Schauderns nicht erwehren, als die Tür zu Numro 4 vor ihm geöffnet war und er in ein Gemach schaute, aus dem ihm ein warmer, unangenehmer Duft entgegendrang, und das, von einem einzigen, fast erlöschenden Oellicht erhellt, ein sehr trostloses Aussehen hatte. Philipp wurde hineingeschoben, die Tür hinter ihm verschlossen, und so stand er da, von der ganzen zivilisierten Welt getrennt, inmitten einer Rotte Gefangener, von denen, wie der Unglückliche glaubte, wohl jeder ein Mörder sein konnte. Das Gemach mochte einige vierzig Schuh in der Länge und Breite haben; die Decke wurde von zwei hölzernen Pfeilern getragen, und drei vergitterte Löcher, die sich oben an der Wand befanden, stellten die Fenster vor. Rings herum liefen hölzerne Pritschen, auf denen die Bewohner von Numro 4 zum Schlafen ausgestreckt lagen. Es waren ihrer sechs, von denen aber nur zwei der Schlummer wirklich in die Arme genommen, was sich durch ein unheimliches Schnauben und Schnarchen verriet. Von den übrigen hatten sich drei um einen vierten gelagert, der oben auf der Pritsche zusammengekauert saß. Letzterer hatte die Beine kreuzweise übereinandergeschlagen, wie es die Schneider zu machen pflegen, und schien vor dem Eintritt Philipps gesprochen zu haben, hörte aber jetzt auf, und die vier schauten den Unglücklichen an, der entsetzt und verwirrt an der Tür stehen blieb und keinen Schritt vorwärts wagte.

Wenn Philipp schon durch sein Bewußtsein, sich im Kerker zu befinden, moralisch niedergedrückt war, so wirkte der sonderbare Duft, der im Gemach herrschte und in welchem der Zwiebelgeruch die Oberhand hatte, physisch so vernichtend auf ihn, daß ihm der helle Schweiß von der Stirn troff und er sich an der mit Eisen beschlagenen Tür festhielt, um nicht umzufallen. Aengstlich sah er hinter sich, ob er nicht einen Sitz gewahr würde, auf dem er sich niederlassen könnte, und wirklich bemerkte er neben der Tür eine kleine hölzerne Bank, auf die er sich, nachdem er sie vorher mit den Händen betastet, langsam und geräuschlos niedersetzte. Doch wie ward ihm, als er hierbei mit dem Fuße an etwas stieß, das er alsbald als eine schwere eiserne Kette erkannte, die an einem Balken befestigt war und deren leerer, offener Schlußring ihn freundlich einzuladen schien, sich seiner zu bedienen.

Von den vieren auf der Pritsche, die den Bewegungen Philipps aufmerksam zugeschaut, wandte sich einer an den, der etwas erhöht saß, und sagte ihm leise: »Der scheint mir auch noch nicht oft hier gewesen zu sein.« – »Jott!« antwortete jener, der durch den Dialekt alsbald seine Landsmannschaft verriet, »Gott, wie er sich retiré hält! Ich glaube, daß er Angst hat, oder es sieht in seinem Kopfe hochmütig aus. Man kann das nicht immer wissen, Männeken.« – »Ach was, hochmütig!« meinte der andere, »daß der Angst hat, kann jeder sehen. Habt ihr nicht bemerkt, wie er zusammenfuhr, als er an die Kette unter der Bank stieß?« – »Wir wollen schon dahinter kommen,« sagte der Sitzende. »Ich will ihn anreden und bald erfahren, wie es eigentlich mit ihm aussieht.«

Bei diesen Worten reckte er sich so hoch wie möglich empor und rief laut: »He, Sie dort hinten an der Tür! Wissen Sie denn gar nicht, was sich schickt, wenn man in eine anständige Gesellschaft hineinkommt, und daß man den Leuten, die schon beisammen sind, einen juten Abend wünscht? Das ist Ton in der ganzen Welt.« Philipp, der die Bewegungen der vier nicht außer acht gelassen, bemerkte kaum, daß er mit dieser Anrede gemeint sei, als er sich rasch erhob, eine Verbeugung machte und in der Angst die Worte stotterte: er wünsche guten Abend, und es sei ihm nicht in den Sinn gekommen, gegen irgend jemand unhöflich zu sein; vielmehr habe er geglaubt, den Schlaf der Herren zu stören, und sei deshalb . . . – »Seht ihr wohl?« sagte einer der drei. »Was Hochmut! Angst war es. Mach ihn couragiert, Schneider! Wir wollen doch erfahren, wer es eigentlich ist.«

