Friedrich Wilhelm Hackländer
Handel und Wandel
Friedrich Wilhelm Hackländer

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Der Vetter Professor.

Hier sah es nun ganz anders aus als auf der Mühle. Vor der Tür standen schöne Bäume und Gesträuche, und an denselben hingen gelbe Früchte, die ich von der Reißmehlschen Praxis her als Orangen und Zitronen erkannte. In den Zimmern, durch die wir gingen, herrschte durch grüne Fenstervorhänge, die wegen der Sonne zugezogen waren, eine leichte, anmutige Dämmerung. Endlich kamen wir zum Vetter, er saß in einem Zimmer, das mit merkwürdigen Gegenständen vollgepfropft war. Eine Seite der Wand nahm ein Büchergestell ein, und auf den andern Seiten sah man ungeheure Fernröhren, eine Elektrisiermaschine, die ich aus der Schule her kannte, und andere blank geputzte messingne Maschinen und seltsam aussehende Dinge, über deren Verwendung ich mir keine Rechenschaft geben konnte. Der Vetter saß in einem großen, braunen, geschnitzten Lehnstuhle, hatte das rechte Bein über das linke geschlagen, und bewegte die Spitze dieses Fußes, sowie den Zeigefinger der rechten Hand taktmäßig auf und ab. Ich fand Zeit genug, mir das Zimmer und den Professor genau zu betrachten, denn auf einem kleinen Tischchen vor sich hatte dieser ein aufgeschlagenes Buch, aus welchem er trotz meines Eintritts – die Frau war vor der Zimmertür geblieben – ruhig weiter las. Er war ein langer, dürrer Mann und schon ziemlich bei Jahren, hatte ein blasses, aber gutmütiges Gesicht und trug eine braune Perücke. In einer Ecke des Zimmers stand ein messingner Käfig mit einem weißen Papagei, wie ich früher schon in Menagerien gesehen, und dies Tier war schuld, daß der Vetter mich endlich einer Anrede würdigte. Der Vogel sträubte seinen roten Federbusch auf, drehte seinen Kopf vertraulich nach mir hin und sagte, als ich natürlicherweise ruhig auf meinem Platze stehen blieb, sehr deutlich und laut: » Filou!«

Hierauf klappte der Vetter sein Buch zu, nahm eine Prise aus einer vor ihm stehenden Dose und sagte mit einer ernsten, feierlichen Stimme: »Ei, ei! Joco begrüßt dich und kommt mir zuvor, indem er dich mit Filou anredet, was so viel besagen will, als: Spitzbub; diesen Ausdruck, der mir jedoch und trotz vielem über dich von deinem Vormund Erfahrenen einigermaßen zu stark vorkommt, würde ich vielleicht zu einer ersten Ansprache nicht benutzt haben, kann aber nicht umhin, dich mit dem Namen eines jungen, ungeratenen Familienmitgliedes zu belegen, denn also hat dich dein Herr Oheim bei mir bestens oder vielmehr schlechtestes prädiziert.«

