Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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26. Kapitel.

Im Untersuchungsgefängnis.

Mr. Tertius brach das drückende Schweigen, das folgte.

»Ach, diese ewigen Zweifel! Was wollten Sie denn mit diesem letzten Aber sagen?«

»Barthorpe hat sich reichlich schuldig gemacht, indem er sich an dem niederträchtigen Plan beteiligte, seine Kusine zu betrügen«, entgegnete Cox. »An dem Mord ist er unschuldig, aber es wird furchtbar schwer sein, seine Unschuld zu beweisen. Wie die Dinge jetzt liegen, kommt er bestimmt an den Galgen. Sie wissen ganz genau, wie unsere Geschworenen urteilen. Die Zeugenaussagen, die bisher bei der Totenschau und vor dem Polizeigericht gemacht wurden, genügen vollkommen, um seine Verurteilung bei der Hauptverhandlung herbeizuführen.«

»Aber worauf wollen Sie denn hinaus?« fragte Tertius.

»Es ist sehr schwierig, unter diesen Umständen einen Rat zu geben oder zu helfen. Zunächst sind noch einige Punkte aufzuklären. Bisher ist es noch niemand gelungen, den Mann ausfindig zu machen, der Jacob Herapath am Abend des Mordes im Parlament aufgesucht hat. Trotz aller Zeitungsnachrichten und Aufrufe hat er sich nicht gemeldet. Mr. Halfpenny hat einmal die Vermutung ausgesprochen, daß der Brief und der Gegenstand, die Jacob dem Fremden überreichte, eine Mitteilung an die Alpha-Bank und der Schlüssel zu seinem dortigen Schließfach waren. Wir wissen jetzt aber, daß diese Annahme nicht stimmt, denn es ist kein Brief bei der Bank abgegeben worden, und niemand hat das Schließfach geöffnet. Halfpenny war auch der Meinung, daß dieser Fremde sich gemeldet hätte, und zwar während der Zeit, in der die Polizei so beharrlich schwieg und keine Auskunft gab. Aber die Beamten haben nichts von diesem Mann gehört und seine Spur auch nicht weiter verfolgt. Trotzdem glaube ich aber, daß wir ein gutes Stück vorwärts kämen, wenn wir diesen Fremden auffinden könnten. Wie wir das allerdings anstellen sollen, weiß ich auch nicht.«

»Und um welche weiteren Punkte handelt es sich noch?« fragte Selwood nach einer Pause.

»Ich hätte gern noch gewußt, ob Barthorpe alles sagte, was er weiß. Es wäre doch möglich, daß er kleine Einzelheiten ausgelassen hat, Dinge, die ihm unwichtig vorkamen, und die trotzdem vielleicht Anhaltspunkte zur Aufklärung des Mordes geben könnten. Man muß deshalb Barthorpe aufsuchen und durch Fragen alles aus ihm herausholen. Es genügt aber nicht, daß das seine Verteidiger tun, sondern es muß jemand mit ihm sprechen, dem er vertrauen kann. Und die geeignetste Person unter uns« – er legte seine Hand auf Peggies Schulter – »sind Sie, mein Liebling!«

»Ich?« rief Peggie erstaunt, fast entsetzt.

»Ja, Sie. Niemand könnte das besser. Er wird Ihnen sagen, was er anderen verschweigt. Habe ich nicht recht, Tertius?«

»Ja, vollkommen«, pflichtete Tertius bei. »Das ist auch meine Ansicht.«

»Aber er ist doch im Gefängnis«, sagte Peggie. »Wird man mich zu ihm lassen?«

»Halfpenny kann das leicht arrangieren«, antwortete der Professor. »Aber Sie müssen sofort hingehen. Selwood soll Sie als Zeuge begleiten. Das ist viel besser, als wenn wir älteren Leute ihn aufsuchen. Jugend erweckt Vertrauen.«

Peggie sah zu Selwood hinüber.

»Wollen Sie mitkommen?«

Selwood fühlte, wie er errötete, und erhob sich, um seine plötzliche Gefühlsaufwallung zu verbergen.

»Ich tue alles, was Sie wünschen«, erklärte er eifrig.

