Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Dreizehntes Kapitel.

Bisse des Gewissens.

So sehr mich gestern abend der Gedanke begeistert hatte, den unglücklichen Philipp mit Aufopferung meiner Person aus seinem Arrest zu befreien, so brach doch kaum das dämmernde Licht des trüben Märztages in das Zimmer des Doktor Burbus, wo ich auf einer alten Matratze die Nacht zugebracht, als mir auch die ganze gestrige Unglücksgeschichte in ganz anderen Umrissen vors Auge trat. Ich empfand einen kleinen Schauder, wenn ich daran dachte, vielleicht gleich meinem Exkollegen die nächste Nacht im Loche zubringen zu müssen; denn der Doktor hatte vor dem Einschlafen einigemal in den Bart gebrummt: »Na, geben Sie acht, der Ellenprinz wird uns noch anzeigen.«

Das Wetter war trübe, und schmutziggrau blickte mich das kleine Stückchen Himmel an, das ich von meinem Lager aus zwischen den beiden Dächern sehen konnte. Ebenso grau und verdrießlich erschien mir auch meine vergangene Lehrzeit im Reißmehlschen Hause. Es wollte mich bedünken, als habe ich dort in manchen Dingen vielseitiges Unrecht verübt, und als hätte ich mich sogar mit Jungfer Barbara weit besser stellen können, wenn ich es nur klüger angefangen hätte. Doch was konnte es mir helfen, daß ich die Vergangenheit beklagte! Mit der weiblichen Regierung, an deren Spitze meine Großmutter stand, schmeichelte ich mir, schon über eine neue Kondition ins reine zu kommen; doch war sie, was die Bestimmung über mein zukünftiges Leben betraf, nur eine untergeordnete Behörde und mußte an die oberste Stelle, an meinen Vormund, appellieren. Letzterer Gedanke war mir besonders unangenehm und trübte meine frohen Aussichten gänzlich. Ich kannte ihn gar zu gut, meinen Vormund! Bei vielen guten Seiten, die er hatte, und obgleich er redlich für meine Erziehung gesorgt, fürchtete ich ihn doch aufs entschiedenste und vermied ihn, wo ich nur konnte.

Er war ein kleiner, untersetzter Mann; man hätte ihn wohlbeleibt nennen können, dabei war er aber von einer eidechsenartigen und wahrhaft erschreckenden Lebendigkeit, besonders für uns Kinder. In den letzten Kriegen hatte er bei der Armee große Magazine verwaltet, und da ihm Ordnungsliebe schon angeboren war, hatte sich diese durch den langen Dienst so geschärft, daß sie in Kleinigkeitskrämerei ausartete. Der Blick dieses Mannes war wirklich bewundernswürdig. Wenn er am Morgen aufstand – und das geschah gewöhnlich sehr spät, da er sich schon im vorgerückten Alter befand – so waren seine eigenen Kinder, so wie ich, die wir in der großen Stube des Hauses beim Frühstück versammelt waren, aufs angelegentlichste bemüht, gegenseitig unsern Anzug zu mustern, ob nichts Unordentliches daran zu bemerken sei. Bald öffnete sich droben seine Tür, und wir hörten ihn, in gewissen Zwischenpausen hustend, die Treppe herabkommen. Nun fuhr alles zusammen, und wir saßen gerade wie Kerzen um den Tisch. Selbst die Mägde in der Küche sahen sich unwillkürlich um, ob alles so in der Ordnung sei, wie es der Herr befohlen. Dabei kam es sehr darauf an, ob er guter oder übler Laune war. So konnte er in die Stube treten und sogleich mit derjenigen seiner Töchter, an der die Woche war, seine Zimmer in Ordnung zu bringen, ein für uns alle sehr unangenehmes Haushaltungsgespräch anfangen.

