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Einleitung

§ 1. Homöopathie ist das von Dr. Samuel Hahnemann im Jahre 1790 aufgestellte Heilverfahren: Ähnliches durch Ähnliches zu heilen (similia similibus curentur). Hahnemann sah die unabweisbare Notwendigkeit ein, zuerst die Arzneien einzeln an Gesunden zu prüfen, was sein größtes und herrlichstes Verdienst ist. Durch diese Prüfung kam er zu der Überzeugung, daß alle Arzneien durch die ihnen eigene Kraft, Krankheitszustände bei Gesunden zu erzeugen, auch ähnliche Zustände bei Kranken beseitigen können. So ruft z. B. Opium in großen Gaben Betäubungszustände hervor und beseitigt ähnliche Zustände in kleinster Gabe bei einem Kranken. Die Brechnuß, Nux vomica, verursacht Magenkrampf und Magendrücken, was sie in kleinster Gabe bei Kranken heilt. Parallel zu dieser Erfahrung heilt man Verbrennungen durch Annäherung ans Feuer, erfrorene Glieder durch aufgelegten Schnee usw. Ja, auch der Allopath heilt, wenngleich unbewußt, nach diesem Ähnlichkeitsprinzip, was auch Hahnemann (siehe Organon, IV. Aufl., S. 52-104) durch eine Anzahl literarischer Belege nachweist.

§ 2. Nachdem der Entdecker den Fundamentalsatz aller Heilkunst aufgestellt hatte, nämlich: » Nur das ist das einzig richtige Heilmittel für jeden Krankheitszustand, welches bei einem Gesunden einen ähnlichen Zustand hervorbringt,« gab er seiner Lehre den Namen »Homöopathie« von dem Griechischen ὅμοιον ähnlich und πάϑος, Leiden, während er die alte Schule mit all ihren verschiedenen Systemen Allopathie (ἀλλοῖος, anders, verschieden) nannte. An die Stelle des Zufalls trat nun die Bestimmtheit, an die Stelle der Willkür das Gesetz, an. die Stelle der Vermutung klare Einsicht und positives Wissen.

§ 3. Die bisherige ärztliche Wissenschaft beruht zum größten Teil auf Wahrscheinlichkeit, zum Teil sogar nur auf Vermutungen. In der Mehrzahl der Krankheitsfälle läuft eine Diagnose auf eine bloße Wahrscheinlichkeitsrechnung hinaus; abgesehen von dem großen Trosse weniger geschickter Ärzte, bleibt sie auch bei den Einsichtsvollen in zahllosen Fällen immer, in Krankheitserkenntnis wie in Wahl und Dosierung der Arzneimittel, ein Wahrscheinlichkeitskalkul. Auf diesem Wege wird der Arzt an das Raten, Vermuten und Glauben gewöhnt. Glauben und Wissen schließen sich jedoch im Prinzip aus. Das erstere beruht auf Autorität und Neigung, das letztere auf Tatsachen und Beweisen. Wo Glaube nötig ist, da fehlt der Beweis, und wo kein Beweis, da gibt es kein Wissen. – Hahnemann gebührt allein das Verdienst, aus der Verworrenheit Einheit, aus eitler Künstelei Natur gemacht zu haben. Er hat das Rätsel gelöst, worin die unbewußt glücklichen Heilungen der Vorzeit bestanden, und hat die Zukunft neue Heilungen mit Bewußtsein vollbringen gelehrt.

§ 4. Durch ihr extensives und intensives Wachsen, durch ihre im steten Zunehmen begriffene Ausbreitung trotz aller Hindernisse, die Eigennutz, Dünkel, Unwissenheit und Bequemlichkeit ihr entgegenstellen, gibt die Homöopathie hinlänglich Zeugnis für die Wahrheit des ihr zugrunde liegenden Heilprinzips. Sie ist nicht nur eine wissenschaftliche Umgestaltung der gesamten Therapie, sondern sie lehrt auch eine zweckmäßige Zubereitung der Arzneimittel. Die ganze allopathische Methode mit ihren Massen von Drogen, womit sie den Organismus überschwemmt, ist höchstens eine große Palliative, deren Folgen man oft teuer bezahlen muß. »Hätte Hahnemann« – sagt Adam Müller – »nichts getan, als daß er, einer der größten Chemiker des Jahrhunderts, das Koch- und Mischprinzip aus der Pharmazie verbannt, die Simplizien in ihre Rechte hergestellt und am gesunden Körper (nicht am trügerischen kranken) über ihre wahre Wirkung befragt, und die Lehre von dem Minimum der Dosis aufgestellt, so wäre er schon dadurch unsterblich. Die eigentliche Medizin ist in dem Materialismus der neuen Zeit verlorengegangen; er hat sie wiedergefunden, wiedererfunden.«

§ 5. Einen unverkennbar wohltätigen Einfluß hat Hahnemanns Lehre auch auf die alte Schule ausgeübt, die massenhaften Ordinationen mehr und mehr beschränkt und das »Simplex veri sigillum« wieder auf ihre Fahnen geschrieben, worin wir kein geringes Nebenverdienst der Homöopathie um die leidende Menschheit erblicken. Aber auch der geschäftigen Handhabung des Schneppers und der Lanzette, womit die ärztlichen Päpste, besonders bei Entzündungen edler Organe, die Krankheit in den Bann tun wollten, hat die Homöopathie Einhalt geboten und bewiesen, daß es oft kein schlechteres Mittel als dieses dagegen gibt. Obgleich man noch vor kaum 50 Jahren die Homöopathen gerichtlich verfolgen zu müssen glaubte, da sie bei Lungenentzündungen nicht zur Ader lassen, müssen heute ihre Gegner von einem ihrer berühmtesten Kollegen die sehr beherzigenswerten Worte hören: »Wo im Verlaufe irgendeiner tödlich gewordenen Krankheit Blutentziehungen, Brechmittel und Abführen erregende Arzneien in Anwendung gekommen sind, da wird es jedesmal zweifelhaft, ob die Krankheit an und für sich, also infolge ihrer ursprünglich gegebenen materiellen Veränderung allein oder durch Mitwirkung der erwähnten Behandlungsweise den tödlichen Ausgang genommen hat.«

§ 6. Was schon aus äußeren Gründen für die Homöopathie spricht, ist nicht nur ihre außerordentliche Verbreitung, die sie über den ganzen Erdboden, soweit die Kultur reicht, gefunden, sondern auch andererseits ihre Einheit. Was den ersten Punkt betrifft, so ist es eine erfreuliche Erscheinung, daß auch in den gebildeten Volksklassen das homöopathische Prinzip Eingang und Verbreitung gefunden hat. Und bezüglich des zweiten Punktes sehen wir, daß bei allen mit unserem Heilverfahren Vertrauten eine Übereinstimmung in Wahl und Anwendung der gebräuchlichen Mittel herrscht, die jedem imponieren muß. – Wo man früher in den Familien in Sorge geriet, wenn eines der Mitglieder erkrankte, die Eltern bei häufigen Erkrankungsfällen ihrer Kinder und Angehörigen durch Ärzte und Apothekerrechnungen in Schulden und Not gerieten und oft die Hilfe erst dann, wenn es zu spät war, kam, kann man heute durch jene segensreiche Entdeckung: eben durch die Homöopathie, die Hilfe rasch bei der Hand haben und das Geld für unnütze Arzneien ersparen und zweckmäßiger anwenden.

