Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Dreißigstes Kapitel.

Das Bild meiner Andacht.

Ich war nun, dank der Freundlichkeit meiner Prinzipalin, vollkommen und aufs beste ausgestattet und konnte mich überall sehen lassen. Es war ein ganzer Tisch voll Sachen, die mir der Schneider und die Näherin gebracht hatten, und als ich gegen Madame Stieglitz meinen Dank aussprach, konnte ich mich nicht enthalten, zu bemerken, daß ich doch mit einiger Angst dem Moment entgegensähe, wo mir die Rechnungen all der Gegenstände vorgelegt würden. »Denk' Er nicht daran,« antwortete die Frau ernst und bestimmt, »nehm' Er sich vielmehr mit allem Fleiß, wie bisher, seines Hauptbuches an, und vergesse Er es nie, daß ich es Ihm an demselben Tage übergeben.«

So verging der Winter, das Frühjahr kam, es wurde Sommer, wieder Herbst, und ich konnte mir mit Stolz gestehen, in dem verflogenen Jahre etwas Tüchtiges gelernt zu haben. Der Prinzipal war während dieser Zeit noch ernster und mürrischer geworden als früher, und zuletzt kam er nur noch des Morgens eine Stunde auf das Kontor bis zum Mittagessen, und alsdann verschwand er für den Rest des Tages. Meine Besuche beim Vetter setzte ich fleißig fort und brachte alle meine Freistunden in dem lieben Hause zu. Der Professor war so artig und freundlich mit mir, wie es seine ernste Natur erlaubte, seine Frau behandelte mich wie einen Sohn, und die kleine Emma hatte sich in dem vergangenen Jahre merkwürdig geändert, wie es im Liede heißt:

»Sie war ein Kind vor wenig Tagen,
Sie ist es nicht mehr, wahrlich nein.«

So war auch Emma aus dem Kinde zu einer Jungfrau aufgeblüht, ohne daß es jemand bemerkt hätte; ihr ruhiges, verständiges Wesen war sich gleich geblieben, als Kind war sie nicht ausgelassen lustig gewesen, und sie brauchte sich deshalb als Jungfrau nicht anders zu benehmen. Aber schön war das Mädchen, das mußte ihr jeder eingestehen, namentlich hatte sich ihr klares, fast übergroßes Auge mit dem sanften, sinnigen Ausdruck noch vergeistigt und war mit dem übrigen Gesicht in ein richtiges Verhältnis getreten. Früher dominierten diese Augen, jetzt waren sie nur noch eine angenehme Zugabe zu dem lieben Ausdruck des Gesichts. Ich habe nie etwas Schöneres gesehen, als wenn wir mit der Mutter abends im Garten saßen, und der helle Strahl des Mondes das dunkle Blau ihrer Augen mit Silberglanz erfüllte. Die Mutter pflegte zu sagen: »Emma hat Taubenaugen,« und dieser Ausdruck fuhr einstens zündend in mein Inneres, und ich murmelte halblaut: »Siehe, meine Freundin, du bist schön, schön bist du, deine Augen sind wie Taubenaugen.« Ich war darauf den ganzen Abend zerstreut, und inmitten der verworrenen Bilder und Gedanken, mit welchen der Buchhalter meinen Kopf vollgepfropft, flammte ein heller Stern, und ich glaubte, das Bild, in welchem sich alle unsere heiligen und guten Gedanken sammeln sollen, gefunden zu haben. Eine unerklärliche Scheu hielt mich ab, dem Buchhalter dies Geständnis zu tun, ich verschloß dies Bild in das Innerste meines Herzens und nahm mir vor, meine Andacht vor allen Augen geheim zu halten.

Ich hatte um so weniger Lust, dem Herrn Specht in dieser Beziehung den Namen meiner Nichte Emma zu nennen, als derselbe schon mehrmals den Wunsch ausgesprochen, meinen Vetter und seine Familie kennen zu lernen. Und gerade jetzt ersuchte er mich dringender darum als je. Ich konnte nicht mehr entkommen und versprach ihm, meinen Vetter von seinem Wunsch in Kenntnis zu setzen.

Dies tat ich bei meinem nächsten Besuch, und da meine Verwandten glauben mochten, es könne mir von Nutzen sein, wenn sie das Faktotum des Hauses freundlich behandelten, so wurde mir erlaubt, ihn mitzubringen. Der Vetter war bei diesem Besuch ernst und gemessen, seine Frau artig, wie es sich gehörte, und Emma beschäftigte sich wie gewöhnlich mit mir.