»Hm, hm! du hast die Woche, Karoline, hm! So, ei, hm! Zum wievieltausendstenmal, Gott mag es wissen! hab' ich schon gesagt, ja hab' ich befohlen, daß mein Waschwasser vom Pumpbrunnen in der Küche und nicht vom großen Ziehbrunnen im Hofe genommen werden soll? Hm, hm! Aber nicht wahr, Mamsell Karoline, es ist Ihrer Faulheit viel anständiger und bequemer, das Wasser aus einem der großen Eimer im Hof nehmen zu lassen, wenn es auch schon den vorigen Tag und die Nacht durch gestanden und also schon halb faul ist? Für den Vater ist es doch gut genug.« – »Aber verzeihen Sie, Papa . . .« – »So, du widersprichst schon wieder? muß ich mich denn beständig über dich ärgern und deine Widersprüche anhören? Ich sage dir, du wirst es noch so weit treiben, daß ich dir die Woche ganz abnehme, und dann wehe dir!«

Bei solchen Morgengrüßen saßen wir andern zitternd und bleich vor Angst da, denn wenn der alte Herr einmal im Zuge war, ging es leicht der Reihe nach über uns alle her, und es mochte leicht der Fall sein, daß er am vergangenen Tage von irgend einem eine ähnliche Untat erfahren hatte, bei welcher Gelegenheit er, um seinem Gedächtnis nachzuhelfen, jedesmal in sein buntseidenes Taschentuch einen Knoten machte, um die Sache nicht zu vergessen. Aber gerade diese Knoten im Schnupftuche waren unser doppeltes Unglück; denn erstens, wie gesagt, brachten sie ihn auf unsere Unarten zu sprechen, und dann vergaß er auch meistens, die erledigten Knoten wieder aufzulösen, wodurch sich unsere Verbrechen beständig häuften. Bei einer Unterredung, wie die obige, oder wenn er sonst schlecht gelaunt war, begann er, langsam sein Tuch aus der Tasche zu zupfen, und da er nicht immer wußte, wem der betreffende Knoten in demselben galt, so sah er uns alsdann scharf der Reihe nach an, und wer am ängstlichsten nach dem Tuche spähte, der mußte der Schuldige sein und war es auch gewöhnlich. Die Urteilssprüche, welche die Knoten im Schnupftuch hervorgerufen, wurden auch häufig durch eben dieses Instrument recht fühlbar vollzogen, worauf sich dann der alte Herr in seine Kanzlei begab, recht zufrieden, in seinem Hauswesen wieder alles ins reine gebracht zu haben; denn es war ihm gerade nicht lieb, wie er selbst oft behauptete, den ganzen Tag verweisen und strafen zu müssen, und hatte er ausgetobt, so war er der beste Mann von der Welt. Alsdann erzählte er uns Geschichten oder spielte mit uns; doch konnten wir uns auch in solchen Augenblicken seiner guten Laune nicht genug in acht nehmen, die geringste Ungeschicklichkeit oder Unaufmerksamkeit konnte seinen Eifer aufs neue rege machen. Dadurch aber hatte seine Anwesenheit für seine eigenen Kinder sowie für mich, etwas sehr Peinliches und Beengendes, und wir konnten uns erst dann recht freuen, wenn er das Haus verlassen hatte. Dann mußte eines von uns durch ein kleines Fenster an der Seite des Hauses auf die Straße sehen, ob er wirklich um die Ecke gegangen sei, worauf wir uns durch den größtmöglichen Unfug aller Art entschädigten und einen Spektakel anfingen, in welchen gewöhnlich die alte Haushälterin und sämtliche Mägde kräftigst einstimmten. Ich war ein Jahr in seinem Hause gewesen und obgleich es mir da im ganzen besser ging, als später bei meiner Tante, so war ich doch herzlich froh, als ich es wieder verlassen konnte. Der alte Herr belegte mich auch gar zu häufig mit Strafen, die für mich die empfindlichsten waren. So mußte ich mit ihm auf seine Kanzlei gehen, namentlich an Sonn- und Feiertagen, und dort bekam ich ein großes Buch und ein Stück Papier, das ich voll schreiben mußte, und so oft er einen Fehler darin entdeckte, mußte ich es von neuem abschreiben, und immer wieder abschreiben. Obendrein saß ich an seiner Seite, und wenn ich nicht fleißig war oder die Feder nicht recht hielt, so nahm er langsam ein langes, flaches Lineal und gab mir damit einen starken Klaps auf die Finger. Auch mußte ich nicht selten dableiben, wenn er fortging, und dann schloß er mich ein, und dies waren für mich die schrecklichsten Augenblicke. Die Kanzleistube war ein altes, düsteres Gemach und hatte kleine, vergitterte Fenster, zu welchen kaum das nötige Licht hereindrang, und da saß ich Aermster, meine Finger durch das Schreiben mit Tinte beschmutzt bis an die Knöchel, worauf meine Tränen fielen. Und wenn ich dann einen Versuch machte, meine nassen Augen mit den Fingern zu trocknen, so nahm das Gesicht bereitwillig die Tintenflecken an. Auch mein weißer Hemdkragen färbte sich schwarz, was später zu neuen unangenehmen Erörterungen Veranlassung gab.

