Henry Fielding
Die Geschichte des Tom Jones / Theil III
Henry Fielding

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Dreizehntes Kapitel.

Die vorstehende Geschichte wird fortgesetzt.

Mein Universitätsfreund hatte mich so in ein neues Leben eingeführt. Ich lernte bald die Gesellschaft der falschen Spieler kennen und wurde in die Geheimnisse derselben eingeweihet, d. h. in die Kenntnisse der plumpen Kniffe und Pfiffe, durch welche die Unerfahrnen betrogen werden, denn die feinen sind nur wenigen bekannt, welche Meister in ihrer Kunst sind, welchen Grad ich nicht zu erreichen hoffen durfte, da meine unmäßige Trinksucht und meine Leidenschaftlichkeit mich verhinderte, große Erfolge in einer Kunst zu erlangen, welche so viel Ruhe verlangt, als die strengste Schule der Philosophie.

Watson, mit dem ich nun in der vertrautesten Freundschaft lebte, besaß den erstern Fehler ebenfalls in großer Ausdehnung, so daß er, statt durch sein Gewerbe sich etwas 79 zu verdienen, wie die andern, bald reich, bald arm und oft genöthiget war, seine kaltblütigern Freunde über einer Flasche, die sie nie anrührten, den Raub zu überlassen, den er vorher sich angeeignet hatte.

Es gelang uns beiden aber doch, ein recht gemächliches Leben zu führen, und zwei Jahre lang setzte ich dasselbe fort, in welcher Zeit ich jeden Wechsel des Glückes erfuhr, bisweilen in Ueberfluß schwelgte, bisweilen mich mit der armseligsten Nahrung begnügen mußte. Die feine Kleidung, die ich den einen Tag trug, mußte häufig am nächsten zu dem Pfandleiher wandern.

Einst in der Nacht, als ich ohne einen Pfennig in der Tasche den Spieltisch verließ, bemerkte ich auf der Straße eine große Menschenmenge und bedeutenden Lärm. Da ich von Taschendieben nichts zu fürchten hatte, so wagte ich mich in das Gedränge hinein, wo ich auf Erkundigung erfuhr, daß ein Mann durch einige Bösewichter beraubt und gemißhandelt worden sei. Der Verwundete war mit Blut bedeckt und schien sich kaum auf den Füßen halten zu können. Da ich in meiner damaligen Lebensweise die Menschlichkeit nicht verloren hatte, obgleich nur wenig Scham und Rechtlichkeitsgefühl geblieben war, so bot ich dem Unglücklichen sogleich meinen Beistand an, den er dankbar annahm. Er ersuchte mich, ihn in irgend ein Wirthshaus zu bringen, von wo er nach einem Arzte schicken könnte, da er, wie er sagte, in Folge des Blutverlustes ganz schwach und einer Ohnmacht nahe sei. Er schien sich sehr zu freuen, Jemanden gefunden zu haben, der dem Aeußern nach ein anständiger Mann zu sein schien, denn alle Uebrigen, die sich um ihn gesammelt hatten, sahen nicht so aus, als ob er ihnen Vertrauen schenken dürfte.

Ich nahm den Arm des Unglücklichen und führte ihn in das Wirtshaus, wo wir unsre Zusammenkünfte zu halten 80 pflegten, weil dasselbe das nächste war. Auch befand sich zufällig ein Wundarzt gleich im Hause, der den Verwundeten verband, und von welchem ich mit Vergnügen hörte, daß die Wunden nicht sehr gefährlich wären.

Der Arzt erkundigte sich, nachdem er sein Geschäft schnell und gewandt beendigt hatte, in welchem Theile der Stadt der Verwundete wohne, der darauf antwortete, er sei erst diesen Morgen in die Stadt gekommen, sein Pferd befinde sich in einem Wirthshause in Piccadilly, er selbst habe kein andere Wohnung und wenig oder gar keine Bekanntschaft in der Stadt.

Dieser Wundarzt, dessen Namen ich vergessen, ob ich mich gleich noch erinnere, daß er mit einem R anfing, war in seiner Kunst ausgezeichnet und Leibwundarzt des Königs. Ueberdies besaß er manche gute Eigenschaften, war ein sehr edelsinniger, gutmüthiger Mann und immer bereit, seinen Mitmenschen zu dienen. Er bot seinem Patienten seinen Wagen an, um ihn in demselben in das Wirthshaus zu bringen; gleichzeitig flüsterte er ihm zu, wenn er Geld brauche, würde er ihm gern damit aushelfen.