Welche erfreuliche Sicherheit im praktischen Handeln, gegenüber der Unsicherheit und Zerfahrenheit der früheren allopathischen Spekulationen, findet sich jetzt in dem homöopathischen Prinzip »similia similibus«! Wie vielen folgenschweren Täuschungen wird der Homöopath überhoben! Auch dehnt die Homöopathie erfahrungsgemäß den Begriff der Heilbarkeit viel weiter aus als die Allopathie und beschränkt mehr das chirurgische Verfahren.

»Wenn jetzt der Arzt den Menschen in die Welt und aus der Welt bringt, wenn er mit dem ersten Rezepte, das er dem neugeborenen Kinde verschreibt, es sich selbst oder doch seiner Kunst für das ganze Leben verschreibt«, so wird dagegen künftig, wenn infolge einer naturgemäßen, vernünftigen Erziehung und Lebensweise der Körper nicht mehr durch eine Menge heilkünstlerisch in ihn gebrachte Schädlichkeiten verkümmert worden, der Mensch des Arztes fast ganz entraten können. – Sollte auch einmal ein homöopathisches Mittel unrichtig gewählt sein, so wird dieses dem Kranken nie positiv schaden, und kann, so es bemerkt wird, leicht gut gemacht werden, während ein Versehen eines Allopathen oft nie gut zu machen ist.

§ 7. Einem jeden Anfänger, der sich mit der Homöopathie vertraut machen will, ist zu raten, sich Hahnemanns Organon, Verlag Dr. Willmar Schwabe, Leipzig O 29, anzuschaffen, worin eine ausführliche Darlegung der Homöopathie sowie eine jedem Anfänger zu wissen nötige Anleitung zur Erforschung des Krankheitsbildes enthalten ist. Freilich sind durch die Entdeckungen der Neuzeit diese Forschungen noch bedeutend erweitert und haben durch die Fortschritte der physiologischen Schule eine bestimmtere Basis erlangt. Nie darf sich daher die ärztliche Diagnose allein auf Erforschung der bloßen Empfindungen des Kranken beschränken, d. h. auf die subjektiven Symptome oder bloß auf die auffälligen Störungen in der Tätigkeit gewisser Organe (funktionelle Symptome). Es muß vielmehr, wo irgend möglich, der physikalischen Untersuchungsmethode in ihrem ganzen Umfange Rechnung getragen werden Die physikalische Diagnostik wird ermöglicht: durch Besichtigen (Inspektion), Befühlen (Palpation), Beklopfen (Perkussion) und Behorchen (Auskultation), ferner durch chemische und mikroskopische Untersuchungen.. Durch diese Methode ist man in der Neuzeit in vielen Fällen der Erkenntnis der Krankheit bedeutend nähergerückt; die pathologische Anatomie hat vielfach den ursprünglichen Sitz der Erkrankung, ihren Herd, nachgewiesen, die Krankenuntersuchung ist bestrebt, nicht bloß die erkrankten Organe zu finden, sondern auch die betroffenen Organ- und Gewebsteile, und ist bemüht, die Art der Veränderung auszuforschen. Wir fordern daher, den Fortschritten der Pathologie entsprechend, daß das Arzneimittel auf dasselbe Organ einwirke, das geheilt werden soll; wir fordern ferner, daß dieselben Organteile berührt werden, und vergleichen die eigentümlichen Symptome des Krankheitsfalles mit den besonderen Erscheinungen, die bei Prüfung des Arzneimittels am gesunden Körper hervortreten. Denn als Heilmethode beruht die Homöopathie auf einer doppelten physiologischen Basis und steht somit höher als die physiologische Schule selbst. Indem sie nämlich einerseits ihre Fortschritte zum richtigen Erkennen und Beurteilen der Krankheiten benutzt, dienen ihr andererseits die Resultate der physiologischen Pharmakodynamik als Stützen zum Zwecke des Handelns, des Heilens.

§ 8. Beim Erforschen des Krankheitsbildes sind hauptsächlich folgende Punkte zu berücksichtigen:

Das leidende Organ nebst der Art des Krankheitsprozesses.

Die Empfindungen und Gemütsbeschaffenheit des Kranken. Denn da die Homöopathie, bei Prüfung ihrer Arzneistoffe, auf jede im Organismus vorkommende Veränderung aufmerksam ist, so hat sie auch ihr Augenmerk auf die Veränderungen gerichtet, die die Arzneistoffe auf das Gemüt und den Geist ausüben, und hierdurch einen bedeutenden Vorsprung vor der älteren Schule gewonnen, indem die Ergebnisse der homöopathischen Arzneiprüfungen auch auf dem Gebiete der Psychiatrie ein helleres Licht verbreitet haben.

Beschreibung der Schmerzen, wann und wodurch diese erhöht oder vermindert werden, ob durch Kälte oder Wärme, in der Ruhe oder Bewegung, im Zimmer oder im Freien, und zu welcher Zeit. Ferner: aufgeregt oder gleichgültig; heiter oder zum Weinen geneigt; sanft oder heftig.

Die Ausleerungen und Funktionen. Also: wie Stuhlgang, Harn und Schweiß beschaffen; wie Appetit und Durst, Schlaf und Atmungsfähigkeit. Ob Frost, Hitze und Schweiß vorhanden, wie ihr Verhalten zueinander; ob und wann Durst. – Ob bei der Frau die Regel alle 28 Tage erscheint oder verfrüht oder verspätet; wie beschaffen, ob stark oder schwach, hell oder dunkel und stückig; ihre Dauer und mit welchen Begleiterscheinungen. Ob Weißfluß besteht und wie er beschaffen.

Konstitution und Individualität; durch Alter, Geschlecht, Lebensweise, Gewerbe, Vererbung usw. bedingte Krankheitsanlage des Patienten.

Entstehungsursache der Krankheit, wenn solche aufzufinden ist, z. B. Gemütsbewegungen, Magenverderbnis, Erkältung, Arzneimißbrauch, Ausschweifungen, Säfteverlust, Blutentziehungen; oder unterdrückte Absonderungen, Ausflüsse, Ausschläge usw.