Draußen vor der Kanzleistube summte und wogte an solchen Feiertagen das fröhliche Volk vorbei. Ich erkannte die Stimmen meiner Spielkameraden und mußte hören, wie sie lustig davonzogen, wahrscheinlich vor das Tor, auf eine grüne, duftige Wiese, unsern gewöhnlichen Spielplatz. Wie roch ich in Gedanken den Duft des Grases, wie hörte ich über meinem Haupte die Bäume rauschen, während ich im Staub vergilbter Akten saß und sich über meinem Haupte nur je zuweilen im Luftzug ein alter, zerrissener, kattunener Vorhang bewegte, eine Unzahl Motten aus ihrer beschaulichen Ruhe aufstörend!

Dergleichen Gedanken und Erinnerungen quälten mich, wie gesagt, auf der alten Matratze beim Doktor Burbus, und wenn ich mich auch mit Schaudern jener Zeit beim Vormund erinnerte, so kam sie mir doch wie ein holder Maitag gegen das Sturmwetter vor, das sich nach den schweren Ereignissen von gestern abend gegen mich zusammenzog. Weh mir! meine Großmutter, meine Tante, der Vormund, Philipp auf der Polizei – das alles machte mich so entsetzlich unruhig, daß ich in meiner Angst anfing, den Doktor aufzuwecken, ein Geschäft, das mir erst nach vielen fruchtlosen Bemühungen gelang. Endlich hob er sein schweres Haupt aus den zerrissenen Kissen in die Höhe, um mich anzuschauen. Dazu blinzelte er mit den Augen und bot mir laut gähnend einen guten Morgen.

»Ach, lieber Herr Doktor,« sagte ich, »mich haben die Vorfälle von gestern abend gar nicht schlafen lassen. Sie erinnern sich doch der Sache? Wissen Sie, wo Philipp ist?« – »O ja,« entgegnete der Doktor Burbus mit einer sehr heiseren und trockenen Stimme, »freilich erinnere ich mich. Hahaha! Philipp der Edle hat das Asyl treuer Liebe mit einem Quartier in Numero Sicher vertauscht.« – »Ja, aber lieber Herr Doktor,« entgegnete ich, »Sie sagten gestern vor dem Einschlafen, Philipp könnte uns angeben, und dann . . .« – »Ganz recht, Verehrtester,« antwortete der Doktor, indem er sich aufrecht ins Bett setzte, so daß seine beiden Füße den Boden berührten, wo er nach ein Paar alten, gelben Pantoffeln angelte, »wenn uns Philipp verdächtigt – und das trau' ich ihm gar zu gern zu – so werden wir vor das Friedensgericht zitiert. Kennen Sie dieses Institut?« – »O Gott, nein!« jammerte ich, und es war mir gerade, als habe mich schon einer mit rotem Kragen und blauem Rock gefaßt und schleppe mich, ein armes, wehrloses Opfer, durch die Straße.

