Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Heinrich Federer

Papst und Kaiser im Dorf


Kapitel 1

Es war ein gewöhnlicher Mittwoch im Juni. Aber Lustigern, das so einsam in den gemähten Toggenburgerwiesen zusammengenistet sitzt, trug den Sonntag im Gesicht. Niemand arbeitete, alles steckte im dunkeln Rock. Mit Ausnahme des Tälerhauses, wo der Witwer Marx schon tagelang am Sterben liegt und zwischen Werktag und Feiertag nicht mehr unterscheiden kann, haben alle hölzernen Wohnungen ihre Scheiben geputzt, den Türsöller gescheuert und etwa ein Eibenkränzlein am mittlern Fenster ausgehängt. Kirche, Pfarrhof, der Gasthof zur Ilge und das Schulhaus lassen überdies eine grünweisse Fahne vom Dachgiebel flattern und beim uralten Egidihaus, wo das Dorf an der Landstrasse sich allmählich auflöst, ward ein Triumphbogen aus Tannenreis über die Strasse gewölbt. Zwei bemalte Tafeln hangen daran, die eine nach dem Dorf zurück, die andere vorwärts in die Felder gekehrt.

Denn der neue Pfarrer Carolus Bischof zieht heute in seinen Sprengel ein. Darum gucken die hundert und hundert kleinen Fenster und Augen von Lustigern so neugierig auf die Strasse.

Da aber der Täler seit dem Gehirnschlag vor vier Tagen stumm und lichtlos im Bett liegt und nach nichts mehr fragt, mochte auch das alte Rumpelhaus nicht glänzen. Seine Fenster schauen wie blind in den Tag, die Haustüre ist geschlossen wie ein Mund, der nichts mehr reden kann, und nur der dünne, graue Rauch, der dann und wann langsam aus dem Kamin kriecht, sagt, dass dich noch ein Odem in diesen Wänden lebe.

Mehr, man hört aus der Tiefe des Hauses noch ein Keuchen und Rasseln, dumpf, mühsam, mit Zwischenpausen, wie das Atemziehen eines Kämpfenden. Das ist der Heli, der eine der Tälerbuben, der im Keller an der gewaltigen Stickmaschine sitzt und bedächtig die Arbeit dort fortführt, wo der Vater mitten im schönsten Muster sie aufgeben musste. Eine Wespe schwirrt gerade von der Blütendolde. Der Alte hatte noch den silbernen Flügel mit zwei Stichen erhascht und war dann wortlos vom Sitzbrett gesunken. Heli flog nun schon mit dem schlanken Insekt durch die blaue Luft. Ganz glücklich war er über dem Gelingen.

Das eine Geschwister, Johannes, sass indessen am Schiefertisch in der Stube, weitab vom Bett des Sterbenden. Er war achtzehnjährig, mager, bleich von Natur, aber gesund, mit einer schönen, weissen, langen Nase und langen, zarten, unbäuerlichen Händen. Schmale Augen, von einem kalten Kieselgrau, mit Wimpern schwer und schwarz wie sein Kopfhaar, gaben diesem Jüngling ein vornehmes, erlesenes Aussehen.

Am ersten Tage hatte er geweint, am zweiten vor sich hingestiert, am dritten fing der Sterbende schon an, ihn zu langweilen, und heute nahm er immer wieder die Kreide neben den Jasskarten vom Fensterbrett und probierte das spitzige Profil mit den gespannten Backenknochen und dem verzogenen Mund zu zeichnen, so wie es dort, in der gegenüberliegenden Stubenecke, aus den Kissen emporragte. Plötzlich stand das Mili vor ihm, das so unhörbar alle Türen öffnen konnte. Schnell wischte er das Bild von der Platte. »Aber Johannes!« tadelte das grosse, schmucke Mädchen, »so was, statt zu beten! Komm lieber in die Küche, der Kaffee ist parat.«

Johannes schnitt ihr eine gleichgültige Grimasse, aber folgte sogleich in die weite dunkle Küche und setzte sich voll Appetit zum Vespern hin.

»Essen muss man halt doch,« lehrte Mili leise. »Nimm da!«

»Was, Küechli hast Du gebacken? und ich soll nicht zeichnen?« Johann fuhr mit dem weissen kleinen Finger über die schöne Nase hinunter.

»Die Ilgenwirtin, die Bas, hat uns gestern einen Hafen Butter geschickt. Wir haben ja die letzte Zeit nie recht gegessen. Weil der Vater nicht mehr isst, sollen wir dann auch nicht mehr essen?« Sie warf den blonden Kopf zurück und ihr helles, seidendünnes Stirnhaar floh wie Silberwölklein empor.

»Küechli backen statt beten,« schalt Johann lachend und verarbeitete schon das dritte Gebäck mit seinen geraden, weissen, streng geschlossenen Zähnen. »Könnten wir lieber auch dem Vater einige mitgeben auf die ewige Reise! hast nicht mehr probiert, mit ihm zu reden? dich hat er noch am längsten verstanden.«

Johannes schüttelte leicht den Kopf. »Der Kaplan hat ja gesagt, der Vater merk’ und versteh’ nichts mehr, wir sollen ihn ganz in Ruhe lassen. Er steh’ mit Gott in guter Ordnung und wolle nichts mehr von der Welt hören. Komm du jetzt zu mir in die Stube. Hie und da hat er eine schrecklich lange Weile nicht mehr geschnauft ...«

Das Mili brachte dem Heli, der schon die zweite Wespe packte, das Kaffeekrüglein mit vier Küechlein in den Stickkeller. Sorglich besah sie die Arbeit und warnte: »Wenn du’s verdirbst! Lieber Gott, denk, was dann?«

Heli lachte sie nur gutmütig an, verzehrte rasch seine Portion und stickte weiter. Das Jüngferchen fühlte sich hier überflüssig, wusch das Geschirr ab und setzte sich dann neben Johannes auf die Fensterbank in der Stube. Sie sann nach, was noch zu ordnen wäre für den möglichen Fall, dass Marx noch heut stürbe. Jedesmal wischte sie böse die Zeichnung aus, die der Bruder auf dem Schiefer probierte. Schliesslich öffnete Johannes missmutig ein Fenster, um gegen das Dorf hinunter zu horchen. Man sah nur die vielen magern Birnbäume und dahinter den Kirchturm seinen unschönen, niedrigen, müden Kopf in dem schwülen, dünstigen Himmel eher senken als heben.

»Was hat die Ilgenfrau gesagt?« schimpfte Mili. »Schnell das Fenster zu! Schau, da hast schon wieder solches Geschmeiss hereingelassen!« Sie schlüpfte zum Bett, ungeachtet Johannes sie ängstlich zurückhalten wollte, und fing mit lautlosem Schwung zwei Fliegen nacheinander, die sich aufs dünne Haar des Sterbenden gesetzt hatten, ohne es auch nur zu streifen.

Wieder sassen sie beisammen. Johannes liess Milis Hand nicht mehr los. Beide langweilten sich und Mili wünschte heimlich, dass Johannes wieder zeichne oder das Fenster öffne oder sonst was tue, worüber sich schelten lasse. Dabei ruhte ihr tiefbraunes Gesicht mit ebenso braunen Augen in einer mütterlichen und doch auch wahrhaft kindlich verliebten Wärme auf dem hübschen Burschen.

Der bewegungslose Mann in der Ecke hiess im Dorf der wittlige Wittlig, weil er zweimal eine Witwe geheiratet hatte, zuerst die Martha Beat, ein undörflich feines Geschöpf aus der Stadt, aber bettelarm und sorglos. Sie hatte ihm den dreijährigen Johannes mit dem rabenschwarzen Wirbel ins Haus gebracht; dann die apfelrote, laute, kluge Ruth Rack, die rechts den Heli, links das Mili und einen Haufen Klugheit und Phantasie dazu in die Ehestube führte. Heli hatte die Phantasie, Mili die Klugheit geerbt. Aber es herrschte eine rasche Sense im Tälerhaus. Zwar, dass die Beat starb, begriff man. Ihre zarten, bleichen Hände und ihre schwachen Füsse hatten nie recht Besitz vom Tälerheim ergreifen können. Minder verständlich war, dass zwei Geburten der starken Frau Rack missglückten und sie selbst bei der zweiten in Blut und Schweiss verschied. So blieb ein Witwer mit drei Kindern zurück, die nicht die seinigen und von denen nur Heli und Mili auch Geschwister waren.

Marx Täler war ein gescheiter Mann mit einer überhohen Stirne und tiefen grauen, etwas schwermütigen, aber eigensinnigen Augen gewesen. Ja, er hatte geradezu an einem sonderbaren hartnäckigen Stolz gelitten, doch ja immer etwas anderes als die andern und vor allem gerade das zu tun, wovon die Leute ihm abrieten. Er gab den Viehstand auf, als andere damit vorteilhaft begannen, und fing mit der Stickerei an, als das halbe Dorf sich dieser unbeständigen Industrie begab. Eine Bürgschaft kurz nach der zweiten Heirat, womit er seinem Bruder Julius, einem Landesbummler und Nichtstuer, gegen alles Abraten seines Paten, des Gemeindeamtmanns Cornelius Bölsch, unter die Arme greifen wollte, brachte ihn um das kleine, bitter zusammengesparte Vermögen von fünftausend Franken. Immer tiefer sank er in Geldnöte. Die Schuldbriefe stiegen um ein Prozent und lasteten schwerer als die Steinklötze des Schieferdaches auf seinem Heim. Selbst das klopfende Herz des Hauses, wie Frau Ruth die Stickmaschine gelobt hatte, atmete und pochte zu einem guten Teil für fremdes Leben. Und seit dieses blitzend schöne, eiserne Ungeheuer von Pfändern und Zinsen beschwert war, dünkte den Täler seine gewaltige Musik nicht mehr rein. Wie oft und gerne ging der müde Mann nun wieder von der Maschine weg zur einzigen Geiss im grossen Stall, um sich am Gemecker ein bisschen zu unterhalten!

Die Schulden und Sorgen, die exakte, augen- und nervenverderbende Arbeit, das feuchte Sticklokal, der immer knappere Tisch, der rasche Tod beider Frauen, an die er sich in seiner spröden Sonderlingsart erst angewärmt hatte, dann die hochmütige Abgeschlossenheit gegen fremden Rat und nachbarliche Zutraulichkeit, vielleicht auch etwas Ererbtes, da der Schlagfluss auch seinen Vater und Grossvater hingerafft hatte, das alles vermochte den Mann schon mit achtunddreissig Jahren aufs Sterbebett zu werfen, ohne dass er einmal recht gesund oder krank, recht froh oder verzagt, recht heiss oder kalt gewesen wäre. Seine Stirne war jetzt grauweiss wie alter Kalk, das Auge ohne Blick, seine Seele bettelte wohl schon an den Schwellen der Ewigkeit um Einlass zur nie gekannten Demut und Ruhe. Und die jungen Leutchen vorne am Fenster fühlten es sehr wohl, dass dieser wehrlose, arme Mann, den sie Vater genannt hatten, obwohl er es nie gewesen, jetzt nicht einmal mehr mit diesem Namen zu ihnen gehörte. Wie er da lag, war er ihnen schon fremd und ferne.

Gestern war Mili einen Moment vors Dorf gegangen, um am Bächlitobel Huflattich zu sammeln und dem Vater kühlende Aufschläge zu machen. Dort in einer Tannenlichtung gegen die Strassenhöhe zu steht das jämmerliche Hüttlein des Mathias Minz, eines Holzers. Der bärenstarke Mann sägte gerade schöne, lange Bretter. Da kam ihr in den Sinn, bei diesem düstern und gemiedenen Sonderling bekäme sie vielleicht den Sarg viel billiger als beim richtigen Dorfschreiner, und sie erkundigte sich darum. Sie wurden sogleich einig. Mathias mit seinem schwärzlichen Lächeln führte sie ins Jungesellenstüblein und suchte nach einer Schnur, indessen sie sofort nach ihrer saubern und tätigen Art einen Lumpen aufgriff und den Staub von den Möbeln wischte. Darüber ward Mathias so wohlgelaunt, dass er versprach, den Sarg an den Ecken gratis zu versilbern. Er nahm dann das Mass an ihr. »Vater reichte mir nur bis an die Ohren und war auch viel schmächtiger,« betonte die kraftvolle Jungfer. »Ich mach ihn doch, als wär er für Euch,« gelobte Mathias, »grösser und breiter« ... »Warum denn?« bat sie. »Es ist nobler, ein langer und etwas breiter Sarg ist immer nobel.«

Diese Vorausbestellung machte ihr nachher Gewissensbisse. Darf man einen Sarg machen lassen, ehe eine Leiche da ist? Nun aber, wo der Vater so fern und fremd in der Ecke lag, verlor sie jegliches Bedenken und war froh, dass dieses schwarze Geschäft schon geordnet war.

Johannes konnte vor Langeweile Knie und Ellbogen nicht stille halten. Einmal blickte er gegen die Wanduhr, ob es bald gegen Fünfe rücke, wo er die Ziege füttern wollte. Einmal zog es ihn in den Stickkeller, um zu sehen, wie Heli mit seinem Muster zurechtkomme. Denn er selbst hatte es auf den Karton gezeichnet und der Stickmeister Weber hatte den Stempel aufgedrückt, dass es zünftig sei, will sagen, man dürfe es wie jede andere Vorlage für alle jene Sticktücher verwenden, die nachher in London und Newyork den Glanz der Millionäre mehren.

Das war der letzte Stolz im Leben des Tälers gewesen.

Aber Mili liess den Bruder nicht los. Rasch zog es einen Strang aus der Schublade und bat Johannes, die Arme zu strecken, damit sie das Garn auf den Raspel winden könne. Es gäbe ja Strümpfe für ihn. Geduldig gab er sich her und bog sich melodisch mit seinen schönen Händen und schlanken Achseln dem kreisenden Faden voraus und dachte dabei an das Wort des Arztes: euer Vater hat einen zähen Lebensfaden ... Aber einmal muss er doch aufhören, sagte sich Johannes unbedenklich; so lang wie dieses Garn kann er doch nicht mehr sein. Selbst der Strang hier nimmt mit jeder Schleife ab. Er sollte sterben, sobald hier die letzte Runde abgewickelt ist. Er leidet ja unnütz, log er sich vor; ich kann ihm nicht helfen. Und ich sitz überflüssig da und sollte doch in die frische Luft hinaus, zum Pfarreinzug. Ja, dorthin gehör’ ich mit vollem Recht. Ich habe doch die Inschriften und die Engel am Portal und die Hände am Triumphbogen gemalt. Gewiss hat man alles schief gehängt. Ich sollte wenigstens nachsehen, wie es sich ausnimmt. »He, pass doch auf!« flüsterte das Mili; »du verwirfst mir den Haspel ... ‘s ist nun gleich abgewickelt« ... Die Engel sind gut geraten, schwärmte Johannes weiter, der Kaplan hat sie selbst gerühmt und rühmt sonst nicht bald. Nächstens probier’ ich einen Teufel mit Horn und Huf und Zacken, wie der Heli mir geraten hat ... dann ein Christkind mit der Weltkugel ... die will ich dann vergolden, das es heillos glänzt ... dann unsern Kirchenpatron ... ah, so einen Bischof, wie Heli sagt, gross, seidig, der Mantel weit über den Boden, die Inful mit Edelsteinen, der Krummstab vergoldet und über dem Kopf, meint Heli, eine Taube, ganz versilbert ... und dann nach so einem Ambrosi ... Glanz, Glanz, Glanz ...