§ 9. Die charakteristischen Eigentümlichkeiten der gebräuchlichsten homöopathischen Arzneien muß jeder, der mit Erfolg die Homöopathie in Anwendung bringen will, genau kennen, weshalb wir die am häufigsten in der Praxis vorkommenden Mittel mit ihren Hauptsymptomen in diesem Buche aufgeführt haben. Zum raschen Nachschlagen für einzelne Fälle bediene man sich des beigefügten Repertoriums. Die erste sehr umfassende Prüfung unserer Arzneien finden wir in Hahnemanns »Reiner Arzneimittellehre« und in dessen »Chronische Krankheiten«. Da jedoch das Studium dieser Werke wegen der Überfülle von Symptomen der darin aufgeführten Arzneimittel große Schwierigkeiten macht und man sich schwer darin zurechtfinden kann, so empfehlen wir den Freunden der Homöopathie, die sich noch genauer unterrichten wollen, Dr.  Heinigkes Handbuch der homöopathischen Arzneiwirkungslehre (Verlag Dr. Willmar Schwabe, Leipzig O 29).

§ 10. Die Erforschung des leidenden Organs und des Krankheitsprozesses ist selbstverständlich von größter Wichtigkeit, indem das zu wählende Mittel eine spezifische Beziehung zu dem Krankheitsprozesse haben muß und wir bei aller Ähnlichkeit der Symptome, weil diese nur das Äußere treffen, irregeführt würden, wollten wir uns nur auf diese stützen. Es kommt mithin sehr viel auf den Charakter der Krankheit und den pathologischen Zustand an, in dem sich das Organ, das geheilt werden soll, befindet. So werden wir bei katarrhalischen Prozessen andere Mittel wählen als bei skrofulösen usw. Eine katarrhalische Augenentzündung würde z. B. Aconitum, Belladonna oder Euphrasia zu ihrer Heilung erfordern, eine skrofulöse Sulfur. – Eine Diarrhöe, als einfacher Darmkatarrh, wird vielleicht schon nach einigen Gaben Bryonia oder Pulsatilla beseitigt werden, während ein ruhrartiger Darmprozeß Mercurius und ein typhöser Durchfall Arsenicum oder Phosphorus erfordert. Ferner liegt auch die Notwendigkeit nahe, zu erforschen, in welches Stadium der Krankheitsprozeß bereits getreten ist. Ob z. B. bei der Lungenentzündung das Stadium der entzündlichen Anschoppung (hier Aconitum oder Bryonia) oder das der vollendeten Exsudation ( Phosphorus) vorliegt usf.

§ 11. Wenngleich, wie schon gesagt, ein bloß mechanisches und kopfloses Symptomedecken trügerisch und unstatthaft ist, so soll man doch nicht das oft mehr oder weniger aufgeklärte Wesen der Krankheit zur einzigen Basis des Handelns machen. Es ist vielmehr die möglichste Übereinstimmung des Krankheitszustandes mit dem physiologischen Charakter der Arzneisymptome für die höchste Aufgabe zu erachten, wobei man selbstverständlich auch auf die deutlich und sicher leitenden Anzeichen einzelner Krankheitssymptome sein Augenmerk richten muß. Auch hier wird es darauf ankommen, nicht etwa unwesentliche und außer allem physiologischen Konnex stehende Einzelheiten aufzufassen und herauszureißen, sondern wirklich charakteristische und bedeutungsvolle Analogien herauszufinden. Unter dieser Voraussetzung gibt die einfache Durchmusterung des Symptomenkomplexes häufig deutlichere und wichtigere Anzeichen für die Mittelwahl, als unsere nur zu oft ganz mangelhafte oder unsichere Einsicht in das Wesen und unsere Kenntnis von dem ursprünglichen Sitz und Herd der Krankheit. Somit ist die peinlichste Sorgfalt auf Einzelheiten beim Krankenexamen von großer Wichtigkeit für die Wahl des Arzneimittels, und wir dürfen uns nicht durch den Hohn unserer Gegner, denen eine physiologische Arzneimittellehre unbekannt und die dergleichen Aufmerksamkeiten kleinlich finden, abbringen lassen.

Der homöopathisch Praktizierende muß mit der peinlichsten Genauigkeit alle Krankheitserscheinungen zu ermitteln suchen, weil er bei der im Krankenexamen festzustellenden Diagnose der Krankheit auch die scharfe Diagnose des Mittels zu geben sucht; hier entscheiden die kleinsten Nuancen für die richtige Auswahl des einen unter den sich darbietenden vielen Mitteln. Zwar ist die Physiologie noch nicht so weit in der Erklärung der Symptome gediehen, um die Art der Schmerzen aus bestimmten Verhältnissen abzuleiten, doch lassen sich immerhin Andeutungen geben, die ein bestimmtes Bedingtsein dieser Abweichungen vermuten lassen. So ist z. B. der Knochenschmerz ein ganz anderer als der Muskelschmerz, dieser wieder anders als der in der Haut oder Schleimhaut auftretende usw. Der schabende, bohrende, nagende Schmerz ist vorzüglich den Knochen, der ziehende, reißende, spannende den Muskeln, der brennende der Haut und Schleimhaut, der stechende, schneidende Schmerz den serösen und fibrösen Häuten eigen. – So verabfolgen wir bei schabenden, bohrenden, nagenden Schmerzen Mercurius, Phosphorus, Aurum; bei ziehenden, reißenden, spannenden, gewöhnlich durch Muskelrheumatismus bedingt, Rhus Toxicodendron. Bei brennenden Schmerzen: Arsenicum, Carbo. Bei brennend-stechenden: Apis. Bei brennend-juckenden: Rhus Toxicodendron. Bei stechenden, mehr durch lokale Blutanhäufung in den Parenchymen, vom Venen- und Capillargefäßsystem bedingt, Pulsatilla oder Bryonia.

Auch die Tageszeit, in der ein Schmerz auftritt, muß berücksichtigt werden. So reichen wir, unter sonst passenden Umständen, Nux vomica bei Schmerzen, die vorzugsweise des Morgens eintreten; Pulsatilla, Belladonna, Chamomilla bei Schmerzen, die abends oder nachts erscheinen. Auch Ruhe und Bewegung üben Einfluß auf die Wahl des Mittels aus. So reichen wir Rhus Toxicodendron bei rheumatischen Schmerzen, die sich in der Ruhe verschlimmern und bei Bewegung bessern; wird hingegen der Schmerz durch Ruhe gebessert und durch Bewegung verschlimmert, dann ist Bryonia das passende Mittel. Die Temperaturverhältnisse sind ebenfalls mitunter wichtig für die Wahl der Arznei. Bessert Kälte (Congestivleiden): Belladonna, bessert Wärme (nervöser Charakter): Rhus Toxicodendron. – Aus diesen Beispielen ersehen wir, daß manche Krankheitssymptome gewisse Anhaltspunkte gewähren, die uns sowohl die Erkenntnis des Krankheits-Charakters als auch die Wahl des Arzneimittels erleichtern helfen.

