Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Sechsunddreißigstes Kapitel.

Emma.

So war nun eines Morgens der Verkaufstermin für das Haus meines Vetters, des verstorbenen Professors, angesetzt, und ich tat mir absichtlich die Qual an, für einen Augenblick hinzugehen. Rohes Volk füllte den Garten, die Gänge, Treppen und Zimmer, und die kostbarsten und schönsten Gerätschaften der verarmten Familie wurden schonungslos umhergerissen und von dem Haufen unter schlechten Witzen und gemeinen Bemerkungen taxiert, und, um sie wohlfeiler zu erhalten, in den Augen aller heruntergesetzt. Es half dem armen Joco nichts, daß er unzähligemal »Filou« schrie oder »Mort de ma vie –« er wurde als ein Individuum, welches der Masse durch tägliches Fressen Kosten verursachte, zuerst versteigert. Es war eine Geschichte, wie sie jeder schon erlebt oder mitangesehen hat: die Gegenstände wurden ausgeboten, es hieß »zum ersten, zum zweiten und zum drittenmal«, dann klappte der Hammer, der Eigentümer wurde aufgeschrieben und etwas Neues vorgenommen.

Die gute Emma wußte natürlich nicht, was in diesen Tagen vor sich ging, man verheimlichte es ihr, um ihrem Schmerz nicht neue Nahrung zu geben. Im übrigen lebte sie bei dem Doktor aufs allerangenehmste, doch hielt sie mit demselben häufige Konferenzen und bat ihn dringend, eingedenk des Wortes ihrer Mutter, für sie bemüht zu sein und eine Stelle aufzufinden, die ihr erlaube, für sich selbst sorgen zu können. Der Doktor schob diese Entwürfe auf die lange Bank, wie er zu sagen pflegte, und wollte nichts davon wissen, daß das liebe Mädchen sein Haus verlasse. »Bleiben Sie bei meiner Frau,« pflegte er zu sagen; »Sie sind hier gut aufgehoben, wir wollen Sie beide nicht verlassen, wozu auch? Ja, wenn sich einmal etwas außerordentlich Annehmbares findet, so spricht man weiter davon; aber vorderhand bitte ich Euch, hochedles Burgfräulein,« diesen Beinamen hatte er ihr gegeben, »nicht weiter daran zu denken.«

Aber Emma dachte wohl daran. Obgleich sie die Frau des Doktors innig liebte, obgleich sie unter andern Verhältnissen vielleicht jahrelang zum Besuch geblieben wäre, so schien ihr doch jetzt jeder Tag, an welchem sie versäumte, sich nach einer dauernden, einträglichen Beschäftigung umzusehen, ein Unrecht, das sie nicht nur an sich, sondern auch an ihrer Mutter begehe, welcher eine sorgenfreie Existenz für das Alter zu verschaffen, ihr glühendster und süßester Wunsch war.

Eines Tages nahm mich Emma beiseite, sprach mir von ihrem Plan und der Notwendigkeit, denselben bald ins Werk zu setzen, und forderte mich auf, ihr Beistand zu leisten. Doch hatte mir der Doktor für diesen Fall schon seine Winke gegeben, weshalb ich die Achseln zuckte und versicherte, es sei gewiß äußerst schwierig, ihr eine Stelle zu verschaffen, sie möge sich beruhigen, es habe gar keine Eile, und was dergleichen Redensarten mehr waren. »Warum willst du nicht,« sagte ich, »bei der Doktorin bleiben? Sie hat dich so gern.« – »Warum?« entgegnete das Mädchen, »warum? Weil ich nicht von der Gnade anderer Leute leben will, selbst wenn diese Leute meine besten Freunde sind; warum bist du nicht auf der Mühle geblieben?« fragte sie mich ernst, »gewiß hätte man dich auch dort gern ein paar Jahre behalten.«

Dagegen war nun freilich nichts einzuwenden, und doch konnte ich nicht in ihr Verlangen willigen; erstens hatte es mir der Doktor streng verboten, und zweitens war ich Egoist genug, für diesen Fall keine Schritte zu tun, denn ich fürchtete, meine inniggeliebte Nichte, meine gute Emma, aus der Stadt zu verlieren, wenigstens aus dem Hause des Doktors.

