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Einleitung

In den Jahrhunderten, die der Renaissance voraufgingen, war die Bedeutung des Arztes für das Volk gleich Null. Abgesehen von den arabischen und jüdischen Ärzten, die sich die Kaiser, Könige, Päpste und reichsten Barone im Mittelalter für schweres Geld aus Kairo, Salerno oder aus Toledo, der Stadt der Magier, verschrieben, wurde die Medizin nur an den Kirchentüren und Klosterpforten ausgeübt – durch Besprengung mit Weihwasser, Salben mit Chrisam, Handauflegen, Formeln und dergleichen.

Wenn der Priester ursprünglich Arzt gewesen war und über eine ausgebreitete Heil- und Zaubermittelkenntnis verfügt hatte, so war er jetzt in seiner angstvollen Abgewandtheit von der angeblich unreinen, dämonischen Natur ein Prediger der Resignation, dessen theurgische Therapie nur auf die Beseitigung der dämonischen Einwirkung gerichtet war, die er als einzige Krankheitsursache ansah. Wer durch sie nicht geheilt wurde, der hatte eben den Glauben nicht. Im übrigen war das Leben ja eine Prüfung; jede Abkürzung desselben mußte daher willkommen geheißen werden.

Die Zahl dieser Nichtgeheilten – man denke an die ungeheure Verbreitung der Hautkrankheiten im 13., an die Epilepsie (Veitstanz) und die Pest im 14. Jahrhundert – war aber Legion. Woher sollte ihnen Hilfe kommen, wenn sie sich die von der Kirche gepredigte Resignation nicht zu eigen machten?

Bis an die Schwelle der Renaissance – dieser Wiedergeburt zur Natur und Abkehr von der Resignation – hatte das Volk nur einen wirklichen Arzt – keinen gelehrten, talarierten freilich, aber einen naturheilkundigen, empirischen: die weise Frau, wie ihre Anhänger, die Hexe, wie ihre Feinde sie nannten. Die Kirche hatte sie durch ihre Verachtung der Natur und ihrer Hilfsmittel, durch ihre Verfolgung der Vernunft, selber geschaffen. »Von wann datiert die Hexe?« fragt Michelet. »Von den Zeiten der Verzweiflung, der tiefen Verzweiflung, welche die Welt der Kirche geschaffen hatte«, antwortet er und betont: »Ich sage ohne Zögern: Die Hexe ist ihr Verbrechen.«

Außerhalb der Klosterschule, in der die Logik und die freie Vernunft erstickt wurden, entstand die Schule der Natur, in welcher die Hexe und der Hirte ihre Beobachtungen machten und ihre Erfahrungen sammelten. Hier begannen die schlimmen Wissenschaften, die verbotene Pharmazie der Gifte (Belladonna!) und die verabscheuungswürdige Anatomie: Der Hirte verdankte seine Rezepte der Beobachtung des Himmels, des Wetters und der Tiere. Die Hexe, seine Schülerin, schleppte vom nahen Friedhof einen gestohlenen Leichnam herbei und zum erstenmal konnte man dies Wunder Gottes betrachten. Ihnen gesellte sich zuweilen ein Dritter, der Chirurg und Veterinär jener liebenswürdigen Zeiten, der Henker, der Mann mit der flinken Hand, der sich des schneidenden Eisens mit unfehlbarer Sicherheit zu bedienen wußte, die Knochen zerbrach und sie wieder einzurichten verstand, der tötete und bisweilen rettete, indem er nur bis zu einem gewissen Punkte henkte.

Die Erfolge dieses Kleeblattes zwangen ihre Konkurrentin zu studieren. Man wollte doch leben. Alles wäre der Hexe zugefallen; man hätte dafür immer dem Arzte den Rücken gekehrt. Die Kirche mußte dulden und gestatten, was in ihren Augen Verbrechen war. Sie bewaffnete gegen die Hexe den Arzt. So tief sie ihn haßte, begründete sie nichtsdestoweniger sein Monopol, zur Austilgung der Hexe. Sie erklärte – im 14. Jahrhundert – wenn die Frau es wagte zu heilen, ohne studiert zu haben, so sei sie Hexe und des Todes schuldig. Aber wie sollte sie öffentlich studieren?