So führt uns denn auch ein genaues Eingehen in alle einschlagenden Verhältnisse auf die Erforschung der psychischen Eigentümlichkeit, die sich in Temperament, Gemütsstimmung und Richtung des Willens zeigt; eine erst durch die Homöopathie zur Anwendung auf die Therapie gekommene, nicht hoch genug zu veranschlagende Kenntnis, die von der Allopathie viel zu wenig gewertet wird. Und doch, wie oft sind krankhafte Gemütsstimmungen die Ursache sehr vieler Krankheiten! Sie alle finden ihr Gegenmittel im Arzneischatz der Homöopathie. So verabfolgen wir bei Ärgerlichkeit: Chamomilla, Nux vomica, Sepia; bei Zornanfall: Nux vomica, Phosphorus, Sulfur; bei Sanftmütigkeit: Pulsatilla; bei Weinerlichkeit: Ignatia.

§ 12. Von besonderer Wichtigkeit sind ferner die Absonderungen: die Darmtätigkeit, die Tätigkeit der Haut und Schleimhaut, die Nierentätigkeit und (bei Frauen) die Menstruation. So erfordern z. B. träge Darmfunktion und Hartleibigkeit: Nux vomica, Opium oder Plumbum; Untätigkeit und zu große Trockenheit der Haut: Graphites, Nux moschata, Sepia, Silicea; große Neigung zu Schweißen: Mercurius, Phosphorus, Sambucus. Von großer Wichtigkeit ist auch die Untersuchung des Harns, z. B. bei Verdacht auf Eiweiß- oder Zuckergehalt.

§ 13. Durch Berücksichtigung der Konstitution und Individualität des Kranken kommen wir auf die Bedingungen zu gewissen Krankheitsanlagen und auf die Reaktionsfähigkeit des Individuums, auf Alter, Geschlecht, Gewohnheit, Lebensweise. So sind im Kindesalter die Anlagen und Bedingungen zu gewissen Krankheiten andere als im Mannes- und Greisenalter, bei Frauen andere als bei Männern, bei nervösen andere als bei robusten Personen. Hieraus erklären sich denn auch die vorwaltenden Neigungen zu diesen oder jenen Krankheiten, z. B. zu Katarrhen, Rheumatismen, Kongestivzuständen, Skrofeln usw.

§ 14. Von nicht geringer Wichtigkeit sind auch die mutmaßlichen Entstehungsursachen mancher Krankheiten: Gemütsbewegung, Erkältung, Arzneimißbrauch usw. So verabfolgen wir z. B. gegen die Folgen von Ärger: Chamomilla und Colocynthis; von Gram: Ignatia, Acidum phosphoricum, Staphisagria. – Schreck: Opium. – Erkältung: Aconitum, Bryonia, Chamomilla, Dulcamara. – Erkältung durch Nässe: Rhus Toxicodendron. – Chinamißbrauch: Arsenicum, Ferrum, Ipecacuanha, Nux vomica. – Alkoholmißbrauch: Nux vomica, Arsenicum, Opium. – Bei Folgen von unterdrücktem Fußschweiß: Silicea, Sepia, Mercurius. – Bei Körperverletzung durch Stoß oder Fall: Arnica, Rhus Toxicodendron.

§ 15. Wie wir aus obigem ersehen, muß der homöopathisch Praktizierende sämtliche Krankheitssymptome in ihrem Zusammenhange auffassen, um das den Gesamterscheinungen entsprechende Arzneimittel auffinden zu können. Zwar hat die physikalische Untersuchungsmethode, zu Hahnemanns Zeit noch unbekannt, viel zur besseren Erkenntnis der Krankheit beigetragen, doch zeigen die Perkussion, Auskultation, das Röntgenbild, die chemische Untersuchung des Harns usw. am Ende auch nichts anderes als Symptome der Krankheit an, und Hahnemann hat bis auf den heutigen Tag recht, wenn er behauptete, was auch der berühmte Patholog Virchow zugab, daß die Krankheit, die Lebensstörung, ein dynamischer Vorgang ist, der nur an den Symptomen, den Lebenserscheinungen, erkannt wird; diese sind der einzige Hinweis auf ein zu wählendes Heilmittel. Er fügt dem noch hinzu, daß zur Heilung ein beihilfliches Achten auf Veranlassung, Grundursache und noch andere Umstände notwendig ist. Die offenbar die Krankheit veranlassende und unterhaltende Ursache ist hinwegzuräumen.

Zur Erläuterung des oben Gesagten mögen hier einige Beispiele dienen:

Vor längerer Zeit konsultierte uns ein junger Mann aus Bremen, der mehrere Monate das Wechselfieber gehabt und allopathisch mit großen Gaben Chinin behandelt worden war. Die Fieberanfälle blieben zwar danach fort, doch sah der Patient, der als geheilt von seinem Arzte entlassen war, so erbärmlich aus, daß sein Anblick das größte Mitleid erregte: Beine schlotternd, Gesicht bleich und abgemagert, Augen hervorgequollen, die Zähne von den blassen, dünnen Lippen kaum bedeckt. So erschien der allopathisch Geheilte als ein Bild des leibhaften Todes. Er klagte über gänzliche Appetitlosigkeit, brennenden Durst und große Mattigkeit. – Diesen Symptomen sowohl, als auch der Ursache (Chinamißbrauch) entspricht vollkommen Arsenicum. Von dieser Arznei gaben wir denn auch 14 Pulver (6. Decimalpotenz), von denen einen Tag um den andern 1 Pulver in 6 Eßlöffel voll Wasser auf 4mal tagsüber verbraucht werden sollte. Der Erfolg war schlagend. Als uns nach 4 Wochen der junge Mann besuchte, hatte sich seine Gesichtsfarbe auffällig gebessert. Appetitlosigkeit und Durst waren geschwunden, doch klagte er noch über bedeutenden Schweiß, der von dem Wechselfieber zurückgeblieben war. Wir verabfolgten nun sofort Sambucus ebenso wie das vorige Mittel. Nach 14 Tagen aber war der Schweiß, zu unserer Verwunderung, auch nicht im geringsten gebessert, und wir erfuhren nun auf Befragen, daß dieser bloß nachts im Schlafe auftrete. Dieses Symptom hat jedoch nur Phosphorus aufzuweisen ( Sambucus: Schweiß bei jeder Körperanstrengung). Wir verabfolgten nun dieses Mittel, und schon nach einigen Tagen war der lästige Schweiß beseitigt. Als wir nach Monaten den jungen Mann wiedersahen, erkannten wir ihn kaum wieder, so gesund und wohl sah er aus.

Wie mitunter ein einziges Symptom die Wahl des Mittels bestimmt, kann noch folgender Fall lehren:

Eine verheiratete Dame, 38 Jahre alt, litt an zeitweise heftig auftretenden, krampfhaft ziehenden Schmerzen in der linken Leistengegend, die sich von da aus über den ganzen Unterleib verbreiteten, auch nach der Brust zogen, Herzensangst und Beklemmung hervorriefen, oft aber Übelkeit, Brechreiz und Aufstoßen erzeugten. Stuhl hart und selten. Wir verabfolgten wegen der letztgenannten Symptome von 14 zu 14 Tagen zuerst Nux vomica D8, dann Lycopodium D12 und Carbo vegetabilis D30, doch besserten diese Mittel nur wenig. Da erfuhren wir bei nochmaligem Befragen, daß das Beklemmungsgefühl und die Angst hauptsächlich vor jedem Stuhlgange eintritt und darnach aufhört. Dieses Symptom hat von allen Arzneien nur Kalium carbonicum aufzuweisen. Wir verabfolgten denn auch dieses Mittel in 12. Potenz und hatten die Genugtuung, einen schlagenden Erfolg damit zu erzielen, indem 14 Tage später die Patientin als vollständig genesen freudigen Herzens sich uns vorstellte.