Der Schneider veränderte die Lage seiner Beine etwas, nickte mit dem Kopfe und wandte sich, jetzt in Ton und Worten viel höflicher, an Philipp, indem er ihn bat, näher zu kommen und an der Unterhaltung teilzunehmen, was derselbe denn auch tat, indem er seine Kettenbank verließ und sich auf den äußersten Rand der Pritsche niedersetzte.

»So,« sagte der Schneider in sehr herablassendem Tone, »hier befinden Sie sich weit besser; wie ich nach Ihrem Aussehen schließe, ohne Ihnen Komplimente machen zu wollen, scheinen Sie mir zur juten Gesellschaft zu gehören und nicht auf die Bank dorten zu passen, allwo ein sehr verdächtiger Platz ist.« – »Ja, das mein' ich auch,« nahm ein anderer das Wort, »hab's vorhin gleich gesagt, daß Sie noch nicht oft hier waren und gewiß auch nicht mit der Polizei in schwere Geschichten verwickelt sind.« – »Hat vielleicht gefochten, wie ich,« meinte ein dritter. – »Hat man Sie auf dem Fechten attrappiert, junger Mensch?« lachte der Schneider. »Ja, sehen Sie, es gibt im Menschenleben Augenblicke, sagte der unsterbliche Schiller, ehe sie ihm zu Stuttgart eine Bildsäule gesetzt.« – »Also gefochten? Das kostet höchstens drei Tage, dann werden Sie auf den Schub gesetzt und kommen unentgeltlich nach Hause.« – »Aber, meine Herren,« entgegnete Philipp kleinlaut, »ich verstehe Sie in der Tat nicht. Ich bin sehr friedfertiger Natur, habe nie in meinem Leben gefochten, mag überhaupt die spitzen und scharfen Waffen nicht leiden.«

Ob dieser Aeußerung lachte der Schneider übermäßig, und nachdem er sich vergeblich bei Philipp erkundigt, welches Zeichens er sei, da der Ladendiener auch diesen Ausdruck nicht kannte, setzte er ihm auseinander, daß Fechten in der Handwerkssprache so viel bedeute, als an irgend einer geöffneten Haustür oder auf der Landstraße an einem vorbeirollenden Wagen um eine kleine Anleihe zu bitten. – Durch diese freundschaftlichen Lehren aufgemuntert, ließ der unschuldige Arrestant sich nicht lange nötigen und erzählte, durch welche Tücke des Schicksals er hierher gebracht worden sei, eine Geschichte, welche die vier nicht wenig ergötzte; namentlich schienen sie, jedoch zum großen Mißvergnügen Philipps, am Doktor Burbus viel Geschmack zu finden, und einer der Burschen meinte, das sei ein Kapitalkerl. Der Schneider aber ließ nach einer Weile wehmütig sein Haupt sinken und sagte in traurigem Tone: »Ach, Jott, mit solchen Verwechslungen – das kann sehr unangenehme Ausläufe nach sich ziehen, ja, ich versichere euch, sehr unangenehme Ausläufe!« – »Hast du hierin ebenfalls unangenehme Erfahrungen gemacht, Schneider?« fragte einer lachend, worauf der Schneider sein Haupt noch tiefer auf die Brust senkte und zur Antwort gab: »O Jott, Bruder Danziger, dieses war der schrecklichste Augenblick meines Lebens!« – »Das soll er uns erzählen,« riefen die andern, und der Bruder Danziger setzte hinzu: »Ja, Bruder Schneider, erzähle, es wird dein armes Herz erleichtern.«

