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Harnbeschwerden, Harnverhaltung und Unaufhaltsamkeit des Harns (unwillkürliches Harnen). Stranguria, Ischuria und Enuresis (Incontinentia urinae)

Diese verschiedenen Krankheitserscheinungen beruhen auf Neurosen der Harnblase, die sich entweder äußern als erhöhte oder verminderte Reizbarkeit, Sensibilität, oder als Krampf und Lähmung der Harnblase.

Die erhöhte Reizbarkeit der Harnblase zeigt sich hauptsächlich als Harnzwang (Stranguria), wobei schon ganz kleine Quantitäten Harns einen unwiderstehlichen Drang zum Urinieren hervorrufen. Wird dem Drange nicht Folge geleistet, dann tritt heftiger Schmerz in der Blase und Harnröhrenmündung ein, und der Urin fließt unwillkürlich ab. Befinden sich Schleim oder Schleimflocken im Urin, dann ist eine katarrhalische Erkrankung der Harnwege vorhanden. Doch entsteht der Zustand auch nicht selten durch Reiz von Madenwürmern, bei älteren Leuten, Hysterischen und Hypochondristen, besonders in der kalten Jahreszeit. Auch gibt es sog. Gewohnheitspisser, die der geringsten Aufforderung zum Harnen gleich Folge leisten und dadurch die Blase entwöhnen, größere Quantitäten Harns zu dulden.

Die verminderte Reizbarkeit der Harnblase, das zu träge Harnen, ist häufig Begleiter schwerer Krankheitsprozesse, z. B. von Typhen, exanthematischen Krankheiten usw. Hierbei ist gewöhnlich auch das Sensorium benommen. Dieses Symptom schwindet mit der Besserung des Allgemeinbefindens. Oft tritt aber auch die Erscheinung bei Kindern (als nächtliches Bettpissen) oder bei alten Leuten und solchen auf, die sich daran gewöhnt haben, den Harn langte zurückzuhalten. Bei dieser abnehmenden Empfindlichkeit der Blase wird erst dann uriniert, wenn sich eine bedeutende Quantität Harns in der Blase angesammelt hat.

Gegen die erhöhte Reizbarkeit der Harnblase haben sich bewährt: Belladonna bei zusammenziehenden, raffenden oder absatzweise eintretenden Schmerzen. – Nux vomica: Harnzwang bei Hysterischen oder Hämorrhoidariern, bei Vollheitsgefühl und Druck in der Blase. – Hyoscyamus: stetes und immer wieder eintretendes Drängen nach kaum gelassenem Harn. – Phosphorus oder Acidum phosphoricum bei großer Reizbarkeit der Blase. – Conium: besonders nächtlicher Drang in der Blase und Harnröhre; schwacher Strahl oder Tropfenabgang. – Bei alten Leuten Sulfur oder Causticum. – Bei Gewohnheitspissern Belladonna oder Nux vomica mit der strengen Weisung, den Harn so lange als möglich zu halten, damit sich die Blase allmählich daran gewöhnt, ein größeres Quantum Harn zu fassen. –

Wo die Reizbarkeit der Blase und der Harnzwang von Blasenkatarrh abhängt, muß dieser behandelt werden, und wir verweisen dieserhalb auf das an Ort und Stelle Gesagte.