Nicht selten ist die Entstehungsursache einer Krankheit für die Wahl des Mittels entscheidend.

Ein Handarbeiter auf einem Gute Ostpreußens klagte über bedeutende Kopfschmerzen, die bei jeder Körperanstrengung eintraten und sich von einer kleinen Stelle des Schädels über den ganzen Kopf verbreiteten. Bei jeder Bewegung heftiges Hämmern und Pulsieren im Gehirn. Von den verschiedenen Arzneien, die wir in einem Zeitraume von 6 Wochen verabfolgten, bewährte sich Belladonna am besten, ohne jedoch die Wiederkehr der Schmerzen zu verhindern. Da erfuhren wir auf Befragen, daß wahrscheinlich ein Schlag auf den Kopf das Leiden verursacht habe. – Daraufhin verabfolgten wir Arnica D30. Nach dieser Arznei trat sehr bald Besserung ein. Der Schmerz erschien nur noch einmal und dann nie wieder.

Eine rheumatische Lähmung der Beine infolge von Erkältung und Unterdrückung des Fußschweißes heilten wir durch Silicea D30 und warme Fußbäder von trockener Roggenkleie. Nach Wiedereintritt des Fußschweißes schwand die Lähmung.

§ 16. Wenngleich die Wahl des Mittels die Hauptsache ist – denn das ähnlichste Mittel ist, selbst in den feinsten Gaben, das wirksamste, das weniger ähnliche ist auch in den gröbsten oder massivsten Gaben meist unwirksam oder dem Heilzwecke nicht entsprechend –, so ist doch die Wahl der Gabengröße nicht minder wichtig.

Wir unterscheiden nämlich niedere und höhere Gaben oder Potenzen. Zu den niederen oder tiefen Potenzen zählen wir die 1. bis etwa 6., zu den höheren die 12. bis 30. Potenz. Die Stufen zwischen der 6. und 12. Potenz bilden die mittleren Potenzen.

Nun ist die Frage: In welcher Stärke oder Potenz muß das Arzneimittel verabreicht werden, um damit eine dem Zweck entsprechende Wirkung zu erzielen, d. h. um damit sicher, schnell und sanft heilen zu können. Diese Frage hat schon zu Hahnemanns Zeit viele Streitigkeiten hervorgerufen und liegt zum Teil auch heute noch offen vor uns.

Hahnemann bediente sich anfangs unverdünnter oder nur schwach verdünnter Arzneimittel, fand aber später, daß diese bei vielen Kranken eine zu starke Erstverschlimmerung hervorriefen, und fing nun an, die Arzneien stufenweise zu verkleinern, wobei er fand, daß viele von ihnen, wie z. B. Kohle, Lycopodium, Kalkerde, Kochsalz, Kieselerde, die im rohen Zustande fast wirkungslos sind, erst in den höheren Verdünnungsstufen ihre spezifischen Kräfte entfalten, somit heilkräftiger werden. Daher nannte er seine Verdünnungen Kraftentwicklungen oder Potenzen und schlug später die 30. Potenz als die zweckmäßigste in allen Krankheitsfällen vor. Wenngleich wir uns von der Wirksamkeit höherer Potenzen, besonders bei den genannten Mitteln, genugsam überzeugt haben, so können wir uns doch nicht unbedingt in allen Krankheitsfällen und bei allen Arzneimitteln für die 30. Potenz entscheiden. Denn die Gabengröße hängt nicht allein ab von der Natur des Mittels, sondern auch von der Natur des Kranken und der Krankheit selbst im gegebenen Falle.

Rummel hat die Vorzüge und Eigentümlichkeiten der niederen und höheren Potenzen unter Gesetze zu bringen versucht, die wir ihres besonderen Interesses wegen und, soweit sie fernerer Prüfung wert sind, hier auszugsweise wiedergeben wollen. Er geht von der Ansicht aus, daß die Stärke der Einwirkung von der Natur der Arznei und der Höhe der Potenz, von letzterer insbesondere der Grad der Eindringlichkeit abhängt. Auf letztgenannten Umstand glauben auch wir den Hauptakzent legen zu müssen. Sie heißen:

Keine Potenz verdient in allen Fällen den Vorzug.

Alle Potenzen heilen Krankheiten, aber nicht jede Potenz heilt jede Krankheit.

Zwischen niederen und hohen Potenzen ist ein bemerkbarer Unterschied; allein es ist unmöglich zu bestimmen, wo die höhere bei einer Arznei beginnt. Die Mittelstufen liegen bei den einen Arzneien mehr nach oben, bei anderen mehr nach unten. Der Unterschied zwischen Urtinktur oder 1. Potenz und der 6. scheint größer als der zwischen dieser und der 30. oder einer noch höheren.

Es scheint richtig, daß niedere Potenzen einen Hauptangriff auf die ihnen verwandten Symptome und Organe machen und auf diese sich dann beschränken, daß dagegen die höheren mehr den Organismus in seiner Totalität ergreifen und umstimmen, und daß so die feinsten Eigentümlichkeiten zutage kommen.

Höhere Entwicklung der spezifischen Kräfte ist der wahre Sinn und die Bedeutung des Potenzierens. Wo man örtlich zerstören, betäuben, fehlende Bestandteile ersetzen will, kann von unseren Potenzen nicht die Rede sein.

In chronischen, langwierigen Krankheiten sind höhere Potenzen wegen ihrer eingreifenderen und nachhaltigeren Wirkung am empfehlenswertesten.

Manche Arzneien vertragen erfahrungsgemäß nicht höhere Verdünnungen, bzw. Verreibungen, z. B. Camphora, Moschus, Ferrum, daher wir diese Mittel nur in tieferen Potenzen (1. bis 3.) verabfolgen. Andere werden zwar durch Verdünnen, oder besser gesagt, Verschütteln, geschwächt, aber sie wirken dadurch flüchtiger, anregender und schneller. Hierher gehören die schon im rohen Zustande sehr energisch wirkenden Mittel: Acidum nitricum, Arsenicum, Belladonna, Bryonia, Nux vomica, Phosphorus, Rhus Toxicodendron und viele andere. – Wir verabfolgen diese gewöhnlich in mittleren Potenzen. Doch ist zu berücksichtigen die Individualität und die Natur der Krankheit. Nervöse und hysterische Personen vertragen sehr oft die höchsten Gaben, Frauen und Kinder mittlere, alte Personen niedere Gaben. Akute Krankheiten, deren Verlauf oft sehr rapid ist, bei denen auch der individuelle Charakter mehr zurücktritt, erheischen niedere Gaben; die chronischen Krankheiten, bei denen die Individualität mehr in den Vordergrund tritt, erfordern oft die höchsten Gaben.

