Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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10. Kapitel.

Mr. Benjamin Halfpenny.

Als Barthorpe Herapath seine Kusine, Mr. Tertius und Selwood verließ, ging er unterwegs an einem Auto vorbei, in dem ein älterer, etwas korpulenter Herr saß. Der Wagen hielt vor dem Haus am Portman Square, und Mr. Halfpenny eilte in die Wohnung von Jacob Herapath. Peggie und Tertius waren hocherfreut, als sie ihn sahen.

»Mr. Halfpenny!« rief sie freudig, »wie gut von Ihnen, daß Sie gerade jetzt kommen!«

»Im Moment haben wir von Ihnen gesprochen«, bemerkte Mr. Tertius. »Mr. Selwood und ich hatten eben die Absicht, zu Ihrem Büro zu gehen und uns zu erkundigen, ob Sie zur Zeit in der Stadt weilten.«

Mr. Halfpenny hatte kaum sein großes, weißseidenes Halstuch abgelegt, als er schon auf Peggie zutrat, sie feierlich auf beide Backen küßte und sie freundschaftlich auf die Schulter klopfte. Dann reichte er Mr. Tertius die Hand und grüßte Selwood durch eine Verneigung.

»Was für eine schreckliche Nachricht! Ich habe sie erst vor kurzem erfahren, als ich zu meinem Büro kam, und bin sofort hergeeilt, um zu sehen, ob ich irgendwie helfen kann. Sie brauchen mir nur zu sagen, was ich für Sie tun soll. Ich meine nicht beruflich, dafür haben Sie ja Ihren Vetter, aber in jeder anderen Beziehung.«

Mr. Tertius sah Peggie bedeutsam an.

»Wir werden wahrscheinlich in diesem Fall froh sein, wenn Mr. Halfpenny uns auch beruflich berät«, meinte er. »Sie werden verstehen, daß Barthorpe als einziger männlicher Verwandter nach einem Testament suchte. Er verbat sich jede Einmischung von meiner Seite und war äußerst unhöflich und grob zu mir. Als er dann aber hier in die Wohnung kam und den Safe untersuchen wollte, sagte ich ihm gleich, daß ein Testament existierte, und daß ich wüßte, wo es verwahrt wird. Vor kaum zehn Minuten haben wir die letztwillige Verfügung von Mr. Jacob Herapath in dem Sekretär dort aufgefunden und gelesen. Barthorpe hat daraufhin sofort das Haus verlassen.«

»Zeigen Sie mir doch das Dokument einmal.«

Mr. Tertius reichte es ihm, und der Rechtsanwalt trat an ein Fenster, wo er besseres Licht hatte.

»Mr. Tertius, erzählen Sie mir doch bitte die näheren Umstände, unter denen Sie dieses Schriftstück unterzeichnet haben«, bat er, als er gelesen hatte.

»Sehr gern. Eines Abends ließ mich Jacob Herapath in sein Studierzimmer rufen, wo er mit seinem damaligen Sekretär, Mr. Frank Burchill, arbeitete, und bat mich, mit diesem zusammen seine Unterschrift auf einem Dokument zu beglaubigen.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Mr. Halfpenny. »Sagte er ›Dokument‹ oder sagte er ›Testament‹?«

»Er sprach von einem Dokument. Er zeigte uns den Text flüchtig, aber wir konnten nicht lesen, was dort geschrieben stand. Dann faltete er es so zusammen, daß nur der untere Rand offenblieb und unterschrieb es. Wir beide zeichneten unsere Namen an die Stelle, die er uns angab. Ich zuerst, dann Burchill. Er steckte das Schreiben in ein großes Kuvert und versiegelte es.«

»Geschah sonst nichts?« fragte Mr. Halfpenny.

»Doch. Hören Sie. Als Burchill gegangen war, wollte ich das Zimmer auch verlassen, aber Jacob rief mich zurück. ›Das war mein Testament‹, sagte er. ›Den Inhalt will ich Ihnen nicht mitteilen, das ist nicht so wichtig. Es wäre möglich, daß ich eines Tages noch einige Änderungen daran vornehme, aber wahrscheinlich bleibt es wie es ist. Ich siegle das Kuvert jetzt und zeige Ihnen, wo ich es aufbewahren will.‹ Dann legte er das Testament in meiner Gegenwart in ein Geheimfach dieses Sekretärs. ›Sprechen Sie nicht davon‹, bat er mich, ›es sei denn, daß ich einmal plötzlich sterben sollte.‹ Und ich habe auch bis etwa vor einer halben Stunde darüber geschwiegen.«

»Was wurde denn aus diesem Mr. Frank Burchill? Er hat doch seine Stelle hier aufgeben müssen?«

»Ja, er ist schon vor einiger Zeit entlassen worden.«

»Nun, wir haben ja seine Adresse auf diesem Testament. Ich will ihn gleich aufsuchen. Das Testament selbst ist in bester Ordnung und kann, soviel ich jetzt übersehe, nicht angefochten werden. Was hat denn eigentlich Barthorpe zu dem Inhalt gesagt?«

»Nichts. Er ging sofort weg.«

»Ich bin nicht im mindesten darüber erstaunt. Für Barthorpe war dies natürlich ein harter Schlag. Es ist auch merkwürdig, daß Herapath seinem Neffen nichts vermacht hat, der doch der Sohn seines einzigen Bruders ist. Das ist wirklich außergewöhnlich. Peggie, können Sie das erklären? Bestand irgendeine Entfremdung oder Abneigung zwischen den beiden?«