Einige Zeit nach diesem Vorfall – Emma schien uns nachgegeben zu haben und sprach keine Silbe mehr von ihrem Projekte – wurde der Doktor nach langer Pause wieder, und zwar durch ein Handschreiben des Herrn Specht, in unser Haus berufen. Diese Einladung war ihm um so überraschender, als in unserem Hause einer seiner Kollegen, ein Mann, mit welchem er in keinem guten Einverständnis lebte, welcher aber dafür vollkommen tadellos und wohlgefällig vor den Augen des Herrn Sproßer und des Herrn Buchhalter Specht wandelte, seit längerer Zeit als Hausarzt praktizierte.

Die Prinzipalin befand sich auf ihrem Zimmer, als der Doktor eintrat, sie saß an ihrem Schreibtisch, eine Brille auf der Nase, und war beschäftigt, verschiedene Briefe durchzulesen. Sie reichte dem Arzte die Hand, welcher sich einen Stuhl nahm und auf die unbefangenste Art von der Welt, und als sei er erst gestern dagewesen, ein Gespräch einleitete. Wie Burbus mir später versicherte, fand er die Frau sehr gealtert, und wenig mehr von der Energie und dem so angenehmen, kräftigen Wesen an ihr, das sie früher auszeichnete. Sie nahm die Brille ab, lehnte sich in ihren Stuhl zurück und schien nicht ungern den gesunden und lustigen Einfällen des Arztes zuzuhören. Zuweilen fuhr ein Lächeln über ihre ernsten Züge, und sie nahm es gar nicht übel, als ihr der Doktor ziemlich ironisch zu verstehen gab, daß er die gegründetste Hoffnung habe, bald wieder ihr Hausarzt zu werden, indem er sich die außerordentlichste Mühe gebe, sein vergangenes Leben vergessen zu machen und in irgend einen Betklub als verloren gegangenes, aber reuiges Lamm aufgenommen zu werden.

Dem Doktor nahm eigentlich nie jemand etwas übel, er hatte eine solch gutmütige Manier, seine beißenden Bemerkungen anzubringen, daß man ihm im Ernst nicht zürnen konnte.

»Lassen Sie Ihre Possen,« sagte endlich die Frau, ohne böse zu sein, »die Wege der Menschen treffen sich, laufen zusammen und gehen auseinander.« – »Ganz richtig,« sagte der Doktor, »wie aus dem Billard die Kugeln nach unsanftem Zusammenstoß.« – »Ich habe Sie rufen lassen, lieber Doktor,« fuhr Madame Stieglitz fort, »nicht wegen einer ärztlichen Konsultation, ich befinde mich, dank dem Höchsten, körperlich wohl, vielmehr wegen eines Geschäftes, über welches ich mit Ihnen sprechen möchte; lesen Sie diesen Brief.«

Der Doktor entfaltete ein Papier, welches ihm Madame Stieglitz gab, und rieb sich, nachdem er einige Zeilen gelesen und die Unterschrift gesehen, wiederholt die Augen, wie jemand, der nicht glauben will und kann, was er sieht. »O, das ist zu stark,« sagte er nach einer Pause, »aber Sie sind wohl nicht geneigt, darauf einzugehen, Madame Stieglitz?« – »Warum nicht?« entgegnete die Prinzipalin, »ich kenne die Familie, die Leute haben Unglück gehabt, waren aber von achtbarem Charakter, und das Mädchen soll sehr gebildet und wohlerzogen sein, so sagt wenigstens mein Buchhalter, der Herr Specht.« – »Ei so, der Herr Specht,« lachte bitter und zornig der Doktor, »der Herr Specht, den Gott –« verdammen soll, wollte er sagen, verschluckte aber das Wort und schüttelte nur mit dem Kopfe. »Das geht nicht, Madame Stieglitz, das geht durchaus nicht.« – »Und warum nicht? Ist das Mädchen nicht zu empfehlen? Ich habe Sie zu mir gebeten, lieber Herr Doktor, um einige Auskunft über ihren Charakter zu erhalten, sie wohnt ja seit dem Tode ihres Vaters bei Ihnen.« – »Empfehlenswert?« sagte der Doktor; »o, was das anbelangt, da könnte sich jedes Dach glücklich preisen, unter welches dies reine und gute Geschöpf eingeht, sogar das Ihrige,« setzte er ironisch hinzu; »sogar hier, wo des Glaubens hellstes Licht leuchtet, würde man keinen Flecken an ihr finden.« – »So wäre ich also nicht abgeneigt,« sagte Madame Stieglitz, »das Mädchen unter den besten Bedingungen anzunehmen.«

