Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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1. Kapitel.

Vermisst.

Mr. Selwood war nun seit drei Wochen Sekretär bei dem bekannten Parlamentarier Jacob Herapath, der als Junggeselle eins der vornehmsten Häuser am Portman Square bewohnte. Mr. Herapath war bekannt wegen seiner Arbeit in der sozialen Fürsorge. Er hatte eine große Zahl moderner Wohnhäuser erbaut, die in jeder Beziehung als Vorbild dienen konnten, was Lüftung, Heizung, Beleuchtung und alle sonstigen sanitären Einrichtungen betraf. Als Selwood seine Stellung antrat, erhielt er von seinem Chef die Anweisung, eine geeignete kleine Wohnung in der Upper Seymour Street zu beziehen, die in der Nähe lag, damit er auch in der Nacht leicht zu erreichen war. Jacob Herapath hatte manchmal gerade mitten in der Nacht geniale Einfälle, und er gehörte zu den aktiven, energischen Männern, die es lieben, solche Einfälle sofort in allen Details durchzuarbeiten. Selwood war jedoch während der vergangenen drei Wochen noch niemals aus seiner Nachtruhe gestört worden. Aber plötzlich klingelte eines Morgens um halb acht die Telefonglocke, als er gerade aufstehen wollte. Er nahm den Hörer vom Apparat, der direkt neben seinem Bett stand. Es meldete sich jedoch nicht Herapath, sondern der Hausmeister Kitteridge, dessen Stimme ängstlich klang.

Plötzlich wurde er unterbrochen; es schien jemand dicht neben ihm zu stehen. Der Anruf war etwas verwirrt, aber Selwood verstand doch soviel, daß er sofort zur Wohnung herüberkommen sollte. In größter Eile kleidete er sich an und eilte nach Portman Square. Als er dort ankam, fand er den Hausmeister und den Chauffeur Mountain, der sich in aller Eile angekleidet hatte, und den man allem Anschein nach auch eben aus dem Bett geholt hatte.

»Was ist denn los, Kitteridge?« fragte Selwood. »Ist Mr. Herapath krank geworden?«

Der Hausmeister schüttelte den Kopf und zeigte mit dem Daumen nach der offenen Tür des Arbeitszimmers.

»Wir wissen überhaupt nicht, wo er ist. Er hat nicht hier geschlafen und ist auch nicht im Hause.«

»Vielleicht ist er gestern gar nicht heimgekommen«, meinte Selwood. »Er kann doch in seinem Klub oder auch in einem Hotel geschlafen haben.«

Der Chauffeur, ein kleiner Mann mit scharfem Blick, schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe ihn doch selbst um eins hierher gefahren, und ich habe gesehen, wie er die Tür aufschloß und hineinging. Sicher ist er nach Hause gekommen!«

»Das stimmt«, pflichtete Kitteridge bei. »Kommen Sie mit, Mr. Selwood.« Er führte den Sekretär in das Arbeitszimmer und zeigte auf einen kleinen Servierwagen, der neben dem großen Schreibtisch stand. »Sehen Sie das? Jeden Abend stelle ich ihm dort eine Flasche Whisky, einen Siphon mit Sodawasser und einige Butterbrote und Keks hin. Er hat aus dem Glase getrunken, und er hat auch von dem Butterbrot gegessen. Also muß er nach Hause gekommen sein. Aber er ist nicht mehr hier. Der Kammerdiener Charlesworth, der ihn jeden Morgen Viertel nach sieben weckt, hat ihn nicht im Schlafzimmer gefunden.«

Selwood sah sich in dem Raum um. Die Vorhänge waren noch nicht aufgezogen; die elektrische Krone brannte und ließ alles in ihrem kalten, klaren Licht hervortreten. Er schaute auf den Schreibtisch, ob Mr. Herapath nicht einen Brief zurückgelassen hatte, aber er fand nichts.

»Aber es liegt doch kein Grund vor, sich zu ängstigen, Kitteridge«, meinte er. »Mr. Herapath war vielleicht gezwungen, heute morgen ganz früh mit dem Zuge wegzufahren.«

»Entschuldigen Sie, Mr. Selwood, aber das ist wohl ziemlich ausgeschlossen. Ich hatte selbst schon daran gedacht, aber wenn er tatsächlich einen Nachtzug benützen wollte, hätte er seinen Reisemantel, seinen Koffer und auch eine Decke mitgenommen. Aber er hat nichts von alledem angerührt. Ich bin nun schon sieben Jahre hier im Hause und kenne seine Gewohnheiten genau. Er hätte mich und den Kammerdiener gerufen, damit wir für ihn gepackt hätten. Nein, er ist bestimmt nach Hause gekommen und wieder fortgegangen, das ist das Ungewöhnliche. Solange ich hier im Hause bin, ist das noch nicht passiert.«

»Sie haben also Mr. Herapath um ein Uhr nach Hause gefahren?« wandte sich Selwood an den Chauffeur. »War er allein?«

»Es war niemand bei ihm«, entgegnete Mountain. »Am besten erzähle ich Ihnen alles, was ich weiß. Gerade als Sie kamen, sprach ich mit dem Hausmeister darüber. Ich holte Mr. Herapath gestern abend um Viertel nach elf vom Parlament ab. Ich hielt an der gewöhnlichen Stelle, und er stieg gerade ein, als die Uhr schlug. ›Fahren Sie mich zu dem Büro in der Siedlung, ich habe dort zu tun‹, sagte er. Ich brachte ihn also nach Kensington, und beim Aussteigen meinte er, daß er wohl in einer Dreiviertelstunde fertig wäre. Ich wartete also auf meinem Sitz, aber es dauerte eine gute Stunde. Schließlich kam er wieder und sagte nur ›Nach Hause‹. Und dann habe ich ihn hierher gefahren. Als er ausstieg, schlug es ein Uhr. Ich sagte noch gute Nacht zu ihm und sah, wie er die Treppe hinaufstieg und aufschloß, bevor ich zur Garage fuhr. Das ist alles, was ich weiß.«

Selwood wandte sich an den Hausmeister.

