Joseph Smith Fletcher
Kampf um das Erbe
Joseph Smith Fletcher

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3. Kapitel.

Barthorpe übernimmt die Leitung.

Der junge Mann machte einen gefaßten und ruhigen Eindruck, als er eintrat. Es fiel allen auf, daß er, abgesehen von dem Altersunterschied, sowohl in Gestalt als auch im Aussehen dem Toten auffallend glich. Beide waren groß, schlank und wohlproportioniert. Jacob Herapath war allerdings ergraut, während sein Neffe, der dreißig bis fünfunddreißig Jahre zählen mochte, dunkles Haar hatte.

Barthorpe beugte sich über den Toten und betrachtete ihn lange. Sein Gesicht blieb aber undurchdringlich und zeigte keine Ergriffenheit, als er sich wieder aufrichtete. Er begrüßte Mr. Tertius und Selwood nur durch ein leichtes Kopfnicken und wandte sich dann an die Polizeibeamten.

»Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.« Sein Ton klang beinahe befehlend.

Nachdem ihm der Inspektor alles berichtet hatte, wandte sich Barthorpe an Selwood. Mr. Tertius schien er absichtlich zu übersehen.

»Was ist denn in der Wohnung am Portman Square bekannt? Sagen Sie mir das bitte kurz.«

Selwood hatte Barthorpe erst zweimal gesehen, empfand aber eine instinktive Abneigung gegen ihn. So knapp als möglich erzählte er ihm, was vorgegangen war.

»Dann ist also meine Kusine hier im Hause?«

»Ja, Miß Wynne befindet sich in dem großen Wartezimmer am anderen Ende des Ganges.«

»Ich werde gleich zu ihr gehen. Nun muß noch Verschiedenes angeordnet werden, Inspektor. Natürlich wird eine Totenschau stattfinden, Sie müssen also sofort den Vorsitzenden der Mordkommission benachrichtigen. Dann muß die Leiche fortgebracht werden – bitte übernehmen Sie das auch. Bevor Sie aber gehen, wäre es mir lieb, wenn Sie alle Anhaltspunkte mit mir sammeln würden, deren wir habhaft werden können. Sind seine Taschen schon durchsucht?«

Der Inspektor zog eine Schublade des Schreibtisches auf und zeigte auf verschiedene Gegenstände, die darin lagen.

»Alles, was wir gefunden haben, ist hier. Es ist nicht viel. Eine Taschenuhr und Kette, ein Geldbeutel, loses Geld, eine Brieftasche, ein Zigarrenetui. Seine Schlüssel haben wir nicht entdecken können. Er hatte nicht einmal seinen Hausschlüssel bei sich. Und doch muß er selbst die Haustür hier aufgeschlossen haben, und er brauchte doch auch einen Schlüssel, um hier hereinzukommen.«

»Das ist merkwürdig«, sagte Barthorpe nach einer Pause bestürzt und neigte sich über die offene Schublade. »Natürlich müssen wir diesem Umstand genaue Beachtung schenken. Schließen Sie jetzt das Fach ab, und nehmen Sie den Schlüssel selbst in Verwahrung. Später wollen wir die Gegenstände noch einmal genauer betrachten. Nun müssen wir aber weitere Nachforschungen anstellen. Mr. Selwood, telefonieren Sie doch bitte einmal nach Portman Square, daß der Hausmeister und der Chauffeur sofort herkommen sollen. Inspektor, wollen Sie in der Zwischenzeit die Anordnungen treffen, über die wir eben sprachen? Der Hausverwalter muß auch gerufen werden. Ich will jetzt meine Kusine begrüßen.«

Mit diesen Worten verließ er den Raum und ging mit energischen Schritten zu dem Wartezimmer hinüber. Selwood folgte ihm den Gang entlang und sah, daß er hineinging und die Tür hinter sich schloß.

Selwood schalt sich selbst einen Narren, weil er Unwillen darüber empfand, daß Barthorpe Peggie Wynnes Vetter war und nun wahrscheinlich ihren Beschützer spielen würde. In den vergangenen drei Wochen hatte er Peggie oft genug gesehen und war im besten Begriff, sich in sie zu verlieben, obwohl er sich selbst sagte, daß er nicht daran denken durfte, eine der reichsten Erbinnen Londons zu heiraten.

Als der Hausmeister und der Chauffeur nach kurzer Zeit ankamen, erzählte ihnen Selwood, was geschehen war. Gleich darauf trat auch Barthorpe Herapath aus dem Wartezimmer und winkte dem Inspektor, der sich leise mit dem Detektiv unterhielt.

»Kommen Sie bitte mit Ihrem Assistenten herein. Dann brauche ich noch den Hausverwalter, Kitteridge und Mountain. Darf ich Sie auch bitten, Mr. Selwood?«

Er blieb an der Tür stehen, während die anderen hineingingen. Peggie saß noch in ihrem Sessel. Tertius wollte Selwood folgen, aber Barthorpe vertrat ihm den Weg.

»Dies ist eine Privatuntersuchung, die ich persönlich anstelle, Mr. Tertius«, sagte er mit einem bezeichnenden Blick.

Selwood wandte sich erstaunt um. Er sah, wie Mr. Tertius errötete, stehenblieb und Barthorpe verwirrt ansah.

»Wünschen Sie nicht, daß ich zugegen bin?« fragte er stockend.

