Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Zweites Kapitel.

Herr Reißmehl.

Am Morgen nach diesem höchst merkwürdigen Tage war es mein erstes Geschäft, die Zeitung zu holen, um darin nachzusehen, ob die von meiner Großmutter verfaßte Urkunde über mich schon abgedruckt sei. Wirklich, da stand sie, schön und leserlich, und war im Viereck mit einem saubern, schwarzen Striche eingefaßt. Ich fühlte mich nicht wenig davon erbaut, daß etwas über mich gedruckt worden. Es dauerte auch nur wenige Tage, so begann die Anzeige zu wirken, und die Expedition der Zeitung schickte mehrere Briefe, die unter der bezeichneten Chiffre eingelaufen waren.

Meine Großmutter, die sichtlich darüber erfreut war, öffnete einen Brief nach dem andern, sah sich aber nach Durchlesung derselben sehr in ihren Erwartungen getäuscht; in allen diesen Briefen waren Bedingungen gestellt, die man nicht erfüllen konnte oder wollte. So hieß es in einem: »Auf die unterm 10. currentis in hiesiger Zeitung Nr. 220 unter Chiffre H. H. eingerückte Anzeige fragt Unterzeichneter an, ob der ausgebotene junge Mensch auch von kräftigem Körperbau ist, da ihm bei uns unter anderm die Verpflichtung obliegen würde, die Gewölbe reinigen zu helfen.« Eine andere Epistel besagte nach ähnlichem Eingang: »Da ich mit meinem Spezerei- und Gewürzwarengeschäft den Verlag unseres vielgelesenen Lokalblattes »Der Verbreiter« verbunden habe, so gehört es zu den Obliegenheiten des fraglichen jungen Mannes, wöchentlich zweimal die Blätter dieses Journals den betreffenden Abonnenten zuzutragen.« Ein dritter, der zu meiner Person Lust trug, stellte die Anfrage, ob ich auch mit Kindern umzugehen wisse, da bei seiner zahlreichen Familie der Lehrling in seinen Mußestunden abends nach acht Uhr Lust und Liebe dazu haben müsse, seine älteren Kinder zu hüten und allerlei vernünftige und gefahrlose Spiele mit ihnen zu treiben. Ein Vierter, der sich mit salbungsvollen Worten danach erkundigte, ob der offerierte junge Mensch sich auch vor Gott eines wahrhaft christlichen Gemüts zu rühmen habe, würde meiner Großmutter schon angestanden haben, wenn dieser Fromme nicht eine unmäßig hohe Vergütung für Kost und Wohnung gefordert hätte.

So fand sich denn nichts Passendes für mich, und obgleich sich meine Großmutter damit zu trösten suchte, daß aller Anfang schwer sei und kein Baum auf den ersten Hieb falle, so war sie doch sichtlich über die schlechten Aussichten verdrießlich und behauptete fester als je, ich sei ein junger Taugenichts, auf dem der Segen des Herrn nicht ruhe. – Dieser schlechte Erfolg war mir um so verdrießlicher, da ich mich von meinen bisherigen Schulkameraden bereits mit einem gewissen Stolz abgesondert hatte und anfing, sie etwas von oben herab zu behandeln, wie es einem angehenden Geschäftsmann zukommt, der die Kinderschuhe abgetreten hat. Da lief noch spät ein Brief ein, den meine Großmutter hastig öffnete und mit vieler Zufriedenheit durchlas. Er war von Herrn Reißmehl, dem Inhaber einer mittelgroßen Spezereihandlung, der meine Familie persönlich kannte und ausnehmend annehmbare Bedingungen für mich stellte. Freilich sollte meine Lehrzeit fünf Jahre dauern, aber ich dafür alles unentgeltlich im Hause haben. Auch versicherte er in seinem Briefe, daß die Lehrlinge bei ihm nur zu den Geschäften des Ladens gebraucht werden und nicht, wie in so manchen andern Häusern, Dienste zu verrichten haben, die nicht für sie passen.

Ich kannte den Herrn Reißmehl sehr gut und hatte eigentlich diese annehmbaren Bedingungen nicht um ihn verdient. Das Haus, das er bewohnte, lag neben unserem Schulgebäude, und sein Garten stieß an unsern Spielplatz. Sie waren durch eine ziemlich hohe Mauer geschieden, was uns jedoch so wenig wie die Ermahnungen des Lehrers davon abhalten konnte, dem alten Nachbar allen möglichen Schabernack zu spielen. Sah man aber seine Figur an, so konnte man es uns jungen Leuten nicht verübeln, wenn das Ergötzen, das uns dieselbe verursachte, manchmal ausartete und uns zu allerlei abgeschmackten Spaßen antrieb.

