Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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25. Kapitel.

Unter Mordanklage.

Am nächsten Morgen kam der »Argus« in großer Aufmachung heraus, und Triffitt konnte seine Leser zehn Tage lang in höchster Spannung halten. Er selbst war von seiner Begeisterung so mitgerissen, daß er kaum aß und schlief. Es gab so viel für ihn zu tun. Zunächst wurde Burchill steckbrieflich verfolgt; dieser Mann war verschwunden, als ob ihn die Erde verschlungen hätte. Dann wurde Barthorpe Herapath vor das Polizeigericht gestellt. Die Totenschau, die nun mehrere Male vertagt worden war, mußte durchgeführt werden. Erst am zehnten Tage hatte Triffitt eine Atempause. Die allgemeine Lage hatte sich nun ziemlich geklärt; auf der Totenschau war gegen Barthorpe Herapath und Frank Burchill wegen vorsätzlichen Mordes erkannt worden. Die Anklage gegen Barthorpe war erhoben, die Polizei setzte alles daran, Burchill zu ergreifen. Das Interesse der großen Menge war erregt; man verlangte die Gefangennahme Burchills und erwartete, daß die beiden Angeschuldigten in dem folgenden Prozeß zum Strang verurteilt würden.

Nur Professor Cox machte hiervon eine Ausnahme. An dem Nachmittag, an dem Barthorpe für schuldig befunden wurde, ging er nachdenklich nach Hause und fuhr am Abend nach Portman Square.

Peggie, Mr. Tertius und Selwood hatten gerade gegessen und saßen nun in dem ruhigen, kleinen Wohnzimmer. Aber es wollte keine Unterhaltung zustande kommen, ein melancholisches Schweigen herrschte in dem Raum. Die Schande über Barthorpes Verhaftung, die Enthüllungen bei der Totenschau und vor dem Polizeigericht und der Spruch der Geschworenen hatten Peggie vollkommen niedergeschmettert. Tertius und Selwood sahen die Hoffnungslosigkeit ein, sie trösten zu können. Das Erscheinen des Professors brachte ihnen Erleichterung. Cox schloß die Tür energisch und gab dadurch zu erkennen, daß er nicht gestört zu werden wünschte. Dann nahm er einen Stuhl und setzte sich zu den anderen, die ihn gespannt ansahen.

»Es hat keinen Zweck, daß wir tatenlos zusehen«, begann er, indem er sofort auf sein Ziel losging. »Wenn wir verhindern wollen, daß Barthorpe an den Galgen kommt, müssen wir uns rühren, und ich bin hierhergekommen, um Sie zum Handeln zu bringen.«

Peggies Wangen röteten sich leicht, aber Mr. Tertius schüttelte langsam den Kopf.

»Es ist zu traurig«, sagte er leise, »wirklich zu traurig. Aber was soll man denn gegen diesen klaren Tatbestand, gegen diese Zeugen machen, mein lieber Professor?«

»Ich habe alle Aussagen verfolgt, die bei den Verhandlungen gemacht wurden. Es hat wohl kaum einer so scharf mitgedacht wie ich. Ich kenne jedes Detail des ganzen Falles und will Ihnen jetzt einmal auseinandersetzen, warum ich mit dem Schuldbeweis nicht einverstanden sein kann. Bitte folgen Sie meinen Ausführungen genau.«

Er zog einen kleinen Tisch zu sich heran und legte einen Stoß Papiere und Zeitungen darauf, die er mitgebracht hatte.

»Alle Aussagen, die gegen Barthorpe und Burchill vorgebracht wurden, haben zu dem Resultat geführt, daß die Anklage wegen Mordes gegen Barthorpe erhoben wird, und daß die Polizei Burchill aufs eifrigste sucht, um die gleiche Anklage gegen ihn zu richten. Die Konstruktion der Polizei ist sehr einfach; ich will ihre Theorie Punkt für Punkt erörtern.

Erstens. Die Polizei sagt, daß Jacob Herapath infolge einer Verschwörung zwischen seinem Neffen Barthorpe und Frank Burchill ermordet wurde.

Zweitens. Sie beweist das Bestehen dieser Verschwörung durch verschiedene Schriftstücke, die von Inspektor Davidge in Burchills Wohnung entdeckt wurden. Barthorpe verpflichtet sich darin, Burchill zehn Prozent des ganzen gesamten Herapath-Vermögens zu zahlen, falls er selbst in dessen Besitz gelangt.

Drittens. Die Polizei behauptet, daß der Plan, das Testament ungültig zu machen und außer Kraft zu setzen, zuerst gefaßt wurde, und in Verfolg dieses Planes der Entschluß reifte, Herapath beiseite zu schaffen.