»Offen gestanden nicht«, entgegnete Barthorpe mit fast beleidigender Offenheit. »Später wird noch eine Totenschau stattfinden, dorthin können Sie ja gehen. Das kann ich Ihnen nicht verbieten.«

Mr. Tertius machte eine kurze, förmliche Verbeugung, wandte sich um und verließ das Gebäude.

Barthorpe Herapath lachte leise und verächtlich, dann ging er in das Wartezimmer und schloß die Tür. Er bat alle Anwesenden, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in einen Sessel neben Peggie.

»Inspektor Milner«, begann er, »wir müssen jetzt sehen, daß wir durch ein erstes Verhör die Sache möglichst klären können, solange noch alle Tatsachen frisch im Gedächtnis sind. Soviel ich gehört habe, neigte der Polizeiarzt zu der Meinung, daß mein Onkel Selbstmord verübt hat. Es tut mir leid, daß er schon gegangen ist, denn meiner Meinung nach ist diese Ansicht unhaltbar. Meine Kusine und ich kannten unseren Onkel zu gut, und wir sind beide davon überzeugt, daß ein Selbstmord bei Mr. Jacob Herapath nicht in Frage kam. Wir sind auch fest entschlossen, diese Annahme mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln zu bekämpfen, wenn sie bei der Totenschau vorgebracht werden sollte. Mein Onkel ist sicher ermordet worden. Vor allem müssen wir nun feststellen, wo er gestern abend gewesen ist. Zuerst wollen wir den Hausverwalter hier hören. Hancock«, wandte er sich an einen älteren Mann, »Sie waren doch der erste, der meinen Onkel hier auffand?«

Hancock war sehr aufgeregt, aber er nahm sich zusammen.

»Ja, ich habe ihn zuerst hier gefunden.«

»Um wieviel Uhr war das?«

»Punkt acht. Um diese Zeit öffne ich gewöhnlich die Büroräume.«

»Sagen Sie uns genau, wie Sie ihn fanden.«

»Ich machte die Tür zum Privatbüro auf, um die Vorhänge aufzuziehen und die Fenster zu öffnen. Als ich durchs Zimmer ging, sah ich ihn auf dem Teppich liegen. Gleich darauf entdeckte ich den Revolver.«

»Natürlich waren Sie sehr erschrocken. Was haben Sie denn dann gemacht?«

»Ich verließ das Zimmer, schloß die Tür ab und ging zum Telefon, um die Polizei zu benachrichtigen. Dann wartete ich draußen, bis Inspektor Milner kam.«

»War die Haustür wie gewöhnlich geschlossen, als Sie heute morgen herunterkamen?«

»Ja. Sie war eingeklinkt. Mr. Herapath pflegte das so zu halten, weil er häufig spät abends hierherkam, um zu arbeiten.«

»Gut. Diese Büroräume liegen nun weit ab von den bewohnten Teilen des Gebäudes, beachten Sie das bitte besonders, Inspektor Milner. Man kann von den Büroräumen nicht direkt in andere Teile des Hauses kommen. Es gibt auch nur einen Eingang zu den Büros, und zwar durch die Haustür. Das stimmt doch, Hancock?«

»Ja, das ist richtig.«

»Und die einzigen, die während der Nacht Zutritt zu diesen Räumen haben, sind Sie und Ihre Frau, Hancock?«

»Ja.«

»Wo liegt denn Ihre Wohnung?«

»Im Kellergeschoß haben wir Wohnzimmer und Küche, und im Dachgeschoß schlafen wir.«

»Wieviel Stockwerke hat denn dieses Haus?«

»Da ist das Kellergeschoß, das Erdgeschoß, dann zwei Stockwerke, in denen die Angestellten arbeiten, und das Dachgeschoß.«

»Wann sind Sie und Ihre Frau gestern abend zu Bett gegangen?«

»Um elf Uhr, etwas später als sonst.«

»Haben Sie vorher eine Runde im Hause gemacht?«

»Ja, das tue ich jeden Abend.«

»Haben Sie und Ihre Frau einen gesunden, festen Schlaf?«

»Ja.«

»Sie haben nichts gehört, nachdem Sie zu Bett gegangen waren?«

»Nein.«

»Haben Sie keinen Revolverschuß gehört?«

»Nein.«

»Auch nicht das Anfahren eines Autos, das Öffnen und Schließen von Türen?«

»Nein.«

»Sie haben sich doch sicher in dem Raum umgesehen, nachdem Sie Mr. Herapath fanden? Haben Sie Anzeichen dafür entdeckt, daß ein Handgemenge stattgefunden hat?«

»Nein, davon habe ich nichts gesehen. Nur der Armsessel, in dem Mr. Herapath gewöhnlich saß, war ein wenig zurückgeschoben. Das war alles.«

»Brannte das elektrische Licht noch?«

»Nein.«

»Wenn ich also Ihre Aussagen zusammenfasse, so haben Sie weder etwas gehört, noch ist Ihnen etwas aufgefallen, bis Sie heute morgen herunterkamen?«

»Ja, so war es.«

Barthorpe nickte und wandte sich an den Chauffeur.

»Mountain, nun erzählen Sie, was Sie wissen. Seien Sie aber sehr sorgfältig, denn Ihre Angaben sind von der größten Wichtigkeit.«

 


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