»Johann, Hannes, hast du’s gehört?« schrie das Mili und zerrte an ihm. »Schon wieder hat es gekracht in der Bettstatt ... oder im Vater selber ... Schau, schau, was ist das? ...«

Johannes hielt noch immer die Arme gespannt, obwohl der Klüngel aufgewunden in Milis Hand lag. Erschreckt sprangen beide ans Bett, horchten, suchten, aber fanden nichts Lebendiges mehr, und sahen den Vater doch auch nicht anders als vorher daliegen. Nur dass er jetzt fast noch stiller und der Blick zersprungen war.

Da rannte Johannes schreiend und mit überfluteten Augen aus der Stube zum starken Heli hinunter. Mili aber zündete eine Kerze an, kniete ab und betete mit ihrer klaren, kindlich-hausmütterlichen Stimme ein lautes Vaterunser dem Verschiedenen in die Ewigkeit nach.

»Und du bist doch der Ältere,« brummte Heli gutmütig und trug den Johannes eher als er ihn führte die Kellersiege hinauf. Doch wenige Minuten später lief Johannes schon wieder fröhlich zur Kirche hinunter, um das Totengeläute anzusagen und womöglich noch den Pfarreinzug zu erleben.

Kapitel 2

Um ihre einfache Landkirche mit dem berühmten fünfeckigen, aber überaus niedrigen Turm stampften und summten indessen die Lustiger immer ungeduldiger. Am Turmpförtchen, neben der Sakristei, wartete der alte, kurzsichtige, aber noch zappelige Kaplan Eusebius Nuss im weissen Chorrock mit sechs rotberockten Ministranten, dem Kreuzträger und dem Kirchenfenner auf das Zeichen zum Aufbruch.

Vor ihnen an der Friedhofmauer standen die fünf Gemeinderäte und ein Trupp bekränzter Kinder. Drei Stufen tiefer, schon auf der Strasse, flutete das Volk halb in Zugordnung hin und her. Gegenüber lag breit das alte Gasthaus zur Ilge, woher es von Geschirr klingelte und von guten Zubereitungen duftete. Sigi, der einzige Sohn, war zufällig heute von der Zürcher Universität auf einen Sprung heimgekommen, musste aber mit dem Abendzug wieder von Uzli abfahren und besah sich nun von einem Gastsaalfenster die schwarzen wogenden Volksmassen. Er rauchte Zigaretten und blies die Asche rücksichtslos zum Fenster hinaus über die Köpfe. Viele Buben blickten offen, noch mehr Mädchen verstohlen zu diesem selten schönen Jüngling empor. Auch er schien zu suchen, aber nicht zu finden.

Von den Fenstern der Glockenstube, wo die Läutknaben über die talauf gehende, vielgekrümmte Landstrasse, das Flusstobel und die jenseitigen Höhen, woher der Gast kommen musste, strengen Ausguck hielten, ertönten jetzt wirre Rufe, die niemand vor dem Volksgebrumme verstand. Da rumpelte ein Junge die Stieglein hinunter und schrie dem Sigrist lachend ins Gesicht: »Sie sind ja schon überm Steg, das Wäldli hinauf; gerade schwenken sie ums Notkersegg.«

»Ihr Lotterbuben,« schalt der Sigrist mit dem einzigen Wackelzahn im Mund, »habt ihr denn nicht aufpassen können!«

»Dann vorwärts!« befahl eine andre, leise, bestimmte, trocknete Stimme. Sie kam von einem gewaltigen Greis mit langen, weissen Haarsträhnen über die Ohren und einem sehr langen, totenblassen Gesicht. »Vorwärts!« wiederholte diese feine, alte Stimme, und er, dem sie gehörte, machte mit der zierlichen Hand nur eine ganz kleine, kraftschonende Bewegung gegen das Volk, sich in zwei Reihen rechts und links der Dorfstrasse in Marsch zu setzen. Wie ein Turm stand er in der Mitte, mit dem bolzgeraden, ungeheuren Rücken, dem unbeholfenen, steifen Staatsrock und den säulenhaften, langsamen Beinen. Über das linke Auge fiel das Lid durch eine Lähmung halb herunter und das Auge selbst war unbewegt, mit einem toten Punkt in der Mitte und gab der Gesichtshälfte von dieser Seite etwas Schläfriges, ja Erstarrtes. Dafür brannte das rechte Auge mit zwiefachem Eifer, und diese überaus wache und immer rüstige Seite kehrte der Mann gegen jeden, der ihn im Guten oder Bösen anfocht. Das war der fünfundachtzigjährige Cornelius Bölsch, seit Menschengedenken Ammann von Lustigern, der sparsam und einfach von seinem schwer errungenen Reichtum lebte und, da ihm seine Cecili kein Kind geschenkt hatte, ganz Lustigern in spartanischer Zucht und konservativer Heiligkeit grosszuziehen suchte. Mit seiner dünnen, hohen Stimme gebot er dem Mesmer Spätzli: »Gehen wir jetzt dem Pfarrer langsam entgegen bis zum Egidihaus!«

»Wie ist’s denn nun also mit dem Läuten« fragte der Glockenmeister und schlüpfte hitzig in die wollenen, ungefingerten Handschuhe.

»Es bleibt dabei!« entschied Cornelius und blickte streng auf den Frager nieder. »Sobald der Pfarrer das erste Haus, das Zellwigsche, erreicht hat, und keinen Schritt vorher, beginnt ihr. Aber merket wohl, wenn mein Göttibub, der Marx Täler, vorher stirbt, so läutet ihr zuerst dem Abgehenden den Abschied und nachher dem Ankommenden den Willkomm!«

»Aber denket doch, Ammann, die Sterbeglocke bei so einem Fest ... schier zum Gruss!«

»Punktum,« schnitt Corneli ab. »Jedem sein Recht!«

Man zog langsam durch die Kirchgasse in die Landstrasse hinunter, die das Ober- und Niederdorf trennt, dem neuen Hirten entgegen. Am Egidihaus war auf eine alte Holztafel Christus gemalt, wie er auf dem Palmesel in die Stadt Jerusalem einreitet. Hier pflegte die Fronleichnamsprozession umzukehren, hier begrüssten sich bei den Bittgängen (Prozessionen für Saat und Ernte im Frühling) die Geistlichen mit Kreuz und Fahne und gaben sich die Buben die ersten nachbarlichen Rippenstösse, wenn eine der umliegenden Pfarreien zur Ambrosiuskirche wallfahrten kam. Bis hierher geleitete man den Bischof, wenn er gefirmt hatte und nun das Sakrament im nächsten Dorfe austeilen wollte. Die Häuser liefen wohl noch vereinzelt weiter in die ansteigenden Wiesen hinaus, und der alte Kaplan zupfte an seinem verzausten, magern Haarstrang, der wie ein leeres Vogelnest auf seinem Schädel sass, und fragte schüchtern, da man noch kein Bein um den Notkershügel biegen sah, ob man nicht noch ganz vors Dorfbild, etwa bis zu Zellwigs Stickergebäude, ziehen wolle. Man habe ja alle Zeit dazu und den Carolus Bischof müsste es gewaltig freuen. Seines Wissens sei man auch dem Dekan Cyrill Zelblein seiner Zeit bis zur Notkerswiese entgegengegangen.

»Ich war nicht dabei,« wies Corneli schroff ab und fuhr übers linke Auge, an dem er damals schwer gekrankt hatte. »Aber ich gab nachgehends einen scharfen Protest zu Protokoll. Jede Ausnahme schafft Unordnung und ... jawohl, auch Überhebung ...« Dann mit einem merkwürdig milden Lächeln des gesunden braunen Auges begütigte er: »Herr Kaplan, wir halten an unserm Donnerstagsjass auch unter dem neuen und den sieben folgenden Päpsten fest!« Seine vom Alter zusammengezogenen Lippen kräuselten sich spassig, und nun sah man, dass der Greis gar keine Vorderzähne mehr hatte.

Sie standen genau unter dem Triumphbogen mit Johannes’ Malerei. Cornelius ging einige Schritte vor und zurück, um bis Malerei besser zu beschauen.

»Das hat Euer Göttibub gut gemacht,« lobte Ratsherr Fritz. »Woher er nur das Zeug hat? Ich hab mein Lebtag keinen Fingernagel zeichnen können, und der da malt Euch gleich zwei Arme und Hände mit allen zehn Fingern daran in den schwierigsten Stellungen, wie nichts ...«

»Mir geht das nicht ein,« versetzte der Ammann hart. »Was wollen diese Arme aus der Wolke heraus? ist es der Herrgott? so abwehrend in die Wiesen hinaus? So macht niemand Willkomm. ja, und die gegen das Dorf ... wieder die gleichen Hände ... aber jetzt ... na, das ist ein Spass ...« Er verstummte plötzlich und wurde ernst. »Fritz, für Ornamente hat der Kerl einen braven Zug in der Hand. Schon geht ein Stickmuster mit Blumen und Wespen ins Fabrikat, das gut in Vorhangbesätze passt ... Aber, das Figürliche, das Menschenbewegte oder wie ich’s sag, das soll er lassen, da pfuscht und verkehrt er nur! wie hier!«

»Na, Corneli, mir gefallen einmal diese Hände und Finger. Es ist was drin ... beim Eid.«

»Der Esel!« flüsterte Corneli dem Kaplan Eusebi ins Ohr. »Er merkt nicht einmal, dass die Tafeln verkehrt aufgehängt sind ... Aber, das ist bei Gott kein gutes Vorzeichen ...«

»Wie denn? versteh Euch nicht,« sagte Eusebius, der eben zum vierten oder fünften Mal versucht hatte, die geschriebene, glatte Begrüssungsphrase zu wiederholen. Ah bah, überlassen wir uns dem Genius loci et momenti! dachte er verwegen. Ich konnte ja nie etwas vorauskomponieren, bin und bleib’ ein Stegreif ... »Also, was verkehrt gehängt? übles Vorzeichen?« drängte er neugierig und betastete nach seiner Gewohnheit den Befragten am Ärmel.

»Seht, der Johannes hat hinten und vorne auf die Tafel am Bogen zwei Hände gemalt. Die einen nach aussen sollen den Pfarrer ins Dorf reissen, die andern gegen das Dorf sollen ihm den Weggang verwehren ... Nun ist das Gepinsel verkehrt aufgehängt, so dass es jetzt heisst: ... zurück vom Dorf! wenn er hinein will ... und: hinaus mit dir! wenn er schon im Dorf sitzt ... Nun saget mir, ist das Zufalle oder Fügung oder was sonst in eurer Theologie?«

»Kann man’s nicht noch schnell wenden?«

»Dann ständ’ es bös, alle merkten den Witz! Jetzt sinnt niemand drüber. Seien wir ganz still! Aber nun werden wir gleich in der ersten Minute sehen, was der Carl Bischof für eine Nase hat. Riecht er das, hopla, dann aufgepasst!«

Mit dem roten seidenen Nastuch die Mücken abwehrend, wandte er sich an den Lehrer Flück und seine Sängerkinder, guckte einem Mädchen ins Notenblatt und bat mit gut gespielter Schelmerei: »Gebt uns ja keine falschen Noten zu schlucken, ihr Gofen! Meinetwegen wär’s gleich, ich verdau’ die grösste Dissonanz. Aber der neue Pfarrer singt wie ein Cherubim. Dem wird übel, wenn ihr zwischen den fünf hübschen Linien wild herumketzert. Er fängt euch jeden Misston auf und klebt ihn euch vor allen Leuten an die Nase. Jawohl, an die Nase,« wiederholte er, als die Kinder auflachen wollten.

»Keine Angst, Herr Ammann, es sitzt,« versprach Lehrer Flück und pochte zum zehnten Mal mit dem Schulstubenschlüssel leise an die Stimmgabel, indem er zugleich drohend zu zwei kleinen, voreiligen Erstklässlern blickte, als sagte er: »Ihr Gänschen, dass ihr mir den Schnabel nicht zu früh auftut! So ... jetzt!«

Er nickte, und hübsch im Dreiklang summten die Kinder Prim, Terz und Quint so sicher und so vogelsüss, dass die weiche Sommerluft mitzumusizieren schien. »Wenn sie nur einmal den ersten Ton haben,« fuhr Flück fort, »dann läuft der Kantus wie Hung und Schmalz.«

Die Kinder lächelten herausfordernd zum riesenhaften Corneli empor. Jawohl, wie Hung und Schmalz, nickten sie wichtig. Alles lächelte ringsum.

Kaplan Eusebius Nuss mit dem leeren Vogelnest auf dem Kahlkopf mochte nicht mitlächeln. Er war ein kleines, dürres, von seinen siebzig Jahren braun geröstetes, aber zierliches und flinkes Männlein. Auf seiner mächtigen Adlernase sass eine goldene Brille mit sehr scharfen Gläsern. Aber die merkwürdig hellbraunen, merkwürdig kurzsichtigen Augen machten durch ihre weiche, edle Güte das Glas zu Schanden, so dass es minder starr und streng ward. Eusebis Oberlippe hatte kleine Wärzlein und war darum immer schlecht rasiert und überdies vom Schnupf gebräunt. Das niedliche, bewegliche Köpflein sah aus wie ein alter gerümpfter, aber noch nirgends angefaulter Apfel, der sich auch noch lange konservieren wird. Wenn er lachte, zog sich das feine Spinngewebe von Runzeln glatt auseinander, und das Greisenantlitz bekam etwa Jünglingshaftes. Dann möchte man ihm gleich in die Bäcklein beissen wie in einen Lederapfel, hatte der verstorbene Pfarrer Zelblein oft gespasst.

Aber jetzt lachte er fürwahr nicht. Er kannte den Ammann wie seine rechte, den neuen Pfarrer wie die linke Rocktasche, und beim Gedanken an diese zwei Mächte, die fortan am Lustiger Dorfseil ziehen sollten, knüpfte er den Rock fester zusammen, als müsste er sich sichern.

Er hatte dem armen appenzellischen Weberbüblein, das die breiten Schaufelzähne so tief ins Kinn biss und dann alles erzwang, Lateinunterricht an der Fleimser Bezirksschule gegeben. Er hatte ihn mit Hilfe jener Schaufelzähne auf die Sankt Galler Matura vorbereitet und ihm fürs weitere Studium ins Deutsche verholfen, das heisst für uns Schweizer ins Weite, Grosszügige, mit mächtigen Horizonten, ob das theologische Seminar auch in einem engen Tal, abgelegen und von einer Kleinstadt umschwätzt, dazu noch an einem für die Helvetier unnennbar faulen Flusse lag. Aber aus diesem Eichstädt der Pruner, Thalhofer, Schneid und Stöckl ging der grosse Hauch germanischer Wissenschaftlichkeit und germanischer Spekulation aus. In den Fächern des Grübelns, die Eusebius liebte, war der Schweizertheologe schwach, doch in den Fächern der Taten und Rechte, wie Pastoral, Jus Canonicum, Beredsamkeit gewaltig in die Zeugnisse eingezeichnet. Früh ward ihm ein Pfarramt und der Ruf eines Mannes, der eher alle Stubenseligkeit opferte und unbeschirmt durch die Wildnis streifte, als dass er einen einzigen Ziegel vom Kirchendache preisgäbe.

Auch die Missliebigen, deren es rasch um ihn herum gab, mussten bekennen, dass Carl Bischof mild im Beichtstuhl, fröhlich am Krankenbett, gemütvoll in der Kinderlehre, feierlich in den Funktionen des Altars und unermüdlich in der Sorge für geistiges und leibliches Elend erscheine, dass er einen guten Witz und eine flinke, muntere Blechmusik liebe, aber nirgends so daheim sei, in der Studierstube schon gar nicht, wie auf der Kanzel, wo er leidenschaftlich gern seine kurzen, würdigen, volkstümlichen und jeden Kirchenwinkel mit dem gewaltigen Bass füllenden Predigten vortrage. Er stehe jetzt mit seinen dicht- und schwarzhaarigen vierzig Lebensjahren im Hochsommer der Kraft. Er könne alles, aber wolle noch mehr.