»Sehen Sie,« fuhr der Doktor gähnend fort, indem er in seinen alten, grünen Sämtling schlüpfte und einen entsetzlich nüchternen, trostlosen Blick an den grau überzogenen Himmel warf, »Friedensgericht ist für diese wohltätige Anstalt eine sehr sonderbare Benennung. Da werden zwei Parteien, die uneins sind, mit Gewalt hinzitiert, vor einen alten Herrn, der sitzt in einem großen Lehnstuhl und hat grausame Langeweile. Er hört die Leute ruhig an, und nachdem sie sich tüchtig ausgeschrien haben, versucht er, einen Vergleich zwischen ihnen zustande zu bringen. Aber das gelingt ihm höchst selten, ist ihm aber im Grunde auch gleichgültig, und wenn die Leute auch vor dem Friedensgericht tun, als haben sie sich wirklich verständigt, so rennen sie, wenn sie kaum aus der Tür sind, zu zwei verschiedenen Advokaten und machen die Sache beim Landgericht anhängig. Aber da fällt mir eben ein, daß die Sache mit Philipp wohl vor das Polizeigericht kommen wird, eine andere, nicht minder wohltätige Anstalt.« – »Und was geschieht da, lieber Herr Doktor?« fragte ich kleinlaut. – »Ja, da,« entgegnete der Doktor, »wird mit dem ehrwürdigen Philipp ziemlich kurzer Prozeß gemacht. Der betreffende Polizist beteuert bei seinem Diensteid, er habe den Inkulpaten im Augenblicke erwischt, wo er höchlichst an einer königlichen Straßenlaterne gefrevelt, und dann ist's wie eins, zwei, drei. Der Polizeidirektor sagt: So! schlägt das Polizeistrafgesetzbuch auf und dekretiert: ergo conclusum – drei Tage in Arrest nebst Schadenersatz.« – »Aber um Gottes willen!« rief ich, »Philipp ist ja unschuldig!« – »Das tut nichts, Verehrtester, alles, Ort und Umstände, wie er attrappiert worden, zeugt gegen ihn, und er mag nur Gott danken, daß auf das Verbrechen, eine Straßenlaterne zertrümmert zu haben, nicht Todesstrafe steht, indem er alsdann unfehlbar gehenkt würde.« – »Nein, lieber Herr Doktor,« erwiderte ich, »das dürfen wir eigentlich nicht zugeben; ich, oder vielmehr Sie, der die Sache besser kennt, sollten auf die Polizei gehen und dort erklären, daß Philipp unschuldig ist. Sie brauchen ja nicht zu sagen,« setzte ich hinzu, »daß wir beteiligt sind; wir haben es nur zufällig mitangesehen und können für seine Unschuld zeugen.« – »Junger Mensch,« sprach der Doktor sehr ernst, indem er ein blechernes Gefäß hervorsuchte, worin er seinen Kaffee zu bereiten pflegte, »du sprichst ein großes Wort gelassen aus. Aber nehmen Sie mir's nicht übel, davon verstehen Sie gar nichts, und ich desto mehr. Sehen Sie, wenn ich mich in einer so zweideutigen Angelegenheit auf der Polizei sehen lasse, so begnügen sich die scharmanten Leute dort nicht mit meinem Zeugnis; sie gehen in ihrer unendlichen Wißbegierde so weit, mich um Paß, Heimatschein, Aufenthaltskarte usw. zu fragen, und würden sich am Ende noch angelegentlich erkundigen, wovon ich denn eigentlich in hiesiger Stadt meinen Unterhalt bestreite. Fragen, auf welche ich wahrhaftig keinen Bescheid zu geben wüßte.«

»Ja, aber lieber Herr Doktor, wenn Sie mir erlauben, unbescheiden zu fragen, Sie müssen doch ein gewisses Vermögen haben, von dem Sie die Leute bezahlen, denen Sie etwas schuldig sind.« – »Ja freilich,« erwiderte Burbus, »Schulden bezahlen – jawohl, jawohl! – Es gab eine Zeit,« fuhr er fort, indem er eine Spirituslampe anzündete, »eine Zeit, wo ich nicht schlafen konnte, wenn ich Gott mein Nachtgebet schuldig geblieben war; aber das ist schon lange her, und seit jenen Tagen unschuldiger Kindheit habe ich es gänzlich verlernt, meine Schulden zu bezahlen.«

Unterdessen war ich ans Fenster getreten und schaute zum Himmel empor, wo schmutziggraue Wolken von einem kalten Winde eilfertig und ihre Gestalt beständig ändernd hinweggeführt wurden. Auf der Straße war es naß und kotig, und wenige Schritte vor dem Reißmehlschen Hause lag auf der Erde ein ganzer Trümmerhaufen von Stricken, Glas, kurz allen Bestandteilen, woraus eine ordentliche Straßenlaterne gefertigt ist. Drüben im Hause meines ehemaligen Prinzipals war noch alles still und ruhig, und das Fenster meines Zimmers war geöffnet, und der Wind fuhr hinein und spielte mit dem bunten Kattunvorhang, der mein früheres Bett umgab. Es war ein häßlicher, unfreundlicher Morgen, und ich befand mich in derselben Stimmung wie damals, als ich nach dem zu viel genossenen Punsch bei Doktor Burbus in meinem Bett drüben erwachte. Doch war mein Katzenjammer am heutigen Morgen ein weit schlimmerer, ein durchaus moralischer, und Philipp hätte ihn nicht wie damals durch eine Handvoll Sauerkraut vertreiben können.