Unsere Schule fing im Sommer um sieben Uhr an; wir fanden uns aber gewöhnlich schon eine halbe Stunde früher ein und erwarteten die Erscheinung unseres Nachbars, der regelmäßig eine Viertelstunde vor sieben Uhr in seinen Garten trat, um nachzusehen, wie viel seine Pflanzen und Gemüse über Nacht gewachsen waren. Er war dann bereits in vollem Staat und seine kleine, magere Figur aufs seltsamste geschmückt. Sein spitziges Gesicht war von einer braunen, fuchsigen Perücke gekrönt, auf welche er den kleinen runden Hut so stark vornüber gesetzt trug, daß die obere Kante desselben genau mit den Spitzen seiner Schuhe korrespondierte. Sein übriger Körper stak in einem braunen Rock, einer dito Weste und schwarzen, kurzen Beinkleidern mit weißen Strümpfen.

Kaum war er in den Garten getreten, so ging er mit ruhigen, gleichmäßigen Schritten auf eine alte Sonnenuhr los, die in einem Winkel desselben stand, und zerrte mit einigen gewaltigen Zügen an der stählernen Kette eine kleine, unförmlich dicke Taschenuhr heraus, um diese, wenn gerade Sonnenschein war, nach dem alten Gnomon zu richten. Nach diesem Geschäft zog er seine Schnupftabakdose hervor, klopfte bedächtig auf den Deckel und nahm eine Prise, während er sich wohlgefällig umsah. So weit war für uns, die aufmerksam zuschauende Schuljugend, die Sache nicht besonders auffallend und bemerkenswert. Nachdem nun aber der Herr Reißmehl seine Prise genommen hatte, begann er seine Runde im Garten, der wir mit der gespanntesten Aufmerksamkeit folgten, obgleich, oder vielmehr, weil wir alles, was kommen sollte, bis auf die kleinsten Einzelheiten voraus wußten; der Zeiger einer Uhr kann Tag für Tag nicht regelmäßiger über das Zifferblatt laufen als unser Nachbar durch seinen Garten.

Neben der Sonnenuhr stand ein großer Birnbaum; der alte Herr blieb davor stehen, blinzelte erst hinauf und versetzte dann dem Stamm mit der flachen Hand drei leichte Hiebe. Dann ging er gradeaus zu einer Reihe junger Obstbäume, von denen jeder nur ein einziges Mal von seiner Hand berührt wurde. Hatte er aber zufällig einmal einen übersprungen, so kehrte er sicher um und der arme Vergessene bekam dafür einen desto herzlicheren Handschlag. Dies letztere war es besonders, auf was wir in unserm Versteck an der Schulmauer lauerten, und, so oft der alte Herr einen der Bäume oder ein Stück des Geländers, das er jeden Morgen gleichfalls zu berühren pflegte, vergessen hatte, riefen wir ihm, laut lachend und spottend zu, er möchte doch gefälligst umkehren.

Diese Promenade durch den Garten dauerte ungefähr eine Viertelstunde, während welcher Zeit er, wie schon gesagt, jeden Tag regelmäßig dieselben Schritte machte, bei denselben Beeten und Bäumen stehen blieb, und immer die gleichen Stellen des Treppengeländers sowie des Gartenzaunes mit der Hand berührte. Der alte Herr war weit entfernt, sich durch unsern Spott und unser Geschrei gekränkt zu fühlen, vielmehr wandte er sich bei solchen Ausbrüchen unserer Freude nicht selten lachend gegen uns um und nickte uns mit seinem hagern, blassen Gesicht freundlich zu, ein Lächeln, das aber etwas so Sonderbares hatte, daß die kleineren Knaben darob in Angst gerieten und jedesmal unter die Mauer des Spielplatzes sprangen, wenn der alte Reißmehl uns so starr und mit so seltsamer Freundlichkeit ansah.

