Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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2. Kapitel.

Mord?

Es fiel Selwood später auf, daß weder er noch Mr. Tertius sich zuerst zum Handeln aufrafften, sondern daß Peggie dem Hausmeister klare Anordnungen gab.

»Das Auto soll sofort vorfahren, Kitteridge. Bringen Sie rasch etwas Kaffee, frühstücken können wir erst später.«

»Sie wollen doch nicht etwa selbst hinfahren?« fragte Selwood.

»Aber natürlich! Glauben Sie, ich würde hier warten, bis ich Nachricht bekomme? Wir fahren zusammen hin, und bis der Wagen kommt, wollen wir schnell noch eine Tasse Kaffee trinken.«

Sie folgten ihr ins Frühstückszimmer und tranken schweigsam. Als sie nachher in die Halle traten, um sich für die Fahrt anzuziehen, wandte sich Mr. Tertius an Selwood.

»Was haben Sie denn am Telefon gehört?«

»Nichts Bestimmtes. Ich habe nur so viel verstanden, daß sich irgend etwas Ernstes ereignet hat. Wir sollen sofort hinkommen.«

Mr. Tertius fragte nicht weiter und blieb nachdenklich und zerstreut, bis sie nach Kensington kamen. Auch Peggie sagte nichts während der Fahrt. Selwood grübelte nach, was wohl geschehen sein mochte, und wie sich dieses Geheimnis lösen würde. Mr. Tertius, der neben ihm saß, war ihm auch ein Rätsel. Während seiner kurzen Dienstzeit hatte er noch nicht erfahren, wer dieser Mann eigentlich war, und in welchen Beziehungen er zu dem Hausherrn stand. Er wußte nur, daß er ein Hausgenosse von Mr. Herapath war. In gewisser Weise schien er doch nicht ganz zur Familie zu gehören, denn er kam selten zu den Mahlzeiten, und man sah ihn auch sonst nicht häufig im Hause. Selwood hatte ihn nur gelegentlich im Arbeitszimmer von Mr. Herapath oder im Wohnzimmer von Miß Peggie Wynne getroffen. Mr. Tertius bewohnte einige Räume in dem oberen Stockwerk und einen Raum im Erdgeschoß. Nur einmal hatte Selwood einen Blick in dieses untere Zimmer tun können. Es war mit Bücherregalen gefüllt, und auf einem großen Tisch lagen viele Dokumente und Papiere herum. Er hatte damals den Eindruck gehabt, daß Mr. Tertius ein Sonderling sei, der Bücher liebte und Altertumskunde trieb. Aus der Art, wie Mr. Herapath und Miß Peggie Wynne ihn anredeten, schloß Selwood, daß er nicht mit den beiden verwandt war. Er wurde von allen, auch von den Dienstboten, Mr. Tertius genannt, und Selwood wußte nicht, ob das sein Vor- oder Familienname war.

Das Auto hielt nach einer schnellen Fahrt vor einem großen, nüchternen Häuserblock, dem nichts Geheimnisvolles anhaftete. Die großen Siedlungsbauten des Mr. Herapath waren in ganz London bekannt und hatten berechtigtes Aufsehen hervorgerufen, als ihr Gründer sie errichtete.

Jacob Herapath war ein Grundstücksmakler und hatte schon von jeher den Wunsch gehabt, moderne Wohnungen zu bauen, die in jeder Beziehung vorbildlich sein sollten. Er wollte den Fachleuten und Baumeistern zeigen, was man mit gutem Willen erreichen konnte. Als er schließlich ein großes Gelände in Kensington käuflich erwerben konnte, machte er sich sofort an die Ausführung seines Plans. So waren diese großen Häuserblöcke entstanden, die mit allem modernem Komfort versehen waren. Sie bedeuteten eine große Einnahmequelle für Mr. Herapath, und Selwood, der die Höhe der Mieteingänge kannte, dachte darüber nach, an wen dieses Vermögen wohl fallen würde, wenn Mr. Herapath wirklich etwas passiert sein sollte.

Als der Wagen anhielt, bemerkte Selwood einige Polizeibeamte in der offenen Tür. Ein Inspektor trat vor und sah unsicher auf Peggie Wynne. Selwood stieg schnell aus und ging auf ihn zu.

»Ich bin der Sekretär von Mr. Herapath. Mein Name ist Selwood«, stellte er sich vor und zog den Beamten etwas zur Seite, so daß die anderen ihre Unterhaltung nicht hören konnten. »Ist etwas Ernstes geschehen? Sagen Sie es mir bitte, bevor Miß Wynne davon erfährt. Mr. Herapath ist doch nicht etwa – tot?«

Der Inspektor sah ihn bedeutungsvoll an.

»Er wurde von dem Hausverwalter in seinem Privatbüro tot aufgefunden. Es ist entweder Mord oder Selbstmord – das ist klar!«

Selwood ging mit Mr. Tertius und Miß Wynne in den Warteraum.

»Der Inspektor hat mit Ihnen gesprochen – Sie wissen alles – sagen Sie es mir gleich«, wandte sie sich an ihn. »Ich kann alles hören, ich habe starke Nerven. Ist er tot?«

»Ja.«

Miß Wynne senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob, war sie zwar blaß, zeigte aber keine Erregung. Auch Mr. Tertius war ruhig und gefaßt.

»Wie starb er?« fragte er. »War es ein Herzschlag?«

Selwood zögerte.

»Ich fürchte, es ist eine traurige Botschaft für Sie«, erwiderte er mit einem Blick auf den Inspektor, der eben eintrat. »Die Polizei ist der Meinung, daß entweder Mord oder Selbstmord vorliegt.«

Peggie wandte sich kurz an den Beamten. Eine plötzliche Röte stieg in ihre Wangen.