§17. Ebenso wichtig wie die Gabengröße ist die Wiederholung der Arzneigaben. Viele Arzneien haben eine sehr flüchtige, oft nur Stunden anhaltende Wirkungsdauer und müssen schneller wiederholt werden. Hierher gehören: Camphora, Moschus, Laurocerasus, Ignatia, Ipecacuanha, Aconitum. Andere haben eine mittlere Wirkungsdauer, etwa 4, 6, 8 Tage. Die längste Wirkungsdauer besitzen die mineralischen Mittel, besonders Calcium, Silicea, Sulfur, Aurum, Graphites, Carbo. Ihre Wirkungsdauer erstreckt sich auf viele Wochen, ja unter Umständen selbst auf Monate. Rummel lehrt über das Verhältnis der Gabe und der Wiederholung folgendes:

Die Höhe der Potenz und die Wiederholung ergänzen sich gegenseitig und verhalten sich wie Raum und Zeit;

der erste Angriff ist der stärkste;

rasche Wiederholungen steigern die Wirkung bis auf einen gewissen Punkt (Kumulation), dann fällt sie;

schnell und flüchtig einwirkende Arzneien erfordern viel öftere Wiederholungen als langsam und tief eingreifende;

die niederen Potenzen können und müssen öfter wiederholt werden als die höheren. –

Die höheren Dynamisationen wirken im allgemeinen langsamer, aber bedeutend nachhaltiger und müssen daher seltener wiederholt werden als die den Urstoffen sich nähernden tieferen Potenzen, die zwar einen energischen Angriff machen, doch von kürzerer Wirkungsdauer sind und daher häufiger wiederholt werden müssen. Ganz bedeutend aber modifizieren die Wiederholung der Erfolg, den wir damit erzielen, und die Natur der zu heilenden Krankheit.

§ 18. Ein im Altertum begründeter und bis auf die neueste Zeit festgehaltener Unterschied, der von der Dauer der Krankheiten entnommen ist, ist der Unterschied der akuten und chronischen Krankheiten. Auch wir machen diesen Unterschied, dem in der Praxis manche praktische Seite abzugewinnen ist. Nach altherkömmlicher Bestimmung ist eine Krankheit akut, die entweder schnell zur Gesundheit oder schnell zum Tode führt; eine chronische diejenige, die weder schnelle Genesung, noch schnelles Sterben erwarten läßt.

Genau betrachtet ist es nicht allein die Dauer, wonach schon die Alten den Unterschied zwischen akuten und chronischen Krankheiten bestimmten, sondern zugleich auch Vorhandensein oder Fehlen des Fiebers. Und in der Tat muß man zugestehen, daß bei Gegenwart von Fieber die Krankheiten immer schneller verlaufen, als ohne Fieber, wenn sie nicht direkt tödlich verlaufen, wie Schlagflüsse; und selbst chronische Krankheiten werden durch Hinzutreten von Fieber schneller verlaufen.

Im allgemeinen können wir sagen, daß der Unterschied von akuten und chronischen Krankheiten hauptsächlich durch die Natur der allgemeinen Reaktionen im Gefäß- und Nervensystem, also durch den Abwehrprozeß (das aufstehende Leben tritt der Krankheit, dem Tode in der Keimbildung, entgegen) bedingt ist. Je heftiger die Reaktionen, desto akuter die Krankheiten; je geringer, desto mehr wird der Verlauf chronisch.

§ 19. In chronischen Krankheiten dürfen die Arzneigaben nicht zu oft wiederholt werden. Diese Regel gilt hauptsächlich da, wo wir höhere Potenzen (12. bis 30.) anwenden und die Natur der Krankheit einen den Organismus unterminierenden, tödlichen Verlauf ausschließt. Hierher gehören eine große Anzahl Nervenkrankheiten, Kopfschmerzen, Hautleiden, Flechten, Warzen, Polypen usf. Einige Krankheitsfälle, statt vieler, mögen hier als Beispiel dienen:

Der Lazarettwärter S. in Insterburg litt seit 15 Jahren an einem Nasenpolyp, der, obgleich schon oft operiert, sich immer wieder von neuem vorfand; dabei Schwindel und Kopfschmerzen auf dem Oberkopfe und arges Kältegefühl daselbst; Magendrücken nach jedem Essen mit öfterem Aufschwulken des Genossenen, Kriebeln in den Finger- und Zehenspitzen; harter und seltener Stuhlgang.

Ich verabfolgte zunächst Nux vomica D8, worauf sehr bald das Magendrücken und Aufschwulken sowie der harte Stuhl und das Kriebeln in den Extremitäten beseitigt wurde. Dann verabfolgte ich nach 2 Wochen Calcium carbonicum in 30. Potenz. Von diesem Mittel ließ ich an drei aufeinanderfolgenden Tagen morgens und abends je 6 Streukügelchen, in 1 Eßlöffel voll Wasser gut aufgelöst, einnehmen. Anfangs vergrößerte sich der Polyp, wurde aber nach etwa 2 Monaten, während welcher Zeit ich das Mittel von 8 zu 8 Tagen wiederholen ließ, allmählich kleiner und war nach 5 Monaten nicht mehr vorhanden.

Herr Eduard T. aus Gera, 18 Jahre alt und von sehr zarter, schwächlicher Konstitution, konsultierte mich im Juli wegen Heiserkeit. Er hatte schon seit einem halben Jahre verschiedene Ärzte ohne jeden Erfolg gebraucht, war fast stimmlos und daher kaum zu verstehen. Die Untersuchung ergab bedeutende Entzündung und Geschwulst der oberen Stimmbänder. Nachdem ich Bryonia D6 10 Tage hindurch verabfolgt hatte, war noch keine Besserung eingetreten. Hepar sulfuris D3, morgens und abends 1 Pulver, besserte den Zustand innerhalb 14 Tagen so weit, daß die Stimme etwas klangvoller wurde. Da verabfolgte ich Phosphorus in 30. Potenz. Von diesem Mittel ließ ich 20 bis 30 Streukügelchen in 6 Eßlöffel voll Wasser auflösen und in einem Tage verbrauchen. Diese Gabe ließ ich 6 Tage hindurch wiederholen und dann eine Pause von 14 Tagen eintreten. Darauf besserte sich die Heiserkeit zusehends, so daß sich mir der junge Mann im September desselben Jahres als vollständig geheilt vorstellte.