Die Kirche mußt zugeben, daß es nützliche Gifte gebe (Grillandus). Sie ließ notgedrungen öffentlich sezieren. Im Jahre 1306 öffnet und zergliedert der Italiener Mondino eine Frau, 1315 noch eine. Eine Welt ward entdeckt, wichtiger als die von Columbus ersegelte.

Als der große und mächtige Doktor der Renaissance, Paracelsus, im Jahre 1527 zu Basel die gelehrten Bücher der gesamten alten Medizin verbrannte, die griechischen, jüdischen und arabischen, die Werke der Hippokrates, Galen, Aristoteles, Maimonides, Rhasis, Dschaffar, Ebn Sina, Avicenna, Averroes, Mesuë, erklärte er, nur aus der Volksmedizin etwas gelernt zu haben, von den weisen Frauen, den Hirten und Henkern.

»Wenn ich«, sagte Michelet, »die sehr schönen Werke lese, die man in unsern Tagen über die Geschichte der Wissenschaft geschrieben hat, versetzt mich ein Umstand in Erstaunen: man scheint zu glauben, daß alles von den Gelehrten gefunden worden sei, diesen Halb-Scholastikern, die jeden Augenblick durch ihren Talar, ihre Dogmen, die beklagenswerten geistigen Gewohnheiten gehemmt wurden, die ihnen die Schule gab. Und sie, die frei von diesen einhergingen, die Hexen, sollten nichts gefunden haben? Das wäre unwahrscheinlich. Paracelsus sagt das Gegenteil. In dem Wenigen, was man von ihren Rezepten weiß, steckt außerordentlich viel gesunder Menschenverstand. Noch heute betrachtet man die von ihnen so viel verwandten Solaneen als das Spezialheilmittel für die große Seuche, welche die Welt im 14. Jahrhundert bedrohte. Es hat mich überrascht, bei Coste (Hist. du Dével. des corps, t. II, p. 55) zu sehen, daß Paul Dubois' Ansicht über die Wirkungen des Eiswassers in einem gewissen Augenblick genau der Praxis der Hexen am Sabbat entsprach. Man sehe sich dagegen die törichten Rezepte der großen Doktoren jener Zeit an, die wunderbaren Wirkungen des Maultierurins usw. (Agrippa, De occulta philosophia, t. II, p. 24, éd. Lugduni).«

Es könnte wunder nehmen, daß in allen den ernsten und lustigen Geschichten, die im folgenden mitgeteilt werden, nur ein einziges Mal von einer jener hilfreichen Frauen die Rede ist, die für das niedere Volk und gewiß auch für die meisten Frauen des Bürgertums, die einzigen eigentlichen Verwalter der Heilkunde waren. Dieses Schweigen erklärt sich indes unschwer aus der Scheu vor der Saga und aus der Heimlichkeit, mit der ihre Dienste in Anspruch genommen wurden. Wie leicht konnte man in den Verdacht kommen, sich einen Liebestrank haben brauen oder einen Zauber gegen eine gehaßte Person bereiten lassen!

Die meisten dieser hundert und mehr Arztgeschichten sprechen nicht mit sonderlicher Hochachtung von den Jüngern des Asklepios. Es mag oft schlecht genug um ihre Wissenschaft bestellt gewesen sein. Die im 8. und 9. Jahrhundert entstandenen Rezeptsammlungen, das eine oder andere der von Paracelsus verworfenen Bücher, bildeten häufig das einzige Fundament ihrer medizinischen Kenntnisse. Dazu kam, daß es – wenigstens in Italien – offenbar sehr leicht war, sich als Arzt auszugeben, trotz der Fakultäten von Padua und Pavia, Bologna und Salerno.