Viertens. Um dieses glaubhaft zu machen, hat man bewiesen, daß Barthorpe seit dem Morde mit Burchill in enger Fühlung stand. Und daraus folgert man, daß er auch vorher häufig mit ihm verkehrte.

Fünftens. Eine Tatsache ist voll bewiesen. Barthorpe war in der fraglichen Zeit, in der nach dem ärztlichen Gutachten der Mord geschehen sein muß, in dem Siedlungsbüro. Barthorpe hat Mantel und Hut seines Onkels genommen, diese Wohnung aufgesucht und ist später zu dem Siedlungsbüro zurückgekehrt. An diesen Tatsachen läßt sich nicht rütteln, und diese Verkettung von Umständen läßt Barthorpe schuldig erscheinen.

Sechstens. Aus alledem zieht die Polizei den Schluß, daß Barthorpe seinen Onkel ermordet hat, und daß Burchill vorher als Helfershelfer auftrat. Es konnte durch keine Zeugenaussage bewiesen werden, daß sich Burchill während jener Nacht in der Nähe des Siedlungsbüros aufgehalten hat. Aber das ist nach Lage der Dinge unwesentlich. Wenn, wie die Polizei andeutet, bewiesen werden kann, daß eine Verschwörung mit dem Ziel, Jacob Herapath zu ermorden, vor dem 12. November bestand, dann kommt es gar nicht darauf an, ob Burchill aktiven Anteil an der Tat hatte oder nicht. Er ist auf jeden Fall als Mittäter schuldig.«

Der Professor machte eine Pause und strich mit der Hand über die Papiere an seiner Seite.

»Aber«, sagte er dann mit großem Nachdruck, »und dieses Aber möchte ich ganz besonders unterstreichen – es ist die große Frage, ob die Verschwörung vor dem 12. November existierte. Das ist entscheidend für die Schuld oder Unschuld Barthorpes. Wir wissen, daß Barthorpe heute morgen ganz gegen den Willen seiner Verteidiger hartnäckig darauf bestand, eine Erklärung abzugeben. Sie ist in fast allen Abendzeitungen wörtlich wiedergegeben, und ich möchte sie Ihnen jetzt genau vorlesen.«

Er nahm eine Zeitung von dem Tischchen und begann.

»Ich will die reine Wahrheit sagen über alles, was ich mit dieser Sache zu tun habe. Ich habe die Aussagen verfolgt, die verschiedene Zeugen über meine finanzielle Lage gemacht haben, und was sie sagten, ist mehr oder weniger richtig. Ich habe im letzten Winter bei Wetten und im Spiel viel Geld verloren, wußte jedoch nicht, daß meine Lage meinem verstorbenen Onkel bekannt war, bis ich heute durch Zeugenaussagen erfuhr, daß mich mein Onkel von Privatdetektiven beobachten ließ. Ich wollte ihm an dem Abend, an dem er ermordet wurde, offen meine Verhältnisse schildern, denn ich stand auf gutem Fuß mit ihm. Was er auch immer über meine Schulden gewußt haben mag, mir gegenüber hat er niemals etwas davon erwähnt. Etwa vor einem Jahr haben wir beide im Scherz darüber gesprochen, daß er ein Testament machen sollte, und ich gab ihm den Rat, es zu tun. Ich wollte es für ihn aufsetzen. Er erwiderte lachend, daß das sicher einmal geschehen müßte. Ich erkläre hier feierlich, daß ich am 12. November, dem Tage der Tat, keine Ahnung davon hatte, daß er tatsächlich ein Testament gemacht hatte.

Am 12. November erhielt ich ungefähr um fünf Uhr nachmittags von meinem Onkel eine kurze Mitteilung, in der er mich bat, ihn um zwölf Uhr nachts in seinem Büro in Kensington aufzusuchen. Ich hatte ihn schon vorher öfters um diese Zeit dort getroffen und fand nichts Ungewöhnliches in dieser Aufforderung. Ich begab mich natürlich dorthin, und zwar zu Fuß. Als ich ankam, sah ich das Auto meines Onkels. Die äußere Tür, die zu den Büroräumen führte, war nur angelehnt, und darüber war ich sehr erstaunt. Gewöhnlich mußte ich klingeln, wenn ich so spät dorthin kam, und er öffnete mir dann. Ich trat ein und fand, daß auch die Tür zu seinem Büro aufstand. Das elektrische Licht brannte. In dem Zimmer selbst sah ich dann meinen Onkel tot zwischen dem Pult und dem Kamin auf dem Boden liegen. Ein Revolver lag ganz in der Nähe. Ich berührte seine Hand, sie war noch warm.