Gegen verminderte Reizbarkeit der Blase: Belladonna, Lycopodium, Sepia. Diese Mittel nützen auch oft gegen das nächtliche Bettnässen der Kinder im Schlafe. Diese krankhafte Erscheinung beruht ebenfalls auf Schwäche und verminderter Reizbarkeit der Blase. Sie ist somit ein Leiden, für das die Kranken nicht können; falsch ist es daher, zu wähnen, daß Ungezogenheit oder Faulheit schuld seien, und deshalb zu strafen oder die Betreffenden zu beschämen. Den Kranken selbst ist das Übel schon peinlich und lästig genug, so daß die davon heimgesuchten Kinder, Jungfrauen und Jünglinge aus Angst vor dem Einnässen sich wachzuhalten suchen und sich nicht ins Bett legen wollen. Weder das Entziehen von Flüssigkeiten, noch das Urinieren vor dem Schlafengehen, auch nicht das öftere Erwecken aus dem Schlafe und Anhalten zum Urinieren nützen, da zur Zeit noch kein Bedürfnis zum Harnen empfunden wird. Dieses kommt erst im Schlafe plötzlich, und zwar gewöhnlich gegen Morgen, unter lebhaften, oft höchst komischen Träumen vom Pissen. Wenn die Betreffenden darüber erwachen, liegen sie zu ihrem Schreck in der Nässe. – Man behandle daher solche Kranke mit Schonung und Milde, säubere sie und lege sie auf reine, trockene Unterlagen. Das Liegen auf Federbetten ist für solche Kranke nicht tauglich, daher gebe man ihnen Matratzen und Strohunterlagen. Gewöhnlich wird das Übel durch längeren Gebrauch homöopathischer Mittel beseitigt, immer aber durch die Zeit. – Bei jungen Mädchen: Pulsatilla. – Bei großer Schwäche: Phosphorus. – Bei bleichsüchtigen, blutarmen Individuen: Ferrum D2 Verreibung, morgens und abends 1 Pulver. – Bei skrofulösen Kindern: Sulfur oder Calcium carbonicum. – Endlich verdienen noch Berücksichtigung: Causticum, Gelsemium, Kreosotum, Plantago major D1. – Bei Madenwürmern: Cina D1 oder Mercurius solubilis oder Sulfur. Außerdem siehe Würmer bei Kinderkrankheiten.

Der Blasenkrampf, Cystospasmus, äußert sich in schmerzhaften Kontraktionen, die entweder vom Blasengrunde, vom sog. Auspresser des Harns (Detrusor urinae), oder vom Blasenhalse, dem Blasenschließmuskel (Sphinkter vesicae), oder von beiden ausgehen. Schon kleine Mengen Harns werden in der Blase nicht geduldet oder durch den Krampf zurückgehalten; das Urinieren geschieht unter großen krampfhaften Schmerzen in der Blase und Harnröhre mit vielem Pressen und Drängen. – Ist der Muskel, der die Blase zusammenzieht und dadurch den Urin aus der Blase preßt, der Detrusor urinae, allein ergriffen, so findet neben heftigem Harndrange fortwährendes Harntröpfeln statt (Enuresis spastica). Ist der Sphinkter, der Blasenschließmuskel, ergriffen, so entsteht krampfhafter Verschluß der Blase, wodurch entweder gar kein Harn entleert wird (Ischuria spastica), oder es werden nur mühsam unter vielem Drängen einige Tropfen entleert (Dysuria spastica). Häufig sind beide Muskeln ergriffen, es findet dann heftiger Drang mit gleichzeitiger Harnverhaltung statt. Die äußerst heftigen Schmerzen verursachen zuweilen bedenkliche Allgemeinerscheinungen, Ohnmächten, Angst, Gliederzittern, Erbrechen, Konvulsionen usw. Hierbei ist weder die Blasengegend, noch irgendein benachbarter Teil gegen Druck empfindlich, der Urin ist blaß und wässerig, zeigt aber keine sonstigen krankhaften Veränderungen.

Dieses Leiden tritt entweder als reine, selbständige Neurose auf, besonders bei Kindern und sensiblen Personen, nach Erkältung, durch den Genuß scharfer Speisen, junger Biere u. dgl., wo der gewöhnlich blasse, unter heftigem Schneiden und Pressen sparsam gelassene Urin oft Kälteempfindung hervorruft ( die kalte Pisse), oder es ist Teilerscheinung anderer Krankheitsprozesse, wie z. B. Gehirn- oder Rückenmarksleiden, Krankheiten der Harnblase und Nachbarorgane, Blasensteine.

Bei der Behandlung des Blasenkrampfes müssen wir nicht nur die ursächlichen Momente und die Allgemeinerscheinungen berücksichtigen, sondern auch Grad und Verschiedenheit der Schmerzen, die uns erkennen lassen, ob der Detrusor oder der Sphinkter allein oder ob beide zugleich vom Krampfe ergriffen sind.

Von homöopathischen Mitteln, die wir nach der Heftigkeit der Schmerzen in ¼- bis ½stündlichen Gaben verabfolgen, haben sich bewährt:

Aconitum: Wenn der Blasenkrampf durch Zugluft und Erkältung verursacht worden; bei sehr heftigen Schmerzen, Aufgetriebenheit der Blase, häufigem, vergeblichem Drange zum Urinieren. Unter den genannten Verhältnissen sofort verabfolgt, ist dieses Mittel von überraschender Wirkung und beseitigt oft mit einem Schlage sämtliche Beschwerden. – War Erkältung im Nassen die Ursache der Beschwerden, sind ziehende Schmerzen in der Lendengegend und Druck über dem Schambogen vorhanden, dann versuche man Rhus Toxicodendron oder Dulcamara.