Gerne schied er aus seiner lauen, von keiner Predigt erwärmten, dazu von ewigem Föhn durchstrichenen See- und Berggemeinde Gons, um in das abgelegene, gesunde, an die offenen Hügellehnen hingewürfelte Lustigern zu ziehen, von wo es hurtig ins laute Eisenbahngelände hinunter ging; nach Lustigern, wo unter magern Obstbäumen und niedrigen Hausdächern noch die schöne alte Kirchlichkeit der Väterzeiten herrschte und schier alle Pfarrherren, so weit man sich zurück besann, in ihrem grossen, kühlen Pfrundhaus sesshaft wurden, gemächlich alterten und vom ganzen Dorfe verehrt an der Mittagseite der Kirche neben hohen Rhabarberstauden, einer neben den andern, unter einer dicken Granitplatte ihr Grab fanden, beinahe als legte man sich im gleichen warmen Schlafzimmer, Bett neben Bett, brüderlich zum Schlafe.

Aber, träumte Eusebi, bis er dort schläft, der neue Mann, und sich ausschweigt, wird er noch viel und mächtig lärmen. Denn er ist steil und ungebrochen wie ein Fahnenschaft und lässt keine weltliche Rechthaberei an sich kommen. Und seine Gedanken und Worte hängen nicht wie eine dünne Seide zusammengefaltet an der Stange herunter, sondern fliegen und brausen lieber im Winde über die Menschen hin, so dass diese die Köpfe beugen müssen.

Eusebi musste nun doch lächeln. Ihm fiel plötzlich ein, wie Carl ihm den Arm presste, als er dem Jungen das Wichtigste aus der Kirchengeschichte vortrug und zum langen, hässlichen Investiturstreit zwischen Papst und Kaiser gelangt war. Wie eine Zange hielt der fünfzehnjährige Bauernbub, der damals schon um Kopf und Schulter höher war als sein Pfarrerchen, den Ellbogen fest und immer fester, je mehr er von Gregor dem Siebenten zu Rom und vom hitzigen Heinrich dem Vierten vernahm.

»Lass los, Bursche!« gebot Eusebius und streifte den Ärmel auf. »Da schau, was für zwei rote Male ... mit deinen Tatzen, du Bär, du ...«

Der Bub sah ahnungslos seine zwei wirklich riesigen Hände und dann die schmerzlich gestempelten, dünnen Arme des Lehrers an, biss sich auf die schöne, rote Unterlippe und sagte: »Gut, gut! Aber nun, was weiter? was tat der Papst?«

Als dann von Barbarossa und Alexander dem Dritten, von Innozenz und dem Faustschlag ins Gesicht des achten Bonifaz geredet wurde, da fühlte Eusebi den eisernen Griff wieder. Er schimpfte und jagte für diesmal den Schüler heim. Aber wie staunte er, als er die Stirne Carls von grossen, lautern Schweisstropfen behangen und die Lippen bluten sah. Leise schüttelte Eusebi damals das Haupt, griff an den misshandelten Arm und neckte: Carl, Carl, merk dir, Begeisterung soll immer wohl, nie weh tun! ...

Wie klug und hochgebildet auch Eusebius war, er hatte trotzdem keine Karriere gemacht, im Gegenteil, war von Anfang an die Würdenleiter hinuntergestiegen. Flugs nach dem Seminar war er Pfarrer in Carls Heimat geworden. Aber dieses Dorf Gubs ist ein von eisigen Bisen durchwütetes Kirchspiel, gegen den grossen See im Nordost geöffnet und allen seinen Launen ausgeliefert. Eusebi hatte äusserst schwache Augen, und dieser beissende Wind machte sie von Jahr zu Jahr elender. So übernahm er dann nach fünf Amtsjahren die Professur der alten Sprachen und Geschichte in Wyla, das sich an einen Waldhügel lehnt und auch im Winter keinen scharfen Luftzug kennt. Sein Pult, zu dessen Füssen auch Carl sass, wurde im ganzen Kanton berühmt. Aber die vielen Hefte, die er erst bei der Lampe korrigieren konnte, schmerzten seinen Augennerv bald noch mehr als die Gubser Bise, wiewohl er mit grüner, statt roter Tinte verbesserte. Es kam so weit, dass er oft nichts als rote und violette Flecken vor sich sah und alle Unterscheidung von nah und ferne und damit auch die Autorität unter den sechzehnjährigen Schlingeln verlor.

Da er nun gar keinen Ehrgeiz, aber einen gehörigen, gelehrten Stubenhockergeist besass, so nahm Eusebi bei erster Gelegenheit die stille Kaplanei von Lustigern an. Lustigern war jene Pfarrei der Diözese, wo die Pfarrherren alles selbst machten, so dass der Volkswitz behauptete, den Kaplänen bliebe nichts übrig, als für ihre wachsamen Prinzipale zu schlafen.

Weil nun Eusebius sehr gut schlief und nie wacher sein wollte als der Pfarrer, da ihn ja keine Sucht nach Ehre und Öffentlichkeit stach, gerade darum fand er sich mit dem Parochus ausgezeichnet zurecht. Man liess ihn in seiner sanften, gescheiten, brillenbewehrten Art schalten und walten und gar oft, im Rücken der Pfarrkinder, tauschten sich die Rollen wie von selbst und die Pfarrer holten sich bei diesem Kaplan oft Rat, wo sonst die Kapläne vom Pfarrer Wink und Weisung erhalten.

Aber dieser Carl Bischof wird wahrlich keine Kapläne um Rat bitten und ihn, den Eusebi, mit dem er so vertraut steht wie ein strenger Sohn mit einem etwas lässigen Vater, ihn gerade darum nicht. Zürnte ihm doch schon der neugebackene Apostel monatelang, weil Eusebi für die Primizpredigt das Motto aus Joh. 14, 27 gewählt hatte: »Meinen Frieden gebe ich euch,« ohne das behelmte und schwertklirrende Beisätzlein mitzunennen: »Nicht wie die Welt ihn gibt!« »Mit einem Diebstahl an der Wahrheit hast du mich ins Amt führen wollen,« donnerte der Neupriester den Ehrenprediger in der Sakristei an. »Aber du wirst mich nicht verweichlichen, noch verweltlichen, du böser, lieber Unhold Gottes!«

So einer war also das geistliche Oberhaupt, das sich seinem neuen Kirchspiel näherte. Und was für ein gewaltiges weltliches Oberhaupt trat ihm in diesem alten Cornelius Bölsch da entgegen!

Diesen Greis dünkten Theologie und Seelsorge dann am reinsten, wenn die Geistlichen Psalmen singen, Kirchenväter lesen, ihren Schäfchen den Weg zum Himmel möglichst klar vorpredigen, wenn sie im alten, heiligen Latein ihre Messe beten und nachher ruhig in der Sakristei verschwinden. Aber sobald sie sich um Kirchenrechnungen, Pfrundkassen, Kollekten für unnötige Anschaffungen und Renovationen, um Schenkungen an das Gotteshaus ohne gemeindliche Kontrolle, um Wahlen, Kirchenräte und Präsidien, kurz um alle jene Weltlichkeiten kümmern, die schon uns Laien den Sinn vom Lichte ins Dunkel hinunterdrücken und die sich so rasch und gern ans Heilige kleben, o dann fängt die reine Sache an, staubig und unevangelisch zu werden, das Sacerdotium besudelt sich und die Hand, die das Sakrament tragen sollte, beschmutzt sich mit Fremdem und Ungehörigem, vergisst den Himmel und verliert sich in der Erde.

Ja, so ist mein lieber Corneli und so ist mein neuer Pfarrer, dachte Eusebius, jeder ein Schwert, ein sauberes zwar, aber doch ein Schwert. Schwert gegen Schwert, das macht schartig auf beiden Seiten. Besser wäre ein Säbel und eine Säbelscheide, die zwischen den beiden etwa wechselten.

Und jetzt musste der Kaplan wieder lächeln. Drei Pfarrer hatte er hier in Lustigern erlebt und überlebt, den Eirich, den Ruedli und zuletzt den Cyrill Zelblein. Habe ich da nicht immer das erste Weilchen die Rolle der Schwertscheide gespielt? Sie kamen geschliffen und gezückt, die jungen, heiligen Donnerwetter, aber ich Philister fing ihre ersten Heldenstreiche geduldig in mein altes Leder auf, und so nach und nach kamen diese Schwerter ins gleiche Philisterfutter zu liegen, in dem das meine ruht.

Aber sofort kratzte er sich am Ellbogen. Wieder wie jedesmal juckte ihn das Wort Philister wie ein Floh am Gewissen. Dann klob und rieb er sich an jenem Fleck, wo ihn jener stürmische Bauernjunge einst so heftig in die Zange genommen hatte, als ob es nur hier sässe, das kleine, alte, behagliche Kaplanengewissen. Tat ich denn auch recht? fragte er sich. War das echter Gottesfriede, Treuga Dei? oder nicht eher ein Versumpfen und Verstumpfen der Ideale? Carolus jedenfalls wird nicht so leicht in die Scheide schlüpfen, er, der noch jüngst wegen einer geharnischten Predigt in den Zeitungen herumgerissen und mit dem Denkzettel versehen wurde: denken Sie ein bisschen mehr an Paulus 1. Korinther 13 statt an Paulus 2. Timotheus 4, wenn Sie die beiden nicht zu vereinigen wissen! . . Man sagte, der Kapitelsdekan selber habe diesen Artikel geschrieben.

Wieder knöpfte Eusebi unwillkürlich den Rock fester und doch musste er unverbesserlich lächeln: Philisterei so oder so, dennoch danke ich Gott, dass ich am grünen Kachelofen sitzen, mit meiner Marianne Äpfel sortieren, einen gesunden Veltliner abziehen, im Garten etwas wässern und beschneiden und pflücken, daneben das wunderlich schöne, grause Mittelalter studieren und Papst und Kaiser von heute in respektvoller Distanz halten kann. – Und wie er sich das einflüsterte und bescheiden von seinem lautlosen, unscheinbaren, aber innigen Priesterwirken in hundert kleinen Lücken, die ihm die Pfarrer übrig liessen, schwieg, und wie er nun über die Talgründe und Anhöhen weg gegen das Gebirge hinüberblickte, kam er sich vor wie ein stiller, alter sturmloser Hügel mit gutmütig verstampftem und geebnetem Rücken, der rechts und links feuerspeiende Berge gewahrt und mit überlegener Gelassenheit murmelt: ich bin zwar tief unter euch, aber ich habe meinen Frieden. Wachset und reifet, ihr Stürmer, je eher je lieber zu mir herunter. Das ist gescheiter als gen Himmel zu rauchen. Einst werdet ihr doch platt gedrückt, weiss Gott, ihr werdet es, bis in den untersten Sargboden hinunter ...

Plötzlich verstummte das Gesumme der Leute um den Kaplan herum. Das weckte ihn. Er sah, wie alle Gesichter verblüfft aufhorchten, während der Ammann schier zufrieden die totbleichen Hände rieb. Was ist los? Kommen sie? Läutet es? fragte Eusebi etwas schwerhörig und wölbte die Hand übers Ohr. In der Tat, man läutete, aber nicht das Kinderglöcklein, das jeweilen dem Glockenchor wie ein wilder Bub voraushüpft, sondern der schwarze Bass der Ueliglocke plumpste totenschwer durch die vesperlich stille Luft und riss Loch um Loch in ihren Frieden.

Alle überlief es kalt. Alle wussten zwar, dass nur der Täler gestorben sei. Aber dieser Sticker war ein so geräuschloser, stiller Mann gewesen, diese dumpfen Leichenklänge fielen so anmassend ins Gehör und schienen so herrisch die Stunde und die Aufmerksamkeit des Dorfes für sich zu fordern, auch grollte etwas so Dunkles und Drohendes von einem Schlag zum andern, dass niemand diese Glocke nur mit dem Tode des Marx übereinstimmen konnte.

Es läutete ja sicher nur wegen dieser armen Leiche, einer der dreissig Leichen, die das Dorf durchs Jahr ins Grab trug. Aber ohne es sich näher zu erklären, fühlten die Lustiger sehr deutlich, dass dieses tiefe sorgenvolle Geläute gerade in diesem Augenblicke mehr bedeuten müsse.

So legte es der Totengräber aus: der neue Pfarrer wird viele Dörfler beerdigen müssen; mir kann’s recht sein, wenn es nur keine Seuche ist und noch ins Vieh schlägt ... Das heisst Kampf, bestimmte der Kaplan ... Der Ammann aber spann: Carolus Bischof, kannst du das hören? Nimms zum Zeichen, dass die Pfarrer wechseln, aber nicht das Dorf und seine Bräuche und Rechte! Ihr seid nur Gäste, wir sind der Wirt. Wir nehmen dich, nicht du nimmst uns. Das ist ein Unterschied. Und wenn der Papst käme, zuerst muss dem verstorbenen Lustiger geläutet werden. Dem Hiesigen, dann dem Fremden! ... Die Sterbeglocke klang dem Corneli wie ein persönlicher Triumph. Aber er empfand, dass das für den Moment zu viel sei und rief: »Herr Kaplan, lasset uns ein Vaterunser für die arme Seele des Marx Täler beten!«

Sogleich knieten die Kinder ins Wiesenbord hinein, falteten sich alle roten, braunen und weissen Hände von Lustigern und stieg ein vielstimmiges, frommes Gemurmel mit dem Duft der Wiesen und dem Gesumm der Bienen gen Himmel. Und mitten im Gebet fiel dem Corneli ein, dass sein Göttibub, der Johannes, nun zum zweiten Mal verwaist sei. Er soll ein braver Sticker werden, beschloss er, ich schiess ein paar Franken dazu. Mit dem Geklex auf Leinen und Brett wie da oben am Bogen ist nichts geleistet. Das jag er sich aus dem Hurschel. Aber das, er kann neue Muster für unsere Stickerei erfinden, da hat er Geist, das wär’ geschickt und hülf’ ihm merkwürdig vorwärts ...

Kapitel 3

Ungemütlich schritt Carolus Bischof mit vier Kirchenräten und dem Mesmer von Gons vom Bahnhöflein Batzig ins enge Flusstal hinunter.

Auf der hohen Lehne des jenseitigen Ufers, gestützt an die warmen, hellgrünen Hügel, wie sie nur das Toggenburg und Appenzell kennt, sah er seine zukünftige Residenz Lustigern in einem schwächlichen Sonnengeriesel stehen. Denn der nachmittägliche Himmel hing dunstig heiss nieder und dämpfte mit seinen Schleiern wohl die Junisonne, aber nicht die Junihitze.

Heimelig schob sich das Dorf im Gras und Obstlaub zusammen, eine Stunde von jeder Eisenbahnmöglichkeit und jedem Weltlärm entfernt, mit einer unwichtigen, schmalen, von Unkraut bewachsenen Landstrasse, einem klingenden Bächlein und bloss zwei Stickereifabriken, die dazu nur wie etwas breitere Wohnhäuser aussahen und weder qualmten, noch stark lärmten. Klein, aber mein, wollte Carolus sagen, aber verschluckte es noch zeitig.

Es verstimmte ihn ein wenig, dass gar keine Lustigerseele ihn am Batziger Bahnhöfchen erwartet hatte. Überdies wurde ihm dass Gespräch mit den Gonser Begleitern immer saurer. Was soll man sich noch hübsche Lügen vordrechseln, wenn jeder Teil merkt, wie froh der andere über den Abschied ist?

Je näher man dem Ziele kam, desto geläufiger wurde freilich die schwere Zunge der Oberländer. Aber sie mochten vom hiesigen frühen Heuet, von der helleren Farbe der Kühe und von den viel loser gebauten Häusern dieser Talschaft reden, einerlei, aus allem hörte Carolus die Freude der Gonser, ihren stetig mahnenden, warnenden, scheltenden Pfarrer endlich nach fünfzehn rumpeligen Jahren los zu werden.