Misero me, che ciascun Pedantuzzo,
che apena sa la Janua drittamente,
di Medico portar vuol il Capuzzo!

klagt der venezianische Arzt und Dichter Cynthio degli Fabritii 1526. Der Ruhm der Fakultäten kam auch den Dilettanten und Pfuschern zugute und verschaffte ihnen Zulauf.

Aber nicht nur in den Novellen und Schwänken werden die Ärzte durch den Kamm gezogen. Die gründlichste Auseinandersetzung mit ihnen finden wir bei Montaigne, im 37. Kapitel des II. Buches seines Essais (1580), wo er übrigens betont, daß Plinius und Celsus noch weit unsanfter von ihrer Kunst sprechen als er selbst. Der in der Hauptsache kurzweilige Charakter dieser Sammlung erlaubt es nicht, diese sehr eingehenden und ernsthaften Ausführungen wiederzugeben; mehr entspricht ihr der von bezeichnenden Geschichtchen durchsetzte Exkurs seines Zeitgenossen Henri Estienne, der hier folgen möge.

Nachdem der gelehrte Moralist den Apothekern gehörig den Kümmel gerieben, fährt er fort: »Ich fürchte in den Verdacht des heimlichen Einverständnisses mit den Ärzten zu geraten, wenn ich gar nichts über sie sage, nachdem ich mich so ausgiebig über die Apotheker verbreitet habe. Um also einem solchen Verdacht vorzubeugen, will ich auch von den Ärzten sprechen und mit einer Geschichte beginnen, die einmal zu Paris im Hause meines verstorbenen Vaters in sehr guter Gesellschaft von einem Doktor der Medizin erzählt wurde. Dieser Mann erfreute sich eines guten Rufes, verlor davon aber einen guten Teil bei allen denen, die seine Geschichte mit anhörten. ›Ich behandelte, sagte er, einen dicken Abt und hatte meine Schuldigkeit an ihm so gut getan, daß ich ihn in wenigen Tagen wieder auf die Beine gebracht hatte. Ich machte nun die Beobachtung, daß, während er mir im bedenklichen Stadium seiner Krankheit goldene Berge versprach, er mich bei fortschreitender Besserung mit wenig wohlwollenden Blicken anzusehen schien und kein Wort mehr davon sprach, mich für meine Bemühungen zu entschädigen. Ich wandte daher folgendes Mittel an, um zu meinem Gelde zu kommen: ich gab ihm zu verstehen, ich besorge sehr einen Rückfall, der sich noch schlimmer gestalten würde als die Krankheit selbst und für den bereits ernsthafte Anzeichen vorlägen, er müsse daher noch eine Medizin nehmen. Diese ließ ich ihm derart bereiten, daß er ungefähr zwei Stunden nach dem Einnehmen fand, er habe die Rechnung ohne den Wirt gemacht und bedürfe meiner mehr denn zuvor. In dieser beängstigenden Lage schickte er einen Boten um den andern zu mir, doch wie er zuvor den Vergeßlichen in bezug auf meine Entschädigung gespielt hatte, so spielte ich jetzt den Verhinderten. Endlich sandte er mir einen Diener, der mir eine hübsche Summe aushändigte und mich bat, ihn doch um Gottes willen zu besuchen, da er fürchte, nicht mit dem Leben davonzukommen. Da dieser Diener das wahre Mittel angewandt hatte, meine Verhinderung zu beseitigen, erreichte er, daß ich ihn besuchte, und nach drei Tagen brachte ich es dahin, daß er wieder munter und guter Dinge war, worauf er mich abermals reichlich belohnte.‹