»Sie sind ein glücklicher Vetter,« sagte der Herr Specht auf dem Heimwege zu mir, »ich muß Ihnen gestehen, ich habe lange nicht ein so schönes Mädchen gesehen, wie Ihre Nichte Emma ist.«

Von da an machte der Buchhalter mit und ohne mich häufige Besuche in dem Hause meines Vetters, was mir insofern angenehm war, als er mich nun zu Hause aufs eifrigste protegierte.

Um von mir selber zu reden, das heißt, von meinem Fühlen und Denken, so muß ich gestehen, ich war nicht mehr der harmlose, fröhliche Mensch, ich blickte nicht mehr so frei in die Welt und sah nicht mehr, wie sonst, alles, was mir in die Augen fiel, als unverfänglich und natürlich an. Als ich noch harmlos war, lag ein ewiger Sonnenschein auf allen meinen Stunden, und mein Auge schweifte nur in angenehmen und freundlichen Fernsichten, die mir das unbekannte Leben gewähren sollte. Ich hielt die Welt und alle Menschen für gut, und wenn es auch hier und da böse Seelen gäbe, so seien das Ausnahmen, dachte ich mir.

Die Lehren des Herrn Specht aber hatten mich eines andern belehrt: ich sah dichte, dunkle Nebel aufsteigen, wo ich bis jetzt nichts erblickt, als sonnenbeglänzte Täler, und nichts gehört, als frommes Glockengeläut. Er lehrte mich zweifeln an der Güte der Menschen und führte seinen Lieblingsspruch: »Das Dichten und Trachten der Menschen ist böse von Jugend auf,« in unzähligen Variationen aus. Bei ihm war die Zahl der Bösen vorherrschend, die der Guten gering, und wenn er mir einen Spiegel vor mein eigenes Ich hielt, so mußte ich gestehen, daß ich, obgleich mir keiner großen Sünde bewußt, noch tief unter den Mittelmäßigen stand. Von sich selbst sprach er eigentlich auch nicht viel besser, doch versicherte er, daß ihm in lichteren Augenblicken klar würde, wie der Gnadenfunke bei ihm allmählich zum Durchbruch komme. »Jeder Mensch,« lehrte der Buchhalter, »ist mit diesem Gnadenfunken versehen, die meisten aber töten ihn durch den Schlamm der Sünde und fühlen den Verlust nicht, wir aber wissen das unschätzbare Gut zu erkennen; das Gefühl eines Menschen, wenn bei ihm die Gnade zum Durchbruch gekommen ist, soll ein beseligendes sein, die Sünde kann ihn ferner nicht verderben, und wenn er wirklich sündigt, so tut er es unter dem Schein dieser Gnade, und seine Sünden werden ihm nicht angerechnet.« – »Aber,« fragte ich ihn, »gibt es denn kein Merkmal, woran man erkennt, daß die Gnade zum Durchbruch gekommen sei?« – »Ein bestimmtes? Nein,« antwortete er, »dies Gefühl ist bei jedem verschieden, es gibt selige Momente, wo man, aufgelöst in das Bild, das, auf dem Altar des Herzens aufgestellt, das höchste Wesen vertritt, genau und deutlich fühlt, wie süße, heilige Flammen allmählich die Seele durchdringen; in solchen Augenblicken,« setzte er mit seinem bekannten, seltsamen Lächeln hinzu, »ist man Begnadigter, und zwei Seelen durch innige Hingebung sind, in heißem Gebet vereinigt, eher imstande, die vollkommene Gnade zu gewinnen, als eine einzelne.«

Ich war durch solche Lehren und Reden auf dem besten Wege, ein ausgemachter Kopfhänger zu werden: das Lesen der Bücher, die er mir gab, das Studieren des unverständlichen Alten Testaments brachte mich in eine tiefe Finsternis, die mir zu gleicher Zeit schrecklich und doch lieb war. Ich träumte von einer unbekannten Kirche und befand mich alsdann in einem hohen, prächtigen Gewölbe, süße Musik erschallte und im Hintergrunde einer dunkeln Kapelle entzündete sich langsam ein rosiges Licht, in dessen Mitte zugleich mit der anschwellenden Musik sich nach und nach eine Gestalt abzeichnete, die, wenn sie mir klarer wurde, die schönen Züge meiner Nichte Emma trug. Mein Herz konnte sich auflösen in den klaren Wolken, die das Bild umgaben, und ich konnte fühlen, wie mich eine feurige Lohe durchzuckte, wenn ich mich so in Gedanken an meine Heilige anschmiegte.

