Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil III
Henry Fielding

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Funfzehntes Kapitel.

Eine kurze Geschichte von Europa und ein merkwürdiges Zwiegespräch zwischen Jones und dem Manne vom Berge.

In Italien sind die Wirthe schweigsam, in Frankreich schwatzlustiger, aber doch artig, in Deutschland und Holland aber meist sehr impertinent. Mit der Ehrlichkeit ist es wohl in allen Ländern so ziemlich gleich bestellt. Die Lohnbedienten versäumen sicherlich keine Gelegenheit, Sie zu betrügen, und die Postillone sind, glaube ich, einander in der ganzen Welt so ziemlich gleich. Dies sind in Bezug auf die Menschen die Beobachtungen, die ich auf meinen Reisen gemacht habe; mit andern habe ich keinen Umgang gehabt. Ich hatte nur die Absicht, mich durch die Betrachtung der wunderbar mannichfaltigen Aussichten, Thiere. Vögel, Fische, Insecten und Gewächse zu zerstreuen, mir denen Gott die verschiedenen Gegenden der Erde geschmückt hat, und welche dem nachdenkenden Beschauer nicht blos großes Vergnügen gewähren, sondern auch von der Macht, der Weisheit und der Güte des Schöpfers zeugen. Es giebt in der That in seiner ganzen Schöpfung nur ein Werk, das ihm keine Ehre macht, den Menschen, und mit diesem habe ich seit langer Zeit jeden Umgang vermieden.

»Verzeihen Sie mir,« warf Jones ein, »ich bin immer der Meinung gewesen, daß es in dem Werke, das Sie erwähnen, eine eben so große Mannichfaltigkeit giebt, wie in allen übrigen, denn außer den verschiedenen Neigungen haben auch die Gewohnheiten und das Klima, wie man 96 mir gesagt hat, eine unermeßliche Verschiedenartigkeit in der menschlichen Natur veranlaßt.«

Im Ganzen doch nur eine sehr geringe, antwortete der Alte; diejenigen, welche Reisen unternehmen, um die verschiedene Lebensweise der Menschen kennen zu lernen, könnten sich diese ganze Mühe ersparen, wenn sie den Carneval zu Venedig besuchten, denn dort kann man alles beisammen sehn, was man an den verschiedenen Höfen Europas findet, dieselbe Heuchelei, denselben Trug, kurz dieselben Thorheiten und Laster in verschiedenen Bekleidungen. In Spanien zeigen sie sich unter großem Ernst, in Italien unter vielem Pomp. In Frankreich ist ein Schurke wie ein Stutzer gekleidet und in den nördlichen Ländern gemein und nachlässig. Die menschliche Natur aber ist überall dieselbe, überall der Gegenstand des Abscheus und der Verachtung. Ich bin durch alle diese Nationen gewandert, wie Sie vielleicht durch eine Volksmenge bei irgend einer Sehenswürdigkeit, d. h. ich mußte die Ellenbogen brauchen, um durchzukommen, mit der einen Hand die Nase, mit der andern die Tasche zuhalten, ohne irgend ein Wort mit Einem zu sprechen, während ich mich durcharbeitete, um zu sehen, was ich sehen wollte. Wie unterhaltend dies nun auch an sich sein mochte, so entschädigte es mich doch kaum für die Belästigung, die ich durch die Gesellschaft erfuhr.«

»Fanden Sie nicht einige der Nationen, die Sie besuchten, weniger belästigend als andre?« fragte Jones.

O ja, antwortete der Alte; die Türken kamen mir weit erträglicher vor, als die Christen, denn sie sind sehr schweigsame Leute und belästigen einen Fremden niemals mit Fragen. Bisweilen schleudern sie einen kurzen Fluch gegen ihn oder spucken ihm in das Gesicht, während er in den Straßen hingeht, dann sind sie aber auch fertig mit ihm, und man kann ein Jahrhundert unter ihnen leben, ohne ein Dutzend 97 Worte von ihnen zu hören. Vor Allem aber bewahre mich Gott vor den Franzosen. Mit ihrem Geschwätz und ihrer Höflichkeit sind sie so lästig und unausstehlich, daß ich lieber mein ganzes Leben lang unter den Hottentotten zubringen, als Paris noch einmal betreten möchte. Jene sind ein schmuziges Volk, aber der Schmuz liegt außen; in Frankreich dagegen und bei einigen anderen Nationen, die ich nicht nennen will, liegt der Schmuz inwendig und sie werden meinen Gefühlen dadurch widerwärtiger, als die Hottentotten meiner Nase. – So habe ich die Geschichte meines Lebens beendiget, denn die Reihe von Jahren, welche ich hier zurückgezogen verlebt habe, enthält nichts, das Ihnen Unterhaltung gewähren könnte und kann als ein Tag angesehen werden. Ich habe so ganz zurückgezogen gelebt, daß ich in den afrikanischen Wüsten schwerlich hätte einsamer sein können, als hier inmitten eines volkreichen Landes. Da ich kein Gut besitze, so werde ich weder von Pächtern noch von Verwaltern geplagt; mein Jahrgeld wird mir ziemlich regelmäßig ausgezahlt, wie es sich gehört, denn es ist geringer, als ich für das, was ich aufgab, wohl hätte erwarten können. Besuche nehme ich nicht an, und die alte Frau, die mein Hauswesen führt, weiß, daß sie ihre Stelle nur so lange behält. als sie mir die Mühe erspart, das einzukaufen, was ich brauche, alle Gesuche und Geschäfte von mir entfernt und ihre Zunge ruhen läßt, wenn ich in der Nähe bin. Da ich nur in der Nacht ausgehe, so kann ich so ziemlich sicher darauf rechnen, in dieser wilden unbesuchten Gegend keine Gesellschaft zu finden. Ich habe zwar zufällig einigen Personen begegnet, die meiner Kleidung und meines Aussehens wegen mich für einen Geist oder ein Gespenst hielten und erschrocken davonliefen; der Vorfall in der heutigen Nacht aber beweist mir, daß ich selbst hier vor der Schlechtigkeit der Menschen nicht geborgen bin, denn 98 ohne Ihren Beistand würde ich nicht blos beraubt, sondern wahrscheinlich auch ermordet worden sein.«