Dies – fährt Estienne fort – die beinahe wörtliche Erzählung eines Arztes, der nicht daran dachte, daß er dadurch seinen Ruf so stark schädigte, wie sich nachher herausstellte. Diese Schädigung war so groß, daß er sich lieber fünfzigmal auf die Zunge gebissen hätte, als daß ihm ein Wort davon entschlüpft wäre. Da aber seine Zuhörer den Mönchen keineswegs wohl wollten, hatte er darauf vertraut, sie würden die mala fides nicht merken, deren er sich jenem Abte gegenüber schuldig gemacht hatte und würden nur darüber lachen. Gott erlaubte jedoch nicht, daß dieses Zeugnis, das er wider sich selbst abgelegt, zu Boden falle und sorgte dafür, daß es sorgsam aufgenommen wurde. Ihr mögt euch nun eure Gedanken darüber machen, liebe Leser, in wie viele Gefahren die armen Patienten geraten, wenn sie in die Hände solcher Leute fallen. Denn wenn sie schon in Anwendung alles ihres ärztlichen Wissens guten Glaubens fehlgreifen, wo sie das Richtige zu treffen glauben, und ihre Fehler erst merken, wenn die Patienten schon im Jenseits sind, was soll dann erst passieren, wenn sie plötzlich das Leben der in ihren Händen Befindlichen aufs Spiel setzen, um die Wirkung irgendwelcher paradoxer Rezepte zu erproben, die sie nächtlicherweile ausgeheckt haben, und – was noch schlimmer – wenn sie die Lust anwandelt, sich an denen zu rächen, die sie in ihrer Gewalt haben, wie der Barbier an denjenigen, denen er das Rasiermesser an die Kehle setzt? Aber ich lasse diesen Punkt auf sich beruhen, da er mehr in das Kapitel über die Morde als in die Abhandlung über die Diebstähle gehört. Es soll mir genügen, von denjenigen zu sprechen, welche die Friedhöfe um so buckliger machen, je dicker die Geschwüre sind, die sie an ihren Geldbörsen entstehen lassen, von denjenigen, die ihre Unwissenheit durch Dünkel und Unverschämtheit verdecken. Denn ich glaube, daß unser Jahrhundert und sein nächster Nachbar in verschiedenen Ärzten größte Beispiele von Habgier und Unwissenheit liefern werden als irgendeines der voraufgegangenen.

Was nun zunächst die Habgier anlangt – wo lesen wir das von einer, die der eines gewissen Petrus von Apona oder Petrus Apenus gleichkäme, der Professor der Medizin in Bologna, der Fetten, war? So oft dieser nämlich die Stadt verließ, um einen Kranken zu besuchen, ließ er sich fünfzig Taler für den Tag bezahlen. Dabei fällt mir ein, was Philipp de Commines von einem Arzte Ludwigs XI., namens Meister Jacques Cottier erzählt. Ich will die eigenen Worte dieses Geschichtschreibers anführen, der, wie wir wissen, alle überragt, die über die Geschichte Frankreichs geschrieben haben: »Ludwig XI.«, sagt er, »hatte einen Arzt namens Meister Jacques Cottier, dem er in fünf Monaten 54 000 Taler in bar gab, das macht 10 000 Taler monatlich und 4000 noch darüber; dazu das Bistum Amiens für seinen Neffen und andere Ämter und Ländereien für sich und seine Freunde. Besagter Arzt war gegen ihn sehr grob und gebrauchte ihm gegenüber so beleidigende Worte, wie ein Herr sie einem Diener gegenüber nie gebrauchen würde. Und so sehr fürchtete ihn der genannte König, daß er nicht gewagt hätte, ihn fortzuschicken, und sich bei allen, mit denen er über ihn sprach, darüber beklagte. Er hätte sich aber nicht getraut zu wechseln, wie er es mit allen anderen Dienern tat; denn genannter Arzt hatte vermessenerweise zu ihm gesagt: ›Ich weiß wohl, daß Ihr mich eines Tages davonschicken werdet, wie Ihr es mit andern macht, aber – und hier schwor er einen starken Eid – Ihr würdet danach keine 8 Tage mehr leben!‹ Dieses Wort erschreckte ihn sehr, so daß er für diesen Mann, der für ihn ein so großes Fegefeuer auf dieser Welt war (in anbetracht des unbedingten Gehorsams, in dem er so viele wackere und große Männer zu erhalten gewußt), nur noch Schmeicheleien und Geschenke hatte.«