O diese Gonserzeiten, besonders die letzten mit dem grausamen Zweifel: soll ich packen und gehen? Oder soll ich tapfer ausharren?

Wie oft war er noch spät, wenn nirgends als in den drei Wirtschaften die leider nicht auszulöschende Lampe noch Licht in die Mitternacht hinauswarf, durch den kleinen, steinharten Garten, in dem auch nur grober Salat gedieh, wie oft war er in die dunkle, alte, feuchte Kirche gegangen, hatte wie zum Protest sechs Kerzen am Hochaltar angezündet, um jene drei Kneiplichter zu übertrumpfen, war dann demütig auf der untersten Stufe niedergekniet und scharf mit seinem Gewissen zu Rate gegangen, ob es Feigheit und Flucht sei, der Einladung seines Bischofs ins stille, bequeme Lustigern zu folgen? Ob er nur aus Liebe zur Behaglichkeit, aus Sehnsucht nach Alleinherrschaft ... denn Lustigern ist dickkatholisch und rundum erzkonservativ ... aus Müdigkeit von all dem sieglosen Streit, der seine hübschen, pechschwarzen Appenzellerlocken am Ohr schon leis angraute und ihm ab und zu nachts oder nach einem Glas Mittagswein das Herz so beängstigend klopfen machte, kurz, ob er dem Fleische zulieb sich weg wünsche.

Dann aber reckte sich seine übermannshohe Gestalt, für die jede Gonser Stubentüre zu niedrig gewesen, dass es krachte, als trüge er einen Spangenpanzer. Sein runder, blutroter Kopf mit den grossen hellblauen Augen und dem eingehackten Kinn hob sich, die weissen Zahnschaufeln gruben sich in die breite, schöne Unterlippe, die einem Rosenblatte glich, die Locken starrten beinahe stachelig in die Höhe. Nein, nein, ich bin noch stark! Lieber schlafloser Krieg als schläfriger Friede! Der Bischof freilich spottete, ich richte hier mit meiner Gigantenfaust weniger aus als ein Zwerg mit dem kleinen Finger. Und Carl hörte den violetten Mann wie im Scherze, aber mit durchdringendem Blicke wieder sagen: Die Gonsernuss ist hart. Nicht das Horn des Stiers soll sie zerstossen, sondern das Mäuschen der Geduld muss sie aufnagen. Öffnen, nicht zertreten! ... Das war deutlich.

»Gehen Sie nach Lustigern,« ersuchte der Bischof mild. »Auch dort gibt es Nüsse zum Knacken. Aber doch minder harte! Wenn Sie mit ihrem Daumen und Zeigefinger sachte drücken, springt gleich der schönste Kern heraus. Probieren Sie’s! Ihre Nerven brauchen Ruhe, und Lustigern weiss nichts von Föhn. Sie werden schlafen wie ein Klausner. Wird es Ihnen dann mit der Zeit doch zu langweilig und schlafmützenhaft, gut, dann findet sich bald wieder ein Posten, wo Ihre zwei Meter sich recken können, ohne an jede Diele zu stossen ... Übrigens,« mit welchem Lächeln fügte Reverendissimus das bei! »... hat der wackere Ammann Cornelius Bölsch alldort zum mindesten auch Ihre zwei Meter. In meinem ganzen Bistum wird es keine Pfarrei geben, wo sich Kirche und Staat Hoheiten von solchem Massstab gestatten.«

»Was? wie?« stotterte Carolus und überhörte völlig den ironischen Ton, »zwei Meter misst der Ammann von Lustigern! Ist das möglich?« Und in diesem Augenblick lispelte etwas wie ein guter Instinkt ins Ohr: geh nicht!

»Zwei Meter und wohl auch ein, zwei Zentimeter darüber,« fuhr der Bischof, selber ein Riese, mit heiterer Bosheit fort. »Aber die Meter sagen gar nichts,« fügte er bei, indem er lustig über seine eigene Figur hinuntersah. »Gehen Sie ohne langes Besinnen aus dem wilden Gonsergebirge und ruhen Sie ihre herzklopfende Kampfnatur ein bisschen auf den Toggenburger Wiesen aus.« ... Unter der Türe sagte der Bischof noch: »Ich lade Sie zum Mittagessen ein, punkt zwölf Uhr. Eine Habersuppe, Rindfleische und Äpfel, das ist so mein Modus. Aber für Sie gibt es noch eine süsse Platte ... und übrigens, wenn Sie das Eingemachte lieben, so sind die Lustiger Wildzwetschgen weltberühmt, süss und sauer zugleich wie das Leben und Pastorieren ...«

»Wie ein Spielzeug hockt’s zusammen, dieses Lustigern,« störte der Gonser Präsident nun das Schweigen des Trüppleins auf. »Da kann ein Pfarrer ja sozusagen in den Pantoffeln amtieren.« Da er aber sofort fühlte, wie schlecht die Pantoffeln zu Carolus passten, lenkte er schlau weg: »Da unten am Flusse liegt freilich noch ein Weiler und weiter wasserab noch einer, sogar mit Kapelle und Schule, und freilich, der Wildberg dort drüben gehört auch noch, sogar mit der Rückseite und ihren Gehöften, ins Kirchspiel. ‘s ist doch umfänglicher als man beim ersten Blick meint, und recht hügelig! Ja, man braucht doch Stiefel.«

Da Carl immer noch keinen Bescheid gab, scherzte der Präsident gutmütig: »Also doch immer noch etwas Bergsteigen, Hochwürden, wie bei uns, nur nicht so ... so jäh. Bei uns ist es doch etwas zu schroff gewesen, Hochwürden!«

»Herr Eglas, seht, wo immer drei, vier Häuser beisammen stehen, gibt es schon Arbeit und Kummer genug,« erwiderte endlich mit abweisender Gebärde der Pfarrer. Er hatte es nie übers Herz gebracht, diesen Amtsmann, der ihm heimlich immer entgegengearbeitet hatte, daneben der plauderhafteste Nachbar gewesen war, mit dem Titel Präsident anzusprechen. Er betonte immer Eglas und dehnte dazu noch das a maliziös, wie es der Faulheit und Glasseligkeit dieses Mannes entsprach: E-gla-a-a-a-as. Dafür rächte sich der gar nicht dumme Eglas, indem er passend und unpassend die Hochwürden häufte und an den Kopf schleuderte, aber das Hoch dabei mit erhöhtem Ton aussprach und sich dabei auf die Fussspitzen stellte. Wie alle Messer und Bosheiten stumpf werden, merkten auch die beiden nach und nach nichts mehr von der Neckerei, die sie gewohnheitsmässig übten.

»Aber, meine Herren,« bemerkte Carolus jetzt, »kommt Euch nicht auch der Lustiger Kirchturm dort drüben merkwürdig niedrig vor?«

Schon oft beim Hinauf- und Hinunterfahren durchs Toggenburg hatte er das Dorf über der Schlucht vom Eisenbahnfenster aus betrachtet. Aber nie war ihm dieser niedrige Turm aufgefallen bis heute, wo er ihn nun persönlich anging.

»Kaum über die Dächer guckt er,« lachte der Sigrist. »Nun, ein niedriger Turm hat auch sein Gutes.«

»Und das Zifferblatt,« meinte kritisch der Gonser Dorfweibel und zog ein Fernrohr aus der Tasche, ohne das er, der berühmte Gemsjäger und fast noch berühmtere Wilderer, nie aus der Gemeinde ging, »das Zifferblatt ist ganz abgeschossen. Man merkt nichts mehr von Farbe. Nicht einmal durch mein gutes Glas kann ich die Stunden lesen. Verschwitzt und verregnet sind Zeiger und Zahlen.«

»Da kommen Hochwürden ja in ein Land ohne Zeit und schier gar schon in die ewige selige Ruhe,« spöttelte der Präsident Eglas weiter, ihm das Fernrohr überreichend. »Da, seht selbst, beatus vir.«

Widerwillig und tief verärgert nahm Carl das Glas und äugte scharf über die breite Schlucht ins ferne Dorf hinüber. Mit Genugtuung bemerkte er doch einige kleine weisse und grüne und gelbe Fahnen, das breite Dach des Pfarrhofes und den alten hohen Giebel seines väterlichen Freundes Euseb Nuss. Aber der Turm, der fünfseitige Turm, dünkte ihn unerträglich niedrig.

Der jüngste, geistreichste, aber im Grunde auch der schlimmste von den vier Räten, der elegante Sekretär Emil Hobis, mischte sich nun ins Gespräch. Er war von den vier juristischen Semestern an der Universität als Gemeindeschreiber heimgeholt worden und arbeitete nun daheim seine Doktordissertation aus »Das Ungesetzliche in unserem Kirchenbehördenwesen«. Gleichzeitig war er in historischen Untersuchungen tätig und man erwartete längst ein Werklein von ihm: »Stammt unser grosser Notker von Lustigern ab?« Viele hielten das für seine Doktorarbeit.

Mit seiner langen griechischen Nase und seinem gebräunten, glatten Gesicht sah er aus wie ein prachtvoller junger Fuchs. Ohne selbst leidenschaftlich zu sein, verdrehte er doch allen Gonser Mädchen den Kopf. Es gab kaum eines, das nicht ein süsses, harmloses Abenteuer von seinem samtdunklen Schnäuzchen ersehnt hätte.

Zu dieser Gefährlichkeit kam aber noch die viel grössere, dass er erzliberal war, die Kirche nur noch an Allerheiligen und Ostern besuchte und bereits ins liberale Hauptblatt Artikel schrieb, die Witz und Feuer atmeten und unablässig in kirchliche Gebiete von delikater Natur griffen. Das verbitterte Carl nach und nach, der den Emil zum Ministranten gemacht, vielen Knaben vorgezogen und in vielen Disputen und Räten versucht hatte, den Studenten auf seiner Seite zu behalten. Emil Hobis schien absolut nicht, was man Herz oder Treue oder Pietät nennt, zu besitzen. Nur Anstand, äusserlichen, vollendeten, tadellosen Anstand! Er widersprach daher so selten als möglich ins Gesicht, aber gab auch nie etwas zu und entwand sich den oft groben Argumenten und Fäusten Carls wie ein Aal. »Dann bist du ja verloren, Armer,« sagte Carl einmal nach einem Disput mit brennenden Augen. Aber der verlorene Emil, unter der Türe sich höflich verbeugend und mit den langen weissen Zähnen lachend, war imstande, sanft zu antworten: »Ich werde Sie immer verehren, Herr Pfarrer. Bitte kommen Sie morgen zu uns zum Mittagessen! Vater hat einen Hasen geschossen und Mutter brät ihn nach dem Rezept Ihrer Köchin Peregrina. Sie würden uns allen Freude machen ...«

Aber Carl hatte ihm mitten im Satz die Türe vor der schönen Griechennase zugeschlagen. Asche und Salz sollte ich eher essen und Busstränen trinken, wenn es mir nicht gelingt, diesen Ungeratenen vor dem Abgrund zu retten ...

Es gelang ihm nicht, vielleicht schon darum nicht, weil er mit den Hörnern des Stieres kämpfte, während gerade hier das demütige Mäuschen der Geduld hätte lecken und nagen sollen. Ein kühles Verhältnis trat ein, von Seiten des Pfarrers noch mit Groll und Abscheu gemischt, während Emil mit der süssesten Unverfrorenheit, als ständen sie noch als Priester und Ministrant wie ehedem am Altar, dem Geistlichen begegnete, ihm Birnen und Wein ins Haus schickte und ihn unterwegs ehrerbietig-fröhlich anhielt und in ein munteres Geplauder zu verwickeln suchte, gerade als könnte der Mensch sich in zwei Wesen spalten, ein religiöses und ein weltliches und als könnte man das eine küssen und das andere tot treten. Emil könnte das, ich nicht, sagte sich Carolus. Ich bin entweder nur einer oder dann keiner!

Er merkte sofort mit Antritt des neuen Sekretärs, dass die Hindernisse seines Pfarrherrentums zahlreicher, die Opposition zielvoller, die Aktionen heimlicher, aber die Reibung schärfer und die ganze gegnerische Politik gescheiter und geregelter wurde. Er fühlte sich auf einmal, ohne recht zu erkennen, wie und wo, in seinen oft etwas kühnen Bewegungen gehemmt, und zum ersten Mal in seinem Leben begann er bei Handlungen zu zaudern, die er sonst immer mit herrlicher Sicherheit vollzogen hatte. Oft ertappte er sich dabei, wie er nach links blickte und rechnete, als ob er von dort eine Erlaubnis zu holen hätte. Nein, so durfte es nicht weiter gehen. Unabhängig wollte er bleiben, und gerade die böse Ahnung, dass der Feind immer stärker und er, Carl, ihm in seiner geraden Art immer minder gewachsen wäre, hatte zu allem andern den Entschluss ausgereift, nach Lustigern zu ziehen.

Da befand er sich nun auf der Strasse ins neue Heim und mit ihm dieser unselige junge Mann als Anstandsbegleiter. Aber Emil Hobis war zu fein, um nicht die Gefühle seines bisherigen Pfarrers, diese zwiespältigen, zu verstehen. Er spürte, wie unpassend es sei, dem Seelsorger noch in der letzten Stunde den Tausch sauer zu machen.

»So ein Zifferblatt,« begann er mit klarer Stimme, »ist bald und lustig neu gemalt. Im Städtlein Wyla, so liess ich mir sagen ... man sieht es dort unten am Wald ... sollen sie als Zeiger einen grossen und einen kleinen Finger gegossen haben. Der grosse, schwarze, heisst Martha, weil er gar so ruchlos pressiere. Der kleine Zeiger wird vergoldet und soll der Finger der Maria heissen, da er mit einem kurzen, stillen Schritt das gleiche leiste, was der andere schwitzend und pustend mit zwölfen kaum fertig bringt. Meine Herren, ist das nicht hübsch gedacht?«

Der Pfarrer gab das Rohr zurück, riss den Hut vom nassen, schwarzen Krauskopf und war auf einmal ein andrer. Denn nun hatte er eine Aufgabe. Wohl nur ein Zifferblatt zu renovieren! Aber das dünkt ihn schon wichtig. So ein Zifferblatt ist der Stundenplan der Gemeinde, ihr Tagesheft, ihre Lebensordnung. Und dabei kann er etwas Neues erfinden mit den Zeigern, etwas so Gedankenvolles und Originelles wie die Kleinstädtler dort unten. So was tut er gerne. Und das ist erst der schlaue, kleine, leise Anfang. Denn so, wie er dasteht, ist dieser Turm unmöglich. Er duckt sich ja geradezu vor den Dörflern, dass es eine Schande ist. Was muss man vom Pfarrer denken, der einen solchen Kirchturm hat? Turm und Pfarrer sind doch die zwei Wächter der Gemeinde. Wie der Turm, so der Pfarrer. Ja, ja, das war der friedfertige, behäbige Dekan Eirich. Dem entsprach es völlig, einen so kurzen, bequemen, dicken Stumpf zu bauen, der sich nicht einmal in den ersten Wind emporwagt und vor Blitz und Donner einen tiefen Katzenbuckel macht.

Ehrensache, der Turm muss gehoben werden. Vielleicht um drei, sicher um zwei Stockwerke muss der Lupf geschehen ... Auch Carolus reckt sich in die Höhe und wieder kracht es, als wäre er geharnischt. Aller Unmut ist verflogen. Die Lustiger mit ihrem Turm von einem Ammann werden selber zuerst daran ihre helle Freude haben. Den Turm dort nur anschauen muss ihnen schon Kopf- und Rückenweh machen.

»Kennt Ihr den Corneli, Herr Sekretär?« fragte Carolus munter, indessen man rasch zur gedeckten, uralten Holzbrücke über dem Schluchtwasser hinunterschritt.