»Mir ist nichts davon bekannt«, entgegnete sie. »Ich bin selbst sehr bestürzt darüber. Bekommt er denn tatsächlich nichts?«

»Nein. Der Wortlaut des Testaments ist ja vollkommen eindeutig. Sie wollen mich vermutlich mit der Vertretung Ihrer Interessen beauftragen? Dann will ich dieses wichtige Dokument an mich nehmen und in dem Safe meines Büros einschließen. Auf meinem Heimwege suche ich Burchill auf und spreche einmal mit ihm. Vielleicht begleiten Sie mich, Tertius? Und dann möchte ich noch eine andere Sache erledigt wissen. Mr. Selwood, haben Sie im Augenblick etwas vor?«

»Nein, ich habe nichts weiter zu tun.«

»Dann gehen Sie doch bitte ins Büro zu Mr. Barthorpe Herapath, und sagen Sie ihm persönlich, daß ich von Mr. Tertius und Miß Wynne die Unterlagen erhalten habe und ihm zu großem Dank verpflichtet wäre, wenn er mich heute noch vor fünf Uhr in meinem Büro aufsuchen wollte. Besten Dank, Mr. Selwood. Und nun wollen wir beide uns an die Arbeit machen, mein lieber Tertius.«

Peggie Wynne blieb allein zurück. Welch ein großer Umschwung war doch in ihrem Leben eingetreten! Wie glücklich war sie noch gestern gewesen. Dieses Zimmer, in dem Jacob Herapath geschäftig ein und aus gegangen war, in dem er gearbeitet hatte, erschien ihr nun öde und traurig. Ja, das ganze Haus, in dem sie nun so viele Jahre glücklich und zufrieden gelebt hatte, kam ihr plötzlich fremd vor. Ihr Onkel hatte zwar bei seiner reichen Tätigkeit nur einige Stunden am Tage hier zubringen können, aber so oft er es möglich machen konnte, kam er auf eine Viertelstunde heim, um eine Tasse Tee mit ihr zu trinken oder eine kurze Mahlzeit mit ihr einzunehmen. Und etwas von seiner Persönlichkeit hatte sich dem ganzen Hause aufgeprägt, und es war Peggie, als ob er immer noch gegenwärtig wäre. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie ihn nun niemals wiedersehen, seine Stimme nie wieder hören würde. Zum erstenmal in ihrem Leben überkam sie ein Gefühl namenloser Verlassenheit und Traurigkeit. In allen praktischen Fragen des Lebens war sie nun ganz auf sich gestellt, denn außer Barthorpe Herapath hatte sie keine Verwandten. Aber es lag ein Schatten über ihrem Verhältnis zu ihm. Mit Entsetzen hatte sie heute sein Gesicht beobachtet, während er das Testament las. Es sah so verzerrt aus, daß sie noch jetzt Furcht packte, wenn sie daran dachte. Barthorpe war nicht der Mann, der seine Pläne durchkreuzen ließ, und nun –

Wenn nun Barthorpe sie haßte, weil sie all das Geld geerbt hatte? Dieser Gedanke quälte sie. Dann würde sie keinen Verwandten mehr auf der Welt haben. Mr. Tertius war natürlich noch da. Aber sie wollte Barthorpe vorschlagen, das Erbe mit ihm zu teilen. Aber warum hatte ihr Onkel nicht schon zwischen ihnen geteilt? Warum hatte er Barthorpe enterbt?

In gedrückter, trauriger Stimmung stieg Peggie die Treppe hinauf und ging in ihr Wohnzimmer, das sie sich ganz nach ihrem eigenen Geschmack eingerichtet hatte. Während die Schatten des Novembernachmittags draußen immer tiefer und tiefer wurden, saß sie in einem Sessel und dachte tief und angestrengt nach. Aber sie wurde aufgestört, als der Hausmeister Kitteridge leise in den Raum trat und ihr eine Karte reichte. Peggie nahm sie achtlos von dem Silbertablett, sah aber erstaunt auf, als sie den Namen gelesen hatte.

»Was, Mr. Burchill? Ist er hier im Hause?«

»Nein. Mr. Burchill wollte Ihnen nur einen Kondolenzbesuch machen und Ihnen seine aufrichtige und ergebene Teilnahme ausdrücken. Er trug mir auf, Ihnen mitzuteilen, daß Sie nur über ihn zu verfügen brauchten, wenn er Ihnen oder Ihrer Familie irgendwie von Nutzen sein könnte. Er hat seine Adresse dort auf die Karte geschrieben.«

»Das ist sehr liebenswürdig von ihm«, erwiderte Peggie halblaut und legte die Karte auf den kleinen Schreibtisch. Als Kitteridge gegangen war, nahm sie sie wieder in die Hand. Es war doch merkwürdig, daß sie vor einigen Minuten an diesen Mann hatte denken müssen. Es waren aber keine angenehmen Erinnerungen, die dieser Name in ihr weckte, im Gegenteil, sie hatte sich beunruhigt gefühlt. Burchill war der letzte, mit dem sie jetzt etwas zu tun haben wollte, und schon allein die Tatsache, daß er das Testament ihres Onkels unterschrieben hatte, bedrückte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte.

 


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