Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Fünfunddreißigstes Kapitel.

Veränderungen.

Auf unserer Wiegkammer kamen nun dergleichen Szenen nicht vor, denn Madame Stieglitz, die das Verderbliche jenes Systems, nach welchem der Arbeiter seinen sauer verdienten Lohn an Waren empfangen sollte, wohl einsah, hatte sich ein für allemal dagegen ausgesprochen, und es durfte nie eingeführt werden. Doch war auch hier nicht alles, wie es hätte sein können. Der Herr Specht, der das ganze Fabrikgeschäft leitete, nahm nur solche Weber an, die von der Gnade durchdrungen waren oder die wenigstens durch Gebet und Gesang dahin strebten, derselben nahe zu kommen; auch hatte ich wohl bemerkt, daß der Buchhalter nebenbei noch ein kleines Geschäft betrieb, das darin bestand, daß er den dringenden Geldverlegenheiten der Weber durch kleine Vorschüsse abhalf, wofür die Leute schwere Zinsen erlegen mußten. Natürlich betrieb er dies Geschäft nicht unter eigener Firma, sondern er gab den Bedürftigen eine Anweisung auf einen christlichen Freund, mit welchem er in Verbindung stand, alsdann behielt er die Leute in der Hand und machte ihnen an ihrem Wochenlohn solange Abzüge, bis die Schuld an den christlichen Freund nebst Zinsen gedeckt war.

Seit jenem Abend, wo ich in der Betversammlung geistig verunglückt war, und nachdem der Buchhalter gesehen, daß ich mit keiner Silbe der Ereignisse jenes Abends gedacht, hatte er mich mit seinen Bekehrungsversuchen in Frieden gelassen. Mit Widerwillen dachte ich an das, was ich gesehen und erlebt, und dies, verbunden mit den sonnenklaren und herzlichen Worten meines trefflichen Freundes, des Doktor Burbus, zerriß den finsteren Schleier, welchen der Buchhalter über mein Herz und mein Gemüt geworfen, und welcher gedroht, mich langsam und verderblich zu umwickeln. Das einzige, was mir in der Erinnerung an jene Zeit schmerzlich und doch süß erschien, war das Andenken an meine Nichte Emma; die wilden Träume, die nächtlichen Schatten und grellen Bilder, die ihr Bild damals umgaben, waren wie Herbstnebel vor der aufsteigenden Sonne, vor ihrem klaren Blick in die Tiefe hinabgesunken, aus der sie aufgestiegen, und rein verklärt stand das Bild des schönen Mädchens in meinem Innern.

Da ich dem Doktor nichts verschwieg, so machte ich ihn auch mit meinen Gefühlen für meine Nichte bekannt, welches er eine Leidenschaft nannte, die sich vielleicht mit der Zeit zur Liebe abklären könnte. »Für jetzt aber, hochverehrter Kaufmann,« sprach er in seiner derben und gesunden Manier, »für jetzt aber lassen Sie dergleichen Gedanken dahinten und schauen Sie vor sich auf den hohen, steilen Berg, den Sie noch zu erklimmen haben, um einen Ort zu erreichen, wo Sie sich im Schatten einer arbeitsamen Vergangenheit Ihre Hütte bauen können.« Der Doktor hatte gut reden, er hatte jene Höhe erreicht und hatte sich seine Hütte erbaut, welche äußerst geschmackvoll und zierlich eingerichtet war. Diese Hütte bestand aus sechs Zimmern, in einer der besten Straßen der Stadt, und er bewohnte sie seit wenigen Tagen mit seiner Frau Sibylle, die jetzt Frau Doktorin Burbus hieß. Man kann sich leicht denken, wie froh und glücklich unser Wiedersehen gewesen war! Da wurden alle alten Erinnerungen aufgefrischt und nach stundenlangen Erzählungen und Fragen über die lebendigen Wesen in der Mühle, nach vielen Grüßen von dem Vater und der Mutter, von Elsbeth, Franz und Kaspar wurde auch der leblosen Gegenstände gedacht, die uns teuer waren, des rauschenden Mühlbachs, der kleinen Stube, die beständig zitterte, während ich schrieb, und des großen Bettes, in dem wir zusammen geschlafen; auch von der freundlichen Anneliese wurde gesprochen – sie war jetzt ebenfalls verheiratet, und der Kuckuck hatte damals im Frühjahr den beiden richtig prophezeit.

