Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Achtes Kapitel.

Krampfstillende Tropfen.

In der Ecke des Ladens befand sich ein kleiner Schrank, zu welchem Jungfer Barbara allein den Schlüssel hatte. Es wurden daselbst allerlei Sachen zum innern Betrieb der Haushaltung verwahrt, als da sind Gläser mit eingemachten Kirschen, Gurken und dergleichen mehr. Auch hatte Jungfer Barbara in diesem Kasten eine große Flasche mit Arznei stehen, aus der sie verschiedene Male des Tages einen großen Eßlöffel voll nahm, indem sie behauptete, ohne dieses krampfstillende und blutberuhigende Mittel könnte sie bei der immerwährenden Alteration, der sie in Küche und Laden ausgesetzt sei, unmöglich bestehen. Zuweilen, doch selten, ließ Jungfer Barbara den Schlüssel zu diesem Kasten stecken, und selbiges geschah auch eines Nachmittags, nachdem sie wegen ungeheurer Blutaufregung bereits mehrere Löffel voll genommen hatte. Wenn sie so am Tage öfters zu ihrem Schrank hinging, hatte ich immer bei mir gedacht, es sei doch unverantwortlich, eine Person mit so krankhaften Zuständen so allein in Küche und Keller umherwirtschaften zu lassen; ich hatte schon oft gefürchtet, es könnte ihr einmal etwas zustoßen, eine Schwäche und dergleichen, wo sie nicht gleich ihre krampfstillende Medizin bei der Hand hätte. Und so geschah es richtig am heutigen Nachmittag.

Jungfer Barbara war seit einiger Zeit nicht sichtbar gewesen, als wir plötzlich über unseren Häuptern im ersten Stock ein solch Gepolter hörten, daß selbst der ruhige, gleichmütige Prinzipal in die Höhe schaute und befahl, nachzusehen, was es oben gebe. Mir war nichts erwünschter; ich konnte doch einmal einen Blick in den berühmten ersten Stock werfen, weshalb ich eilig die Treppe hinaufsprang. Oben war eine Tür geöffnet, obgleich es aber heller Tag war, konnte ich anfangs im Zimmer, zu dem sie führte, nichts unterscheiden. Alle Fensterläden waren von außen geschlossen und von innen obendrein dichte Vorhänge heruntergelassen, so daß völlige Finsternis in diesem Zimmer des ersten Stockes herrschte. Endlich, nachdem sich meine Augen an die Dunkelheit etwas gewöhnt hatten, unterschied ich in einer Ecke des Zimmers ein Sofa, auf welchem Jungfer Barbara mit geschlossenen Augen ruhte und nur zuweilen einige schwache Seufzer ausstieß. Rechts und links waren Türen halb geöffnet, die in andere ebenso dunkle Nebenzimmer führten. Ich weiß nicht, mir kam der Gedanke, Jungfer Barbara sei gestorben und liege hier auf dem Paradebett, und das war mir so unheimlich, daß ich wieder hinabstürzte, um den Prinzipal zu holen. Auf der Treppe rannte ich gegen Philipp, der auch den Lärm gehört hatte und der Jungfer Barbara zu Hilfe eilen wollte. Unten am Schreibpult saß der Prinzipal und addierte eine große Rechnung, wobei er die Zahlen wie gewöhnlich halblaut vor sich hinsprach: »Sechs und acht macht vierzehn und neun macht dreiundzwanzig –«

»Herr Reißmehl,« sagte ich ihm, »Jungfer Barbara liegt auf dem Sofa und ist ohnmächtig geworden.« – Er winkte mit der Hand, still zu sein. »Und sieben macht dreißig, und neun neununddreißig. – Bringen Sie ihr Wasser hinauf, ich werde gleich selbst nachsehen.« – Als ich mich umwandte, um mit einem Gefäß nach dem Brunnen zu eilen, sah ich, daß der Schlüssel am geschnitzten Schrank nicht abgezogen war, und um mich durch meine Umsicht bei Jungfer Barbara recht in Gunst zu setzen, öffnete ich, ergriff die Flasche mit der krampfstillenden Medizin und den großen Löffel, und eilte damit die Treppe hinauf. Hinter mir hörte ich, wie der Prinzipal seinen alten, knarrenden Kontorstuhl herumdrehte und mir langsam folgte.