Der Sohn des Herrn B. in Baltimore, 5 Jahre alt, litt seit frühester Kindheit an einem flechtenartigen, sehr nässenden Ausschlag, der den ganzen Haarkopf sowie das Gesicht und die meisten übrigen Stellen des Körpers eingenommen hatte, starkes Jucken verursachte und dem Kinde ein abschreckendes Aussehen verlieh. Die Eltern hatten bereits seit Jahren verschiedene Ärzte vergeblich gebraucht, als sie von der Homöopathie hörten und mich um Rat ersuchten. – Ich verabfolgte am 24. Dezember 6 mit  Sulfur D30 armierte Pulver und ließ davon täglich 1 Pulver, in 1 Eßlöffel voll Wasser aufgelöst, verbrauchen, worauf ich die Nachwirkung ruhig abwartete. Nach 4 Wochen wurde der Ausschlag bedeutend stärker, in der 6. Woche lösten sich jedoch schon einige Schorfe ab, und es trat reine, gute Haut hervor; die Besserung schritt nun von Tag zu Tag vorwärts, und nach 4 Monaten war das Kind, zu seiner Eltern Freude, von allem Ausschlage befreit.

Rudolph Stadie, Pflegesohn des Herrn Lehrer Kall in Schaberau bei Tapiau, 15 Jahre alt, litt nach einem Falle an linksseitiger Ausbeugung der Wirbelsäule und Rippenverkrümmung. Am 15. Mai verabfolgte ich Sulfur D30 in Gaben von 8 zu 8 Tagen und verharrte bei dieser Gabe 8 Monate hindurch. Im Januar erhielt ich von seinem Vater folgenden Brief:

»Mit großer Freude ergreife ich heute die Feder, um Ew. Hochwohlgeboren mitzuteilen, daß, nachdem die Sendung Ihrer letzten Pulver verbraucht, sich der Zustand meines Sohnes auf das Erfreulichste verändert hat. Die Rückgratsverkrümmung ist vollständig verschwunden, ebenso die Erhöhung des linken Rippenkorbes; auch finde ich, daß Rudolph jetzt weit munterer und geistesfroher ist, als früher. Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich über diese herrliche und wirklich wunderbare Veränderung seines Zustandes freue.

Ihnen meine Freude mit Worten zu schildern und Ihnen in entsprechender Weise meinen Dank abzustatten, vermag ich nicht. Möge Ihnen der Herr Ihre große Liebe vergelten! Mit den herzlichsten und besten Wünschen verbleibe ich hochachtungsvoll

Kall, Lehrer.«

Umgehung einer Amputation. Am 15. Juli besuchte mich, in Begleitung eines jungen Mannes, der Kupferschmiedemstr. Wilh. Eckardt, 51 Jahre alt, aus Jena. E., auf zwei hohe Krücken gestützt, nahm Platz und zeigte mir, nach Entfernung vieler Bandagen, seinen linken Fuß, der sehr stark geschwollen und entzündet war und bei der geringsten Berührung derartig schmerzte, daß an ein Durchfühlen auf den Fußrücken gar nicht zu denken war. Die Diagnose des Jenenser Professors lautete auf Knochentuberkulose und daher schleunige Amputation des Fußes. Auch wurde Gehirnarterienverkalkung festgestellt, da Patient über starke Schwindelanfälle klagte. – Demnach war der Fall äußerst bedenklich, und nur auf dringendes Bitten übernahm ich die Behandlung. Ich verabfolgte Belladonna D12 und Silicea D30 in zweistündlichem Wechsel und erzielte damit baldigen Nachlaß der Schmerzen und ruhige Nächte. Nach 8 Wochen besuchte mich Herr Eckardt ohne Begleitung und nur auf eine Krücke gestützt. Die Mittel wurden nun seltener, in Pausen von 3 zu 3 Tagen, verabfolgt. Am 15. November besuchte mich abermals Herr Eckardt ohne Krücken, klagte aber noch über Spannen im Wadenmuskel und Kältegefühl im Schienbein, freute sich jedoch, daß ihn der Schwindel vollständig verlassen hatte. Nach Rhus Toxicodendron D10 und Calcium phosphoricum D30 wurden auch diese Beschwerden beseitigt. – Diese Heilung erregte in Jena großes Aufsehen.

Dieses Beispiel beweist, wie wenig es nützt, in zu rascher Folge die Arzneien zu verabreichen. Auch soll man sich nie irreführen lassen, wenn nach einer augenblicklichen Besserung wieder eine Verschlimmerung eintritt. Bei vielen Arzneien bessern sich anfangs die Zustände; dann kommt mitunter noch eine Verschlimmerung, der, wenn sie ruhig abgewartet wird, die Heilung folgt.

§ 20. Gewöhnlich warten wir in chronischen Krankheiten, jedoch nur, wenn wir die Arzneien in höheren Potenzen verabfolgen, nach 6- bis 8tägigem Gebrauch, 1 bis 2 Wochen ihre Nachwirkung ab; besonders wenn wir die sog. antipsorischen oder antidyskrasischen Mittel: Sulfur, Calcium, Silicea, Graphites usw. darreichen; hierbei immer so lange, als die Besserung vorwärts schreitet. Übrigens möge niemand vergessen, daß es nie die direkte Wirkung des Mittels ist, die die Heilung vollbringt, sondern die durch dieses zur Reaktion angeregte Naturheilkraft. In diesem Sinne sagt schon Hippokrates: Nicht der Arzt, sondern die Natur heilt. Die wirkliche Heilkunde kann nur darin bestehen, die Naturheilkraft zu unterstützen. Daraus folgt:

daß die Arznei in den kleinsten, feinsten Gaben verabfolgt werden muß, weil diese erfahrungsgemäß von tieferer Eindringlichkeit sind und nachhaltiger wirken als massive Gaben;

daß in chronischen Fällen das einmal verabfolgte Arzneimittel nicht zu oft wiederholt werden darf. Nur da, wo tiefe Potenzen verabfolgt werden, sind häufige Wiederholungen notwendig;

sobald die Krankheit nach Anwendung eines Arzneimittels keine Fortschritte mehr macht, d. h. wenn der Heilprozeß stillsteht, dann ist von diesem Mittel nichts mehr zu erwarten;

solange aber nach Anwendung eines Mittels die Heilkraft der Natur der Krankheit günstig entgegenwirkt, warte man ruhig ab; ein ungeduldiges Der-Natur-Vorgreifen durch neue Mittel leitet diese vom Wege der Heilung ab, und das Ziel bleibt unerreicht;

tritt keine Befindensveränderung nach dem Gebrauch des verabreichten Mittels ein, so greife man, nachdem man den Zeitraum verstreichen ließ, der in Abteilung I (Charakteristische Eigentümlichkeiten der wichtigsten homöopathischen Arzneimittel) bei jedem einzelnen Mittel unter »Wirkungsdauer in chronischen Fällen« angegeben ist, zu einem neuen Mittel;

nur das homöopathisch richtig gewählte Mittel wird die Krankheit beseitigen. Ist dieses aufgefunden, so merke man als erste und Hauptregel: Je weniger Arzneimittel man zur Heilung einer chronischen Krankheit bedarf und je seltener man mit ihnen wechselt, desto besser ist es. Es ist sehr oft erforderlich, wie ich das in letzter Zeit selbst erfahren habe, auch bei chronischen Krankheiten täglich, oder doch in Pausen von 2 bis 3 Tagen, die Arznei zu wiederholen. Auf diese Weise geht man am sichersten; man verharre aber bei dem möglichst richtig gewählten Mittel so lange, bis die Besserung vorwärtsschreitet. Nie greife man vorschnell zu einem neuen Mittel.

