Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Vierzehntes Kapitel.

Heimkehr. O weh!

Obgleich es vom Reißmehlschen Hause zu meiner Großmutter nicht weit war und ich meine Tour dahin mit schnellen Schritten begonnen hatte, so kam ich doch nicht so bald hin. Je mehr ich mich dem Ziele näherte desto höher wuchs meine Angst, und desto langsamer wurde mein Schritt. Die gute Großmutter hatte gewiß noch keine Ahnung von den neuen Ereignissen, und wenn sie auch aus meinem Gespräch gestern abend wohl ersehen, daß ich mit meiner Kondition sehr unzufrieden war, wenn sie auch zu meiner Entfernung aus dem Geschäft ihre Zustimmung gegeben, so stand ja im Hintergrunde der Wille des Vormunds, an dem, wie an einem mächtigen Felsen, unsere Beschlüsse zersplittern konnten. Doch so klein ich auch meine Schritte machte, so zögernd ich vorwärts ging, ich kam doch endlich in die Straße, wo das Haus meiner Tante lag, und schon sah ich es vor mir, sah das Fenster des Ladens und daneben das des Zimmers meiner Großmutter, wo die gute Frau wahrscheinlich ihren Kaffee trank, nachdem sie vorher in einem geistlichen Morgen- und Abendopfer ein Kapitel gelesen. Ich wußte, wie ruhig und friedlich es namentlich in den Morgenstunden in diesem Zimmer aussah. Zu dieser Zeit war die Großmutter des besten Humors, und wenn sie ihren Kaffee getrunken, nahm sie meistens ein altes Paket Briefe zur Hand, das, mit einer grünseidenen Schnur umwickelt, beständig im Tischschoße vor ihr lag. Dieses Briefpaket war ihr Heiligtum, ihr Archiv. Wie oft hatte sie der Tante und mir Auszüge davon mitgeteilt, und ich erinnere mich ganz genau, daß der erste Brief, der obenauf lag, ein Schreiben meines seligen Großvaters war, worin er der guten Großmutter die ersten schüchternen Geständnisse seiner Liebe ablegte. Dieser Brief begann mit der Ueberschrift: »Achtungswerte, höchst zu verehrende Jungfer!« Dahinter kamen noch mehrere Schreiben in ähnlichem Genre, dann folgte der Kopulationsschein, und dann, ein Jahr später datiert, der Taufschein meiner Mutter, als ihrer ältesten Tochter. Bald aber wurde das Archiv traurigeren Inhalts; es kam ein Schreiben von sehr weit her, daß ein Bruder der Großmutter in der Fremde und im Elend gestorben. So folgten die Schreiben in bunter Reihe aufeinander, mit Haarlocken, vertrockneten Blumen und vergilbten Stammbuchblättern untermischt. Da hatte mein Vater freudig geschrieben, daß ihm der erste Sohn geboren sei, und gleich daneben lag ein Brief mit schwarzem Siegel, in dem zu lesen stand, daß meine Mutter wenige Tage darauf gestorben. Den Brief hatte mir meine Großmutter oft gezeigt und immer dazu gesagt: »Siehst du, Junge, mit dem Briefe ist der Segen von eurem Hause gewichen; du bist nach und nach verwildert und ein Taugenichts geworden.«

So stand ich an der Straßenecke, mitten im Regen, und träumte mit wachen Augen; als ich aber an die Stelle kam, wo meine Großmutter mich einen Taugenichts nannte, kam ich wieder zu mir und wollte nach Hause eilen, als eine Figur auf der Straße, die dasselbe Ziel wie ich zu haben schien, meinen Schritt aufs neue hemmte. Obgleich ich von der Gestalt nichts sah als oben einen brennendroten Regenschirm, unten den Zipfel eines braunen Rocks, weiße Strümpfe und Schuhe mit Stahlschnallen, so erkannte ich doch augenblicklich den Herrn Reißmehl. Jetzt war er in die Haustür getreten, machte den Regenschirm zu, öffnete und schloß ihn einigemal nacheinander, um den daran hängenden Regen abzuschütteln. Dann blickte er an den grauen Himmel hinauf, ob sich nicht irgendwo ein blaues Fleckchen zeige, sah dann an seinen weißen Strümpfen hinunter, ob sich da nicht ein graues dito angesetzt habe, und verschwand mit einem großen Schritt im Hausgang.