Aber in der Wirklichkeit ging es mir durch diese Träumereien nicht gut, und ich hatte bei meinen Verwandten manches deshalb auszustehen. Der Vetter hatte mir schon mehrere Male gesagt, es sei recht schön und lobenswert, gottesfürchtig und fromm zu sein, aber beständig davon zu sprechen, wie ich es täte, müsse in meinen Jahren lächerlich erscheinen.

Mehrere Male hatte ich auch versucht, wenn ich bei Emma allein war, derselben einige von den Reden des Buchhalters mitzuteilen, doch mußte ich zu meinem Bedauern bemerken, daß das Mädchen für die Gnade gar nicht empfänglich schien. »Höre, Vetter,« sagte sie, »du bist nicht böse, und ich auch nicht, was tust du denn Sündhaftes? Ich wüßte nicht, du arbeitest auf deinem Kontor, du hast die Gunst deiner Prinzipalin, einer braven Frau, und es stände deinen Jahren viel besser an, lustig und munter zu sein, wie du früher auch gewesen bist, und dich deines Lebens zu freuen. Ich erkenne dich in der letzten Zeit nicht mehr und wünsche nur, dein Doktor Burbus, von dem du früher so viel erzähltest, ließe sich einmal hier sehen und setzte dir den Kopf zurecht. – Was brauchst du dich für einen schlechten Menschen zu halten? Ueberlaß das dem Herrn Specht, der mag seine Gründe dafür haben.«

Diese Worte des Mädchens, das ich unbewußt anbetete, warfen schreckliche Zweifel in meine Seele, sie rissen aber auch ein Fenster meines Herzens auf und ließen in das Dunkel, das dort herrschte, einen hellen Sonnenschein fallen, der mir außerordentlich wohltat, und den ich doch nicht ertragen konnte. Soviel war gewiß, daß ich mich in ruhigen Augenblicken nicht für sündhaft hielt, wie mir der Buchhalter sagte, und daß ich nach dem Durchbruch der Gnade nur verlangte, weil ich in dem Augenblick durch ein unbekanntes, herrliches Gefühl belohnt werden sollte.

Ich erzählte dem Buchhalter von der Unterredung meiner Nichte, und er lächelte still vor sich hin und sagte mit erhobenem Blick: »Lassen Sie das gut sein, und fahren Sie fort, gläubige Gespräche mit ihr zu führen, auch dies Mädchen wird einstens anfangen, sich nach der Gnade zu sehnen.« Ein unheimlicher Glanz füllte bei diesen Worten seine Augen.

Von meiner Familie vernahm ich während dieser Zeit nicht viel. Die Großmutter hatte mir einigemale geschrieben, und jedesmal war alsdann ein Postskriptum von der guten Schmiedin angehängt, aus welchem ich deutlich ersah, daß sie ihre traurige Gewohnheit des beständigen Weinens noch nicht abgelegt hatte, denn die Zeilen, die sie schrieb, und in welchen sie jammerte, daß ich so fern sei, und sie mich solange nicht gesehen, waren meistens durch ihre Tränen halb ausgelöscht. Von dem Doktor Burbus erfuhr ich nie etwas – auch auf der Königsbronner Mühle schien man nichts von ihm zu wissen – wo war mein Freund geblieben?

Von meinem Vormund dagegen erhielt ich eines Tages ein längeres Schreiben, worin er seine Zufriedenheit aussprach, daß ich endlich Raison angenommen habe und einsehen gelernt, wie man etwas Tüchtiges lernen müsse, um durch die Welt zu kommen. »Deine Prinzipalin,« schrieb er, »hat mir alles mögliche Gute von Dir gesagt, und mir sogar die angenehme Hoffnung gemacht, daß sie in Anbetracht der Kenntnisse, die Du Dir erworben, und des Nutzens, den Du ihrem Geschäft brächtest, sich wohl entschließen könne, Dir schon für die letzten Jahre Deiner Lehrzeit ein mäßiges Salair auszusetzen. Ich danke Dir, daß Du meinen Ermahnungen endlich Folge geleistet, und bin vollkommen zufrieden mit Deiner Aufführung. Dagegen,« hieß es in dem Schreiben weiter, »hat mir der Vetter einiges über Dich mitgeteilt, welches ich nur mißbilligen kann, und was mich sehr betrübt. Du seist, behauptet der Vetter, gänzlich in die Hände Deines pietistischen Buchhalters gefallen und auf dem besten Wege, selbst ein Heuchler zu werden. Ja, ein Heuchler, mein Freund, ich kenne jenes Volk und weiß genau, daß viele von ihnen ihre frommen Redensarten und ihr Tun vor der Welt nur dazu gebrauchen, schlechten Lüsten und wohlbekannten Sünden den Deckmantel umzuhängen. Nimm dich in acht! Jener Herr Specht, der mir ein unsauberer Zeisig zu sein scheint, hat etwelche Absicht auf dich, überwache Deine Handlungen und tue nur das, was Du mit dem Gewissen eines redlichen Mannes und nicht mit dem Gewissen eines pietistischen Heuchlers vereinigen kannst.