Der Arme konnte in diesem Augenblicke für das edle Anerbieten nicht danken, denn nachdem er mich eine Zeit lang unverwandt angesehen hatte, sank er auf seinen Stuhl zurück und rief: »Ach, mein Sohn!« Dann fiel er in Ohnmacht.

Viele von den Anwesenden glaubten, dies sei eine Folge des Blutverlustes; ich aber fand meine Vermuthung bestätigt, da ich mich unterdeß der Züge meines Vaters ebenfalls erinnerte, und erkannte mit Freuden, daß er es sei. Ich eilte sogleich zu ihm, hob ihn auf und küßte seine kalten Lippen mit der größten Innigkeit. Ich muß indeß einen Schleier über diese Scene ziehen, die ich nicht zu schildern vermag, denn ob ich gleich meine Besinnung nicht ebenfalls 81 verlor, so fühlte ich mich doch so von Schrecken und Ueberraschung übermannt, daß ich nicht weiß, was einige Minuten geschah und wann mein Vater aus seiner Ohnmacht wieder zu sich gekommen war. Ich fand mich in seinen Armen wieder und die Thränen strömten ihm und mir über die Wangen.

Auf die meisten Anwesenden schien dieser Auftritt Eindruck zu machen, da wir aber Beide wünschten, so schnell als möglich den Augen der Neugierigen uns zu entziehen, so nahm mein Vater den ihm von dem Wundarzte so freundlich gebotenen Wagen an und ich begleitete ihn in sein Wirthshaus.

Als wir allein waren, machte er mir sanfte Vorwürfe darüber, daß ich ihm so lange nicht geschrieben, erwähnte aber durchaus das Verbrechen nicht, welches dieses Schweigen von meiner Seite veranlaßt hatte. Dann erzählte er mir, daß meine Mutter gestorben sei, bestand darauf, daß ich mit ihm nach Hause zurückkehre und sagte, er habe die größte Angst um mich gehabt, ob er gleich nicht wisse ob er meinen Tod mehr gefürchtet oder gewünscht, da er viel Schlimmeres gefürchtet. Endlich, fuhr er fort, habe ihn ein Herr in der Nähe, dessen Sohn eben aus London zurückgekommen, gesagt, wo ich mich befände, und er habe die Reise hierher blos in der Absicht unternommen, um mich zu suchen und mit sich nach Hause zu nehmen. Er dankte dem Himmel, daß es ihm gelungen sei, durch einen Unfall mich zu finden, der ihm hätte verderblich werden können; auch freuete er sich, daß er sein Leben zum Theil meiner Menschenfreundlichkeit verdanke, die ihm noch mehr werth sei, als wenn ich gewußt, daß der Verwundete mein Vater sei und ich ihm also aus Kindesliebe beigestanden.

Das Laster hatte mein Herz nicht so verdorben, daß es unempfindlich gegen so große Vaterliebe geblieben wäre, ob 82 sie gleich gänzlich unverdient war. Ich versprach sogleich, ihm zu gehorchen und mit ihm nach Hause zurückzukehren, sobald er wieder zu reisen vermöchte, was in Folge des Beistandes des trefflichen Wundarztes in wenigen Tagen geschah.

Am Tage vor der Abreise meines Vaters (bis dahin hatte ich ihn kaum verlassen) ging ich aus, um von einigen meiner vertrautesten Freunde, besonders von Watson, Abschied zu nehmen. Der letztere rieth mir dringend ab, mich, wie er es nannte, aus bloßer Gefälligkeit für die Wünsche eines thörichten Alten, zu begraben. Seine Worte machten jedoch keinen Eindruck auf mich und ich sah meine Heimath wieder. Mein Vater forderte mich dringend auf, an meine Verheirathung zu denken, aber dagegen sträubten sich meine Neigungen. Ich hatte die Liebe bereits kennen gelernt und vielleicht wissen auch Sie, wozu die zärtlichste und heftigste Leidenschaft zu führen vermag. – Der alte Mann hielt bei diesen Worten inne und sah Jones an, dessen Gesicht in einer Minute abwechselnd erröthete und erbleichte, worauf der Alte, ohne irgend eine Bemerkung darüber zu machen, seine Erzählung wieder aufnahm.