Aber bei Jungfer Barbara hatte die Gegenwart Philipps bereits Wunder gewirkt; sie war aus ihrer Ohnmacht erwacht und saß in der Ecke des Sofas. Bei meinem Eintritt hörte ich, wie sie meinem Kollegen erzählte, sie habe im Zimmer etwas zu tun gehabt, und als sie so dagestanden, sei ihr plötzlich vorgekommen, als gehe jemand bei ihr vorüber, darauf sei sie vor Schrecken vor dem Sofa zu Boden gesunken. Philipp hatte ein Fenster halb geöffnet, und als ich eintrat, gefolgt vom Prinzipal, hatte mich Jungfer Barbara mit der Flasche in der Hand nicht so bald erblickt. als sie mir zornig entgegensprang und fragte, was ich wolle.

So sanft und gefühlvoll wie möglich entgegnete ich, da unten zufällig der Schrank unverschlossen gewesen sei, habe ich ihre Arznei, von der sie einigemal des Tages nehme, zu ihrer Stärkung mit heraufgenommen. Hätte ich in diesem Augenblick hinter mich sehen können, so würde ich bemerkt haben, daß bei meinen Worten ein leises Lachen über die Züge des Prinzipals flog; aber was ich vor mir sah, war gar nicht zum Lachen. Jungfer Barbara hielt sich an der Sofaecke fest und schien im Zweifel zu sein, ob sie wieder in Ohnmacht fallen solle oder nicht; dabei sah ich zu meinem Schrecken, daß ihre Züge einen Ausdruck von Zorn annahmen, wie ich früher nie an ihr bemerkt.

Jetzt trat der Prinzipal vor und griff nach der Flasche in meiner Hand, wobei er lächelnd zu seiner Schwester sagte: »Ja, siehst du, liebe Barbara, wenn es dir gut tut, nimm nur in Gottes Namen von deiner schmerzstillenden Arznei.« Doch kaum hatte er die Hand nach mir ausgestreckt, so stürzte auch Barbara selbst hinzu, um mir die Flasche zu entreißen, und da ich im ersten Augenblick nicht wußte, was das zu bedeuten habe, ließ ich die Flasche los, noch ehe sie der Prinzipal oder Jungfer Barbara gefaßt hatten, worauf sie natürlich zu Boden fiel und allda in tausend Scherben zerbrach. Sogleich verbreitete sich ein anmutiger Liqueurduft um uns, und ich, aufs höchste betroffen und überrascht, konnte mich nicht enthalten, auszurufen: »Ei, das ist ja eine Schnapsflasche!« – »Ja!« kreischte Barbara mir entgegen, »ja, Sie junger, nichtswürdiger Mensch! 's ist freilich eine Schnapsflasche, und Gott mag wissen, wo Sie sie her haben.«

Das war mir denn doch etwas zu stark, und ich entgegnete nachdrücklich: »Wo ich sie her habe, Jungfer Barbara? Nun, wo anders als aus Ihrem Küchenschrank?« – »So, so?« schrie die Dame noch heftiger, »aus meinem Küchenschrank will Er sie haben! der – der – Sie –« und bei diesen letzten Worten sah ich ihre zehn Finger, mit ziemlichen Nägeln bewachsen, dicht vor meinem Gesicht schweben.