»Wie sollte ich nicht? Das ist ein schneeweisser Achtziger, aber bolzgerade, zwei Meter und etwas hoch und noch frisch im Kopf wie ein Knab.«

Der Pfarrer zuckte bei den zwei Metern leise zusammen.

»Ein grossartiger Kopf,« musizierte Emil fort und befeuchtete mit der Zungenspitze die trockenen Lippen, »aber leider die Batzen, die Batzen! Ihr werdet es erleben. Ungefähr so!« ... Er klob mit seinem Daumen und Zeigefinger den Hosensack fest zusammen. »Seht so!«

»Wieso denn?« verlangte der Pfarrer.

»Ich begreif ihn ganz gut,« erklärte Hobis rasch und flüssig. »Ein Waisenbub, ohne einen Rappen im Schnupftuch, verschupft und verdingt, man weiss, wie’s denen geht, aber gesund und hart wie ein Stein ...«

»Und frech und fleissig und gescheit,« warf der Präsident hinein.

»Er lehrte sich selber lesen und schreiben,« fuhr Emil Hobis fort. »Nachts unter dem Webstuhl oder im Bett. Dann politisierte er früh. Freut Euch, Hochwürden, er ist so schwarz und konservativ wie sein Kamin. Er könnte Euch noch übertrumpfen ...«

»Sprecht ihn mir nur nicht gleich heilig,« spottete Carolus. »Da käm’ der Lichtzacken vom falschen Ort.«

»Bald stand er wie ein Baum in der Partei und trieb eine tintenschwarze Politik. Er wurde Grossrat und hierzuland Führer. Damals ging es ja etwas rumpelig zwischen Konservativ und Liberal zu. Kulturkampf nennt ihr es. Nach grossem Auf und Ab siegten die Freisinnigen. Der Corneli kam für einige Wochen als politischer Sünder in Haft. Das gab ihm bis heute bei den Eurigen einen Glanz ums Haupt, noch blitzender als sein wahrhaftes Silberhaar.«

Die Kirchenräte nickten beifällig. Carolus atmete trotz des gelüfteten Hutes schwerer. Es war in diesem Augenblick eine Wohltat, wie das gesunde Rauschen des Flusses und sein nasser, kühler Hauch den schwarzbefrackten schwitzenden Herren, vor allem dem Pfarrer, erfrischend entgegenwehte. Grüne, mit Schaumkränzen versilberte Gebirgsfluten wallten da mächtig zwischen Granitblöcken das enge Bett hinunter. Jenseits stieg mit dem Strässchen ein steiler, wundervoll dunkler Tann den Hang zur Landstrasse empor.

»Eben kam die Stickerei ins Land,« erzählte der Sekretär weiter. Er allein schwitzte nicht und atmete so leicht wie ein Vogel bergauf. »Corneli griff zur goldenen Stunde zu. Er baute eine kleine Fabrik, zahlte kleine Löhne, lieh Maschinen in die Häuser, lebte wie aus einem Kaffeelöffel und gewann wie aus einer Schöpfkelle, ward reich und reicher, verkaufte dann das Geschäft, als es nur noch nach Silber roch und begnügt sich jetzt mit seinen Renten und seiner Majestät im Dorf und Bezirk.«

»Majestät,« lachte der Präsident. »Vorab Geldsäckelmajestät!«

»Nein, Herr Präsident,« betonte Hobis ernst, »es ist mehr, es ist wirkliche Majestät!«

Dieses Wort Majestät tönte unbehaglich in die fast kreisrunden, kleinen Ohren des Pfarrers. Immer dunkler wurden sie vom Blutzudrang. Die Gonser Kinder kannten diese roten Schnecken gut und berechneten darnach exakt, wie man durch die Katechese fahren werde.

Majestät! In diesem urfrommen Dorfe drohten Gefahren, die Carolus im unkirchlich lauen Gons niemals kennen gelernt hatte. Dunkle Ahnungen stiegen wie ferne Gewölke in seinem gehärteten Schädel auf, und es brauste und toste etwas in ihm hinter den Schläfen und Ohren bis in die Haarspitzen empor. War sein dickes Appenzellerblut so in Wallung geraten? Oder war es der gequälte, grimmige Bergstrom, über den man jetzt gerade durch die gedeckte Holzbrücke schritt, wo denn mehrmals zwischen zwei lotterigen Brettern die grünliche schaumdampfende Gischt durch die Ritzen heraufglitzerte und ihren wilden Schnauf durch die Hosenstösse hinaufblies, dass einen kitzelte und gruselte.

»Da seht den alten Geizhals,« rief Fluori, der Gonser Maurermeister, der sich bisher still seinem Tabakpfeiflein ergeben hatte. »So viel Holz hat Lustigern! Die Tannen wachsen ja hier fast ins Wasser hinein, und,« erhob er seine Stimme, da die Begleiter vor dem Flussgeheul nichts verstanden, »und nicht einmal den Boden hier füttert man gerechtens aus. Jetzt seht dieses Loch! Nachts könnte einer mir nichts dir nichts drin das Bein brechen. So wird es wohl auch mit der Feuerwehr, der Wasserversorgung und der Brandversicherung stehen ...«

Was Spritzenhäuschen und Brücke? der Turm, der Turm! dachte Carolus. Ihn ärgerte der Corneli, aber fast noch mehr dieses kleinliche Geschimpfe über ihn.

»Bei ihnen brenne es nie, behaupten die Lustiger. Stankt Ambrosius lösche mit seinem Mantel jedes vorwitzige Zündhölzchen. Das ist mordsbequem!« witzelte der Präsident und spionierte über die Gesichter, die nun aus dem Brückendunkel heraustraten, ob man lache und ob er mitlachen dürfe.

Jedoch niemand lachte. Es ging jetzt mit einer Abkürzung durch das Wäldchen in steilen Schleifen empor.

»Meine Herren,« begann plötzlich mit auffälligem Nachdruck der Pfarrer, »geraten da wunderlich in den Legendenstil. Mein Kompliment! Aber gar nicht Legende, sondern nüchterne Wahrheit soll es sein, dass Cornelius Bölsch jeden Morgen, so Sonntag wie Werktag, in seinem Kirchenstuhl zur Messe kniet und abends mit Frau Cecili den Rosenkranz betet. Das ist die Hauptsache, und da sind er und ich ja eines Sinnes.«

Der Sekretär, auf den die Kameraden sogleich hilfesuchend schauten, sprang geschmeidig ein. Obwohl ihn Carl längst nicht mehr in der Kirche gesehen, fuhr sich dieser Fuchs seelenruhig über den glattgekämmten Scheitel und sagte: »Der Corneli! Auf seine Art ist er ein frommer Mann, das steht über allem Zweifel. Aber auf seine Art, man verstehe!«

»Es gibt nur eine Art,« entschied Carolus hart, und schürzte unwillig seine rosenblättrige Lippe. »Wie haben die Herren doch ihren Katechismus verlernt!«

»Ich meine so,« begütigte Hobis flink, »Wir, lieber Herr Pfarrer, sind Euch zu wenig kirchlich gewesen. Das war gewiss arg!« Er lächelte charmant an seinem Samtschnäuzchen hinunter. »Aber Corneli ist Euch vielleicht zu kirchlich, und das könnte Euch am Ende noch ärger werden ...«

Verblüfft stand Carolus unter einer niedrigen Tanne still. Die Räte blinzelten sich verstohlen zu: das traf! Der Präsident riss übermütig ein paar Nadeln vom Ast und steckte sie zwischen die Zähne. Die heisse Luft liess ein wunderbares Aroma von Harz aus dem müden Baume schwelen.

»Wir liessen Euch in Kirche und Sakristei schalten, als wäret Ihr der Herrgott selber,« erklärte das elegante Herrchen weiter. »Um die Opferstöcke und Paramente, die Glocken und Kerzen, um Euere Litaneien und Katechesen haben wir uns nicht gekümmert. Ihr floget in Euern Meisterpredigten von einem Heiligen zum andern, vom milden Johannes zum zornigen Paulus, frei wie, entschuldigt, aber wirklich frei wie ein Spatz. Ihr schimpftet über uns, schluget mit der Faust aufs Kanzelgesimse und nanntet uns oft katholische Eiszapfen. Sagt selbst, ob ich wahr rede!« ... Warum reizt er mich, dachte er. Jetzt muss ich’s sagen.

In den Räten stieg ein warmes Lachen auf. Der Sigrist, der hundertmal derb gescholtene, hielt die Hand vor den Mund und tat, als gähne er. Aber der Pfarrer stand wie gebannt auf dem gleichen Flecke, und so sehr es um seinen Mund zuckte, er konnte nur horchen und horchen. Das war wohl die Abrechnung. Diese Gonser, die er trotz und alledem mehr liebte, als er selbst wusste, wie taten sie ihm im Scheidestündlein noch weh!

»Sicher haben wir Euch Verdruss gemacht, weil wir nicht mehr Interesse an all dem erzwingen konnten,« gab Hobis höflich zu. »Nun gebt wohl acht, Herr Pfarrer, der Corneli hat vielleicht zu viel Interesse. Am Eiszapfen kann man sich ein bisschen erkälten, aber am Feuer kann man sich ganz gehörig verbrennen ...«

»Das stimmt! Jawohl das stimmt!« nickten die Räte. »Aber gehen wir vorwärts! Es rückt schon gegen halb fünf.«

Mechanisch trat Carl aus der Tanne heraus bergauf, aber blickte starr und wortlos über die Köpfe unter ihm, dem Riesen, vor allem auf den Fuchsenscheitel des schlanken, quälenden Jünglings nieder, den er fast mit einer Hand aufraffen und in den breiten Rockärmel zum Schnupftuch schieben konnte. Wie lockte es ihn, das zu probieren!

»Den Corneli interessiert, was für Wachs und wie viel Wachs Ihr an den Altären verbraucht, wo Ihr den Messwein kauft, welche Glocken Ihr zieht. Er ist furchtbar ... kirchlich,« half Eglas, der Präsident nach.

»Kirchlich, das ist hier nicht das rechte Wort!« platzte endlich Carolus heraus.

»Was ist es denn anderes?« fragte Hobis sogleich sehr ehrerbietig. »Wenn er Euch noch mit achtzig Jahren das Leiterchen zur Uhr hinaufklettert und im Gehäuse reguliert und so nebenbei sagt: o drei, vier Jahre lang sieht man diese Ziffern noch deutlich genug. ‘s wär Luxus, jetzt schon mit Farbe dranzugehen ...? Und er guckt Euch in die Schubladen, sagt, wo man die Stolen und Chorhemden am billigsten ausbessern lässt, welcher Spezereihändler am günstigsten Weihrauch verkauft und so weiter ... Er ist über und über katholisch, hat eine Nase wie ein Kirchenvater. Vielleicht, Herr Pfarrer, werdet Ihr nun manchmal milder als früher über die Eiszapfen von Gons denken, wenn der Corneli der Pfarrer des Pfarrers sein will und Euch dabei das Temperament überheizt ...«

Die anderen Räte nickten wieder: akkurat so ist es. Der Mesmer schneuzte sich schadenfroh ins Nastuch. Carolus schien Mühe zu haben, all die Bosheit Löffel für Löffel zu schlucken. Aber plötzlich lachte er laut auf. »Ihr ungeschickten Diplomaten! Eigentlich sollte ich gleich den Absatz drehen und zu Euch nach Gons zurückkehren. Das hättet Ihr reichlich verdient. Das wär’ die rechte Spitze auf Euern stumpfen Stiel. Aber ich merk’ wohl, Ihr wollt mir Gons zum Abschied noch ein bisschen illuminieren, indem Ihr Lustigern finster malt.«

»Im Gegenteil, Hochwürden,« keuchte der Präsident, dem der Aufstieg nun doch stark ins Fett fiel, »wir wünschen Euch ein ... ein helles Lustigern ... ein ... ein lachendes Lustigern, wirklich ein Lustiges ...«

»‘s wird auch wie jedes noch so kleine Paradies seine Schlange haben,« versetzte Hobis scherzend, »vielleicht nur eine Ringelnatter oder Blindschleiche. Aber so ganz ohne Kampf, Herr Pfarrer,« ... er musterte den Goliath munter von den grossen Schuhen bis hoch zum runden Apfelkopf hinauf ... »gebet es nur zu, würd’ Euch die Woche fast zu langweilig.«

»Ein wenig Essig gehört auf jeden soliden Mittagtisch,« meinte Eglas.

»Ah bah,« erwiderte der Pfarrer mit einer gewissen, tapferen Selbstüberwindung, »der Corneli kniet in die Bank, er betet, er beichtet und kommuniziert, er hört meine Predigt, mit einem Wort, er ist ein guter Christ. Das ist denn doch der Punkt, und alles andere wird sich schon machen. Aber gerade das, werteste Herren und Räte, hat uns in Gons gefehlt und uneins gemacht.«

Hobis lächelte, die andern sahen zu Boden.

»Im übrigen,« spann Carolus weiter, »er ist ehrlich, ich bin’s auch. Da muss man sich im tiefsten Stockdunkel sogar finden.«

Man gelangte nun auf die Höhe, am Notkersegg, in die breitere Landstrasse. Das Dorf sah man schon nahe unten in den Wiesen. Nach fünf Minuten lief der Weg in die ersten Häuser. Aber kein sterbliches Bein war nah und weit sichtbar.

Links von der Strasse lag ein überwuchertes Gemäuer in den Stauden, gerade über dem Tobel, woher das Stöhnen des Flusses bis hinauf drang. Die Räte hörten Hobis zu, der beweisen wollte, dass hier der berühmte Notker geboren worden. Eglas aber zeigte weiter nach unten zur schroffen Käferwand, wo die Lustiger in einem fürchterlichen Maikäferjahr ganze Säcke voll gefangenen Ungeziefers zum Tode, wie sie meinten, zum neuen Leben, wie die Käfer gleich zeigten, in den Fluss hinunterschüttelten.

Davon hörte Carolus nichts. Denn rechts lief der Tann noch über der Strasse in weitere Höhen und da, in einer engen Wiesenbucht, an einem Hüttlein, standen sechs Bretter, wie der Pfarrer sie so gut kannte, zwei bereits tief schwarz bemalt, die vier längeren noch blank. Aber auch hier stand kein Mensch umher. Wie oft hatte Carl solche Sargbretter gesehen! Aber jetzt, zu solcher Stunde, in dieser Stille und Einsamkeit, griff es ihm schaudernd an die Seele. Ist das der erste Gruss?

Er lief schneller und mischte sich mit den Räten ins Gespräch, bis dieses dunkle Bildchen verschwunden war.

»Wo stecken doch meine Pfarrkinder?« sagte er laut. – Fürchten sie mich schon? fuhr er insgeheim fort. Wieder stieg ihm der Unwille auf und beengte und kratzte ihn in der Kehle. Und wieder überwand sich der Priester und dachte an die ersten dach- und gastlosen Apostel auf ihrer Mission und bat Gott innerlich um Verzeihung, wenn ihn jetzt ein eitles Gefühl angekommen sei. Er wollte nichts als Gottes Ehre und Liebe. Der Himmel solle ihn schlagen, wenn er nur einmal damit die eigene, blöde Ehre verwechsle. Er möge ihm Opfer, Arbeit und Leiden hagelweis senden. Dafür sei er, Carl, doch Seelsorger geworden. Zum guten Hirten himmelan wolle er dieses Dorf führen, und sich selbst damit. Und bei diesen tiefen, ehrlichen Gedanken fingen die blauen Augen an zu lodern, und die herrlichen kurzen Locken wogten in die Höhe, und ein Glanz kam über die heisse Stirne, man musste an einen Makkabäer denken, der auf Jerusalem zuschritt.