Der Kleiderkünstler richtete sich auf bei dieser Anrede, geschmeichelt durch das allgemeine Verlangen, seine Geschichte zu hören, und zog seine Beine fester an sich, wie er es jedesmal machte, wenn er ein Hauptstück Arbeit begann, fädelte sein Gedächtnis in die spitze Zunge und begann, nachdem er vorher drei tiefe Seufzer getan: »Wenn es auch in meiner zarten Jugend gerade nicht mein Wille war, das Schneiderhandwerk zu erlernen, so mußte ich doch hierin meinem Papa selig folgen, der seines Zeichens ein Küster war und beständig behauptete, bei meinem schwächlichen Körperbau sei das Schneiderhandwerk das einzige, wozu mich Gott mit den natürlichen Anlagen versehen. Das muß wahr sein, ich war beständig sehr friedfertiger und stiller Natur. Wenn sich die andern Knaben herumbalgten, saß ich entfernt und schaute zu. Wißt ihr, es war damals schon so etwas Sinniges, Sentimentales in mir.« – »Verstehe, verstehe,« sagte der Bruder Danziger, der Schlosser, und brachte sein breites, rotes Haupt in eine bequeme Lage, indem er ein Paar kräftige Fäuste darunter stützte.

»Von allen Spielen,« fuhr der Schneider fort, »wobei es galt, Gefahren zu bestehen oder körperliche Kraft zu entfalten, hielt ich mich, wie gesagt, fern, und mußte deshalb viel von meinen Kameraden erleiden. Wie oft schlichen sie in die Kirche, wenn mein Herr Papa selig zur Vesper die Glocke anzog, und faßten alsdann, wenn er fort war, die Seile, um sich durch die noch hin und her schwingenden Glocken hoch gegen die Decke schleudern zu lassen; ein schreckliches Vergnügen, das mir jedesmal Haarsträuben machte. Da ich auf diese Art so gar nicht mit meinen Kameraden harmonierte, wurde es mir nicht schwer, die Heimat zu verlassen, um in der benachbarten Stadt die Schneiderei zu erlernen. Auch war mein schwärmerischer und sinniger Charakter schuld, daß ich mir die zarteste Branche des Geschäfts erkor. Ich bildete mich zum Damenkleidermacher aus. Ich weiß nicht, für mich lag in dem Worte Damenkleidermacher so etwas Zartes, Gefühlvolles, und wenn ich in meinen Freistunden schöne, lehrreiche Bücher las, worin die Geliebte zu ihrem Geliebten sagt: »O Ritter vom halben Mond, wie liebe ich dich!« da dachte ich – es war vielleicht Schwachheit – wie viel schöner es klingen würde, wenn sie spräche: »Ach, Damenkleidermacher, wie liebe ich dich!«

»Aha!« lachte der Schlosser, »bei den Gedanken wird's lange Stiche in den Kleidern und lange Striche auf deinen Rücken gegeben haben.« – »O, du irrst, Danziger. Ich kann es mir zum Ruhme nachsagen, daß ich einer der fleißigsten und geschicktesten Arbeiter war. Dafür schenkte mir auch der Meister sein Zutrauen, und es dauerte nicht lange, so wurde mir das Maß anvertraut, und ich durfte hier und da zu den Kunden gehen, um sie zu bedienen. Ach, das waren süße Stunden für mich, Stunden, von denen du, Bruder Schlosser, bei deinem schwarzen, sauren Geschäft, und ihr andern bei eurer Hobelbank keine Ahnung habt. Seht ihr, das Maß anlegen zu dürfen um die Taille irgend eines hübschen Mädchens, darauf den Querschnitt von der rechten Hüfte über die linke Brust bis auf die Achsel hinauf messen zu dürfen – ach, und die Fragen, die mir erlaubt waren!« – »Hm! hm!« schmunzelte der Schlosser, und die beiden Schreiner leckten sich augenscheinlich an den Lippen; selbst über Philipps Gesicht fuhr eine gelinde Röte.