Belladonna: Bei anhaltendem Krämpfe der Blasenmuskulatur, mit vergeblichem Drängen und Pressen zum Urinieren; der Harn wird entweder gar nicht oder unter entsetzlichen Qualen nur tropfenweise gelassen. Hartnäckige Harnretention mit Ergriffensein sowohl des Detrusor als auch des Sphinkter. Bei zu befürchtenden urämischen Erscheinungen; bei Kopfkongestionen und Krampfzuständen. Oft sehr passend nach Camphora.

Camphora: Hauptmittel bei krampfhafter Harnverhaltung; weniger bei dem reinen Cystospasmus, der wohl nur sehr selten vorkommen dürfte, als bei dem durch scharfe, die Harnblase reizende Substanzen (Canthariden, Copaivabalsam, Terpentin usw.) veranlaßten. Der Harn ist feurig, trübe, mit dickem Satz und von dumpfem Geruche. Auch bei schmerzhafter Harnverhaltung nach Erkältung; darnach passen oft Belladonna oder Hyoscyamus.

Hyoscyamus: Krampfhafte Urinverhaltung. Schmerzhaftes Drängen zum Harnen, was nur tropfenweise gelingt, besonders bei allen jenen Harn- und Harnblasenbeschwerden, die von einem Krampfzustande des Blasenschließmuskels abhängen.

Außer diesen Mitteln verdienen noch Berücksichtigung: Cocculus: Bei Harnverhaltung oder häufigem Harndrange mit schwierigem und geringem Abgange. – Digitalis: Bei zusammenziehenden Schmerzen in der Blase. – Nux vomica: Bei sehr verschiedenen krampfhaften Harnbeschwerden bei Hämorrhoidariern, Hysterischen, nach Erkältung der Blasengegend und nach dem Genüsse reizender Biere, bei sog. kalter Pisse. – Diesen Mitteln schließen sich noch an: Cotocynthis, Pulsatilla, Sarsaparilla; letztere soll auch nützen, wenn Blasensteine den Krampf verursachen. Nicht unerwähnt wollen wir lassen, daß oft die Anwendung äußerer Mittel die Kur unterstützt. So wenden wir oft mit entschiedenem Nutzen Breiumschläge von warmen zerstampften Kartoffeln an oder warme Umschläge von gekochter Petersilie auf die Blasengegend. Solche Umschläge müssen, sobald sie erkalten, wieder erneuert werden. In vielen Fällen werden warme Sitzbäder sehr gut vertragen.

Steinige Konkremente in den Harnwegen und die durch diese verursachten Beschwerden erfordern den Gebrauch von Karlsbad, Vichy oder die Teplitzer Thermen. Schon Schwenkfeld (1607) nennt diese »efficaces ad stranguriam«. Größere Steine sind durch Operation zu entfernen.

Der Zusammensetzung nach unterscheidet man drei Hauptgruppen dieser Konkremente, je nachdem in ihnen a)  Harnsäure und harnsaure Salze, oder b)  phosphorsaure, oder c)  oxalsaure Salze vorherrschen. Ihre Entstehung und Bildung sind noch in vieler Beziehung dunkel. Indessen scheint der bei den Katarrhen der Harnwege reichlicher produzierte Schleim ein wichtiges ätiologisches Moment darzustellen, indem er bei der zuerst sauren, später alkalischen Gärung des Harns als Ferment und für die aus dem Harne niedergeschlagenen Salze als Bindemittel dient. Weiter scheint eine Vermehrung der harnsauren Salze im Urin, die überall da auftritt, wo die Oxydation im Blute beeinträchtigt wird, die Entstehung der harnsauren Konkremente zu begünstigen.