Der Turm allerdings, in der Nähe scheint er noch niedriger als von weitem. O ja, den lupfen wir gut drei Stockwerke empor. Sursum corda, sursum!

Dieses sonore geistliche Wort aus der täglichen Messe packte ihn wie ein Windstoss. Sursum, empor, empor!

Was reden und denken wir da so Kleines in einer grossen Stunde? Sursum! Das will ich ja, du weisst es. Alles zu dir empor, o Gott! Die Hände dieses ganzen Dorfes da, seine müden Stickeraugen, seine spitzen Gehirnchen, die Seelen vom Kind zum Greis, alles, aus dem Staube in deine selige Freiheit führen, und mich, deinen unwürdigen Diener mit ihnen: für das leb’ ich, für das sterb’ ich, für das ist mir kein Schweiss zu viel. Sursum! Und, ja, wie alle Stirnen sich zu dir emporheben, so auch dieser Duck- und Murrkopf von einem Turm. Drei Stockwerke strecken wir ihn. Surs ...

Mitten im Wort erscholl urplötzlich, als hätte der Turm gemerkt, dass es um ihn ging, die schwere Ueliglocke.

»Jetzt endlich wird’s. Man hat Euch gesehen! Man läutet, man kommt!« sagten die Kirchenräte durcheinander und knöpften eilig ihre Fräcke zu. Der Sekretär glättete fröhlich sein Schnurrbärtchen und die Krawatte. Der Mesmer öffnete die Handtasche und entfaltete den prachtvoll gespitzelten Chorrock und eine goldverbrämte, weissseidene Stola für den einziehenden Pfarrer.

»Aber!« rief der Präsident vorwitzig. »‘s ist eine Glocke, immer die gleiche! Merkwürdig.«

»Gerade wie ein Sterbezeichen tönt es,« murmelte der Mesmer und bot dem Carolus Bischof zum letzten Mal das schneeweisse Chorhemd. »Ja, sicher, jetzt setzt die Glocke aus ... Loset, loset, sie beginnt wieder.«

Ganz sachte, als trüge es Ängsten und Gewichte an den Sohlen, rückte das Gonser Trüpplein vor.

»Noch einmal, hört! Also das dritte Mal. Ein Mann ist gestorben. (Für Frauen wird zweimal, für Männer dreimal angeläutet.) ... Sollte etwa der Corneli? ... in den Achtzig, denket. Das erlischt wie ein Zündhölzchen ...«

»Und darum,« wob Eglas die Ahnungen des Mesmers weiter, »kommen sie uns nicht entgegen, gehen wohl noch erschreckt in den Dorfgassen, die Käuze!«

Dem Pfarrer fielen wieder die sechs Bretter ein. Welch ein Empfang!

»Nein doch, Ihr spinnt,« widersprach der Jäger, sein Glas am Auge. »Dort wo die Strasse einen Ellenbogen macht, wimmelt es ja ganz schwarz von Volk. Vor den Bäumen am Eck konnten wir es nicht eher sehen.«

Ja, nun sah man es von Auge. Einwärts der Zellwigfabrik und der drei, vier Vordorfhäuschen, an einer Wegschleife, starrte ein Kreuz und eine weisse Fahne über hundert und hundert Köpfen in die Luft. Jetzt sah man auch den Triumphbogen und eine Gestalt im weissen Chorrock darunter.

Hastig küsste Carl die Stola und schlug sie über die Schulter. Der Corneli tot? Seltsam krabbelte es ihm übers Herz. Ob er wollte oder nicht, er tat den Atemzug leichter als noch eben. Aber sogleich überzog es ihn dunkelrot bis in die Schnecke der Ohren vor Scham. Weg, weg! Das war nicht ich, beschwor er seine Seele. Das kam ungewollt. Das ist der ewige Feind und Hadergeist gewesen. Aber mich trifft’s nicht. Der Corneli soll leben. Ich will ihm die Hand wie einem Bruder drücken. Wir wollen uns befreunden und lieben ... Schön ist’s ja nicht gerade, dass sie mir zum Willkomm die Totenglocke schwingen. Eine Stunde später hätte nichts verfehlt. Aber paperlapa! Im Tode sind wir alle gleich, der Corneli, ich und du, unbekannte Seele, die du da eben aus meiner Pfarrei in die grosse Ewigkeit entschlüpft bist, noch eh’ ich dich segnen konnte.

Halb aus Gewohnheit, halb aus Drang zeichnete der Pfarrer ein majestätisches Kreuz über die Dächer und den niedrigen Turm und die Hügel, als wollte er sein voreiliges Pfarrkind noch erhaschen und für die Ewigkeit mit seinem pfarramtlichen Zeichen stempeln.

»Sei es, wer es wolle,« erklärte er zu den verdutzten Genossen, »nötig hat es jede Seele, die ins Gericht Gottes zieht.« Dann zog er den Hug ab und begann ein Vaterunser vorzubeten. Sein ergreifender Ernst packte auch die Begleiter. Mit einer Feierlichkeit und lauten Stimme, deren sie sich in Gons geschämt hätten, beteten sie mit und eilten dabei rasch, mit dem Pfarrer inmitten, der harrenden Versammlung zu.

Indem sie noch beteten, fing im obersten Schalloch des Turmes das scherbelige Kinderglöcklein zu klimpern an. Nach kurzem Stammeln mischten sich viel sachter eine zweite und dritte Glocke wie ältere Geschwister ein. Das war der Jost und die Anna. Dann kamen Vater und Grossvater, der Ambrosi und der Ueli mit tiefem Bass. Und alle plauderten nun wie eine Familie von frommen Riesen zwischen Himmel und Erde: wie schön diese Vesperstunde sei, wie warm begrüsst der edle Gast, wie wohl betreut nun wieder das verwaiste Dorf, wie leicht die Erde, wie nah der Himmel, wie gut und stark der Herr über allem. Und der alte Ueli, der vor fünf Minuten noch geklagt hatte: zum Tod entschlafen, zum Tod entschlafen! ... jubelte jetzt mit viel flinkerer Zunge: zum Leben erstanden, zum Leben erstanden, zum Leben erstanden! Es wirbelte wie ein himmlischer Rausch durch die Lüfte, und Pfarrer und Räte, umspült und durchgeistet von dieser Musik, ohne ihre Schritte auf dem groben Strassenkies zu merken, gelangten nun, sie wussten selbst nicht wie, zum Egidihof, wo der Ammann schon von weitem den Zylinder zog, aber wie eine Säule um keinen Zoll vom Fleck wich.

Carl Bischof grüsste zuerst seinen alten Bekannten, Freund Eusebius, mit einem raschen Händedruck. Dann aber konnte er weder das Volk überschauen, noch den Kindern zuwinken, noch sonst etwas tun. Er musste zu jenem Mächtigen schreiten, der drei Schritte von ihm seiner harrte. Es zog ihn mit dem Zauber der Gefahr, der Neugier, der Bewunderung hin.

Bleich wie immer, bewegungslos, erstorben jedes Lächeln vor steifem Ernst, sah Corneli den gewaltigen Kirchherrn mit grossen, blauen, suchenden Augen auf ihn zukommen. Jetzt standen die Oberhäupter Gesicht gegen Gesicht, jetzt reichten sie sich die ungleichen Hände. Heiss war die rote Pratze des Pfarrers. Leichenkühl das weisse, zierliche Händchen des Ammanns. Und über die verwegene, durstige Liebe, womit Carolus diesen Greis überfluten wollte, kam es plötzlich wie Ebbe. Alles Blut wich zurück, und ein Frösteln durchschauderte ihn. Er reckte sich, so mannlich er konnte, und sagte so innig er’s noch herausbrachte: Pax tecum! ... und dann nochmals weitum grüssend: Pax vobiscum! . . : der Friede sei mit Euch!...

Eine atemlose Pause entstand. Der Kaplan verpasste den Moment. Da kam es ganz allein von der fahlen Lippe des Corneli leise, aber deutlich: et cum spiritu tuo! und der Friede sei mit deinem Geist und Wesen! Der Ammann hatte für sich und für die Majestät der ganzen Gemeinde geantwortet.

Die Schulkinder begannen jetzt ihr Lied. Aber so hübsch es klang und so elegant der Schulhausschlüssel dazu taktierte, das vielhundertäugige Volk achtete nur auf die beiden Riesen in der Strassenmitte, wie sie mit den Häuptern einander zu überragen suchten und wie einer dem andern tief durchs Auge in die Seele zu blicken und zu fragen schien: wer bist du? Was willst du mir sein? Weiche Hand oder Faust, Kuss oder Fluch? ... O sag es doch!

Nicht satt konnten sich die Leute an den Zweien schauen und einen gegen den andern ehrfürchtig abwägen. Es war wirklich schwer zu sagen, wer grossartiger dastand. Der Corneli glich einem Schneeberg, so hoch und so kühl, der Pfarrer eher einem dunkeln Vulkan mit rötlichem Gipfelschein. Jener totblass und starr, berührte schon die Ewigkeit mit dem eisigen Scheitel; dieser mit seinem blutroten Apfelgesicht und der frischen Lippe schien erst recht ins hohe Leben zu lachen.

»Der Pfarrer ist noch um ein Haar grösser als der Ammann,« flüsterte der Lustiger Mesmer bedenklich zum Ilgenwirt.

»Du irrst,« erwiderte dieser. »Musst auf die Achseln sehen, das entscheidet. Da reicht der Pfarrer nicht heran, er hat nur den längern Hals und das aufgebäumte Haar. Das ist Schein. Er ist weiss Gott um einen Gedanken kleiner. Recht so!« schloss der leicht liberalisierende Gasthofmann.

»Übergross sind jedenfalls beide, ein hübsch Gewicht für unser kleines Nest,« hörte man hinten spassen. »Jetzt kann der Franzos oder Schwab oder Tschingg kommen, mit solchen Generälen schlagen wir sie eins zwei drei ins Tobel hinunter.«

Auf das Lied sollte die Ansprache des Kaplans folgen. Diese Begrüssung war zwischen Ammann und Eusebi hin- und hergerutscht, da keiner von beiden das öffentliche Wort leicht führte, um schliesslich auf dem Buckel des Nachgiebigeren hangen zu bleiben. So hübsch Eusebi über einen historischen Casus plaudern und aus fliessendem Stegreif etwa die Echtheit des Testaments Heinrichs VI. dartun konnte, so geistreich trocken er im Gespräch spasste und andere in die Enge trieb, sobald das Wort offiziell wurde, von der Kanzel oder einem Festplatz aus bedingt, stotterte der gelehrte Mann, mühte sich beschwerlich um den Ausdruck ab und knisterte mit der Linken am Manuskript im Brustschlitz herum, ohne es doch hervorzuziehen, wobei er die rechte Hand ein wenig ausstreckte, wie einer, der geben möchte und nicht weit genug damit reicht.

Ah bah, dachte er jetzt, Zettel hin Zettel her, ich weiss nicht einmal, wie ich den ersten Satz gehobelt hab’. Wozu solch Gedrechsel? Ich tu’, als ständ’ der Junge unter meiner Stubentür und also heimelig red’ ich ihn an ...

Und mit Todesverachtung zog er die Linke aus dem Schlitz, womit aller Zusammenhang mit dem Offiziellen aufgegeben ward, stupfte die Brille zurecht, hüstelte, lächelte dann zum Pfarrer hinüber und begann:

»Hochwürdiger, lieber Seelsorger unseres Dorfes Lustigern ...«

Sofort hörte das Murmeln und Raunen in der Menge auf. Verwundert blickte Carolus auf. Ah, der Friedensrufer! Will er mich etwa auf seine milde Art gleich in der ersten Stunde einseifen. Aufgepasst!

»Seien Sie uns von ganzem Herzen willkommen! Wir Lustiger sind unberedte und etwas steife Menschen in Publico. Für Feste haben wir kein Talent. Nicht einmal eine Blechmusik bringen wir zusammen. Und so könnte es einen, der nur so obenhin über uns wegschaut, beinahe bedünken, als ob wir die schöne, heilige Wichtigkeit dieser Stunde nicht recht spürten« ... Das sei ein Sälblein, dachte er listig, für unser Totengeläute! ...

»Aber Sie,« fuhr der Kaplan fort, »sind nicht gewohnt, aufs Äusserliche zu schauen. Und wahrhaftig, hier tun Sie gut daran. Unser Volk ist viel mehr wert, als es scheinen will. Es kann nicht flattieren und städtische Komplimente machen. Aber im Geiste hat es schon lange die Arme weit geöffnet, um seinen neuen Hirten zu empfangen, den Gottgesandten, dem es das Grösste, was es besitzt, seine liebe Seele, anvertraut.«

Die leise Stimme des Redners wurde sicherer und lauter, das Volk drängte sich näher, der Pfarrer sah gespannt auf die Lippen seines alten Lehrers, den er seit der Primizpredigt nie mehr gehört hatte, und dem Eusebius wurde sozusagen von Satz zu Satz lustiger zumute. Ringsum schien ihm alles nur noch wie eine grosse Stube und Stubentapferkeit erfüllte ihn und liess seine Zunge leicht wie eine muntere Hausschelle gehen.

»So nehmen Sie, Hochwürden, diese Seele, wie sie Ihnen an der Schwelle des Dorfes entgegenkommt und Sie leise, aber hundertfältig in diesem Augenblicke aus meinen geringen Worten grüsst, nehmen Sie diese Seele väterlich an sich und geben Sie ihr, was Ihres hohen Amtes ist ... die Milch der Belehrung, den Wein der religiösen Begeisterung, das ewige Wasser ... das ewig-fliessende Quellwasser ... des Heiles ...« Nein, nein, staunte er erschrocken über sein eigenes Wort in sich hinein, da verlier’ ich mich ins Rhetorische ... einfach, um Gotteswillen, einfach, sonst bin ich geliefert!

Er streckte die rechte Hand suchend und etwas mutlos aus und fühlte eine plötzliche Öde, eine Art Stillstand im munter begonnenen Fluss der Rede und wusste auch deutlich, wie banal es so weiter gehe:

»Gehorsam, wie es uns ziemt, wollen wir dem Stab des Hirten folgen. Gerne wollen wir den Tadel annehmen. Vom mühsamen Amt des Seelsorgers wollen wir, was an uns ist, möglichst viele Dornen abbrechen und zum Blühen mithelfen, so viel Blut- und Atemwärme in uns ist.« Ah, nun geht es wieder ... Er hörte eine Scheibe am Egidihaus klirren, da fiel ihm das Bild dort oben ein, kühn glitzerte seine Brille, Gott, das ist ein Engel von Einfall! ... Weit über die Köpfe blickte er empor und rief:

»Da oben an der Wand,« er zeigte empor und alle Schulkinder, als sägen sie es zum ersten Mal, sperrten die Augen mächtig auf und folgten dem Finger des Redners, »da oben hat vor zweihundert Jahren ein Lustiger ein schönes Bild gemalt. Er hat sonst noch viele Tafeln und Mauern geschmückt, irre ich nicht, auch in Ihrer Gonser Kirche einen heiligen Heinrich mit dem Merseburger ... nein doch, mit dem Bamberger Münster,« ... Himmel, was dozier’ ich da? Ach, er hätte sich im Geiste am Ohr reissen mögen. Da hatte er sich wieder in seine Schrullen verrannt ...

»Man kann das verregnete und verblasste Bild nicht recht entziffern,« begann er frisch, »aber ...«

Nun sah auch Carolus an jene nüchterne Holzwand über die sechs Kreuzfensterchen hinauf und suchte es möglichst Mild zu entschuldigen, dass sie alles so vergilben und verwettern lassen, diese guten, faulen Leute. Das muss mir bald aufgefrischt werden ... Dabei konnte er aber doch eine leise Ergriffenheit nicht abschütteln. Das kleine Männchen im Chorrock redete gar so traulich auf ihn ein. Mit einem waren auch alle Gesichter im Volke heller, frischer, sozusagen melodischer geworden. Es war, als schiene etwas Sonne aus allem heraus, was da körperlich und dunkel herumgestanden hatte.