Gegen sieben Uhr hatte er seinen Spaziergang beendigt und wandte sich gegen das Haus zurück, wo sich unterdessen neben der Tür ein Fensterladen geöffnet hatte, aus welchem die Schwester unseres alten Nachbars, die Jungfer Reißmehl, herausschaute. Sie beschäftigte sich damit, eine flanellene Nachtjacke an die Sonne zu hängen, darauf warf sie einen prüfenden Blick über den Garten, zog sich dann in das Haus zurück, um die Gartentür von innen zu öffnen, und ließ einen kleinen, dicken Mops heraus, der alsbald mit großer Mühe in den Garten hinkte, um dort durch ein schwaches Knurren und Bellen seinem Herrn den Morgengruß zu bringen. – Um diese Zeit läutete droben unsere Schulglocke; wir hatten nun aber auch alles gesehen, was im nachbarlichen Garten vorfiel, denn nachdem der alte Mops einige Züge frischer Morgenluft geschöpft sowie ein anderes Geschäft verrichtet, watschelte er ins Haus zurück, gefolgt von Herrn Reißmehl, der nun zu seinem Kaffee ging. Im Vorbeigehen berührte er noch seine Flanelljacke an vier Stellen mit der Hand, drückte die Türklinke jedesmal mit zwei Händen auf und verschwand im Hause, nachdem er vorher regelmäßig ein paarmal gehustet hatte.

Dieser Herr Reißmehl war es also, der auf die Anzeige in der Zeitung sich unter so annehmbaren Bedingungen bereit erklärt hatte, mich praktisch und theoretisch zum Kaufmann ausbilden zu helfen. Meine Großmutter, die zur Erörterung dieser wichtigen Frage einen zweiten Familienrat zusammenberufen, war sehr für unsern Schulnachbar, ebenso meine Tante, und ich selbst hatte für meine Person auch nichts gegen Herr Reißmehl. So große Ursache er hatte, über mich und meine Kameraden ungehalten zu sein, so war er doch weit entfernt davon; er gab uns vielmehr, wenn wir die Schule verließen und er unter der Tür seines Ladens stand, zahlreiche Beweise seiner Freundlichkeit und seines Wohlwollens, bestehend in ganzen Händen voll Rosinen, Mandeln und getrockneten Pflaumen. Wem aber das Ding gar nicht einleuchtete, das war die Jungfer Schmiedin. Obgleich sie aufs kräftigste nach Fassung rang, so konnte sie dennoch einigen Tränen nicht verbieten, über die Wangen hinabzurollen. Sie schüttelte lange wehmütig den Kopf, als meine Großmutter das vorteilhafte Anerbieten des Herrn Reißmehl auseinandersetzte, doch wagte sie es nicht, die alte Frau zu unterbrechen, und erst als diese geendigt und der ganze Familienrat halb und halb seine Zustimmung gegeben, versuchte sie es mit einigen schwachen Worten, dem Projekt entgegenzuarbeiten.

»Ach, Frau Pastorin,« sagte sie, »Gott soll mich bewahren, daß ich mir je einfallen ließe, über einen Mitmenschen etwas Böses zu sagen, aber vom alten Reißmehl munkelt man doch so allerlei, so seltsame Sachen, ja –« – »Nun, was denn?« fiel ihr meine Großmutter etwas barsch in die Rede. – »Ach, Frau Pastorin, Sie glauben freilich so etwas nicht, und ich für mein Teil, nun ja, ich will es auch eigentlich nicht beschwören, aber man behauptet, der alte Reißmehl müsse etwas auf dem Herzen haben, denn er steige beständig ohne Ruhe in seinem Hause umher, fasse überall mit der Hand hin, als suche er etwas; kurz, Frau Pastorin, es ist nicht richtig.« – »Ja, Großmutter,« fiel ich der Schmiedin altklug in die Rede, »daß er überall herumtappt und alles angreift, das habe ich auch schon oft gesehen.«

Aber meine Großmutter erklärte alles das für dummes Zeug und schrieb ohne Verzug einen eigenhändigen christlichen Brief, wie sie es nannte, an Herrn Reißmehl, in dem sie mit ihm noch einiges über meine Lehrzeit besprach, und als der alte Herr noch an demselben Tage befriedigend geantwortet hatte, war ich Reißmehlscher Lehrling und mußte tags darauf meine Funktion antreten. Meine Tante packte mein bißchen Wäsche und meine Kleider in einen kleinen Koffer, die Großmutter schenkte mir ein Exemplar der Bibel, ein paar Gesangbücher und eine mehrbändige Predigtsammlung, und im Augenblick, da ich das Haus verlassen wollte, um meinen ersten Schritt ins Geschäftsleben zu tun, erschien die Schmiedin in der Haustür und übergab mir mit abgewandtem Gesicht ein Paar Ueberärmel von dunklem Kattun, die sie für mich genäht, wobei sie mich bat, ihrer nicht zu vergessen.