»Herr Vetter,« stotterte ich verlegen und wurde rot wie der Kamm meines unartigen Begrüßers, »ich habe mir gewiß und ernstlich vorgenommen, dem Vormund keine Ursache zum Klagen mehr zu geben.« – »Schön,« entgegnete der Vetter, »hoffen wir, daß sich dein löblicher Vorsatz erfülle, und da es in jedes Menschen Gewalt gegeben ist, sein Inneres zu verbessern, so wird auch dir dieses an und für sich schwierige Bestreben gelingen; aber laß es nicht bei dem Vorsatz verbleiben, denn merke dir das Sprichwort: Die Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, und auch hier im Leben tritt man gern auf ihnen herum.« Ich versprach mein möglichstes zu tun, versuchte, mich gelinde zu entschuldigen, ohne gerade die Anklage meines Oheims zu verdächtigen, und versprach nochmals, in meiner neuen Stelle mit Fleiß und Aufmerksamkeit zu arbeiten, worauf ich vom Vetter huldreicher entlassen wurde, als sein Willkommen war. »So geh' denn hinaus,« sprach er, »du wirst müde und hungrig sein, meine Frau soll dir eine Erfrischung zubereiten, ich muß fortfahren, mich noch eine halbe Stunde zu bewegen, der Blutumlauf des Körpers geht durch regelmäßig andauernde Bewegung rascher von statten, was der Gesundheit äußerst zuträglich ist.« Ich suchte eilig die Tür und sah an derselben, wie der Herr Professor mit Fußspitze und Zeigefinger dieselbe taktmäßige Bewegung wieder begann, in welcher ich ihn durch meinen Eintritt unterbrochen; mir kam das äußerst sonderbar vor, sowie auch der Schluß seiner Rede, er wolle sich noch einige Bewegung machen. Später, als ich in der Familie genauer bekannt wurde, erfuhr ich dann zu meinem großen Ergötzen, daß der Vetter, der das Spazierengehen für Zeitverschwendung hielt, überhaupt seine Wohnung äußerst selten verließ, der Ansicht war, die geringste Bewegung des Körpers reiche hin, um den Blutumlauf zu beschleunigen, und so saß er denn stundenlang, bloß den Zeigefinger und die Fußspitze bewegend, und das war es, was Emma mit dem Ausdruck: »Papa sitzt spazieren« bezeichnete. Der Vetter war überhaupt ein seltsamer Mensch; in seiner Jugend hatte er eifrige und große Studien gemacht, lebte aber beständig sehr abgeschlossen und in sich gekehrt, und war deshalb nie zu großen Reisen gekommen, wozu er die Mittel besaß, und die er sich auch vorgenommen, auszuführen; er war aber nicht imstande, sich aus seinen Zimmern und von seinen Gewohnheiten loszureißen. Später wurde er Professor der Mathematik, dozierte eine Zeitlang an einer Universität, verließ dieselbe aber aus einer eigentümlichen Ursache: der Hörsaal, in dem er seine Vorlesungen hielt, war unregelmäßig gebaut und hatte dem Katheder gegenüber zwei vollkommen ungleiche Fenster, das eine hoch gewölbt, das andere klein und viereckig. Ihm war der Anblick dieser Fenster so außerordentlich störend, daß er seine Gedanken nur beisammen halten konnte, indem er die Augen fest auf sein Manuskript richtete, sobald er aber aufsah und diese beiden unregelmäßigen Figuren erblickte, die ihm durch nichts in harmonischen Einklang zu bringen schienen, so wurde er verwirrt, mißgestimmt und unmutig. Statt aber jemand diesen Alp, der ihn drückte zu offenbaren, nahm er plötzlich seinen Abschied mit der verdienten Pension und zog sich hierher zurück, so gut wie gar keinen Umgang anknüpfend. Anfänglich hatte er abends eine Gesellschaft besucht, wo in großen, stattlichen Zimmern zur Erholung und Unterhaltung der Mitglieder alles getan war. Da gab es Lesekabinette und Billardzimmer, Restaurationen und Kegelbahnen, und dorthin ging der Professor einige Male abends in der Woche. Da er aber auch dort wenig Bekanntschaften machte, selten mit jemand sprach, so war der lange, dürre und schweigsame Mann beständig ein fremdes Element, das einsam und unberührt auf den Wogen der Gesellschaft dahinschwamm. Stundenlang konnte er vor dem Billard stehen und den Lauf der Kugel, sowie die Winkel, welche von den anprallenden beschrieben wurden, aufmerksam verfolgen und sich daraus allerlei mathematische Figuren zusammenstellen. Später setzte er sich in eine Ecke des Zimmers, nahm eine Tasse Tee, schlief darüber ein und erwachte erst wieder gegen zehn Uhr an dem Geräusch von dem Hin- und Herrücken der Stühle und Zuschlagen der Türen, indem die Mehrzahl der Mitglieder um diese Zeit nach Hause ging. Hier nun spielten ihm einmal mehrere junge Leute einen gar argen Streich, der sorgfältig überlegt und gut ausgeführt wurde. Eines Abends hatte der Professor seinen Tee getrunken, den Kopf zurückgelegt und war wie gewöhnlich eingeschlafen; da verschloß man die Türen zum anstoßenden Zimmer, löschte sämtliche Lichter aus, und nachdem alles eine Zeitlang schweigsam verharrt, wurde plötzlich an verschiedenen Tischen mit den Stühlen gerückt, laut mit den Füßen gescharrt, Türen wurden auf- und zugemacht, und von diesem Geräusch erwachte der Professor. Er hört, wie gewöhnlich, mehrere Partien in demselben Zimmer ihre Spiele laut und mit vielem Sprechen fortführen. Dort heißt es: »Coeur ist Trumpf,« und die Karten platschen auf dem Tisch; an einer andern Stelle klappern die Dominosteine, und aus dem Nebenzimmer erschallt das Rollen der Billardkugeln und das Sprechen und Gelächter der Spielenden. Der Professor reibt sich bestürzt die Augen, vollständig erwacht, befindet er sich in tiefer Nacht und vernimmt dazu, wie alles um ihn seinen gewöhnlichen Gang geht. Er reißt die Augen weit auf, schaut um sich her, bringt die Hände vor das Gesicht, sieht aber in dem festverschlossenen Gemach keinen Schimmer und fängt an, ängstlich zu werden. »Um Gottes willen,« denkt er, »ich bin ja blind!« Er erhebt sich von seinem Stuhl und stößt einen daneben sitzenden Spieler beinahe über den Haufen. »Ei, ei,« sagt dieser, »beinahe hätten Sie mich umgerannt, Herr Professor.« – »Aber teuerster Herr und Freund,« entgegnet dieser mit unsicherer Stimme, »ist ein solches Anrennen wohl seltsam zu nennen, da in diesem Zimmer die tiefste Dunkelheit herrscht?« – »Die tiefste Dunkelheit?« fragen mehrere mit erstaunter Stimme, »es ist ja heut abend hier so hell wie immer.« – »Sie spaßen, mein Herr, ich sehe gar nichts!« ruft der Professor mit lauter Stimme. Auf dieses hin erhebt man sich von allen Tischen und stellt sich in dichtem Kreis um den vermeintlichen Blinden. »Lassen Sie Ihre Augen sehen,« hört er die bekannte Stimme eines jungen Arztes sagen. »Ich sehe nichts Auffallendes in denselben,« fährt er fort, und der arme Professor, der schon im Begriff steht, sich das namenlose Unglück sehr zu Herzen zu nehmen, hört aus der Ecke des Zimmers ein unterdrücktes Kichern und Lachen. Rasch entschlossen, greift er neben sich an die Wand nach der Klingelschnur, die, wie ihm wohlbekannt, dort hängen muß, und läutet heftig dem Kellner. Dieser erscheint, reißt ihn aber nicht aus seiner Ungewißheit, indem er sich anstellt, als sehe er nichts Außergewöhnliches; kurz und gut, der Professor fängt an zu glauben, er sei erblindet, und bittet mit fester Stimme, ihn nach Hause zu führen. Doch soll es so weit nicht kommen, denn in demselben Augenblicke öffnet sich die Tür des Zimmers, und ein neuer Gast, der eben ankommt, fragt erstaunt, warum es so dunkel sei. Der Professor, ruhig und besonnen wie immer, nimmt von dem Platze neben sich seinen Hut und sein spanisches Rohr, sagt gelassen: »Meine Herren, einem Blinden muß man schon zu gut halten, wenn er nicht sieht, wohin einige wohlangebrachte Schläge, die er auszuteilen für unumgänglich notwendig findet, eigentlich treffen,« und nach diesen Worten erhebt er seinen Stock und beginnt, tüchtig auf den vor ihm befindlichen Kreis einzuhauen. Anfänglich wollen sich einige widersetzen, doch die Besonnensten, die mit dem ganzen Spaß nie einverstanden waren, gebieten flüsternd Ruhe, und man läßt den Professor ziehen. Am andern Morgen schreibt er ein Billet an die Gesellschaft, worin er seinen Austritt anzeigt, und zugleich diejenigen Herren, welche er gestern mit seinem Stocke getroffen, ersucht, sich ihm zu nennen, indem er entschlossen sei, ihnen die vollkommenste Genugtuung zu geben; doch hat sich keiner derselben gemeldet, und der Professor besuchte natürlicherweise die Gesellschaft nicht mehr.