»Aber ein graues Tier kann man noch erkennen und eine hohe Gestalt darauf mit einem Lichtschein ums Haar und ringsum etwas wie Händeschütteln und Winken und Küssewerfen und Zweigestreuen, wenn man scharf zuschaut. Kurz und gut, ‘s ist Palmsonntag und der Heiland reitet in seine grösste Pfarrei hinein, ins mächtige, reiche Jerusalem. Und alles ruft: Hosanna und Lebehoch und Gebenedeit, Gebenedeit!«

O sapristi, fiel es jetzt wieder wie eine Wolke über den leuchtenden Gedanken, o saperlott, wo renn’ ich mich wieder hinein? Was mach’ ich nun mit dem Kruzifige! ans Kreuz! fünf Tage später? Charfreitag, potz heiliger Ambros! ...

Blitzschnell schoss das unter dem Vogelnest des greisen Redners hin und her, indessen er zum Glück sehr langsam sprach und so immer zwischen Idee und Wort ein Ruhebänklein für den Moment der Not und Verlegenheit fand. Gewöhnlich gab ihm dann sein flinker Witz eine Auskunft, dass er gleich wieder aufstehen und ohne Schaden weitermarschieren konnte.

»So,« versuchte Eusebius sich zu retten, »so ziehen Hochwürden nun in unser kleines, nicht gar glänzendes Jerusalem ein. Wir schwingen freilich keine Palmen ... ach, hier in Lustigern wachsen ja nur Stechpalmen und Holzäpfel,« spasste er in die Kinder hinein ... »Wir singen auch keine Psalmen, nicht einmal einen Esel ... einen Esel ...«

Jetzt buffte und schneuzte und spritzte es unter den Kindern. Einem grossen Knaben sogar, es war der Täler Johannes, dem man es nachher schwer verübelte, eine Stunde nach Vaters Tod schon so leichtsinnig geschrien zu haben, einem Knaben also entschlüpfte geradezu eine helle Scholle Gelächter. Dem Kaplan hingegen rieselte es kalt durch die Schläfen, aber er konnte den Esel nicht mehr in den Stall zurückbinden.

»Ja, nicht einmal ein Maultier,« beschönigte er nun, immer frecher werdend, den guten Esel, »hätten wir zum Eintritt unseres geistlichen Obern satteln können. Aber wozu auch ein solches Tier zu Hilfe nehmen? Mit zu langen Ohren? Wo wir mit unserem scharfen Toggenburger Gehör so fein hören, dass man sagt, wir vernehmen den Donner vor dem Blitz ...« Ein leises Auflachen des Volkes begleitete diesen Witz. »Und wozu ein Tier mit so langsamen Füssen, während wir vom Unterland wegen unserer Flinkbeinigkeit so berühmt sind, dass man in Sankt Gallen auf unsere Reklamation wegen schlechter Postverbindung jedesmal antwortet, wir hätten ja nicht nur die Eisenbahn, sondern sogar den Telegraph und das Telephon im Leibe ...« Wieder ein leichtes Geplätscher von Lachen, zu dem sich auch Carolus, aber nicht sehr willig, herbeiliess.

»Wozu also Zwischenträger, da wir Sie, unsern lieben Hirten, am liebsten gleich auf die Schulter nähmen, wenn es nicht gar so unzeremoniell aussähe, und ins Dorf trügen ...« – plötzlich schattete es feierlich über dem Köpflein des Sprechers – »gerade wie Sie nun oft eines unserer Schafe auf die starke Achsel heben und in die warme Hürde tragen werden.«

Das war ein Meistersatz gewesen. Gross leuchteten die Augen des Pfarrers ihr mächtiges, etwas scharfes Himmelblau über die Herde und er nickte zweimal voll Ergebenheit ... Jetzt muss ich schliessen, dachte Eusebius glücklich, sonst verderbe ich mir den ganzen Gewinn.

»So ziehen wir denn unter Hosanna ins Dorf, zur alten, treuen Mutter, der Ambrosikirche. Wenn sie hundert Zungen hätte, könnte sie doch nicht inniger jubeln, als sie mit ihren alten fünf Glocken jetzt jauchzt: Hosanna, Hosanna, Hosanna!«

Eusebius hatte im Taumel das Kruzifige, das ihn einen Augenblick beunruhigt hatte, ganz vergessen. Aber ein anderer dachte daran.

Eine kleine Pause entstand und da geschah etwas Mächtiges, das kein Lustiger je vergessen wird. Gütig, aber sehr ernst warf plötzlich der dröhnende Bass des Pfarrers das Wort in die Stille:

»Hosanna! Schön! Und wo hast du das Kruzifige, lieber Bruder? das ihm doch wie ein Schatten folgt, wo?«

Dabei sah er die Ratsherren, die in schwarzen Mänteln hinter dem Ammann standen, den neuen Mesmer, die Chorknaben, Lehrer und Sänger, das weite dichte Feld von barhäuptigen Köpfen und vor allem das stille, kühle, regungslose Gesicht des Corneli fragend an. »Das Kruzifige, lieber Bruder in Christo?«

Und er trat auf das kleine, graue Männlein zu, drückte ihm beide Hände und etwas Feuchtes leuchtete aus seinen Gewaltsaugen. »Wo hast du das, Eusebius? Das gibt es doch überall.«

Das war die erste Stimme und das erste Wort, das die Lustiger von ihrem neuen Pfarrer bekamen. Die grosse Menge verstand das nicht genau. Aber ein Schauer ging doch über alle Rücken, als hätte man einen prophetischen Vorwurf gehört. Die eingezogenen bläulichen Lippen des Corneli bebten leise. Der Kaplan jedoch, von einer seltsamen Inbrunst ergriffen, schüttelte des Pfarrers Hände hitzig auf und ab und rief: »Nein, nein, wir wissen es wohl, dass nach dem Palmsonntag der Charfreitag kommt, ja, dass jede Woche einen Freitag, vielleicht einen Charfreitag hat, einen Dorn, einen Nagel, einen Rutenhieb, ein Kreuz ... Aber das ist ein Tag wie die andern, nicht eine Minute länger, und auf jeden, auf alljeden Charfreitag folgt auf dem Fusse Ostern, und nicht etwa bloss der Ostersonntag, dazu noch der Ostermontag und der Osterdienstag und die Freude schlägt den Kummer dreimal tot.«

»Du Unverbesserlicher!« brummte Carl Bischof dem Rufer lächelnd ins Ohr.

»Und nun wollen wir nicht umsonst die Glocken so hitzig und stürmisch rufen lassen,« forderte der Kaplan überlaut. »Folgen wir ihnen zur Kirche, und gib uns du, neuer, guter Kirchherr, dort deinen ersten Hirtensegen!«

»Gleich hier tu ich’s, auf diesem Platze, beim ersten Zusammentreffen. Kniet nieder, meine Pfarrkinder,« befahl Carolus mit majestätischer Stimme. »Benedicat vos omnipotens Deus Pater et Filius et Spiritus Sanctus!« Und ein ungeheures Kreuzzeichen fuhr über die grosse, zur Erde geneigte Herde. Dann stiess der Segnende seinen Stock laut auf die Strasse und rief: »Zum Sankt Ambrosi jetzt ... Gott und den Heiligen die Ehre!«

In wenigen Minuten war der denkwürdige Platz leer. Aus den fernen offenen Kirchenfenstern hörte man Orgel und Kirchenlieder schallen. Da raschelte aus dem Haselbusch am Egidihaus, worein er sich nach dem schrillen Auflachen geflüchtet hatte, der schlanke Johannes lächelnd hervor, trat an den Bogen, prüfte seine gemalten Händesymbole. Er wurde leicht gerötet, hob sich auf die Zehen, funkelte köstlich mit den kalten Augen und begann, die Hände in die Weichen gepflanzt, ein neues, lautes, köstliches Lachen. »Verkehrt, verkehrt gehängt. O wie drollig!« Und er überpurzelte fast vor Lachen.

Da schob sich aus einem Fensterchen in der Höhe eine runzelige Frau über’s Sims hinaus und rief scharf zu ihm hinunter: »Hast deine Grütze verloren? Dummer! So ein Malbub! ... Ich will dir lachen über ein heilig’ Bild ... Bring lieber nächstens deinen Farbenhafen und streich’ mir des Herrn Heiligenschein und den Tempel und den Esel wieder scharf auf die Wand! So dass es wieder einem frommen Helgen gleicht. Verstanden! Ich geb’ dir einen nagelneuen Fünfliber dafür.«

»Abgemacht, Totzbarbara, ich komm,« gab der Jüngling zurück. Noch immer zuckten ihm die Lippen.

»Hat man nicht deinem Vater soeben das End’ geläutet?«

»Ja ... ja, schon!

«Und du bist schier gar froh! ... So gottlos lachen! Aber ... aber!»

«Weiss nicht ...

»Was weisst nicht?«

»Hab’ ja auch geweint, Totzbarbara. Weiss einmal nicht, was gescheiter ist ... Mir ist halt wohl ... ich leb’ noch ... ich ...«

Die Alte schüttelte verständnislos den Kopf. Johannes lief weg und fing, als er sich ungehört glaubte, ein fröhliches Pfeifen an. Alt und Jung begriff sich auch in Lustigern nicht mehr gut.

Kapitel 4

Es kamen vierzehn stille Tage, mit jenem leichten, lauen, dann und wann von einer kleinen Sonnenneugier durchlöcherten Sommerregen, der so süss und seidengrau über die Dörfer hinten in der Landschaft niederträufelt, auf ihre Obstbäume mit den noch harten, grünen Birnen- und Äpfelverheissungen, und von Laub zu Laub melodisch niederklingt, dabei aber den Kaminrauch vom Vesperkaffee nicht aufsteigen lässt, so dass er sich geduldig wie eine blaue, dünne Fahne über den Giebel hin- und herschlängelt und zuletzt im Nass ertrinkt.

Der Pfarrer ordnete sein grosses Haus. Anno 1799, unter Pfarrer T. Clamor Brütsch, dessen geschwärztes, rauhes, fast zu fürchtendes Porträt im obern Gange hing, war der Bau zum Teil abgebrannt. Carl richtete die Studierstube nicht mehr wie seine Vorgänger, den einzigen Clamor ausgenommen, ins Eckzimmer zwischen Friedhof und kleine Baumwiese, sondern ins andere Eck gegen die Kirche, den Gasthof Ilge und die Strasse vom Kirchplatz zur hochgiebligen, uralten Kaplanei hinauf.

Dann sah er die Kirchenbücher ein, musterte den Sakristeischatz, notierte sich jeden Rostflecken und jeden zerrissenen Spitzen. Auf der Empore hatte er die Orgel gründlich examiniert, Pfeife auf Pfeife, und der alte Lehrer und Organist Peder staunte, wie oft ihm eine Taste richtig klang, während Carolus schmerzlich aufzuckte und ins Heft schrieb: »¾ zu hoch, ½ zu niedrig in der Stimmung.« Er wischte mit dem Finger über das hohe Chorgestühl, zeigte ohne ein Wort, aber mit einem blauen Blick, der eine ganze Strafpredigt enthielt, die feine, graue Staubschicht und strich sie dem Sigrist, ohne eine Miene zu verziehen, an den Bart. »Wenn das der Herrgott muss von Euch leiden, könnt Ihr es auch von mir leiden,« sagte er hart.

An den Abenden nach vier Uhr vollzog er seine kurzen Antrittsbesuche zu den Dorfgrössen, wobei er die Frauen viel gütiger behandelte als die Männer. Aber vir diesen Anstandsvisiten hatte er täglich drei, vier Krankenstuben und Armenwohnungen heimgesucht, Erbauliches erzählt, die Kinder herzlich aufs Knie genommen, getröstet und gesegnet und mit seinem tiefen, stubenfüllenden Lachen das gesamte Hausvolk erschüttert und beglückt. Aber es war ein Lachen der Gewohnheit, wie ein andrer hüstelt oder mit dem Finger schnalzt; es kam aus der Kehle, selten von Herzen; es war keine Falschheit dabei, sondern diente als freundliche Politik, um Gemütlichkeit und Behagen zu verbreiten, auch wenn Carl selbst im lachenden Moment herzlich wenig Spass verspürte.

Es wurde auch vom flinken Volksauge mit frommem Gefallen bemerkt, dass der neue Pfarrer immer einen Silberbatzen in der Tasche führte, um da und dort zum geistlichen auch einen kleinen materiellen Segen zu spenden, und doch wusste man, dass die Bischof von Haus arme Leute waren. Auch den Messknaben hatte er sofort den Lohn verdoppelt, aber sie auch genötigt, das Latein silbenrein und langsam am Altar auszusprechen. »Seid doch stolz,« sagte er diesen Buben, »dass ihr Latein reden dürft wie die alten Römer und grossen Kirchenlehrer. Hört ihr nicht bei diesem ‘Per omnia saecula saeculorum das Heldenschwert sausen und den Mantel des Papstes Leo zu Rom im Winde rauschen?« – Das hörten die Knaben nicht. Aber geheimnisvoll schön erschienen ihnen nun doch diese vorher so kalt heruntergeleierten Verse und sie sprachen sie mit einer ängstlichen Genauigkeit und mit einem gewissen Stolz aus, besonders wenn die andern Buben von weitem zuhörten.

Auch im alten Schulhause, das Carl schon am zweiten Tage von Türe zu Türe durchspazierte, gefiel ihm manches gar nicht. Öfen rauchten, die Säle waren überfüllt, die Aborte spotteten aller Gesundheit und das Unterrichtszimmer unter dem Hausdach war ein finsterer Käfig. Doch die Gesichter der Kinder schienen fröhlich, die beiden Lehrer gesund; nächstens komme ein Brunnen in jeden Gang; es war also zu leben. Später musste auch hier etwas geschehen, aber jetzt geht allem voran der Turm. Zuerst der Bannerträger, dann mit Eile und Weile die dahinter marschierenden Bataillone!

Die sechzigjährige Haushälterin Peregrina war seine Tante mütterlicherseits, eine schwächliche, gute Jungfer, die erst Klosterfrau hatte werden wollen, aber das Frühaufstehen um keinen Preis ertrug. Sie brauchte daher auch bei Carl immer eine Aushilfe und war nun vom Zügeln her halbkrank geworden. Carl dachte ein arme, braves Mädchen vom Dorfe zu dingen, aber erst nach reiflicher Umschau und mit bedächtiger Auslese, denn was für ein Rock im Pfarrhof, so nahe dem Priester und der Kirche schalte, galt als eine Sache grösster Gewissenhaftigkeit. Die beiden geduldeten sich einstweilen, so gut es ging, bis der rechte Fund gelungen wäre.

Recht oft kam unterweil die Kaplanenköchin Marianne herüber, eine derbe Fünfzigerin, und kochte wenigstens den z’Mittag. Sie riet dem Pfarrer, doch ja das Mili des verstorbenen Täler anzufragen, bevor das Mädchen sich anderswohin verdinge. Ein so beherztes, kluges, hausmütterliches Geschöpf von kaum achtzehn Jahren gebe es im ganzen Kanton kein zweites. Carl solle nur die Ilgenwirtin fragen, bei der das Mili oft, wenn unerwartet ein Schwall Gäste ins Haus stürme, ein Ämtlein für vier Hände und vier Füsse versehe. Es frage sich nur, ob das Jüngferchen nicht fest auf dem Tälerhause sitze, mit den zwei Waisenbuben zusammen, und die sonderbare Familie zusammenhalte. Einem solchen Ding, das schon einen Flaum unter die Nase kriege, als ihre ehemaligen Schulgespanen erst davon träumten, sei alles zuzutrauen.