Diese beiden Beispiele, fährt Estienne fort, werden uns davor bewahren, über das erstaunt zu sein, was Froissart von einem Arzte namens Meister Guillaume de Harsely erzählt, der König Karl VI. heilte und ihm seinen Verstand und seine Gesundheit wiederverschaffte. Nachdem er von der schönen Kur gesprochen, die diesem Arzte gelungen war, sagte er: »Es wurde nun für ersprießlich angesehen und beschlossen, diesen Meister Guillaume de Harsely am Hofe zu behalten und ihm soviel zu geben, daß er zufrieden sein würde. Denn darauf zielen die Ärzte ja stets ab: große Honorare und Vorteile von den hohen Herren und Damen zu erlangen, die sie besuchen. Er wurde also ersucht und gebeten, beim Könige zu bleiben. Er entschuldigte sich jedoch angelegentlichst und sagte, er sei ein alter, schwacher und leistungsunfähiger Mann, könne die Lebensweise des Hofes nicht vertragen und möchte binnen kurzem wieder zu seiner gewohnten Diät zurückkehren. Als man sah, daß er auf seinem Sinne beharrte, wollte man ihn nicht halten und ließ ihn ziehen. Bei seiner Abreise gab man ihm aber tausend Goldkronen und eine Urkunde des Inhalts, daß ihm vier Pferde gestellt werden sollten, so oft es ihm gefalle, der Residenz des Königs einen Besuch abzustatten. Ich glaube, daß er niemals dorthin zurückkehrte. Denn als er nach der Stadt Laon gekommen war, wo er sich für gewöhnlich aufhielt, starb er als sehr reicher Mann mit einem Barvermögen von gut 30 000 Francs. Er war der knausrigste Mann, der zu seiner Zeit bekannt war und sein größtes Vergnügen war, zeitlebens einen großen Guldensegen zu ernten. Daheim gab er täglich nur zwei Pariser Sous aus und aß und trank, indem er sich zu Gaste lud, wo er konnte, umsonst. Mit solchen Ruten werden alle Ärzte gezüchtigt.« Wenn wir aber, fährt Estienne fort, von einem Arzte sprechen wollen, der an Habgier nicht alle Ärzte übertroffen hat, die es je gegeben, sondern vielleicht alle Habsüchtigen, von denen man je hat sprechen hören, so brauchen wir nicht gar weit zu gehen, sondern können von einem reden, der erst vor ungefähr 9 oder 10 Jahren gestorben ist. Er hieß Jacobus Sylvius, und ich begnüge mich, einen einzigen Zug seiner Habgier anzuführen, der einen hinlänglichen Begriff von ihr geben kann. Gott hatte diesem Manne ein sehr umfassendes und tiefes medizinisches Wissen verliehen und ihn vor allem mit dem Vorzug ausgestattet, daß er seine Wissenschaft im besten Latein vom Katheder verkünden konnte. Kurz, dieser Arzt war in der Theorie so besonders gut beschlagen und hatte einen so hervorragenden Vortrag, daß, wenn er in der Praxis dasselbe geleistet hätte, man ihn einen zweiten Galen nennen konnte. Er hatte aber die Habgier so sehr Gewalt über sich gewinnen, d. h. sie hatte ihn Gott so sehr vergessen lassen, daß er, statt ihm zu Ehren und zum Dank für die ihm zuteil gewordenen großen Gnaden, einige arme Studenten gesondert und privatim zu unterrichten, es, wenn er auf dem Katheder stand, nicht duldete, daß fünf oder sechs arme Kerle unter seinen Hörern seiner Vorlesung gratis beiwohnten, obwohl sie unter zwei- bis dreihundert saßen, die alle ihren monatlichen Teston bezahlt hatten. Solches versetzte ihn vielmehr in eine solche Erregung, daß er eines Tages zu Paris im Tricquet-College (wo er seine Vorlesungen abzuhalten pflegte, bevor er Lektor des Königs ward), als er zwei arme Studenten bemerkte, von denen er wußte, daß sie nicht bezahlt hatten, ihnen befahl, den Saal zu verlassen. Und als er sah, daß sie dies nicht tun wollten, sagte er zu den anderen Hörern, wenn sie die beiden nicht hinausjagten, würde er seine Vorlesung abbrechen. Ich erzähle dies nicht nach dem Hörensagen, sondern war selbst Zeuge des Vorgangs. Man fand dieses Vorgehen so sonderbar, daß bald darauf ein Schotte folgendes Epitaph für ihn verfaßte:

Sylvius hic situs est, gratis qui nil dedit unquam:
Mortuus et, gratis quod legis ista, dolet.