Während ich im Fenster lag, braute der Doktor seinen Kaffee, dessen ganzer Geruch und Ansehen mir keinen großen Appetit machte, zumal, als ich sah, daß seine Filtriermaschine aus dem untern Teile eines Strumpfes bestand, den er über einem eisernen Ring befestigt hatte. Ich konnte es aber nicht verhindern, daß er mir eine Tasse eingoß, und dann nötigte mich die Kälte des Morgens, einen Schluck vom warmen Gebräu zu nehmen. Der Doktor rauchte aus einer langen Pfeife und ließ sich auf sein Bett nieder, indem er die unendliche Unsauberkeit und Unordnung in seinem Zimmer mit einem wohlgefälligen Blick zu betrachten schien. Ich dagegen konnte mich eines geheimen Ekels nicht erwehren, und wenn es mir Spaß gemacht hatte, ein paar Stunden lang diese zerfetzten Möbel, den grotesken Hexentanz an der Wand und den Schlafkameraden Totenbein anzusehen, so fing ich jetzt fast an, ein geheimes Grauen vor dem Doktor zu fühlen, der sich beständig in dieser schauderhaften Umgebung befand und sich darin gefiel. Indessen wurde der Blick des Doktors, je länger er um sich schaute und mit den Fingern durch das verwirrte Kopf- und Barthaar fuhr, immer weniger lustig und nahm zuletzt einen ernsten, ich möchte sagen traurigen Ausdruck an, den ich früher nie an ihm bemerkt hatte. Mit seinen Beinen klopfte er taktmäßig gegen das Bett, und nachdem er einen Augenblick zum Fenster hinausgeschaut, vor dem jetzt ein feiner, kalter Regen herabrieselte, fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann betrachtete er mich und sagte: »Wenn man Sie auch drüben aus dem Hause weggeschickt hat und Sie von Ihrer Familie bedeutende Unannehmlichkeiten zu erwarten haben, so sind Sie doch, bei Gott! gegen mich ein ganz glücklicher Mensch. Auf mein Wort versichere ich Ihnen, ich fühle mich oft als einen der miserabelsten Sterblichen, die es gibt. Wer, wie ich, so allein steht, ach, so entsetzlich allein steht, und weder Mittel hat, wovon er anständig leben kann, noch etwas gelernt hat, um diese Mittel zu erwerben, ist wahrlich schlimmer daran als der Tagelöhner und Lastträger, der mit saurer Arbeit sein mageres Stück Brot verdient. Glauben Sie mir, Teuerster, unter allen dummen Streichen, die ich in meinem Leben gemacht – und deren Zahl ist Legion – ist der unverantwortlichste und größte, daß ich während meines achtjährigen Studentenlebens von allen Wissenschaften und Künsten, die sich auf Gottes Erdboden breit machen, auch nicht die Idee profitiert habe.« – »Aber,« entgegnete ich hastig, »Sie haben ja lange Zeit die Universität besucht und studiert?« – »Freilich,« antwortete der Doktor, »habe ich die Universität besucht, aber das bißchen Vermögen, das mir von meinen Eltern hinterlassen wurde, mit leichter Mühe vertan; es war gar zu unbedeutend, so unbedeutend, daß ich Hunger und Kummer dabei ausstehen mußte; denn wenn Sie etwas Unbedeutendes auf sechzehn Semester verteilen, so können die Rationen nicht groß werden. Dann habe ich mich, wie schon gesagt, wohl des Studierens halber auf der Universität aufgehalten, jedoch ohne mich dem sauren Geschäft des Lernens zu unterwerfen. Und so, junger Mensch,« fuhr der Doktor ernster fort, »sehen Sie einen jungen Kerl von zweiunddreißig Jahren vor sich, der nichts versteht, als einem Bierkommers glanzvoll vorzusitzen, das Rapier gut zu führen und auf der Guitarre drei und einen halben Akkord anzuschlagen.«

