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Marie de France

Von dem Arzte und dem schwangeren Mädchen

Ein Bürger wurde krank und begnügte sich damit, einige Tage das Bett zu hüten, indem er sich allein von seiner Tochter pflegen ließ. Endlich jedoch, als er das Übel schlimmer werden fühlte, ließ er einen Arzt holen. Dieser ließ ihn zur Ader und trug dem Mädchen auf, das Blut aufzubewahren, damit er bei seiner Rückkehr, wenn das Blut erkaltet sei, sehen könne, woher die Krankheit komme. Der größeren Sicherheit halber trug die Tochter die Schale mit dem Blut in ihre Kammer und setzte sie, gut zugedeckt, auf eine Bank. Im nächsten Augenblick jedoch dachte die Unbesonnene schon nicht mehr daran, und das erste, was sie tat, als sie in ihre Kammer zurückkehrte, war, daß sie die ganze Geschichte umstieß und zu Boden warf.

Wie sollte sie es nun anstellen, um nicht ausgescholten zu werden? Sie fand keinen bessren Ausweg, als sich ihrerseits von einer andern Person die Ader schlagen zu lassen und dem Arzte, wenn er wieder kommen würde, dieses Blut anstatt des väterlichen zu bringen. So machte sie es denn auch. Der Äskulap roch jedoch den Braten und wollte das Fräulein dafür bestrafen. »Dies Blut hier«, sagte er zum Vater gewandt, »gibt mir gute Hoffnungen für Euch; es zeigt mir an, daß Ihr bald ein Kind mehr Euer eigen nennen werdet.«

Die Verblüffung des wackeren Mannes bei diesen Worten war nicht gering, und mit um so größerem Recht, als er Witwer war. Er bat um eine Erklärung, während das Mädchen über und über rot wurde. Der Arzt setzte ihm auseinander, was das Blut ihm verriet, und die Tochter, genötigt die Wahrheit einzugestehen, gab zu, daß das Horoskop des Arztes sich drei Monate später bewahrheiten müße.


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