»Halfpenny muß ohne Verzug für Sie beide die Erlaubnis zum Besuch im Gefängnis erwirken«, sagte Professor Cox. »Und wenn Sie erst bei ihm sind, müssen Sie ihm zureden, so sehr Sie können. Er soll sein Gedächtnis anstrengen und versuchen, sich auf jede Einzelheit zu besinnen. Besonders ermahnen Sie ihn, alles zu sagen, falls er noch etwas zurückgehalten haben sollte. Bitten Sie ihn, so inständig und dringend Sie nur irgend können, Ihnen sein ganzes Vertrauen zu schenken. Sonst sehe ich sehr schwarz.«

Zwei Tage später saßen Peggie und Selwood nervös und aufgeregt in einem Zimmer. Beide hatten das Gefühl, daß sie ersticken müßten. Aber es war nicht die Enge des Raums, die sie so sehr bedrückte, sondern das bürokratische Formelwesen, diese grauen, entsetzlich kahlen Wände, diese ostentative Sauberkeit, der Geruch von Karbolseife, mit der Fußboden und Wände gereinigt worden waren, und vor allem die Gefängnisluft, und das große, eiserne Gitter, das den Raum in zwei Hälften teilte. Peggie kam plötzlich die ganze Schwere dieses Falles zum Bewußtsein, und es wurde ihr klar, was es bedeutete, in die Gewalt der Justiz zu fallen. Barthorpe konnte wohl Hände und Füße, Arme und Beine bewegen, aber er war eingesperrt. Er konnte wohl in seiner Zelle auf und ab gehen, konnte essen, trinken und sprechen, und doch hielt ihn eine unsichtbare Macht in ihrer Gewalt. In dieser schrecklichen Zelle mußte er nun bleiben, bis ihm der Prozeß gemacht wurde. Und dann würde eines Morgens der Henker mit einer kleinen Gruppe von Beamten in seine Zelle treten und ihn zum Galgen geleiten!

»Achtung!« flüsterte Selwood leise. »Nehmen Sie sich zusammen und fassen Sie sich. Er kommt.«

Peggie schaute auf und sah Barthorpe, der sie durch die Eisengitter anstarrte. Er sah entsetzlich aus. Mehrere Tage lang war er nicht rasiert, seine Wäsche war schmutzig, sein Anzug nicht aufgebügelt. Während dieser verhältnismäßig kurzen Haft war eine große Veränderung mit ihm vorgegangen. Er sah verbissen, vergrämt und finster aus und begrüßte sie nur durch ein kurzes Kopfnicken. Peggie hatte ihre letzte Energie zusammengerafft und trat auf ihn zu.

»Warum bist du nur gekommen?« sagte er vorwurfsvoll. »Welchen Zweck hat das denn? Du magst es ja vielleicht gut meinen, aber –«

»Aber Barthorpe, wir mußten doch kommen!« rief sie verzweifelt. »Glaubst du denn, wir könnten dich so allein lassen? Du weißt sehr wohl, daß wir dich alle für unschuldig halten.«

»Wer sind denn diese alle?« fragte er rauh. »Vielleicht du selbst und das Stubenmädchen?«

»Nein, wir alle«, mischte sich jetzt Selwood ein. »Mr. Cox, Mr. Tertius und ich. Das ist eine Tatsache, auf die Sie sich verlassen können.«

Barthorpe richtete sich auf und sah Selwood scharf an. Dann änderte sich plötzlich sein Benehmen, und er sprach natürlicher.

»Ich danke Ihnen, Selwood, und ich würde Ihnen die Hand reichen, wenn ich könnte. Auch den anderen danke ich, besonders dem alten Tertius, dem ich so großes Unrecht getan habe. Wenn Sie nur wüßten, wie ich von diesem Teufel hinters Licht geführt worden bin! Hat ihn die Polizei gefaßt?«

»Nein, noch nicht«, antwortete Selwood. »Aber das tut jetzt im Augenblick nichts zur Sache. Wir sind hergekommen, um etwas für Sie zu tun; das ist jetzt vor allem wichtig.«

»Kann überhaupt jemand noch etwas für mich tun?« fragte Barthorpe mit einem verächtlichen Lächeln. »Sie kennen doch die Zeugenaussagen!«

»Barthorpe, du darfst nicht verzweifeln«, sagte Peggie bittend. »Mr. Selwood, erklären Sie ihm doch alles, was Professor Cox neulich abends sagte.«

Selwood wiederholte den Hauptinhalt der Argumente und Theorien des Professors, so gut er konnte. Barthorpe zeigte zwar Interesse, schüttelte aber schließlich den Kopf.