»Doch wär' ich in der Tat sehr abgeneigt, das Mädchen aus meinem Hause zu lassen.« – »Sie hat das vorausgesehen,« entgegnete ruhig die Prinzipalin, »und hat mir auch noch privatim geschrieben – der erste Brief gilt dem Hause Stieglitz und Comp. – und gerade dieses zweite Schreiben, in welchem sie Ihrer gastlichen und liebenswürdigen Aufnahme gedenkt und zugleich den Wunsch, sich eine Existenz zu verschaffen, so kindlich schön, ja rührend motiviert, hat mich sehr für sie eingenommen; mir genügen Ihre Aussagen, mein lieber Herr Doktor, vollkommen, und ich werde der Mamsell Emma diese Stelle geben.« – »Als Ladenjungfer!« lachte der Doktor auf seine eigentümliche Art, wenn er seinen Zorn unterdrücken wollte.

»Nicht so ganz,« entgegnete die Frau. »Sehen Sie, Herr Doktor, ich werde nachgerade alt und schwach; ich bin nicht mehr dieselbe, die ich noch vor einem halben Jahr war,« sagte sie mit einem trüben Lächeln, »meine Augen lassen nach, ich sitze oft stundenlang einsam und allein, bin meinen Gedanken überlassen und möchte gern ein gutes Wesen um mich haben, das freundlich und liebevoll mit mir spricht, ein weibliches Wesen, das mich, die alte Frau, vielleicht versteht. Ich kann ja nicht immer die kostbare Zeit meines Seelenfreundes, des Herrn Sproßer, in Anspruch nehmen.«

Der Doktor sah bei diesen Worten die Frau ernst an und antwortete in schneidendem, gedehntem Tone: »Meine verehrte Frau, Sie eröffnen dem armen, mittellosen Mädchen eine Aussicht, nach welcher viele andere begierig haschen würden, aber vergessen Sie nicht, daß die Emma, obgleich gut erzogen, obgleich gebildet – ihr Charakter ist ohne Fehl, und ihr Herz rein wie Gold, wir Aerzte verstehen uns auf dergleichen – daß die Emma, wollt' ich sagen, nicht mit jenen Tugenden begabt ist, welche die meisten Freunde Ihres Hauses, Madame, auszeichnen; sie ist ein Wesen, dankbar und fromm, mit einem klugen, offenen Verstand, dem aber gänzlich die Fähigkeit mangelt – – der gewissen Gnade teilhaftig zu werden.«

Es trat eine kleine Pause ein, Madame Stieglitz senkte den Kopf und antwortete erst nach einigen Augenblicken: »Ich verstehe den Vorwurf vollkommen,« sagte sie, »der in Ihren Worten liegt, aber ich glaube und hoffe zu Gott, daß Sie mir und meinen Freunden unrecht tun. Ich wenigstens bin keine Heuchlerin; sollte ich einen unrechten Weg wandeln, so vergebe mir Gott, ich tue alles ohne Nebengedanken, nur zum Preis und zur Ehre des Höchsten.« Sie erhob sich in ihrer großen, majestätischen Gestalt, und ein paar Tränen rollten ihre bleichen Wangen herab, dann reichte sie dem Doktor die Hand, und dieser, seltsam erschüttert von der gehabten Unterredung, nahm seinen Hut und empfahl sich mit einer stummen Verbeugung.

Ich sah ihn die Treppen hinabstürmen und erschrak vor seinem ernsten, ja zornigen Aussehen; noch größer aber wurde mein Schreck, als er mich am Arm faßte und ins offenstehende Speisezimmer zog. Hier betrachtete er mich vom Kopf bis zu den Füßen und sagte: »Ei, ei, Sie sauberer Zeisig, heißt das einem Freunde Wort halten? Habe ich Sie nicht gebeten, habe ich Ihnen nicht ausdrücklich befohlen, ich, ein viel älterer Mensch, als Sie, der es gut mit Ihnen meint, habe ich Ihnen nicht gesagt, Sie sollten der Emma bei ihrem tollen Gedanken, sich eine Stelle zu suchen, Ihre Hilfe versagen? Und jetzt wollen Sie sie hier ins Haus schmuggeln als Ladenjungfer des Herrn Specht, als Mamsell Therese, zweite Auflage, Sie Ungeheuer! Bei Ihrem nächsten Unwohlsein verordne ich Ihnen Blausäure, daß die Welt von einem so schädlichen Insekt befreit wird.«

Ich stand sprachlos da mit offenem Munde; und als er mich endlich zu Worte kommen ließ, versicherte ich ihm hoch und teuer, ich wüßte von der ganzen Geschichte nichts und gab dem erzürnten Doktor mein Ehrenwort, daß ich der Emma meine Hilfe, wie er es mir eingeschärft, rund abgeschlagen habe.