»Nein, nie und nimmer kann es Selbstmord gewesen sein! Mord – das wäre möglich. Verheimlichen Sie mir nichts – sagen Sie mir bitte alles, was Sie wissen.«

Der Inspektor schloß die Tür und kam näher.

»Unsere Station wurde fünf Minuten nach acht von dem Hausverwalter hier angerufen. Er sagte uns, daß Mr. Herapath tot in seinem Arbeitszimmer läge, und bat uns, sofort zu kommen. Ich machte mich gleich mit einem anderen Beamten auf, und der Polizeiarzt folgte einige Minuten später. Wir fanden Mr. Herapath tot auf dem Boden. Dicht neben ihm lag –«

Der Beamte brach ab und sah auf Peggie. »Die Details sind nicht sehr angenehm – soll ich nicht lieber darüber schweigen?«

»Nein«, erwiderte sie entschieden. »Sagen Sie nur ruhig alles, was Sie gefunden haben.«

»Ein Revolver lag neben seiner rechten Hand. Eine Patrone war abgefeuert, und Mr. Herapath hatte eine Schußwunde in der rechten Schläfe. Offensichtlich war der Schuß aus allernächster Nähe abgegeben worden. Der Arzt sagte, daß der Tod sofort eingetreten sei.«

Peggie hatte vollständig gefaßt zugehört und machte unwillkürlich einige Schritte nach der Tür zu.

»Wir wollen zu ihm gehen«, sagte sie. »Er liegt doch wahrscheinlich noch dort im Zimmer.«

Aber Selwood trat ihr entgegen.

»Nein, tun Sie das nicht«, bat er sie.

»Mr. Selwood hat recht«, pflichtete der Inspektor bei. »Der Arzt ist noch dort. Vielleicht geht es später, wenn die Untersuchung beendet ist. Warten Sie bitte solange hier. Die Herren können mich begleiten.«

Peggie zögerte einen Augenblick, dann wandte sie sich um und setzte sich in einen Sessel.

»Nun gut.«

Selwood drehte sich an der Tür noch einmal zu ihr um.

»Versprechen Sie, uns nicht zu folgen?«

»Ich bleibe hier. Aber einen Augenblick noch. Wir müßten doch eigentlich meinen Vetter Barthorpe –«

»Wir haben schon nach Mr. Herapath geschickt«, unterbrach sie der Inspektor. »Der Verwalter hat auch an ihn telefoniert.«

Sie gingen den Gang entlang und erreichten das Privatbüro von Mr. Jacob Herapath, das nur er selbst und sein Sekretär benützten. Niemand durfte ihn dort stören, wenn er es nicht ausdrücklich wünschte. Aber nun waren viele Fremde hier eingedrungen, und Herapath lag stumm in ihrer Mitte. Sie hatten ihn auf einen Diwan gelegt. Sein Gesichtsausdruck war ruhig. Sie konnten keine Spur von plötzlicher Furcht oder Erregung in seinen Zügen bemerken.

»Wenn Sie einmal hersehen wollen, meine Herren«, sagte der Inspektor und führte die beiden zu dem Teppich. »Alles ist noch so, wie wir es gefunden haben; es ist nichts geändert worden. Er lag an dieser Stelle, hier der Kopf und dort die Füße. Offenbar war er seitwärts vom Stuhl heruntergeglitten und der Länge nach auf den Teppich gefallen. Der Revolver lag dort – nur einige Zentimeter von seiner rechten Hand entfernt. Hier ist die Waffe.«

Er zog eine Schublade des Schreibtisches auf und nahm eine Pistole heraus, mit der er sehr sorgfältig umging, als er sie Selwood und Tertius zeigte.

»Ist sie Ihnen bekannt? Ich meine, erkennen Sie die Pistole als Eigentum von Mr. Herapath wieder? – Nein? – Nun, er konnte sie ja auch in seinem Schreibtisch oder Geldschrank aufbewahrt haben, ohne daß jemand etwas davon wußte. Wir werden den ganzen Raum sorgfältig durchsuchen, vielleicht finden wir noch weitere Patronen oder Zubehörteile. Das wäre also der Tatbestand. Dem Augenschein nach und nach Aussage des Arztes ist der Schuß aus nächster Nähe abgefeuert worden.«

Mr. Tertius, der aufmerksam zugehört hatte, wandte sich an den Doktor.

»Glauben Sie denn, daß Mr. Herapath die Waffe gegen sich selbst gerichtet hat?«

»Nach der Lage des Körpers und der Schußwaffe ist das sehr wahrscheinlich.«

»Es könnte aber auch anders gewesen sein«, meinte Mr. Tertius leise.

Der Polizeiarzt zuckte die Schultern.

»Es wäre natürlich auch möglich, daß ein kühl berechnender Mörder die Waffe neben ihn gelegt hat.«

»Ja, das ist auch meine Meinung«, versicherte Mr. Tertius. Er blieb einen Augenblick schweigend dort stehen und starrte auf den Teppich, dann wandte er sich wieder zur Tür. »Wie lange war Mr. Herapath wohl schon tot, als Sie kamen?«

»Seit acht Stunden«, entgegnete der Doktor prompt.

»Und wann sind Sie hergekommen?«

»Viertel nach acht. Ich möchte sagen, daß er ungefähr um Mitternacht starb.«

»Um Mitternacht!« wiederholte Tertius leise. »Also –«

Bevor er weitersprechen konnte, öffnete ein Polizist, der in dem Gang Wache gehalten hatte, die Tür und meldete dem Inspektor, daß Mr. Barthorpe Herapath gekommen sei.

 


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