Die Lähmung der Blase, Paralysis vesicae, Cystoplegia, wird erzeugt durch Lähmung der Blasenmuskeln und kann entweder eine vollkommene oder eine unvollkommene sein. Im ersteren Falle kontrahieren sich die betreffenden Muskeln (der Detrusor urinae und der Sphinkter vesicae) gar nicht, und es tritt entweder vollkommene Harnverhaltung (Ischuria) oder gänzliches Unvermögen, den Harn zu halten (Enuresis paralytica) ein. Bei der unvollkommenen Lähmung, die häufig bei Männern, besonders in vorgerücktem Alter, nach langwierigen Krankheiten, geschlechtlichen Exzessen, bei Rückenmarks- und Gehirnkrankheiten und bei chronischen Blasenkatarrhen beobachtet wird, tritt erst bei bedeutender Überfüllung der Blase Harndrang ein. Der Urin wird in schwachem Strahle unter vielen Anstrengungen gelassen, doch bleibt stets ein größeres oder geringeres Quantum davon in der Harnblase zurück. Dieser Zustand währt oft viele Monate, bis vollständige Lähmung der Blase eintritt. Wo die Anfüllung bedeutend ist, muß die Blase mittels des Katheters entleert werden; oft gelingt es jedoch dem Kranken, eine Lage aufzufinden, in der doch noch Urinabgang erzielt wird. In vielen Fällen jedoch, besonders im Typhus und nach Schlagflüssen, mit Benommenheit des Sensoriums, wo die kugelförmig aufgetriebene Blase oft bis zum Nabel hinauf gefühlt werden kann, ist die Applikation des Katheters unumgänglich notwendig, da leicht urämische Blutintoxikation oder Ammoniämie mit all ihren Folgen eintreten kann.

Wo durch Schwäche oder Lähmung des Detrusor der Drang zum Harnlassen vermindert ist, da werden wir durch Gelsemium, Phosphorus oder Nux vomica, Sabal serrulatum in oft zu wiederholenden Gaben Besserung und selbst Heilung eintreten sehen. Nux vomica bei Säufern oder wo Erkältung die Ursache, und wenn Erkältung im Feuchten stattgefunden: Rhus Toxicodendron. Ist die Lähmung des Detrusor aus Krankheiten der Blase hervorgegangen, ist diese durch langwierige Katarrhe entartet oder verdickt, dann ist Sulfur oder Terebinthina zu versuchen. Ist die Verdickung hochgradig, dann ist die Blase auch nach vollständiger Entleerung mittels Katheters noch kugelförmig anzufühlen; in solchem Falle wäre Terebinthina das einzige Mittel, durch dessen konsequenten Gebrauch noch einige Besserung zu erzielen ist. Bei vollkommener Lähmung des Detrusor: Gelsemium oder Hyoscyamus, und wenn infolge der Harnretention Entzündung der Blase eingetreten: Cantharis. Bei urämischen Erscheinungen: Arsenicum oder Cuprum aceticum, Stramonium, Phosphorus. Das Nähere lese man nach bei Nierenkrankheiten.

Wenn die Lähmung des Detrusor urinae von Krankheiten der Zentralorgane abhängt, müssen diese behandelt werden, doch ist in derartigen Fällen die Prognose sehr ungünstig.

Bei der Lähmung des Sphinkter ist der Blasenhals unfähig, den Urin in der Blase zu halten; der Urin träufelt unwillkürlich ab (Enuresis, Incontinentia urinae paralytica). Bei unvollkommener Lähmung fühlt der Kranke noch das Bedürfnis zum Urinieren, ohne jedoch den Harn halten zu können. – Arnica verabfolgen wir in oft zu wiederholenden Gaben, wenn Verletzung und Erschütterung der Blasengegend die Ursache des Leidens sind; auch nach chirurgischen Eingriffen. In derartigen Fällen kann auch Conium oder Ruta von Nutzen sein. – Causticum bei Harndrang mit unwillkürlichem Abgange des Urins, besonders auch beim Husten, Niesen, Lachen. – In hochgradigen Lähmungen Gelsemium, Belladonna oder Hyoscyamus. – Hängt die Lähmung von Rückenmarkskrankheiten ab, dann wird oft noch Nux vomica einige Besserung bringen. – Rhus Toxicodendron bei unwillkürlichem Harnfluß mit gleichzeitiger Lähmung der unteren Extremitäten. – Pulsatilla bei Schwäche des Blasenschließmuskels. – Bei Lähmung beider Blasenmuskeln ist Hyoscyamus, Gelsemium oder Zincum zu versuchen. – Sulfur ist ein wichtiges Mittel bei skrofulösen Personen. – Da durch den fortwährenden Harnabfluß ein sehr übler Geruch in Kleidern und Wäsche erzeugt wird, so ist sehr große Reinlichkeit und das Tragen eines Gummischlauches (Harnrezipienten), wodurch der Harn aufgefangen und Wundwerden der Haut sowie Durchnässung der Kleidung vermieden wird, unumgänglich notwendig.


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