Sylvius ruht hier, der niemals gratis etwas gegeben:
Ach! daß du gratis dies liest, tut dem Toten noch weh.«

Estienne verbreitet sich hierauf unter Anführung antiker Beispiele über die Anmaßung der Ärzte und ihre Ausnutzung gewisser Gelegenheiten, wie sie Ronsard in seinem 46. Sonett andeutet:

Ha! que je porte et de haine, et d'envie,
Au Médecin, qui vient soir et matin,
Sans nul propos tastonner le tetin,
Le sein, le ventre, et les flancs de m'amie.

Las! il n'est pas si soigneux de ma vie
Comme elle pense, il est méchant et fin:

Cent fois el jour il la visite, afin
De voir son sein, qui d'aimer le convie.

Sodann kommt er auf die Unwissenheit so vieler Ärzte zu sprechen und auf ihre Abhängigkeit von den Apothekern in der Kenntnis der Heilpflanzen, worauf er fortfährt: »Ich komme jetzt zu einigen andern Gepflogenheiten dieser unwissenden Ärzte. Einige von ihnen stiften die Apotheker an, ihnen die Rezepte etlicher gelehrter Ärzte aufzuheben und bei jedem anzumerken, für welche Art Krankheit es verschrieben worden ist. Dann lassen sie, ohne darauf zu achten, ob die Krankheit der von ihnen behandelten Person aus derselben Ursache hervorgegangen, ob sie von derselben Leibesbeschaffenheit und dem gleichen Alter ist und dieselbe Lebensweise hat, ja selbst ohne sich darum zu kümmern, ob sie vom gleichen Geschlecht ist, sie dieselbe Medizin schlucken. Andere bedienen sich der Rezepte der alten Ärzte, ohne die völlige Verschiedenheit des Himmelsstriches und der Lebensweise zu berücksichtigen. Wieder andere folgen im Verordnen und Verbieten gewisser Fleischspeisen ihrer persönlichen Neigung, indem derjenige, der dies oder jenes Fleisch von Natur aus liebt oder haßt, es den Kranken, die er behandelt, verordnet oder verbietet. Andre verordnen, besorgt, ihren Ruf als geübte Ärzte zu verlieren, sobald sie eine Urinprobe angesehen haben, drauf los, ohne danach zu fragen, worüber der Patient klagt, wiewohl mehrere gute Ärzte zugeben, daß man sich nicht ausschließlich auf die Indizien verlassen dürfe, die der Urin gibt, sondern sich ihrer nur bedienen dürfe, indem man sie mit den anderen Symptomen vergleicht. Wenn nun die Gelehrten ihrem eigenen Eingeständnis nach in der Urinfrage nicht klar sehen, wie sollen es da wohl die Unwissenden? Man darf voraussetzen, daß sie ganz und gar im Dunkeln tappen; und dennoch sind es gerade diese, die nach einem kurzen Blick auf den Urin alsbald zur Feder greifen, um etwas zu verordnen, ohne nach den Dingen zu forschen, die sie zur Erkenntnis der Krankheit führen könnten. Zum mindesten mußte ein gewisser Arzt gestehen, nicht das Geringste zu erkennen, oder seine Brille verkehrt aufgesetzt zu haben, dem man den Urin eines Mannes gebracht hatte, mit der Angabe, er stamme von einer Frau, die schwanger zu sein glaube. Er antwortete, er erkenne es gar wohl am Urin, daß sie schwanger sei und sie dürfe sich dessen vollkommen für versichert halten.