Der Doktor glaubte mir, denn ich hatte ihn nie belogen; er dachte einen Augenblick nach und sagte alsdann heftig: »So hat das verwünschte Mädchen die Aufforderung in der Zeitung gelesen, da ist denn freilich bei ihrem festen Charakter kaum zu helfen.« Er sprang zur Tür hinaus und rannte wie toll nach Hause.

Wie es der Doktor vorausgesagt hatte, so war auch bei dem festen Charakter meiner Nichte Emma nicht daran zu denken, daß sie einen einmal gefaßten Entschluß ohne gewichtige Gründe wieder aufgeben würde, und gewichtige Gründe, warum sie eine Stelle in einem achtbaren Hause wie das der Firma Stieglitz u. Comp. nicht annehmen sollte, sah weder die Doktorin noch ich. Ich konnte doch unmöglich vor dem jungen Mädchen mit einer Schilderung des Charakters unseres Buchhalters herausrücken, ich konnte doch ebensowenig von jener Betversammlung erzählen, der ich die Ehre gehabt hatte, einmal beizuwohnen.

Der Doktor dagegen schien unentschlossen, ob er seiner Schutzbefohlenen einiges mitteilen solle, was er von dem Buchhalter zu wissen schien; er ging lange mit sich darüber zu Rate und hatte mit mir über diesen Gegenstand eine ernste Unterredung. »Was soll ich tun?« sagte er, »gegen den achtbaren Charakter der Prinzipalin ist nichts zu sagen. Wenn es mir also auch gelänge, den Buchhalter in die Luft zu sprengen – und es ist die Frage, ob mir das gelingt, denn diese Starken im Glauben halten zusammen wie die Ketten – so hätten wir doch nichts dabei gewonnen. Sie würde er mit sich reißen, wie ich Ihnen schon an jenem Abend sagte, indem er sonnenklar bewiese, daß Sie einen höchst unmoralischen Lebenswandel geführt haben. Lassen wir also jetzt der Sache ihren Lauf und behalten wir die Augen offen! Es ist manches faul im Staate Dänemark,« setzte er hinzu, »gehen Sie Ihren graden Weg, lassen Sie mir alle Liebeleien und verlangen Sie meinen Rat, wenn Ihnen etwas Verdächtiges begegnet.«

So war es denn in kurzer Zeit entschieden, daß Emma in unser Haus kommen sollte. Der Buchhalter zeigte es mir mit der gleichgültigsten Miene von der Welt an, und die einzige Aufmerksamkeit, die er der neu Angekommenen bewies, war, daß er ihr sein Schlafzimmer mit dem bewußten Ofen abtrat und sich dafür in das meinige einquartierte. Ich kam auf die andere Seite von dem Zimmer meiner Nichte, wo früher Mamsell Therese gewohnt, welches Gemach der Herr Specht nicht zu beziehen wünschte.

Es machte mich – wenn ich mir dies auch kaum zu gestehen wagte – unendlich glücklich, nun mit Emma unter einem Dache zu wohnen, sie bei Tische zu sehen, und imstande zu sein, ihr hier und da kleine Dienste zu leisten.

Wir hatten einen neuen Lehrling angenommen: ich sage wir, denn auch mir wurde bei solch großen Veranlassungen jetzt eine beratende Stimme eingeräumt. Dieser neue Lehrling, mein Nachfolger, war jener würdige Herr Block, den wir auf der Wiegkammer des Herrn Pfeffer kennen gelernt haben. Er wurde meistens im Laden beschäftigt, und da auch der Herr Specht seit längerer Zeit sich diesem Geschäft fast ausschließlich gewidmet hatte, so gab es hier für eine dritte Person nicht viel zu tun, weshalb auch Emma nicht viel dort war. Gewöhnlich befand sie sich in dem Zimmer der Prinzipalin, nähte und strickte bei ihr, oder las ihr vor. Ich weiß nicht, wie es kam, aber das Mädchen hatte bald eine Herrschaft über das ganze Haus, und jeder nahm sich sorgfältiger als sonst in acht, von der Prinzipalin einen ernsten Blick zu erhalten, wenn Emma in der Nähe war. Auf die Erziehung des einigermaßen vernachlässigten Herrn Block hatte sie einen großen Einfluß, und ein mißbilligendes Wort genügte, ihn für Wochen lang besonnen zu machen.