Anzeichen eines Kampfes waren nicht zu entdecken, und ich folgerte also, daß sich mein Onkel selbst erschossen hatte. Seine Schlüssel lagen auf dem Schreibtisch, sein Pelzmantel und sein weicher Hut auf dem Sofa. Ich erschrak natürlich sehr und trat zunächst auf den Gang hinaus, um den Hausverwalter zu rufen. Im Hause herrschte Totenstille; ich begann nachzudenken und führte dann meine Absicht nicht aus. Ich wußte, daß ich mich in einer sehr ernsten Lage befand. Der Tod meines Onkels bedeutete einen großen Umschwung für mich, denn ich war sein nächster männlicher Verwandter. Das Verlangen, zu wissen, wie ich nun daran war, wurde übermächtig in mir, und als ich den Hut und den Mantel sah, kam mir ein Gedanke. Ich zog sie an, nahm die Schlüssel von dem Schreibtisch und den Hausschlüssel seiner Wohnung am Portman Square aus seiner Tasche, drehte das Licht aus, schloß beide Türen, ging zu seinem Auto und ließ mich zur Wohnung fahren. Der Chauffeur hielt mich für Jacob Herapath.

Ich habe alle Zeugenaussagen gehört, die sich auf meinen Besuch in der Wohnung beziehen. Es ist wahr, daß ich mich dort einige Zeit aufgehalten habe. Ich suchte dort lange nach einem Testament, fand aber nichts. Es stimmt auch, daß ich aus dem Glase getrunken und ein Brot gegessen habe. Ein anderes habe ich noch angebissen. Ebenso ist es richtig, daß mein rechter vorderer Eckzahn abgebrochen ist, und daß der Eindruck auf dem Butterbrot gefunden wurde. Alles das gebe ich zu. Ich bin auch mit dem Mietauto um zwei Uhr von der Orchard Street zu dem Büro in Kensington zurückgefahren. Dort hatte sich inzwischen nichts verändert. Ich nahm Hut und Mantel ab, legte die Schlüssel unter einige lose Papiere auf den Tisch, drehte das Licht wieder aus und ging nach Hause.

Nun komme ich zu Burchill und dem Testament. Als ich zuerst von dem Testament hörte und es nachher auch persönlich sah, wollte ich Burchill in seiner Wohnung aufsuchen. Ich hatte ihn früher im Hause meines Onkels gesehen, stand aber in keiner Verbindung mehr mit ihm, nachdem er aus den Diensten meines Onkels entlassen worden war. An jenem Nachmittag habe ich ihn zum erstenmal wiedergesehen. Seine Adresse wußte ich aus dem Brief, den ich in der Brieftasche meines Onkels fand und an mich nahm, als die Polizei mit mir zusammen die Papiere durchsah. Burchill trieb ein falsches Spiel mit mir, als ich ihm sagte, daß ein Testament gefunden worden sei. Er antwortete mir nur ausweichend und fragte mich schließlich direkt, ob ich ihm eine große Belohnung zahlen würde, wenn er mir dazu verhelfen würde, das Testament erfolgreich anzufechten und außer Kraft zu setzen. Ich antwortete, daß ich das tun wollte, wenn er dazu imstande sei, was ich allerdings zuerst bezweifelte. Gegen zehn Uhr abends suchte ich ihn dann noch einmal auf, und er erklärte mir, daß Mr. Tertius in Wirklichkeit Arthur John Wynne, ein früherer Zuchthäusler, sei, der wegen Fälschung verurteilt worden war. Er gab mir seine Beweise, und ich war töricht genug, ihm zu vertrauen. Es würde sehr leicht sein, meinte er, in Anbetracht von Wynnes Vorleben den Beweis zu erbringen, daß er das Testament zugunsten seiner Tochter gefälscht habe. Er bot mir seine Hilfe an, wenn ich ihm zehn Prozent des gesamten Vermögens meines Onkels zusicherte. Ich ließ mich leider verleiten, meine Unterschrift zu geben, aber ich erkläre feierlich, daß der ganze Plan, das Testament anzufechten, von Burchill stammt. Und es existierte kein Übereinkommen oder eine Verschwörung zwischen uns vor diesem Abend. Wie sich die Dinge auch immer entwickeln mögen, ich habe vor diesem Gericht die reine Wahrheit gesprochen!«

Professor Cox faltete die Zeitung zusammen, legte sie auf den kleinen Tisch und schlug mit der Hand auf sein Knie.

»Und ich sage Ihnen, daß diese Erklärung auch vollkommen der Wahrheit entspricht. Ich habe mir die Sache nach allen Richtungen hin überlegt. Wenn sie Barthorpe hängen, begehen sie einen schweren Justizirrtum. Aber –«

 


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