»Apropos, bald hätte ich vergessen, Dir zu sagen, daß Dein früherer Prinzipal, der Herr Reißmehl, gestorben ist. Der Herr Philipp führt das Geschäft auf seine Rechnung fort und ist Vater eines gesunden Knaben.«

Mit diesem Briefe saß ich an demselben Abend lange auf meinem Zimmer, und dicke Tränen fielen auf das Papier. Hatte der Vormund recht? Was konnte aber der Buchhalter von mir wollen? Daß mir an seinem Betragen manches rätselhaft erschien, gestand ich mir wohl; so schrieb er auf seinem Zimmer viele Briefe an auswärtige Handlungshäuser, namentlich an unser Amsterdamer Haus, und diese Briefe kopierte er selbst, und ich mußte sie ihm in letzterer Zeit auf die Post tragen, nachdem ich ihm das Versprechen gegeben, niemand davon zu sagen; auch erhielt er viele Briefe mit seinem Namen, und diese mußte ich auf der Post, wo ich die ganze Korrespondenz täglich abholte, aussondern und ihm insgeheim übergeben. Einmal hatte ich auf seinem Tisch ein Schreiben liegen sehen, worin ihm ein Bekannter anzeigt, er habe den Wechsel im Betrage von so und so viel richtig erhalten und ihm gutgeschrieben. Doch war an allem diesem eigentlich nichts Verdächtiges, der Herr Specht hatte ja die Prokura des Hauses und konnte wohl aus Befehl der Prinzipalin einzelne Geschäfte, die im Kontor nicht bekannt werden sollten, auf seinem Zimmer abmachen.

Nur etwas war mir eines Abends, als wir beisammen saßen, aufgefallen, daß nämlich der Buchhalter mir einen Brief mit der Unterschrift der Madame Stieglitz vorlegte und dazu sagte: »Unsere Prinzipalin hat eine eigene kritzelige Handschrift, halb Männer-, halb Frauenhand, die Schriftzüge derselben haben mit Ihrer Schreibart eine merkwürdige Aehnlichkeit, schreiben Sie mir doch des Spaßes halber einmal die Unterschrift nach.« Ich tat, wie mir geheißen, und brachte sie täuschend ähnlich hervor. Er warf das Blatt in eine Mappe, und wir sprachen nicht mehr davon.

Lange Zeit war ich unschlüssig, was ich mit dem Briefe meines Vormunds anfangen sollte, ich schwankte, ob es besser wäre, ihn der Madame Stieglitz vorzulegen oder ihn vertrauensvoll dem Buchhalter zu übergeben. Ich entschied mich für das letztere, der Herr Specht dankte mir herzlich für meine Anhänglichkeit an ihn und versprach, dieselbe nach seinem besten Willen zu belohnen. »Sehen Sie,« sagte er mit aufgehobenen Augen, »der Unschuldige muß viel leiden,« und setzte mit feierlicher Stimme hinzu: »Herr, schaffe mir Recht, denn ich bin unschuldig, ich hoffe auf den Herrn, darum werde ich nicht fallen. Ihre Offenheit,« fuhr er mit sanfter Stimme fort, »hat mir bewiesen, daß Sie auf dem wahren Wege des Heils der süßen Gnade entgegenwandeln. Es ist an der Zeit, daß ich einen Schritt weiter tue und Sie einführe in jene gottgefälligen Versammlungen, wo mit warmem Herzen und mit heißem Munde das Lob des Herrn verkündet wird, lieblich und wohlgefällig der Seele. Halten Sie sich deshalb bereit, nächsten Freitagabend mit mir auszugehen, für die Erlaubnis hierzu werde ich schon sorgen.

Gute Nacht, mein Lieber, Hoffnung und Vertrauen! – Mein Fuß geht richtig, ich will dich loben, Herr, in den Versammlungen!«


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