Unser Beisammenleben – ich meine das zwischen mir und meiner Nichte – war freundlich und herzlich; doch merkte ich an Kleinigkeiten, die aber für mich bedeutend waren, daß ich, seit sie im Hause war, weniger als Vetter wie als Kollege von ihr angesehen wurde, und das machte mir viel betrübte Stunden. Das Mädchen hatte mich früher so gern gehabt, wir standen in einem Verhältnis zueinander, dessen Art, das fühlte ich deutlich, uns beide vollkommen beruhigte. Sie liebte mich, ich liebte sie, doch hätten wir uns beide geschämt, uns das einzugestehen. Aber eben dieses selige Bewußtsein brachte in unser Leben eine schöne Harmonie, die nie von Erklärungen und Aufwallungen getrübt wurde. Jetzt aber fühlte ich ganz anders: war es mir früher einmal vergönnt gewesen, ihre Hand zu erfassen, oder hatten sich beim Abschied oder Wiedersehen unsere Lippen gefunden, so nahm ich dieses Glück als eine süße Gabe hin und wartete geduldig, wohl mit Sehnsucht, aber ohne es eifrig herbeizuführen, bis sich das wiederholen würde. Seit sie mir aber hier im Hause einmal ihre Hand entzog, als ich sie ihr leise gedrückt, ohne einen Gegendruck zu fühlen, und als sie mir dabei nicht ohne einige Bewegung gesagt: »Die Zeiten sind jetzt vorbei«, da war ich eifriger als je erpicht, ihre Hand zu berühren, wo es nur immer möglich war, und obgleich ich wohl begriff, daß ich das arme Mädchen dadurch vor den scharfen Blicken des Herrn Specht in manche Verlegenheit brachte, so konnte ich es doch nicht lassen, und das ging so weit, daß Emma, einen Augenblick wahrnehmend, wo wir allein waren, mir, freilich nicht ohne Tränen, aber ruhig und besonnen unsere beiderseitige Lage schilderte. Wenn ich auch fühlte, daß sie vollkommen recht hatte, so konnte und wollte mein schwer verletztes Gemüt ihrem Grundsatz, fleißig zu arbeiten und alles andere Gott zu überlassen, der gewiß unser Schicksal zum besten lenken würde, nicht beistimmen. Gut, dachte ich, sie opfert dich auf, sie will sich bei der Prinzipalin in Gunst setzen, indem sie das frühere Verhältnis mit dir abreißt – mir auch recht! Ich lachte laut auf, sie wollte mir die Hand reichen, und als ich sie nicht annahm, faltete sie ihre Hände auf der Brust und sagte unter Tränen: »Du verstehst mich nicht, und tust mir, weiß Gott im Himmel, bitteres Unrecht!« Ich machte ihr eine Verbeugung, wünschte dem » Fräulein« Emma einen guten Morgen und ging auf mein Zimmer. Noch auf der ersten Treppe redete ich mir vor, ich habe eine große Heldentat begangen, aber schon auf der zweiten wurde ich weicher, und als ich in meinem Zimmer angekommen war, warf ich mich, heftig weinend, auf einen Stuhl und hielt mich für den unglückseligsten aller Menschen. Tausend Gedanken durchkreuzten mein Gehirn, und wenn mir auch meine Vernunft auf Augenblicke zuredete, das Mädchen habe vollkommen recht, da die Prinzipalin eine solche Liebelei in ihrem Hause nimmermehr dulden würde, so sprach dagegen mein Stolz und meine jugendliche Heftigkeit ganz anders, und ich beschloß, Emma als eine gänzlich Fremde anzusehen, und war in meinem Innern fest überzeugt, daß sie ein kleines, herzloses Ungeheuer sei.