Ich überlasse ihre andern Scherze denjenigen, die mehr Muße haben, sich damit zu beschäftigen und will noch ein Wort auch über die Barbiere und Chirurgen sagen – nichts neues freilich, sondern nur das, was wir einigen von ihnen täglich vorwerfen hören, nämlich, daß sie für den zwanzigsten oder dreißigsten Verband aufheben, was sie bereits beim dritten oder vierten anwenden könnten, daß sie die Wunden offen halten und wieder zum Bluten bringen, und daß ihre abscheuliche Unwissenheit oft daran schuld ist, daß der Arm oder das Bein abgenommen werden muß.«

Soweit Henri Estienne.

Die Zahl der Heilbeflissenen ist größer als die der Heilbedürftigen und Kranken, um so mehr als diese sich auch zu ihnen gesellen. Der Schalksnarr Gonella hat es in einer der nachfolgenden Geschichten dem Markgrafen von Ferrara bewiesen. Montaigne erhärtet es. »Die Babylonier«, sagt er, »trugen ihre Kranken auf den Marktplatz. Den Arzt machte das Volk. Jeder Vorübergehende mußte sich wohl aus Menschlichkeit nach ihrem Befinden erkundigen und jeder gab ihnen nach seiner Erfahrung einen guten Rat. Wir machen es bei uns nicht viel anders. Es müßte schlimm sein, wenn nicht jede Gevatterin Anne Liese einen guten Rat für allerlei Zufälle wüßte. Und die Wahrheit zu sagen: wenn ich doch selbst jemals Arzneien nehmen müßte, so würde ich ebensogut die von der Gevatterin Liese nehmen; weil, wenn sie nicht helfen, sie doch auch nicht schaden. Was Homer und Plato von den Ägyptern sagen, daß sie alle Ärzte wären, das gilt auch von allen Völkern. Es ist kein Mensch, der sich nicht mit irgendeinem Rezept rühmte und der es nicht gern an seinem Nachbar probierte, wenn dieser nur gläubig genug wäre«.

So wird der Leser im Nachstehenden neben berufsmäßigen Kurpfuschern auch gelegentlichen begegnen, das Feld aber wird er vom Arzte behauptet finden, von dem Manne, den Geoffrey Chaucer Anno 1393 also schildert:

Auch hatt' ein Doktor sich zu uns gesellt,
Ein Arzt. Gewiß sprach keiner auf der Welt
So klug von Medizin und Chirurgie;
Er war gelehrt auch in Astronomie
Und stundenlang übt er des Patienten
Geduld mit magischen Experimenten.
Er wußte wirklich mit geschickten Händen
Des Kranken Horoskop zum Glück zu wenden.
Der Krankheit Grund sah er mit Leichtigkeit,
Ob Kälte, Hitze, Trocknis, Feuchtigkeit,
An welchem Ort erzeugt, aus welchen Stoffen.
Er war als Praktiker unübertroffen:
Hatt' er des Übels Wurzel erst erkannt,
Ward gleich die Medizin auch angewandt.
Ein Apotheker war ihm stets zu Händen,
Um Drogen und Latwergen ihm zu senden;
Sie hatten durcheinander viel gewonnen;
Die Freundschaft hatte nicht erst jüngst begonnen.
Die Alten kannt' er: Äskulap voran
Und Dioskorides und Rufus dann,
Hippokrates, Hali und Gallien,
Serapion, Rasis und Aricen,
Averrhois, Damascenus, Constantin,
Bernard und Gatisden und Gilbertin.
In der Diät liebt er nicht Überfluß,
Er gab nur solche Speise zum Genuß,
Die nahrhaft war und leicht zu digerieren.
Nicht pflegt' er viel die Bibel zu studieren,
Blutrot und blau liebt er sich anzuziehn,
Mit Taft gefüttert und mit Levantin.
Nicht ein Verschwender war darum der Mann,
Er sparte, was er in der Pest gewann.
Gold gilt dem Arzt als ein Spezifikum,
Ausnehmend liebte er das Gold darum.


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