Da es mir jetzt an den Bedürfnissen des Lebens durchaus nicht gebrach, so wendete ich mich wieder dem Studium zu und zwar mit größerm Fleiße als je vorher. Die Bücher, welche meine Zeit ausschließlich beschäftigten, waren die, alte und neue, welche von wahrer Philosophie handeln. Ich las die Werke des Aristoteles und Plato, so wie die übrigen unschätzbaren Schriften, welche das alte Griechenland der Welt hinterlassen hat.

Diese Schriftsteller unterrichteten mich zwar in keiner Wissenschaft, durch welche die Menschen Schätze oder weltliche Macht erlangen können, lehrten mich aber die Kunst, beide zu verachten. Sie erheben den Geist und stählen ihn 83 gegen die launenhaften Wechsel des Glückes. Sie unterrichten nicht blos in Weisheit, sondern zeigen auch, daß sie unsre Führerin sein müsse, wenn wir zu dem höchsten irdischen Glücke gelangen oder uns mit einiger Sicherheit gegen die Noth und das Elend vertheidigen wollen, die uns überall umringen und auf uns einstürmen.

Damit verband ich ein anderes Studium, mit dem verglichen alle von den weisesten Heiden gelehrte Philosophie wenig besser als ein Traum ist, das der göttlichen Weisheit nämlich, die sich allein in der heiligen Schrift findet, welche uns Kenntniß von Dingen giebt, die unserer Aufmerksamkeit würdiger sind, als alle, die uns die Welt bieten kann, Kenntniß von Dingen, die uns der Himmel selbst offenbart hat und die der höchste menschliche Scharfsinn niemals geahnt haben würde. Ich fing an zu glauben, die Zeit, welche ich auf die heidnischen Schriftsteller verwendet, sei wenig mehr als verlorne Mühe. Es ist wahr, die Philosophie macht uns weiser, aber das Christenthum macht uns zu bessern Menschen. Die Philosophie erhebt und stählt den Geist, das Christenthum besänftigt das Herz. Die erstere macht uns zu Gegenständen menschlicher Bewunderung, die letztere zu denen göttlicher Liebe. Jene sichert uns irdisches, diese ewiges Glück. Doch ich fürchte, Sie zu ermüden . . .

»Keineswegs,« fiel Partridge ein; »wir werden doch nicht ermüden, gute Dinge anzuhören.«

Ich hatte, fuhr der alte Mann fort, etwa vier Jahre auf die angenehmste Weise, ganz in Nachdenken und Betrachtung, abgezogen von allen weltlichen Angelegenheit, verbracht, als ich den besten der Väter verlor, den ich so sehr liebte, daß mein Kummer über seinen Verlust über alle Beschreibung groß war. Ich ließ meine Bücher liegen und gab mich einen ganzen Monat lang der Trauer und 84 Verzweiflung hin. Die Zeit ist jedoch der beste Seelenarzt und sie brachte auch mir Linderung.

»Ja, ja,« bemerkte Partridge, »tempus edax rerum

Dann kehrte ich, erzählte der Fremde weiter, zu meinen frühern Studien zurück, welche, wie ich sagen kann, die Heilung vervollständigten, denn Philosophie und Religion kann man die Thätigkeit des Geistes nennen, und wenn dieser gestört ist, kann sie für ihn so heilsam sein, wie die Arbeit und Thätigkeit dem kranken Körper ist. Sie bringen ganz ähnliche Wirkungen hervor, denn sie stärken und kräftigen den Geist, bis er Mensch wird, wie Horaz sagt:

Fortis et in se ipso totus teres atque rotundus,
Externi ne quid valeat per laeve morari;
In quem manca ruit semper fortuna.

Jones lächelte hier über etwas, das ihm eben einfiel; der Fremde aber bemerkte es wahrscheinlich nicht und fuhr fort:

Meine Umstände hatten sich durch den Tod des Besten der Menschen sehr verändert, denn mein Bruder, der nun Herr des Hauses geworden, war in seinen Neigungen so sehr von mir verschieden, daß wir für einander die schlechteste Gesellschaft waren. Noch unangenehmer wurde unser Zusammenleben durch den Umstand, daß die wenigen, welche mich besuchten, mit den vielen Jagdfreunden &c., welche meinen Bruder von dem Felde an den Tisch begleiteten, durchaus nicht zusammenpaßten.