Tritt während der Behandlung einer chronischen Krankheit eine akute auf, so muß diese zunächst behandelt und beseitigt werden; dann erst schreiten wir wieder zur Behandlung der früheren, chronischen Krankheit. Übrigens schaden erforderlichenfalls bei Fieber- oder Schwächezuständen Zwischengaben von Aconitum, China oder Acidum phosphoricum nichts, sie können sogar von großem Nutzen sein.

§ 21. Jede akute Krankheit ist von mehr oder weniger heftigem Fieber begleitet. Am akutesten verlaufen gewisse lokale Entzündungen und die sog. Infektionskrankheiten.

Entzündet nennt man denjenigen Zustand eines Körperteils, bei dem dieser der Sitz eines, besonders vom Blutsystem aus bedingten, krankhaft erhöhten Lebensprozesses wird, der sich meistenteils durch Schmerz, Röte, erhöhte Wärme, Geschwulst und in Verhinderung, Erschwerung und Veränderung der Tätigkeit des betreffenden Teiles zeigt. Eine jede nur einigermaßen bedeutende Entzündung ist mit einem ihrem Grade und ihrer Art entsprechenden Fieber verbunden.

Infektionskrankheiten sind ansteckende Krankheiten, die entweder durch fremdartige Bestandteile in der Luft, wie die Miasmen, oder durch ein Individuum auf ein anderes, wie die Contagien, verbreitet werden. Über die Natur der Ansteckungsstoffe ist uns nur wenig bekannt. Es sind dies Pilze, Vibrionen, Bakterien, Mikrokokken usf. Zu den Infektionskrankheiten gehören die große Anzahl epidemischer Krankheiten: Cholera, Typhus, Diphtherie usw., und die akuten Exantheme: Scharlach, Masern, Pocken u. dgl. Alle diese Krankheiten sind von heftigen Fiebererregungen begleitet.

Je akuter oder heftiger nun eine Krankheit auftritt, desto schneller verabfolgen wir die Arznei, die wir in solchen Fällen auch in tieferen Potenzen (in der 3., 6., 8.) darreichen. Wir verrühren entweder 8 bis 10 Tropfen oder 20 bis 30 Streukügelchen des betreffenden Mittels in 6 Eßlöffel Wasser und verabfolgen davon ½- oder, 1- bis 2stündlich, 1 Eßlöffel voll. – Bei kleinen Kindern nehmen wir weniger Arznei und nur 2 bis 3 Eßlöffel Wasser und reichen hiervon teelöffelweise. – Bessert das Mittel, wie z. B. bei der Lungen-, Brustfell- oder Gehirnhautentzündung in 8, 12 oder 24 Stunden den Zustand nicht, oder tritt die Krankheit in ein anderes Stadium, dann rufen wir, wenn nicht schon früher, sachkundige Hilfe und greifen bis zu ihrem Erscheinen zu einem anderen Mittel, wie es die Umstände und die vorhandenen Symptome erfordern. In den Fällen, in denen wir Verreibungen verabfolgen, geben wir meist von der 3. Decimalverreibung 2- bis 3stündlich 2 dg, mithin etwa so viel wie eine gehäufte Federmesserspitze, in etwas Wasser verrührt, auf einmal.

§ 22.  Erhöhte Körpertemperatur und vermehrter Pulsschlag sind notwendige Erscheinungen des Fiebers.

Die Temperatur ist normal bei 36,0 bis 37,2 °C, in der Achselhöhle gemessen, kann aber steigen bis 40 °C und in lebensgefährlichen Krankheiten bis über 42 °C. Dieses ist die höchste Temperatur und zeigt erhebliche Lebensgefahr an.

Die Kenntnis des Pulsschlages ist ebenfalls von Wichtigkeit. An den Gliedmaßen wird der Puls gewöhnlich und am deutlichsten an der Beugeseite der Handwurzel, im Verlaufe der Arteria radialis, gefühlt.

Die Verschiedenheiten, die am Pulse wahrgenommen werden, beziehen sich auf Häufigkeit, Regelmäßigkeit, Dauer, Stärke und Rhythmus der einzelnen Schläge, sowie auf das Gefühl von Vollheit, Gespanntheit, Größe, Bewegung, das sie erzeugen.

Im gesunden Zustande schlägt der Puls beim erwachsenen Menschen 70- bis 75mal in der Minute, im Knabenalter 80, beim Zahnwechsel 85, im ersten Lebensjahre 100- bis 115mal. Steigt in Krankheiten, ohne weitere Veränderung, die Zahl der Schläge über diese Normalzahlen, so nennt man den Puls häufig ( Pulsus frequens), und wenn die Schläge unter die Normalzahlen sinken, so nennt man dies einen seltenen Puls ( Pulsus rarus). Diese Veränderungen zeigen nichts als eine quantitative Vermehrung oder Verminderung, eine Aufregung oder Ruhe der Herztätigkeit an, ohne daß auf eine sonstige Abweichung zu schließen wäre. Der Pulsus frequens an sich ist noch nicht krankhaft, er wird es erst durch andere noch hinzutretende Eigenschaften.

Im allgemeinen gilt folgendes:

Häufiger oder äußerst häufiger Puls (in der Minute 130 Schläge und mehr, die jedoch bis 180 und darüber zu zählen sind) bedeutet große Schwäche mit erhöhter Reizbarkeit, namentlich Entzündungen und Fieber bei sehr gesunkenen Kräften.

Häufiger und starker Puls bezeichnet Reizzustände, Entzündungen, Fieber bei aufgeregten Kräften, Körper- und Gemütsbewegungen.

Häufiger und kleiner Puls bezeichnet Reizzustände, Entzündungen, Fieber bei aufgeregten Kräften, Nervenfieber, Faulfieber, Ileus, Brand usw. im letzten Stadium.

Zitternder Puls (äußerst häufig, klein und schwach, durch zitternde Bewegung des Herzens veranlaßt) bezeichnet Fieber bei sehr gesunkenen Kräften, Herzkrampf, nahen Tod.

Bei sensitiven, d. h. für odische Einflüsse empfänglichen Patienten, kommt viel darauf an, welche Handpaarung der Untersuchende dem Kranken beim Pulsführen bietet. Gleiche Handpaarungen werden von Sensitiven entschieden nicht vertragen. Er ergreife daher mit der rechten die linke oder mit der linken die rechte Hand des Patienten und verweile nicht zu lange beim Pulsfühlen. Ein Mensch, der den mächtigen Einfluß des Odes nicht kennt und nicht einmal weiß, wie er sich am Bette des Kranken zu verhalten hat, spielt jedenfalls am Krankenbette eines Sensitiven eine klägliche Rolle.


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