»Ich wüßte nicht, was ich noch vergessen haben könnte. Was die anderen auch denken mögen, ich habe in meiner Erklärung die reine Wahrheit gesagt. Ich versuchte, mich so klar wie möglich auszudrücken, und habe alle Tatsachen, die in Betracht kommen, erwähnt.«

»Aber vielleicht gibt es noch Kleinigkeiten, Barthorpe?« fragte Peggie. »Kannst du dich nicht auf irgendwelche Nebensachen besinnen?«

Barthorpe dachte nach und sah dann zögernd auf Selwood.

»Ein paar Dinge habe ich allerdings unerwähnt gelassen, weil sie mir unwesentlich erschienen. Der eine Punkt betrifft den Schlüssel zu dem Schließfach bei der Bank – Sie entsinnen sich, daß keiner von uns ihn an jenem Morgen finden konnte. Ich nahm ihn nämlich selbst von dem Bund, um das Schließfach zu durchsuchen, aber ich kam nicht dazu. Ich weiß nicht, ob die Detektive ihn inzwischen gefunden haben; er liegt in einer Schublade meines Schreibtisches bei vielen anderen Schlüsseln. Aber das führt ja zu nichts. Ich könnte mir wenigstens nicht denken, wozu diese Angaben nützen sollten.«

»Ist denn das alles, woran Sie sich erinnern können?« fragte Selwood.

Barthorpe zögerte wieder. Die drei waren in dem düsteren Raum nicht allein, und die Gegenwart des Beamten schien ihm peinlich zu sein. Peggie fühlte das und sah ihn bittend an.

»Bitte behalte nichts für dich«, drängte sie. »Sage uns alles.«

»Nun gut«, erwiderte ihr Vetter niedergeschlagen. »Ich will es dir sagen, obwohl ich nicht weiß, wozu es gut sein soll. Ich habe bisher nicht davon gesprochen, weil man dergleichen nicht gern eingesteht. Als ich mich nach dem Morde auf Onkel Jacobs Schreibtisch umsah, fand ich eine Hundertpfundnote dort und steckte sie in die Tasche. Hundertpfundnoten sieht man jetzt nicht häufig«, fügte er mit einem sarkastischen Lächeln hinzu. »Es war nicht recht von mir, daß ich einen Toten beraubte, aber –«

»Sehen Sie irgendeinen Weg, wobei uns diese Tatsache weiterhelfen könnte?« fragte Selwood, der diese peinliche Erörterung gern abkürzen wollte.

Barthorpe rieb sich das Kinn.

»Es war eine ganz neue Banknote, das fiel mir auf. Sie könnten zu Onkel Jacobs Bank gehen und zu erfahren suchen, wann er Geld von der Bank holte, oder ob er überhaupt Geld an dem Tage gezogen hat. Er pflegte ja häufig große Summen von der Bank in bar abzuheben. Wenn er an jenem Tage eine größere Summe von der Bank geholt und sie am Abend noch bei sich gehabt hätte, dann wäre ein Motiv für den Mord gefunden. Es wäre ja möglich, daß es jemand erfahren hätte und ihm in das Büro gefolgt wäre. Denken Sie daran, daß beide Türen offen standen, als ich dorthin kam; das darf nicht übersehen werden. Bisher hat die Polizei das nicht geglaubt und keinen Wert darauf gelegt.«

»Besinnen Sie sich auf weiter nichts?« fragte Selwood wieder.

Barthorpe schüttelte den Kopf. Weiter fiel ihm nichts ein.

Die Zeit war auch um, Peggie und Selwood mußten gehen. Sie sahen noch, wie Barthorpe fortgeführt wurde. Peggie fühlte sich trostlos und unglücklich, und auch auf Selwood hatte dieses Erlebnis tiefen Eindruck gemacht. Es hatte ihm gezeigt, was Freiheitsberaubung für einen Mann bedeutet, der bis dahin tätig im Leben stand.

»Glauben Sie, daß unser Besuch Zweck gehabt hat?« fragte Peggie müde, als sie wieder im Freien waren.

»Diese Banknote mag zu weiteren Schlüssen führen. Auf jeden Fall wollen wir den anderen erzählen, was wir erreicht haben.«

Er besorgte ein Mietauto für Peggie, in dem sie nach Hause fuhr. Er selbst begab sich direkt zu dem Büro von Mr. Halfpenny, wo Professor Cox und Mr. Tertius auf ihn warten wollten.

 


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