Jones dankte dem Alten dafür, daß er ihm seine Geschichte erzählt, und äußerte dann seine Verwunderung darüber, wie derselbe ein so einsames Leben habe ertragen können. »Ich kann nicht begreifen, wie Sie eine so lange Zeit ausgefüllt oder vielmehr vertrieben haben.«

Ich wundere mich gar nicht, antwortete der Andere, daß Jemand, dessen Neigungen und Gedanken der Welt angehören, der Meinung ist, es müßte mir hier an Beschäftigung gefehlt haben; es giebt eine einzige Handlung, für welche das ganze menschliche Leben nicht hinreicht; welche Zeit genügt zur Betrachtung und Anbetung jenes glorreichen, unsterblichen und ewigen Wesens, unter dessen Werken nicht blos diese Erde, sondern selbst jene zahllosen Gestirne, die am ganzen Himmel funkeln und von denen manche vielleicht Sonnen sind, welche verschiedene Weltsysteme beleuchten, vielleicht nur Sonnenstäubchen sind im Vergleich mit der ganzen Schöpfung? Muß nicht ein Mensch, der bei dem Nachdenken gleichsam ein Gespräch hält mit dieser unaussprechlichen und unbegreiflichen Majestät, Tage, Jahre, Jahrhunderte für zu kurz für eine solche erhebende Ehre halten? Sollen die unbedeutenden Freuden, die vergänglichen Vergnügungen, das thörichte Geschäftstreiben dieser Welt, unsere Stunden uns so schnell entführen, daß der Gang der Zeit einem Geiste zu träge vorkäme, der sich mit so erhabenen, so wichtigen und glorreichen Studien beschäftiget? Wie hierzu keine Zeit hinreicht, so ist auch kein Ort ungeeignet. Welchen Gegenstand können wir betrachten, der uns nicht an Gottes Macht, Weisheit und Güte erinnerte? Es ist nicht nöthig, daß die aufgehende Sonne ihre feurigen Strahlen über den östlichen Himmel verbreitet; es ist nicht nöthig, daß tobende Winde aus ihren Höhlen hervorbrechen 99 und den hohen Wald erschüttern; es ist nicht nöthig, daß die Wolken ihren Schoos öffnen und die Ebenen überschwemmen; kein Insect, kein Gewächs steht in der Ordnung der Schöpfung so tief, daß es nicht Zeichen der Attribute seines großen Schöpfers an sich trüge, Zeichen nicht nur seiner Macht, sondern auch seiner Weisheit und Güte. Der Mensch allein, der König dieser Erde, das letzte und größte Werk des höchsten Wesens unter der Sonne, der Mensch allein hat seine eigene Natur geschändet und durch Unehrlichkeit, Grausamkeit, Undankbarkeit und Verrath die Güte seines Schöpfers in Zweifel gestellt, so daß wir nicht begreifen können, warum ein so wohlwollendes Wesen ein so thörichtes und gemeines Geschöpf ins Leben rief. Dieses Geschöpf ist es, dessen Umgang ich, wie Sie meinen, unglücklicherweise entbehrt habe und ohne dessen Gesellschaft, Ihrer Ansicht nach, das Leben langweilig und freudenlos sein muß.