Mir war die Kehle wie zugeschnürt, und wenn es mir auch auf der andern Seite nicht unlieb war, daß ich am Prinzipal einen Vorläufer hatte, der meine Missetaten kund machte, so wäre ich doch andererseits um keinen Preis jetzt nach Hause zurückgekehrt. Was sollte ich tun? Hier im Regen stehen bleiben, der mir schon durch das dünne Röckchen auf den Körper drang und mich so durchkältete, daß mir die Zähne klapperten, das konnte ich nicht aushalten. Bekannte hatte ich auch nicht, und so fiel mir denn glücklicherweise die Domkirche ein, die nicht weit weg lag und deren weite, hohe Hallen uns schon oft zum Spielplatz gedient. Dorthin ging ich, und die leichte Wärme, die im großen Gebäude, im Gegensatz zu der naßkalten Straße, herrschte, tat mir unendlich wohl. Ich schlich in eine Seitenkapelle und setzte mich dort in einen alten, braunen, geschnitzten Chorstuhl, der einem Muttergottesbild, das den kleinen Christus auf dem Arm trug, gegenüberstand. Ich hatte hier noch nicht lange gesessen, als statt der Kälte, die mich eben durchschüttelt, eine starke Hitze durch meinen Körper fuhr, und ich zugleich einen Druck auf meinen Kopf fühlte, der mich nötigte, die Augen zu schließen, worauf ich bald einschlief. Während dieses Schlummers hatte ich ganz sonderbare Träume; alles, was mir in den letzten Tagen im Reißmehlschen Hause begegnet war, tummelte sich in den wildesten, schreckhaftesten Gestalten vor meinem Innern vorbei. Jetzt kam es mir vor, als stoße mich Jungfer Barbara in ein tiefes Eismeer, wo ich vor Kälte umkommen sollte; wenn aber meine Glieder kaum vor Frost zu zittern anfingen, so wurde das Eis glühend, und mich durchströmte die rasendste Hitze. Zuweilen erwachte ich halb aus dem Schlaf, und da lag die weite Kirche leer vor mir, und mein matter Blick konnte nichts unterscheiden als die freundliche Muttergottes mit dem Kinde auf dem Arm. Wie lange ich eigentlich so halb schlafend im Fiebertraume gelegen, weiß ich nicht. Endlich aber fühlte ich, daß ein starker, köstlicher Geruch in meine Nase stieg, und als ich die Augen aufschlug und um mich schaute, meinte ich anfangs nicht anders, als die Muttergottes sei herabgestiegen und stehe mit dem Kinde an der Hand vor meinem Stuhl. Sie, da sie sich halb über mich beugte und mir ein kleines Fläschchen an die Nase hielt, hatte ein so anmutiges, liebes Gesicht, so schön und freundlich, wie ich nie etwas gesehen, und da ich sie für ein überirdisches Wesen hielt, so wollte ich schon meine Augen wieder schließen, um mich blindlings ihrem Schutze anzuvertrauen. Aber das Kind an ihrer Hand, ein junges Mädchen, das ebenso lieb und freundlich aussah wie sie, sagte: »Ach, Mama, das arme Kind wird doch nicht sterben?« – eine Aeußerung, die mich zu mir selbst brachte, so daß ich die Augen wieder öffnete und mich langsam im Stuhle erhob.

Da sah ich denn wohl, daß es nicht die Muttergottes war, die vor mir stand, sondern eine sehr schöne, mir gänzlich fremde Dame, so fein und prächtig gekleidet, wie ich nie etwas gesehen. Das kleine Mädchen an ihrer Hand schien ihre Tochter zu sein, denn sie sah ihr sehr ähnlich, nur daß die Mutter schwarzes Haar und das Kind dichte blonde Locken hatte. Hinter den beiden stand ein Mann in einem langen, blauen Ueberrock mit goldenen Knöpfen, der hatte ein paar Regenschirme unter dem Arm.

»Aber wer bist du, mein Kind?« fragte mich die Dame, »und wie kommst du mit so nassen Kleidern hierher in die Kirche? Warum gehst du nicht nach Hause, wenn du krank bist?« Die Dame hatte eigentlich gut fragen und ich schlecht antworten. Ich hätte ihr viel zu erzählen gehabt, um ihr begreiflich zu machen, warum ich in den nassen Kleidern hierher gekommen; dazu konnte ich mich aber nicht entschließen. Auch fühlte ich, daß die Dame recht hatte, daß ich krank war, denn als ich aufstand, wobei ich versicherte, daß ich jetzt nach Hause gehen wolle, konnte ich nicht auf meinen Beinen stehen. Die Säulen der Kirche, die bunten Fenster, alles lief im Kreise mit mir herum. Ich hörte nur, wie die Dame weiter fragte: »Aber, um Gottes willen, wo wohnst du denn, mein Kind?« und ich erinnerte mich nachher dunkel, daß ich ihr den Namen unserer Straße sowie das Haus meiner Tante angegeben. Was nun weiter geschah, ist mir wie ein Traum. Ich glaube, der Mann mit dem Regenschirm nahm mich auf den Arm und setzte mich in eine Kutsche. Auch die Dame mit dem kleinen hübschen Mädchen stieg hinein, und letzteres hielt mir zuweilen das Glas mit dem Wohlgeruch unter die Nase. Dann rollten wir durch ein paar Straßen, und plötzlich sah ich meine Tante sowie die alte Großmutter, die gewaltige Knickse machten, worauf ich in tiefen Schlaf verfiel.


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