»Zu der Zeit war wohl niemand mehr auf?«

»Nein, Mr. Herapath sieht strikt darauf, daß die Hausordnung eingehalten wird, und daß alle Leute um halb zwölf zur Ruhe gehen. Er duldet nicht, daß jemand von der Dienerschaft auf ihn wartet. Deshalb steht jeden Abend noch ein kleiner Imbiß im Arbeitszimmer für ihn bereit. Gewöhnlich kommt er gegen zwölf Uhr nach Hause.«

»Nun ja, vielleicht war aber doch noch jemand wach. Haben Sie schon gefragt, ob jemand gehört hat, daß Mr. Herapath in der Wohnung umherging und das Haus nachher wieder verließ?«

»Ich werde danach fragen«, entgegnete Kitteridge. »Aber bis jetzt hat mir noch niemand etwas gesagt, obwohl die Dienstboten schon wissen, daß Mr. Herapath nicht im Hause ist.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und eine junge Dame trat herein.

»Haben Sie Miß Wynne schon verständigt?« fragte Selwood den Hausmeister leise, als er sie sah.

»Sie hat es sicher von ihrem Mädchen gehört. Alle sprechen darüber. Ich wollte sie nicht stören, bevor sie aufgestanden war.«

Miß Wynne war die Nichte von Mr. Herapath, die Tochter seiner verstorbenen Schwester, die er sehr geliebt hatte. Er hatte das Mädchen in sein Haus genommen, als sie noch ein Kind war. Aber nun zählte sie schon zweiundzwanzig, war hübsch und hatte charaktervolle, schöne Züge und kluge Augen.

Selwood trat näher, um sie zu begrüßen.

»Was hat dies alles zu bedeuten?« fragte sie ruhig. »Soviel ich höre, ist mein Onkel nicht im Hause? Aber deshalb braucht man doch nicht den Kopf zu verlieren, Kitteridge. Er hatte sicher etwas vor, wenn er fortging. Vor allem möchte ich nicht haben, daß die Dienstboten weiter darüber sprechen. Weiß Mr. Tertius davon?«

»Der alte Herr ist noch nicht nach unten gekommen.«

Auf ihren Wink verließen der Hausmeister und der Chauffeur das Zimmer.

»Was halten Sie davon?« fragte sie Selwood. Ihre Stimme klang plötzlich ängstlich. »Sie können es mir auch nicht erklären?«

»Leider nicht. Ich kenne Mr. Herapath und seine Gewohnheiten noch nicht gut genug, um mir ein Urteil bilden zu können.«

»Er hat das früher nie getan. Ich weiß zwar, daß er manchmal mitten in der Nacht aufsteht und in sein Arbeitszimmer geht, aber niemals ist er zu so später Stunde ausgegangen.«

Selwood sah nach der Tür, und sie folgte seinen Blicken.

Ein älterer, schmächtiger Herr von kleiner Gestalt war ruhig ins Zimmer getreten. Er hatte einen grauen Bart und feine Gesichtszüge; seine Augen waren von einer dunklen Brille beschattet. Er bewegte sich nur leise und zurückhaltend und machte einen etwas scheuen Eindruck. Selwood bemerkte, daß Lippen und Hände des Mannes leicht zitterten, als er nähertrat.

»Mr. Tertius, wissen Sie etwas von Onkel Jacob?« fragte Peggie Wynne schnell. »Vorige Nacht ist er um ein Uhr nach Hause gekommen, und jetzt ist er verschwunden. Hat er Ihnen vielleicht etwas gesagt?«

Mr. Tertius schüttelte den Kopf.

»Nein, mir hat er nichts gesagt. Sie meinen, er ist verschwunden?!«

Er neigte sich über das Tablett, das er aufmerksam einige Zeit lang betrachtete.

»Das ist merkwürdig«, sagte er zu Selwood, als er wieder aufschaute. »Und doch tut er manchmal Dinge, ohne vorher jemand etwas zu sagen. Haben Sie schon an das Büro in der Siedlung telefoniert? Vielleicht ist er dorthin gegangen?«

Peggie, die sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, sprang sofort auf.

»Das hätten wir schon längst tun sollen! Telefonieren Sie doch bitte, Mr. Selwood. Wahrscheinlich erfahren wir dort etwas.«

Selwood und Miß Wynne verließen das Zimmer zusammen. Als sie gegangen waren, untersuchte Mr. Tertius das Tablett genau. Vorsichtig nahm er das Butterbrot zwischen die Spitzen seiner Finger und hielt es nahe ans Licht. Nachdem er es eingehend betrachtet hatte, nahm er ein Kuvert aus dem Papierhalter und legte das Brot vorsichtig hinein. Dann verließ er den Raum schnell und ging zu seinem eigenen Zimmer. Nach einigen Minuten kam er wieder herunter, und gleich nach ihm traten Miß Wynne und Selwood ein.

»Wir sollen sofort zur Siedlung hinauskommen«, sagte der Sekretär ernst. »Der Verwalter wollte uns eben anläuten, als ich ihn anrief. Es ist irgend etwas nicht in Ordnung.«

 


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