– »Mit dem ersten Theile Ihres Ausspruchs stimme ich bereitwillig und von Herzen überein, aber ich glaube und hoffe, daß der Abscheu, den Sie am Schlusse gegen das ganze Menschengeschlecht aussprachen, viel zu allgemein ist. Sie verfallen hier in einen Irrthum, der, wie mich schon meine geringe Erfahrung gelehrt hat, ein sehr häufig vorkommender ist; Sie beurtheilen die Menschheit nach den schlechtesten Menschen, während, wie ein vortrefflicher Schriftsteller sagt, nichts für characteristisch an einer Spezies gehalten werden sollte, was sich nicht an den besten und vollkommensten Individuen jener Spezies findet. Diesen Irrthum begehen, wie ich glaube, im Allgemeinen diejenigen, welche in Folge nicht gehöriger Vorsicht in der Wahl ihrer Freunde und Bekannten, durch schlechte und unwürdige Menschen gelitten haben; zwei oder drei Beispiele der Art werden dann der ganzen Menschheit zur Last gelegt.«

100 Ich glaube Erfahrung genug gehabt zu haben, antwortete der Andere; meine erste Geliebte und mein erster Freund betrogen mich auf die schändlichste Weise, und zwar in Dingen, die mich mit den schlimmsten Folgen bedroheten, mich selbst zu einem schmachvollen Tode bringen konnten.

»Sie werden mir verzeihen,« fiel Jones ein, »wenn ich Sie ersuche, zu bedenken, wer Ihre Geliebte und wer Ihr Freund war. Was konnten Sie Besseres erwarten von der Liebe aus dem Freudenhaus oder von der Freundschaft, die sich von dem Spieltische herschrieb? Wenn man das weibliche Geschlecht nach dem ersten oder die Männer nach dem zweiten Beispiele beurtheilen wollte, würde man ebenso Unrecht thun, als wenn man behauptete, die Luft sei ein widerliches und ungesundes Element, weil man sie so in einem geheimen Gemache findet. Ich habe erst kurze Zeit in der Welt gelebt, aber doch Männer, die der höchsten Freundschaft würdig sind, und Frauen kennen gelernt, welche die höchste Liebe verdienen.«

Ach, junger Mann, antwortete der Alte, Sie haben, wie Sie sagen, nur eine sehr kurze Zeit in der Welt gelebt; ich war bereits älter, als Sie jetzt sind, da ich noch derselben Meinung war.

»Sie würden derselben treu geblieben sein,« entgegnete Jones, »wenn Sie bei der Wahl Ihrer Freunde nicht unglücklich, ich will nicht sagen, nicht unvorsichtig, gewesen wären. Gäbe es auch in der Welt wirklich mehr Schlechtigkeit als es giebt, so würden doch solche allgemeine Behauptungen gegen die menschliche Natur nicht gerechtfertiget sein, weil Manches blos aus Zufall geschieht und mancher Mensch, der Böses thut, im Herzen nicht ganz schlecht und verdorben ist. Niemand hat wohl eigentlich ein Recht, zu behaupten, die menschliche Natur sei nothwendig und allgemein schlecht, als die, welche selbst ein Beispiel dieser 101 Schlechtigkeit sind, was, wie ich überzeugt bin, bei Ihnen nicht der Fall ist.«

Schlechte Menschen werden ebensowenig sich bemühen, Sie von der Schlechtigkeit der Menschen zu überzeugen, als Sie durch einen Straßenräuber erfahren werden, daß es diese auf der Straße giebt. Sie würden dadurch vorsichtig werden und die Pläne derselben vereiteln. Schlechte Menschen reflectiren niemals über die menschliche Natur im Allgemeinen. Der alte Mann sprach dies mit so viel Wärme, daß Jones, weil er daran verzweifelte, ihn zu bekehren und ihn auch nicht beleidigen wollte, gar nicht antwortete.

Der Tag begann jetzt zu grauen und Jones entschuldigte sich gegen den Fremden, daß er so lange geblieben sei und ihn vielleicht von der Ruhe abgehalten habe. Der Fremde antwortete darauf, er habe der Ruhe nie weniger bedurft, als gerade jetzt, Tag und Nacht wären ihm ganz gleich und er brauchte gewöhnlich den erstern zur Ruhe, die letztere dagegen zu seinen Spaziergängen und Studien. Es ist, sagte er, ein sehr schöner Morgen, und wenn Sie noch länger Schlaf und Zeit entbehren können, so will ich Ihnen gern einige sehr schöne Ansichten zeigen, die Sie wahrscheinlich noch nicht gesehen haben.

Jones nahm dieses Anerbieten gern an und sie verließen deshalb Beide sogleich das Haus. Partridge seinerseits war eben, als der Fremde seine Erzählung geschlossen hatte, in einen tiefen Schlaf gesunken, denn seine Neugierde war befriediget, und das nachfolgende Zwiegespräch vermochte den Schlaf von seinen Augen nicht fern zu halten. Jones ließ ihn schlafen, und da der Leser vielleicht selbst schläfrig geworden ist, so wollen wir hier das achte Buch unserer Geschichte schließen.


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