Ich schritt allein und nachdenklich durch die Straßen und stand bald vor dem Reißmehlschen Hause, wo ich mit einem tiefen Seufzer stehen blieb, um am Schulgebäude nebenan hinaufzublinzeln, wo ich so manche süße und schmerzliche Stunde verlebt. Diese beiden Häuser sahen mir, obgleich ich mit großen Hoffnungen in den Kaufmannsstand trat, wie die Bilder der Vergangenheit und Zukunft aus. Die niedrige, aber freundliche, neugebaute Schule mit ihren hellen, großen Fenstern war mir nie so heimisch erschienen, wie gerade am heutigen Morgen, da ich an der offenen Tür vorbei mußte, um in das Nebenhaus zu treten, das ein so ganz anderes, ernstes und gebietendes Aussehen hatte. Es war eines jener Gebäude, wie es deren in alten Städten noch so viele gibt, hoch, schmal, mit kleinen, unregelmäßigen Fenstern, die so wirr durcheinander standen, daß es von außen schwer zu bestimmen war, wie viele Stockwerke das Haus eigentlich habe. Der Giebel war der Straße zugekehrt und seine Pyramide mit einer alten, hölzernen Figur gekrönt, der aber der Kopf fehlte. Im untern Stock war das Ladengewölbe, und vor demselben, am Eingang, stand eine alte, steinerne Figur, roh ausgehauen, die einen mittelalterlichen reisigen Knecht vorstellte, der seltsamerweise mit einer ungeheuer langen Nase versehen war. Die Nase dieses steinernen Kerls hatte uns von jeher nicht wenig ergötzt. Wie oft war sie von einigen der mutigsten unter uns mit roter, grüner oder gelber Farbe angestrichen worden; wie oft hatten wir eine Tonkugel an sie geklebt und dergleichen mehr getrieben! Sie war vom ewigen Anfassen und Betasten so glatt wie ein Spiegel geworden und glänzte weithin.

Es war mir ganz bange ums Herz, als ich so vor den beiden Häusern stand, und so oft ich einen Schritt machen wollte gegen das Reißmehlsche Haus, hielt mich das Summen und Lärmen in den Schulzimmern fast gewaltsam zurück, und ich hörte mit Lust meinen Kameraden zu, die jetzt ihre Singestunde anfingen. Ich sah sie von den Bänken aufstehen, sah, wie sie die kleinen Bücher zur Hand nahmen, aus denen auch ich hundertmal gesungen, und als sie ein altes, bekanntes Lied anstimmten:

Der Winter ist gekommen,
Der Winter mit seinem Schnee usw.

da überfiel mich die Wehmut, und es ging mir wie der Schmiedin. Da stand ich zwischen den beiden Häusern, ein armes, verlassenes Kind: dort die Schule, aber sie mit ihrem lieben Spielplatz – für mich war sie nicht mehr da, und hier das Leben, es winkte mir so ernst und düster. Der steinerne Soldat schien mir zum erstenmal ein recht spöttisches Gesicht zu machen; auf seiner glänzenden Nase funkelte und lachte die Wintersonne. Und doch war ich froh, daß es nur die Wintersonne war, die zwischen Schneewolken hindurch meinem Lebenswechsel zusah. Ja, ich war herzlich froh darüber; denn hätten meine Kameraden dort oben etwa gesungen:

Der Mai, er ist gekommen
Mit Blüten und Sonnenschein usw.

wie viel schwerer wäre mir das Herz geworden, und wer weiß, ich wäre wohl gar zu meiner Großmutter zurückgelaufen und hätte ihr weinend erklärt, ich wolle nun und nimmermehr in das finstere Haus zum Herrn Reißmehl. In der Angst hätte ich vielleicht gelogen und versichert: »Ja, Großmutter, der steinerne Kerl an der Haustür mit der langen Nase hat mir erzählt, die Jungfer Schmiedin habe recht, es sei in dem Hause recht finster und unheimlich.«

Doch jetzt verhallte der Gesang in der Schule, ich hörte die Stimme des Lehrers, der laut ermahnte, hübsch still und ordentlich nach Hause zu gehen; die Bücher schlugen zu, die Rechentafeln klapperten, und ich, um von meinen ehemaligen Kameraden nicht beim Eintritt ins bürgerliche Leben überrascht zu werden, trat schnell in den Laden des Herrn Reißmehl.


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