Meine Besuche teilte ich nun zwischen dem Hause des Doktors und dem meines Vetters, und Emma fand ich in beiden, denn sie war eine vertraute Freundin der Doktorin geworden. Der Professor, der sich trotz der Ermahnungen des Doktor Burbus keine andere Bewegung machte, als die früher angegebene mit dem Zeigefinger und den Zehen des rechten Fußes, fing schon seit einiger Zeit an zu kränkeln.

Obgleich Burbus alles mögliche tat, ihn wiederherzustellen, so war dennoch die Zeit gekommen, wo nach dem Ausdruck des Vetters der Tod als schwarze Linie das höchst unregelmäßige Dreieck schloß, aus dem jedes Menschen Leben besteht, und es der Ewigkeit überließ, den Gehalt, die wahre Größe desselben der hier im Leben gleich X galt, näher zu bestimmen.

Der Professor starb ruhig, wie er gelebt, aber nicht so ruhig sollte es nach seinem Tode bleiben in dem freundlichen Hause auf der kleinen Anhöhe.

Als wir nach der Beerdigung im Hause des Doktors waren und über den traurigen Fall sprachen, ein Fall, der, wie man sich leicht denken kann, mich so erschüttert hatte, als sei ich zum zweitenmal eine Waise geworden, da schüttelte der Doktor mit dem Kopfe und sagte: »Der armen Emma stehen harte Tage bevor, ich fürchte, was der alte Herr zurückläßt, wird sich auf Null reduzieren.« Mir fielen dabei die Worte der Madame Stieglitz ein, und was sie damals sagte, als die Rede auf den Professor kam: »Mir sollte es leid tun, wenn er genötigt wäre, in seinen alten Tagen Haus und Garten zu verkaufen.«

Wenn er es nun auch selbst nicht mehr erlebt hatte, von seinem lieblichen Besitztum zu scheiden, so traf dies Schicksal dagegen um so härter seine Frau und Tochter. Nach seinem Tode wurden die Siegel angelegt, es fanden sich Schulden die Menge vor, aber kein Vermögen; Haus und Garten wurden verkauft, und meiner armen Tante blieb nichts übrig, als mit dem wenigen, das sie gerettet, eine Schwester aufzusuchen, die in einem andern Teile des Landes wohnte. Dagegen konnte sich die Frau des Doktor Burbus nicht entschließen, von Emma zu scheiden, und nach einer langen Unterredung, die dieser mit der Mutter hatte, entschloß sie sich, ihr Kind für kurze Zeit zurückzulassen. Doch sagte sie zu dem Doktor ernst und fest: »Diese Anwesenheit in Ihrem Hause kann und soll nur als zeitweiliger Besuch gelten, und Emma soll sich so bald wie möglich nach einer ehrenhaften Beschäftigung umsehen, die sie in den Stand setzt, für ihr Fortkommen zu sorgen.«

So standen die Sachen, und mein Horizont schien sich wieder finster umziehen zu wollen. In unserm Hause herrschte ein düsteres, unerquickliches Leben, die Prinzipalin war durch den Pfarrer Sproßer und den Buchhalter Specht in die Mitte genommen worden, und diese beiden Herren bemühten sich, das Herz der Prinzipalin, das ja in allen Dingen warm und menschlich fühlte, in ihrem Sinne mehr für die wahre Gnade empfänglich zu machen. Die gute alte Frau, welche früher ihr Morgen- und Abendgebet verrichtete, auch gern, wenn sie das Bedürfnis hierzu fühlte, ein Kapitel in einem frommen Buche las oder ein Lied aus dem Gesangbuch, diese fleißige, tätige Frau, die in ihrem langen Leben Tausende von armen Menschen beglückt und unzählig viel Gutes getan hatte und mit ihrem Gewissen im reinen war, wurde nun durch die unablässigen Bemühungen der beiden Begnadigten in ihrem Selbstbewußtsein wankend gemacht. Der Pfarrer Sproßer lamentierte unaufhörlich, welch große Sünder wir allesamt vor dem Herrn seien und strafte mit harten Worten den Gedanken, als könne man selig werden und die Gnade eines zornigen Gottes erhalten durch ein Leben, das, wenn es auch nach den gewöhnlichen Begriffen gut und fromm sei, sich nicht zur eifrigsten Aufgabe gemacht habe, durch ein immerwährendes Beten und aufrichtige Zerknirschung jener Gnade teilhaftig zu werden. »O, was ist der Mensch,« sprach der Prediger, »für ein hoffärtig und sorglos Ding, glaubend, wenn er einem Armen gibt und keine schreienden Sünden begeht, er sei gesichert vor dem Zorn des Höchsten! Wie erkennt man so schlecht seine eigene Sündhaftigkeit und Verworfenheit, sonst würde man ja Tag und Nacht im Staube darniederliegen und flehentlich bitten, damit die Gnade einziehe in die Finsternis unserer Herzen!«