Hastig war der Doktor bei diesen letzten Worten aufgestanden und lief im Zimmer auf und ab, die Hände auf den Rücken gelegt. »Wenn Sie,« fuhr er fort, »den Zorn Ihrer Familie wegen Ihrer Entfernung aus dem Hause Reißmehl u. Comp. hinabgeschluckt haben, so lassen Sie sich in Gottes Namen in einen andern Spezereiladen stecken und – nehmen Sie mir's nicht übel – führen sich dort solider auf als bis jetzt. Hoffentlich wird dort kein Doktor Burbus in der Nähe sein, denn dergleichen Leute wie ich sind euch jungen Burschen ungemein gefährlich. Apropos, ich erinnere mich, Ihnen an einem schönen Abend gesagt zu haben, daß es für Sie weit besser wäre, wenn Sie Ihre kaufmännische Karriere verließen und sich ebenfalls aufs Studieren verlegten; aber im gegenwärtigen Augenblicke, wo ich nicht in Phantasien umhertaumle, beschwöre ich Sie, bleiben Sie bei dem, was Sie ergriffen. Ihre Familie scheint mir auch nicht imstande, Sie durch große Geldzuschüsse oder später durch Einfluß zu unterstützen; sie ist aber vielleicht wohlhabend genug, um Ihnen einmal einen kleinen Kramladen einzurichten, in welchem Sie, ein zweiter Reißmehl, thronen und regieren können. – Hätte ich in meiner Jugend,« fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während er abermals seine Stirn mit der Hand wischte und sie dann umgekehrt vor den Augen vorbeifahren ließ, »hätte ich jemand gehabt, der mir die Sache vernünftig auseinandergesetzt hätte, statt daß meine Mutter durchaus einen gelehrten Herrn aus mir machen wollte, so wäre ich bei meinem Vater geblieben, der, Gott weiß von wieviel Generationen her, eine alte Mühle in Pacht hatte. Ich hätte dieses edle Geschäft ebenfalls erlernt und könnte jetzt vielleicht im weißen, bemehlten Kamisol ein ruhiges, glückliches Leben führen. Aber das ist alles, alles unwiederbringlich dahin. Mein Vater ist tot, meine Mutter ist tot, ehe sie in ihrem Herrn Sohn einen Gelehrten erblickt, die Mühle ist in andere Hände übergegangen, und ich bin auf Gottes weitem Erdboden gar nichts, als ein miserabler Kerl, ein elender Lump.«

Bei diesen letzten Worten warf sich der Doktor so stürmisch auf sein Bett, daß es in allen Fugen krachte. Darauf schien es, als wolle er mit Gewalt diese finstern Gedanken von seiner Seele wälzen, und er begann aus voller Brust ein bekanntes Lied: »Das Jahr ist gut, braun Bier ist geraten.« Er sang mehrere Strophen desselben in einem Atem fort, während ich dasaß, ob dem sonderbaren Menschen aufs tiefste erschüttert. Endlich sprang er wieder auf, faßte mich bei den Schultern und sagte so lustig wie möglich: »Jetzt, teuerster Exladenjüngling, fliehen Sie heim gen Zion und halten Sie sich in den ersten Tagen still in Ihrem Kämmerlein verborgen. Ich habe stets einen guten Löffel geführt und werde wahrscheinlich auch Ihren Teil an der garstigen Polizeisuppe verspeisen. Jetzt gehen Sie, es ist acht Uhr, und überlassen Sie mich meinem Schicksal. Doch ehe ich dieser sündhaften Stadt den Rücken kehre, was vielleicht bald geschehen wird, werde ich Sie in aller Stille aufsuchen, um mich zu beurlauben. Leben Sie wohl, junger, halbverlorener Sohn.«

Er öffnete die Tür, schüttelte mir die Hand, und ich stieg nachdenklich die Treppen hinab. Von oben schallte mir des Doktors Stimme nach, der das begonnene Lied zu Ende brachte, und unten hörte ich noch deutlich, wie er den Vers sang:

»Und wenn ich einst sterbe, so laßt mich begraben,
Nicht unter den Kirchhof, nicht über den Schragen,
Nein, tief in den Keller, wohl unter das Faß;
Lieg' gar nicht gern trocken, lieg' allweil gern naß.«

Mir war zu Mute, als sollte mir das Herz in der Brust zerspringen. Rasch eilte ich auf die Straße, und der herabfallende eisige Regen tat mir gar nicht wohl; auch fühlte ich in meinen Stiefeln einige verdächtige Oeffnungen. Obgleich ich aber unter diesen Umständen zu eilen hatte, wieder unter Obdach zu kommen, hielt es mich doch einen Augenblick vor dem Reißmehlschen Hause fest, wo der alte steinerne Soldat mit der langen Nase stand. Ihn verließ ich ungern und nickte ihm freundlich zu. Ach, vielleicht war er der einzige vom ganzen Hause, der mich ungern scheiden sah, wenigstens bildete ich es mir ein, und wer wird es mir übel nehmen, wenn ich in meinem gedrückten Gemütszustande das Wasser, welches an der großen Nase des steinernen Kriegsmannes herablief, für mitleidige Abschiedstränen hielt?


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