Denn solche Menschen belästigen nicht nur die Ohren ruhiger Leute mit Lärm und Unsinn, sondern versuchen auch immer, dieselben mit Schmach und Verachtung zu behandeln. Dies war so sehr der Fall, daß ich mit meinen Freunden nicht einmal zum Essen bei ihnen sitzen konnte, ohne daß wir verspottet wurden, weil wir mit der 85 Jägersprache nicht bekannt waren. Männer von ächter Gelehrsamkeit und fast universellen Kenntnissen haben stets mit der Unwissenheit Anderer Mitleid; diejenigen aber, welche sich nur in einer kleinen, niedrigen und verächtlichen Kunst auszeichnen, pflegen immer die über die Achsel anzusehen, welche ihre Kunst nicht verstehen.

Kurz, wir trennten uns bald und ich begab mich auf den Rath des Arztes nach Bath, um das dortige Wasser zu trinken, denn mein tiefer Gram im Verein mit der sitzenden Lebensweise hatte mich fast gelähmt, und solchen Leiden soll jene Quelle fast unfehlbare Heilung bringen. Am zweiten Tage nach meiner Ankunft ging ich am Flusse spazieren; die Sonne schien so heiß, ob es gleich noch früh im Jahre war, daß ich den Schatten einiger Weiden aufsuchte und mich da am Ufer niedersetzte. Ich hatte nicht lange gesessen, als ich Jemanden an dem andern Ende der Weiden seufzen und sein Schicksal bitterlich beklagen hörte. Nach einem fast gottlosen Eide rief er endlich plötzlich: »Ich bin entschlossen, es nicht länger zu ertragen,« und stürzte sich in das Wasser. Ich sprang sogleich auf, eilte an die Stelle und rief zu gleicher Zeit so laut als möglich um Hilfe. Zum Glück angelte ein Mann nicht weit unterhalb, den ich wegen einer hohen Hecke nicht hatte sehen können. Er kam sogleich herbei und es gelang uns Beiden, nicht ohne Lebensgefahr, den Unglücklichen an das Ufer zu bringen. Anfangs bemerkten wir kein Lebenszeichen an ihm, als wir aber den Körper umstürzten (es kam jetzt Hilfe genug), gab er eine Menge Wasser durch den Mund von sich; endlich entdeckten wir ein schwaches Athmen und bald darauf bewegte er die Hände und die Füße.

Ein Arzt, der sich unter den Herbeigekommenen befand, rieth, den Körper, der Wasser genug von sich gegeben zu haben schien und nun von krampfhaften Bewegungen 86 geschüttelt wurde, sogleich fort und in ein warmes Bett zu bringen. Dies geschah; der Arzt und ich folgten.

Auf dem Wege nach einem Gasthause, denn die Wohnung des Mannes war uns unbekannt, begegneten wir glücklicherweise einer Frau, die nach heftigem Geschrei uns sagte, der Herr wohne in ihrem Hause.

Nachdem ich mich überzeugt hatte, daß der Unglückliche sicher in das Bett gebracht war, überließ ich ihn dem Arzte, der, wie ich vermuthe, auf die richtige Weise mit ihm verfuhr, denn am nächsten Morgen hörte ich, er sei vollkommen wieder zu sich gekommen.

Ich besuchte ihn nun in der Absicht, so gut als möglich die Ursache herauszufinden, die ihn zu einer so verzweifelten Handlung getrieben, und zu verhindern, daß er seine That später wiederhole. Ich war kaum in sein Zimmer eingetreten, als wir uns erkannten; der Unglückliche war kein anderer, als mein Freund Watson. Ich will Sie nicht mit der Erzählung dessen belästigen, was bei unserm ersten Beisammensein vorging, denn ich möchte so kurz als möglich sein. – »Erzählen Sie uns immer Alles,« fiel Partridge ein; »ich möchte wohl wissen, was ihn nach Bath geführt hätte.«

Sie sollen alles Wesentliche hören, antwortete der Fremde, und dann erzählte er weiter, was wir aufzeichnen werden, nachdem wir uns selbst und dem Leser einige Ruhe gegönnt haben. –


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