Auch das traurige Ereignis mit dem Prinzipal und seinem Buchhalter, den Wahnsinn des ersteren und seinen Tod hatte man sich klug zunutze gemacht, und, indem man es als Strafe des Höchsten bezeichnete, auf diese Weise das Herz der Madame Stieglitz erschüttert.

Sie hatte in frühester Jugend den ihr bestimmten Verlobten, ihren späteren Gemahl, herzlich und aufopfernd geliebt, sie hatte sein Unglück tief bedauert und ihn sorgsam gepflegt, wie es einer braven Gattin zukommt. Unter einer rauhen Hülle schlug bei ihr ein liebendes Herz; ihr Ehestand war aber nicht glücklich gewesen, sie hatte keine Kinder und hätte doch so gern solche kleine, innig verwandte Wesen gepflegt und aufgezogen! Das alles fühlte sie jetzt doppelt; ihr Herz war traurig und bewegt, und diesem traurigen und bewegten Herzen, das täglich und stündlich durch tausend Kleinigkeiten an den unglücklichen Gefährten ihres Lebens bitter und schmerzvoll erinnert wurde, riß man die letzte Stütze weg, das Bewußtsein, daß sie recht und brav gehandelt, und gab ihr nichts dafür, als süßliches, trübes Schlammwasser widriger Heuchelei, und beschmutzte damit die Erinnerung an ein vergangenes, tadelloses Leben.

Was mich nun anbetraf, so mußte die Prinzipalin vielfache Klagen darüber hören, daß ich nicht geneigt sei, den Weg des wahren Heils zu wandeln; aber obgleich der Buchhalter alles tat, mich in ihrer Gunst herabzudrücken, so gelang ihm dies doch nur halb. Wenn auch die gute Frau meinen innern Menschen als verloren beklagte, so wollte sie doch dafür dem äußern nichts abgehen lassen und hatte mich, noch ehe meine Lehrzeit vorüber war, in den Genuß eines Salairs gesetzt, wie es sonst nur ältere Kommis zu haben pflegten.

Unserer Ladenjungfer dagegen war es schlimmer ergangen; nach jener Unterredung auf der Treppe, die sie mit dem Buchhalter hatte, stieg sie, wie schon bemerkt, auffallend in der Gnade desselben, wandelte auch so fest und sicher den Weg des Heils, daß sie, wie ich aus guter Quelle erfuhr, begnadigt wurde, den Betversammlungen beizuwohnen. Doch war diese Freude nicht von langer Dauer, bald kamen wieder neue Händel zwischen ihr und Herrn Specht vor, die oftmals des Abends so heftig wurden, daß ich in meinem Schlafzimmer das Weinen und Jammern der armen Person deutlich hörte; auch wurde sie kränklich, ihr unschönes, aber blühendes Gesicht verblaßte, und eines Morgens hatte sie das Haus verlassen, ohne von mir Abschied zu nehmen. Das tat mir eigentlich weh, denn ich hatte sie immer freundlich und aufmerksam behandelt; doch sah ich sie zufälligerweise wenige Tage nachher, wo ich sie gar nicht erwartet: sie kam aus dem Hause des Doktors, als ich hineinging, und hatte trübe, verweinte Augen. »Leben Sie wohl,« sagte sie schluchzend zu mir, »und denken Sie zuweilen an mich, der Doktor oben weiß um alles.« Damit reichte sie mir die Hand, und ich habe sie nicht mehr gesehen. Als ich darauf in das Studier- und Empfangszimmer meines Freundes kam, siegelte er gerade ein Papier in ein Kuvert und warf es in eine Schublade; auf meine Frage nach der Ladenjungfer sagte er mir: »Ich kann Ihnen, verehrtester Fabrikant, weiter nichts sagen, als daß das Mädchen das Stieglitzsche Haus verlassen mußte; das Warum,« setzte er bedeutungsvoll hinzu, »wird offenbar, nicht, wenn die Toten auferstehen, aber wenn einmal das Gericht, das auf keinen Fall ausbleibt, seinen Anfang nimmt.«


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