Da ich mit meinen verweinten Augen mich nicht im Kontor sehen lassen konnte, und auch wünschte, mein Urteil einer Appellation zu unterwerfen, indem ich doch noch hoffte, eine höhere Instanz werde es umwerfen und mir das Herz des Mädchens in einem für meine Eitelkeit angenehmeren Licht zeigen, so nahm ich meinen Hut und beschloß, den Doktor Burbus aufzusuchen und ihm den Fall vorzutragen.

Ich traf den Doktor zu Hause, er kam eben von seinen Kranken und ließ mich meine Erzählung beginnen. Ich war wirklich die Offenheit selber und wunderte mich nachher selbst darüber. Aufs lebhafteste schilderte ich ihm meine Neigung zu meiner kleinen Nichte und erklärte mich mit dem Resultat derselben bis zum Eintritt der Emma ins Haus vollkommen zufrieden.

Hier unterbrach mich der Doktor und fragte: »Und wie alt sind Sie jetzt, hochverehrter Herr Buchhalter?«

»Nächstens werde ich zwanzig,« entgegnete ich ihm und streckte mich bedeutend in die Höhe. – »Also weiter!«

Diese Frage, so einfach sie an und für sich war, hatte mich einigermaßen aus dem Gleichgewicht gebracht, und so klar der erste Teil meiner Erzählung war und, wie ich glaubte, so vollkommen geeignet, einen guten Eindruck zu machen, so verworren und unklar war der zweite Teil derselben, und ich bemerkte deutlich, wie in den Augen des Doktors zuweilen eine gewisse Lustigkeit aufblitzte. Doch als ich geendet, war er sichtlich ernst und sagte nach einer Pause: »Für Ihre Offenheit danke ich, sie ist gegen Ihren alten Freund lobenswert, aber Ihre ganze Geschichte ist faul und überspannt von Anfang bis zu Ende. Das Mädchen hat Ihnen zuweilen die Hand gegeben, hat Sie, ihren Vetter, hier und da geküßt, und was soll das weiter heißen? Daß die Emma dabei nie etwas gedacht hat, ist so klar wie der Tag, und jetzt kommen Sie her und bilden sich ein, das Mädchen sei in Sie verliebt, und darauf bauend, gehen Sie lustigerweise immer weiter und machen die hoffnungsvollsten Anstalten, das arme Kind in dem Hause, wo sie ihr Brot verdienen muß, zu kompromittieren! – Ah, das muß ich mir ausbitten, und wenn ich die Emma sehe, werde ich ihr sagen, daß sie vollkommen recht gehabt hat! Lieber, teuerster Freund, wehe will ich Ihnen wahrhaftig nicht tun, aber jede Arznei ist bitter, auch werden Sie es mir danken, wenn ich jetzt, da es noch möglich ist, Ihr Herzweh mit einigen bitteren Tropfen kuriere, um nicht in den Fall zu kommen, ein späteres heftiges Delirium ebenfalls heftig und höchst unangenehm beseitigen zu müssen. Sie sind noch sehr jung, Sie haben, ich muß es gestehen, etwas gelernt und können in jedem guten Hause eine Anstellung finden; das Stieglitzsche Haus ist demnächst zu klein für Sie, Sie sollen in die Welt hinaus, ich habe Ihrem Vormund schon darüber geschrieben, Sie müssen das Leben kennen lernen. Frisch aufgeschaut, den Kopf in die Höhe, in fünf bis sechs Jahren sprechen wir über diesen Punkt weiter.«

Ich antwortete kein Wort und ging träumend nach Hause. Der Doktor hatte recht und unrecht, so dachte ich mir. Daß Emma nie etwas für mich gefühlt habe, als verwandtschaftliche Zuneigung, das wußte ich besser, daß sie sich gänzlich geändert, fühlte ich deutlich und fühlte es mit tiefem Schmerz. Ich sollte zuerst das Leben kennen lernen, hatte der Doktor gesagt, und ich hatte ihn, aber leider, sehr falsch verstanden. Was kannte ich auch vom Leben? Mein bisheriges war eingeteilt in Geschäfte zu Hause und in Besuche bei meinem Vetter und dem Doktor. Ach, die beiden letzten Orte waren ja bis jetzt meine ganze Welt gewesen! Das hatte sich nun geändert, und auch ich beschloß, mich zu ändern, und ein anderes Leben anzufangen, wie der Leser im nächsten Kapitel erfahren wird.


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