»Ja,« rief ich, jetzt auch heftiger werdend, »aus dem Küchenschrank ist sie, und es ist dieselbe Schnapsflasche, aus der Sie jeden Tag mit dem großen Löffel Ihre schmerzstillende Arznei nehmen.« – Indem ich diese Worte ausrief, trat ich unwillkürlich einen Schritt rückwärts und hatte sehr wohl getan, denn die zehn Finger der Jungfer zuckten nach mir und beschrieben in der Luft eine Kurve, wie die Pfoten einer erbosten Katze. Als sie aber ihr Ziel, das wahrscheinlich in meiner Nase bestand, nicht erreichten, wankte sie auf das Sofa zurück und sank mit geschlossenen Augen nieder, indem sie ausrief: »Ich sterbe! ich sterbe!«

In Gottes Namen! dachte ich, wandte mich um und eilte die Treppe hinab in die Schreibstube, wo ich mich auf meinen Stuhl setzte und aus Aerger und Verdruß laut zu weinen anfing. Bald darauf folgte mir der Prinzipal, und als er mich so dasitzen sah, legte er seine Hände auf den Rücken und ging in der Schreibstube auf und nieder. Er war offenbar in großer Bewegung und gab das durch häufiges Anfassen der Gegenstände, die um ihn waren, zu erkennen. So zwickte er jedesmal, wenn er vorüberkam, das kleine Ungeheuer auf dem Ofen in die Nase und stieß mit dem Fuße an den Korb des Mopses, der bei dem Geschrei oben einen schwachen Versuch gemacht hatte, aufzustehen, dessen Faulheit aber größer war als die Anhänglichkeit an die Herrschaft. Endlich stellte sich der Prinzipal an sein Pult, und während er mit einem Federstumpen eilig im Tintenfaß herumrührte, sprach er, ohne mich anzusehen: »Sehen Sie, die vorgefallenen Geschichtchen, lieber junger Freund, sind mir äußerst, ja sehr äußerst unangenehm. In Entgegnung auf Ihre Zeitungsannonce damals schrieb ich mein Ergebenstes vom sechsten Dezember an Ihre Großmutter, worauf wir uns einigten, Sie bei mir in die Lehre zu nehmen, um Ihnen den Handel in seinen Anfangsgründen beizubringen. Daß Sie unaufmerksam oder nachlässig seien, kann ich nicht sagen, aber jung sind Sie, sehen Sie, sehr jung, lieber Freund, und daher mag's wohl kommen, daß alle die kleinen, unbedeutenden Sachen vorgefallen sind, die machen, daß meine Schwester, die Jungfer Barbara, höchlich über Sie erzürnt ist, ein Verhältnis, das für Sie unangenehm sein muß, und das sich, ich kenne das, nicht so bald umgestalten dürfte. Daher wär' es meine Meinung, Sie suchten Ihre Großmutter zu bewegen – richtig, Sie haben ja auch einen Vormund – daß man ein anderes Geschäft für Sie suchte, eine andere Handlung, wo Geschäft und Familienleben nicht so unzertrennlich verbunden sind wie bei mir. Nun ja, Sie werden mich schon verstehen; tragen Sie das Ihrer Großmutter einmal vor.«

Wirklich verstand ich den Herrn Reißmehl sehr gut. Aus der Lehre entlassen zu werden, wäre mir unter anderen Umständen als etwas Schreckliches erschienen; ich hatte aber das Spezereigeschäft gar zu satt, und so machte des Herrn Reißmehl Rede gar keinen ungünstigen Eindruck auf mich. Aber meine Großmutter, meine Tanten – o weh! ich sah da harten Kämpfen entgegen. Herr Reißmehl versicherte mir nochmals, was er gesagt, sei nur ein Vorschlag, den ich mir mit meinen Verwandten genau überlegen und darauf einen ruhigen Beschluß fassen möchte. – Ich nahm meine Mütze vom Nagel in der Schreibstube, empfahl mich auf kurze Zeit dem Herrn Reißmehl und kannte nicht unterlassen, als ich an der Treppe vorbeiging, einen recht ingrimmigen Blick nach dem ersten Stock hinaufzuschicken.


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