»Der Schneider und der Doktor,« fuhr der Erzähler fort, »der Doktor und der Schneider, vor diesen beiden Geschäften genieren sich die Weiber am allerwenigsten. Ich sage euch, Leute, ich muß meine Erinnerungen gewaltsam unterdrücken; dieses Arrestlokal und jene süßen Andenken – schauderhaft! – So war ich bei meinem Meister in der Stadt von meinem sechzehnten bis zu meinem zwanzigsten Jahre, und was mich bei den Gefahren, die meine Moral rings umgaben, allein erhielt, das war, ach Jott! eine ehrerbietige, reine Liebe, die ich zur Tochter meines Meisters – sie hieß Rosine – in meinem Herzen nährte. – Rosine – Damenkleidermacherin – das waren Worte, die mir, mit süßen Bildern umgeben, im Traum und Wachen vorschwebten. Ihr hättet sie aber auch sehen sollen, Leute. Zum Maß ihrer Taille höchstens Numro 23 oder 24, dagegen der Querschnitt, o Jott! zwischen 50 und 60! dabei hatte sie schwarze, feurige Augen, schönes Haar, rote Backen, schneeweiße Zähne.« – Bei dieser Beschreibung machte Bruder Danziger, der Schlosser, eine kleine Bewegung und legte sich auf die Seite.

»Wie ihr es mir jetzt noch anseht,« fuhr der Schneider fort, »kann man von mir nicht sagen, daß ich sehr robust und von starkem Körperbau sei. Damals, das sind nun schon vier Jahre her, war ich noch etwas schmächtiger, wonach ihr euch leicht vorstellen könnt, daß ich wie ein Kind neben der Jungfer Rosine stand. Doch schreckte mich das nicht ab, vielmehr dachte ich an den unsterblichen Schiller, wenn er sagt, daß nur das Ungleiche einen guten Klang gibt, und daß sich das Harte stets mit dem Weichen verbinden müsse.

Ob Jungfer Rosine,« fuhr der Schneider fort, »von meiner Liebe damals eine Ahnung hatte oder nicht, wer weiß es? Daß sie mich nicht zärtlich wieder liebte, das konnte ich allenfalls wohl sehen, doch glaubte ich deswegen nichts von den Sticheleien meiner Kameraden, wenn sie einander ziemlich laut ins Ohr raunten, daß Jungfer Rosine eine ernstliche Liebschaft mit einem gewissen Ulanenwachtmeister habe, den auch ich sehr wohl kannte. Daß sie zufälligerweise gewöhnlich am Fenster war, wenn die Schwadron vorbeiritt, und daß sie dem Wachtmeister zulächelte, wenn er eine kleine Bewegung mit dem Säbel gegen sie machte, hatte schon seine Richtigkeit. Aber, mein Jott! was konnte ich daraus Arges abnehmen? Er kannte den Meister von früher her, kam auch hier und da ins Haus, kurz, ich sah nichts Böses dahinter. Da, eines Tages schickte mich der Meister zu Jungfer Rosine hinauf, um ihr einen neuen Ueberrock anzumessen, den ich die Ehre haben sollte, zuzuschneiden. Ich maß, o Jott! Und wenn ich auch zehnmal zuschaute, ob ich nicht ein falsches Maß erwischt habe, und wenn ich das Leder auch noch so stark anzog, es blieb nicht mehr bei den Vierundzwanzigen.« – »Oho!« lachte Bruder Danziger, »das hab' ich mir gedacht!« – »Ich dachte aber nichts dabei,« sagte der Schneider schwermütig; »ich maß in meiner Unschuld ruhig fort, und nicht einmal das Lachen meiner Kollegen unten, als ich die Zahlen in das Maßbuch eintrug, vermochte argwöhnische Gedanken in mir zu erregen. Jungfer Rosine war zur damaligen Zeit freundlicher gegen mich als gewöhnlich, und ich nährte die Hoffnung, endlich ihr jungfräuliches Herz erweichen zu können. Mit keinem sprach sie so freundlich, und stets war eines ihrer teuren Kleidungsstücke bei mir in der Werkstätte, um es auszubessern. Daß ich für diese kleinen Aufmerksamkeiten nicht unempfindlich war, könnt ihr euch denken. Bruder Danziger, hast du eine Idee davon, was Schmachten heißt?«

»Jawohl, jawohl!« rief der Schlosser, »wenn ich auf der Reise kein Geld mehr hatte und das Fechten nicht gelingen wollte, da hab' ich geschmachtet.« – »O Bruder,« erwiderte der Schneider sanft, »du bist entsetzlich prosaisch! Nein, schmachten mit der Geliebten ist was ganz anderes. Du kommst abends aus dem Bierhause heim, wo du nur an sie gedacht, es ist spät in der Nacht, du bist weich gestimmt, dein Herz singt:

Es regnet und es schneit,
Es geht ein kühler Wind.
Es schlafen alle Leut'
Und alle Bürgerskind.«

Der Schneider schwieg und ließ das Haupt auf die Brust sinken. Nach einer Weile fragte einer der andern: »Nun, wie ging's weiter?« – »Eines Abends spät,« fuhr jener fort, »kam ich aus dem Bierhause . . .« – Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Nein, erlaßt mir die Geschichte der schrecklichsten Nacht meines Lebens – für jetzt wenigstens; die Erinnerung ist mir gar zu schwer, und ich bin entsetzlich müde. Morgen sollt ihr hören, wie meine Liebe zu Grabe ging.«

Es war allermittelst sehr spät geworden; die Oellampe auf dem Gesims zuckte sterbend zusammen. Der Schneider sprang von der Pritsche auf und präparierte sich zum Schlafen, wie er es nannte, indem er ein kattunenes Schnupftuch um den Kopf wickelte, den Rock auszog und ihn, so gut es ging, über seinen Körper deckte.

Philipp hatte sich über der Erzählung des Schneiders eine Weile selbst vergessen; jetzt aber saß er wieder trostlos auf der Ecke der Pritsche und konnte sich nicht entschließen, seine Glieder auf das harte Holz auszustrecken. Er hätte auch wahrscheinlich die ganze Nacht so sitzend zugebracht, wenn ihm der Schneider nicht Mut eingesprochen: eine einzige Nacht könne man es auf der Pritsche wohl aushalten, man müsse alles im Leben lernen, und mit einem ruhigen Gewissen schlafe man überall gut. Was das letztere betraf, so konnte sich Philipp dessen rühmen, und als er, den Ermahnungen des Schneiders folgend, seinen armen Körper auf der harten Pritsche in die beste Lage gebracht, fiel er nach all den Mühseligkeiten des Tages in einen festen Schlaf, der bis an den hellen Morgen dauerte.

Um diese Zeit wiegte er sich gerade in angenehmen Träumen. Er war mit Jungfer Barbara im ersten Stock, lehnte vertraulich mit ihr am Fenster, das in Hof und Garten hinausging, und freute sich an dem herrlichen Gottessegen, der dort gedieh. »Das ist alles dein,« sprach eine weiche, schmelzende Stimme, die er wohl kannte; »das ist alles dein, und drunten die Hühner im Hofe sind dein, und das Spezereigeschäft Reißmehl u. Comp. ist dein und heißt jetzt Reißmehl und Philipp.« Es war dem guten Philipp im Traum nicht anders, als wäre alles schon sein; die Blüten nickten ihm ordentlich zu; die Hühner drunten schienen die tiefsten Reverenzen zu machen, und aus der Küche strömte ein Duft empor wie von frischgebackenem Hochzeitskuchen. Da krähte der Hahn, und Philipp fuhr erschrocken von der Pritsche in die Höhe. Verschwunden war sein süßer Traum, aber der Hahn hatte wirklich gekräht und krähte zum zweiten- und drittenmal, und als sich Philipp erstaunt nach dem Tier umschaute, sah er, daß es der Damenkleidermacher war, der wieder wie gestern hoch auf der Pritsche saß und lustig krähte, wobei er seine Morgentoilette machte. Bruder Danziger wälzte sich ihm zu Füßen, unmutige Worte zwischen den Zähnen murmelnd, und die beiden Schreinergesellen hatten sich zärtlich umarmt und schnarchten aufs eifrigste, Brust an Brust und Nase an Nase. Gott! er war nicht im ersten Stock bei Jungfer Barbara, er roch nicht den Duft der ihm zu Ehren gebackenen Hochzeitskuchen; er war im Arrest, im Gefängnis, im Kerker. Jetzt stand der gestrige Abend wieder klar vor ihm, er hörte die unglückliche Fanny heulen, er sah die Laterne zertrümmert am Boden liegen, und seine Glieder zitterten aufs neue vor Schreck, als er daran dachte, wie er gestern abend von den Schergen fortgeschleppt worden war. Diese Betrachtungen waren so schmerzlich, daß sie den Unglücklichen aufs neue niederdrückten, und er saß da auf der Pritsche trost- und hoffnungslos, die Hände gefaltet und den Kopf tief auf die Brust hinabgesenkt.


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