So viel von dem früheren Leben des Professors.

In dem netten Gärtchen des Hauses hatte man einige Erfrischungen für mich hergerichtet und ich ließ mich behaglich nieder bei der freundlichen alten Frau und meiner Nichte, der kleinen Emma; ich mußte denselben von Familienmitgliedern erzählen, die sie kannten und lange nicht gesehen hatten. »Weißt du auch,« sagte die Professorin zu mir, »daß wir eigentlich alte Bekannte sind? Nein, du erinnerst dich dessen nicht mehr.« – »Doch,« entgegnete ich erwartungsvoll, »als ich in den Garten trat und Sie plötzlich vor mir sah, da fiel mir ein, daß wir uns schon irgendwo gesehen.« – »Ich weiß, wo es war,« sprach die kleine Emma, »in einer großen, schönen Kirche, es ist noch gar nicht lange her, du warst krank, Vetter, und wir fanden dich am Boden liegen, ein alter Mann hob dich auf, und als wir dich nach Hause brachten, war das Haus, wo du wohntest, gerade dasselbe, wo wir hinwollten.« – »Ich besuchte meine Tante, deine alte Großmutter,« ergänzte die Professorin, »du wurdest aber darauf so bedeutend krank, daß du uns nicht wiedererkanntest, als wir Abschied nahmen.« Mir ging ein freundliches Licht auf. Ganz richtig, es war meine kleine Kirchenbekanntschaft! »Aber dennoch habe ich euch erkannt,« sagte ich rasch, und setzte lächelnd hinzu: »nur meinte ich in meinem Fieber, es sei ein Heiligenbild aus der Kirche, das mit dem kleinen Engelein sich nach meinem Befinden zu erkundigen komme.« Sie lachten herzlich über diese Bemerkung, und das Andenken an unsere erste Begegnung machte uns schneller bekannt.

Die Aussicht von dem Garten auf die Stadt war recht freundlich, frohe Hoffnung öffnete mir das Herz, und nachdem ich den beiden Damen mit aller Offenheit meine früheren Schicksale mitgeteilt, worüber sie sehr lachten, namentlich über den Doktor Burbus und dessen Skelett, das eine so große Rolle gespielt, wurden wir ganz gute Freunde, und Emma vertraute mir an demselben Abend noch, sie habe mich für einen recht bösen Menschen gehalten. »Aber jetzt denkst du anders von mir?« fragte ich lachend. »Wir wollen sehen,« antwortete die kleine Person sehr altklug, »das hängt, wie der Papa sagt, alles von deiner künftigen Aufführung ab.«


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