So redete sie und bot einen Teller Gerstensuppe mit herumschwimmenden, buttergerösteten Brotwürfelchen der bettlägerigen Kollegin. Indem diese Löffel auf Löffel appetitlich hinunterschlürfte, aber heimlich vor den Löchern zitterte, die sie im Ankenhafen vorfände, wenn sie morgen wieder aufgehen sollte, denn die Suppe glitzerte von Fettaugen, trat der Pfarrer mit langen, knarrenden Schritten ins Zimmer und fragte: »Jungfer Marianne, saget mir doch, was heisst das?« Und er schleuderte dreimal mit der Rechten aus der Linken etwa aufs Tischchen nieder, als wäre es etwas Entscheidenden.

Die Peregrina im Bett erschrak zuerst, dann als Carolus’ blaues Auge eher scherzhaft blickte, lächelte sie. Zwischen solchen zwei Aufregungen pendelte ihre Ergebenheit für den Neffen ewig hin und her und liess sie selten selbständig werden. Ganz anders war Marianne, kurz, bündig, ihrer gewiss. Sie schnürte den Schürzenbändel wie einen Militärgurt so schneidig um die Lenden. Und gerade so stramm und geschlossen war ihr Wort. Was niemand sich anerziehen und niemand um Geld erkaufen kann, das seltene Geheimnis der Selbständigkeit, die keiner behelligen darf, besass sie, ohne je darüber nachgedacht oder darum geschwitzt zu haben, mit jener Selbstverständlichkeit, wie der Stern funkelt oder der Dorfbach bergab läuft. Selbst Carolus redete unwillkürlich ganz anders zu ihr als zur Tante, ja selbst als zu Mariannens Prinzipal, dem Kaplan Euseb Nuss.

»Wie?« fragte Marianne mit kühlem Spasston. »Zeigen Sie noch einmal!«

»So,« erwiderte der Pfarrer, »seht, so!« Und ohne Mariannens Spott in den braunen Augen zu bemerken, schmiss er nochmals mit Zeigefinger und Daumen der Rechten etwas aus der linken Hand und warf es dreimal auf den Tisch, krach, krach, krach!

»Jaso,« sagte Marianne und schnupfte gemütlich eine Prise in ihre Quetschnase. »Der Eusebi,« sie nannte ihren Bruder nie anders, »ist da unten vorbeigegangen!«

»Der Eusebi!« brummte der Pfarrer.

»Was sonst? mein Bruder, der Kaplan! Oder?«

»Gewiss,« antwortete Carl mit einiger Überwindung. »Aber wir sind gewohnt, dem Geistlichen das Hochwürden oder doch das Herr zu schenken. Aus Respekt! Der Herr Eusebius ... das würde Ihnen wohl den Mund nicht verbrennen, oder?«

»Paperlapa,« schrie Marianne aus ihren harten, braunen Runzeln heraus. Sie war kleingewachsen und reichte dem Pfarrer nur bis zum Ellbogen. Aber wie sie so mannlich dastand und paperlapa sagte, schien es, als müsse man zu ihr hinauf-, nicht hinunterblicken.

»Lassen Sie mich mit Eusebi nur so weiterfahren. Er möchte es selbst nicht anders. Bruder ist Bruder auch mit Chorrock und Rauchmantel. Aber wenn er auf der Kanzel steht oder am Altar, dann denk’ ich gar nicht mehr, ob Eusebi oder Carl oder was, das ist der Priester des Herrn! Hingegen wenn er mit mir Erdäpfel schält oder wenn ich ihm die Knöpf’ an die Weste nähe, die er beim Lesen immer wieder wegwimmelt, als wären’s Kirschen zum Essen, das ist er mir halt wieder der Eusebi.«

»Gut, gut, Ihr steht das wie ein etwas zu kurz geratenes, aber wohlgeschliffenes Messer. Da nehm’ ich mich wohl in acht,« versetzte der Pfarrer mit Verdruss und Hochachtung zugleich. »Aber nun, wie ist das? Ich rief dem Herrn Kaplan, als er ohne Stock dorfab zog, vom Fenster aus, wohin er wolle, ob er nicht einen Schauf lang zu mir heraufkomme. Aber er lachte und grüsste und machte die drei Zeichen das: krach, krach, krach!«

»So verstehen Sie doch,« lachte Marianne, »heut ist’s Donnerstag. – Nun liegt Ihr aber ordentlich ab,« wandte sie sich an Peregrina, klopfte ihr das Kissen zurecht und deckte sie bis zu den Schultern. »Um vier Uhr komm ich und koch Euch einen Kaffee, der bis zum Himmel duftet. Denn Eusebi isst auswärts. Du bleibst liegen, Peregrina!« wiederholte sie gebieterisch.

»Was ist mit dem Donnerstag?« fragte Carl ungeduldig.

»Keine Schule nachmittags, kein Unterricht, dem Eusebi der leichteste Tag in der Woche. Und der schönste, sagt er. Er habe vom letzten Sonntag noch ein wenig Sonne am Rücken und vom nächsten Sonntag schon einen ersten Glanz voraus ... Sind Sie nicht, Herr Pfarrer, auch an einem Donnerstag zu uns gekommen?«

»An einem Mittwoch!, aber dummes Zeug, ... das.«

»Schade, Sie hätten absoluti an einem Donnerstag kommen sollen.«

»Dem Herrn Pfarrer,« tönte es jetzt schwächlich, aber unendlich liebreich vom Bette her, »sind alle Tage gleich lieb und schön.«

»Brav, Peregrina, so was Treffliches hast du schon lange nicht mehr gesagt. Jetzt hast du dein Mittagsschläfchen verdient. Gute Ruhe!« Und Carl winkte der Marianne und schritt voraus in den Gang.

»Aber der Sonntag, hätt’ ich gemeint, wär’ doch der allerfeinste Tag für den Priester,« gab nun die Kaplanenköchin zurück und schlüpfte dann mit Teller und Schüssel lautlos und schnell wie ein Wiesel über die Schwelle.

»Der Sonntag, ja natürlich, das versteht sich doch,« antwortete der Pfarrer draussen. »Der ist ausser Konkurrenz. Aber nun sagt mir doch ...« und wieder begann er mit den schmeissenden Händen.

»Einfach so!« betonte Marianne und lief rücksichtslos mit dem Geschirr gegen die Küche, so dass der geistliche Riese ihre Worte gleichsam wie zugeworfene Almosen hintenher auflesen musste: »Alle Donnerstage geht Eusebi zum Ammann und da jassen die drei, der Corneli, die Cecili und der Kaplan, und nehmen das Zabig zusammen, mit Eierröhrli oder Birnenbrot, und machen sich etwas Kurzweil. Was ist schon allezeit so gewesen.«

»Jassen, alle Donnerstage, mit dem Corneli ...« resümierte der Pfarrer bitter.

»Und ich bin froh. Da verluftet mein Bruder wenigstens einmal in der Woche. Sonst bring’ ich ihn ja nie aus den Büchern und dem Geschreibe weg. Er würd’ mir vergrauen ohne den Jass. Er trinkt ja sozusagen nichts, raucht nicht, schnupft nur, geht nie in die Ilge und macht keine Besuche, wenn es das Amt nicht fordert. Da stoss’ ich ihn dann, sogar wenn er Schnupfen hat und es alle Zuber vom Himmel leert, am Donnerstag zu den zwei Achtzigjährigen. ‘s tut auch denen gut!«

Sie schob die Küchentüre mit dem Knie auf, glitt hinein, knixte hübsch über der Schwelle: »Hochwürden, empfehl’ mich!«

Carl ging im Gange knarrend auf und ab. Das Jassen! Nun der Bischof liebte es nicht, aber verbot es auch nicht. Im Seminar hatte man freilich Schellegoggi und Eichelass in den Bann getan und die besten Professoren hatten zu Würzburg, Eichstädt und Freiburg ihre Theologen vor diesem Zeit- und geistfressenden Spiel gewarnt. Damals, im idealen Studieren und Streben! Aber jetzt, im Dorf, zur guten Kurzweil, statt eine Zigarre rauchen, das ist etwas andres.

Und der alte Euseb ist völlig harmlos dabei. Man denke, er spielt mit zwei Achtzigern und gewiss nur um des Kaisers Bart oder um den Heiligenschein unsrer Bundesräte! Der Corneli würde einen verspielten Zwanzigräppler Tag und Nacht nicht verschmerzen. Nicht wegen dem Nickel, sondern wegen dem Unsinn. Nein, das gab dort nichts als unschuldige Aufheiterung.

Der Corneli verliess die Stube fast nie mehr als am Morgen zur Messe und abends etwa zu einer der seltenen Gemeinderat-, Kirchenrat-, und Schulratssitzungen, wo er bisher überall unantastbar und felsenfest den Vorsitz führte. Denn er hatte Mühe im Gehen. Die Knie versagten und der Atem gebrach, da sein Haus zu unterst im Dorfe stand und es zur Kirche, Ilge und Schule ziemlich stieg. Seit einiger Zeit musste er nüchtern in die Messe gehen. Auch nur mit einem Schluck Milch oder einem Brocken Brot vorher verhielt es ihm den Atem unterwegs.

Er steckte sich dann eine Pfefferminze in den zahnlosen Mund und zumitten der Messe holte er eine harte Brotrinde aus dem Gurt und lutschte daran, um nur etwas in den leeren Magen und Kraft für den Heimweg zu bekommen. Wie eine langsame, feierliche Maschine, Schuh um Schuh, im völlig gleichen Tempo, bei der Kreuzung mit der Landstrasse und wieder beim Jürghaus verschnaufend, so ging er zur Kirche mit der Pünktlichkeit der Uhr und brauchte für den dreiminutigen Weg eine geschlagene Viertelstunde. Die Dörfler am Weg stiessen ihre faulen Schulkinder aus dem Bette, wenn sie seinen hohen Schatten an den Fenstern vorbeitasten sahen, und schrien: »Auf, in die Socken, ‘s ist höchste Zeit, der Corneli geht schon vorüber.« Das alles wusste der Pfarrer seht wohl und er erinnerte sich, wie er sogar eines Morgens dem Corneli auf halbem Wege begegnete und sah, dass der Ammann die bläulichen Lippen vor Energie und Anstrengung ganz in den Mund zog, wie seine Nasenflügel sich weiteten und wie es in seinem gesunden Auge ungeheuerlich kämpfte und blitzte vor Arbeit. In einer Eingebung seines guten Herzens hatte Carl den Ammann warm unter dem Arm gefasst und gesagt: »Darf ich Euch ein bisschen stützen? Mit Euern Jahren, Herr Ammann,« hatte er vornehm hinzugefügt, »nehm’ ich’s dann auch gern genug von jedwedem an.« Ach, wie schön wäre es gewesen, die beiden Riesen des Dorfes Arm in Arm zur Kirchen gehen zu sehen! Welche Erbauung fürs ganze Dorf! Welche Befreundung zweier sich immer noch so fremder Herzen! Aber nein!

Corneli hatte das als Mitleid empfunden. Das traf ihn. Alle Energie seines streitbaren Lebens, wo jeder Ziegel auf dem Dach und jeder Napoleon im Sack hartnäckig erfochten war, bäumte sich gegen diese Hilfe des ... ja, in Gottes Namen ... des Mannes auf, in dem er den Gegner gerochen, ehe er ihn nur gesehen.

Mit einem fast unwilligen Ruck machte er sich los und keuchte mehr, als er sagte: »Nicht ... nicht ... das nicht! Ich kann ... noch allein, ich bin noch eigner Herr und Meister!« Er fühlte nicht, dass sein blosser Anblick ihn jämmerlich Lügen strafte. Aber auch ohne die zwei Buben am Gassenranft, die das Paar anglotzten, fühlte er das eine, dass seine Abwehr zu salzig werde. Er wollte nicht verletzen. Mit zitterndem Arm ergriff er den Ellbogen des Pfarrers, lächelte sein bleiches Lächeln, das wie schwache Sonne über Schnee erschien, drehte sich aus seiner Steifheit halb um und sah erst jetzt seinen Nachbar recht an. Und nun erschrak er. Die grossen blauen Augen gegenüber waren feucht, und es zuckte und dunkelte darinnen wie bei einem Kinde, das einen Schrei verhält. Ein schmerzliches Beben ging durch das blühende Gesicht des Geistlichen, aber dann erstarrte alles auf einmal.

»Hochwürden,« bat Corneli langsam und ökonomisch Schnauf und Wort berechnend, »ich danke zum Schönsten. Sie meinten es gut. Ich danke nochmals. Aber ich darf nicht anfangen mit Stützen und Krücken, sonst ist unsereiner glatt geliefert. Sehen Sie, nicht einmal einen Stock nehme ich mit. Wenn ich dann neunzig hab’, ist’s noch Zeit dazu. Nur keinen Führer, solange man sich selbst führen kann ...«

Entgegenkommend wollte er sein hartes, schwarzes Auge in die blauen tauchen. Er fühlte etwas, das ihn geheimnisvoll zum Rivalen zog, und einen gnädigen Augenblick lang schien es beiden, als triebe ein Engel trotz allen Widerständen sie nahe Brust an Brust, und als müssten sich jetzt ihre Seelen finden. Jetzt oder nie mehr! Aber da rief einer der Buben deutlich dem andern vorauslaufenden nach: »Und ich wett’, der Ammann ist um den Fingernagel grösser, ich wett’ mein Sackmesser an dein lumpiges!«

Die Erstarrung und Fremdheit von vorher überzog den Pfarrer wieder. Mit einem Male führte er sich wieder fest im Panzer.

»Aber jeder Mensch braucht doch ab und zu einen Führer,« sagte er mit erzwungener Höflichkeit. Dabei ging er einen Schritt voraus und lüpfte wie zum Abschied das schwarze Käppi. »Geführtwerden ist so ehrenhaft als führen.«

»Das glaub’ ich nicht,« versetzte Corneli nun auch ganz trocken. »Beim Führen ist mehr Ehre.«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Es summten ihm die Schläfen. Ja, der will führen, nicht geführt sein. Aber bin denn nicht ich der Hirte und er eines der Schäflein? Habe ich den Stab und Auftrag oder er? »So geh’ ich denn meinen Schritt und Ihr den Eurigen,« schloss er kurz, »So wird es wohl das Beste sein.« Und er lief mit seinen grossen heftigen Schritten gegen die Kirche, um sich auf die heilige Messe vorzubereiten. Aber dieses letzte Sätzlein lief ihm sonderbar nach. Er musste es leise wiederholen, und immer ahnungsvoller erschien ihm, er habe ein Urteil auf Leben und Tod für sie beide ausgesprochen ... Jeder seinen Schritt! ... Es wird sich zeigen, wer besser marschiert. Zusammen geht es nicht, das ist nun klar. Aber wie ein Stein lag ihm dieser Entscheid auf der Brust. Er hätte ihn noch nicht aufgeben sollen, das wäre alles von selbst gekommen. Eine Wolke von dunkeln Vorgefühlen strich über seine Stirne. Und doch war nichts geschehen, kein übles Wort gesprochen. Sonderbar, diese Unklarheiten! In Gons wusste er immer, ob Krieg, ob Frieden. Hier wusste er keins von beiden. Es dünkte ihn wie eine bange, faule Dämmerung von einem zum andern und wirkte viel entnervender als eine helle flotte Schlacht.

Carl suchte sich damals in der Sakristei beim Anziehen der Messgewänder all dieser Gedanken zu erwehren und hob den blank vergoldeten Kelch aus dem Kästchen, legte die schimmernd weisse Hostie auf die Patene und dachte, was das besage: ein Kelch voll Blut, voll Schweiss, voll Leiden, voll Opfer für die undankbare, aber so hilflos leidende Menschheit. Ein Kelch der Bitterkeit, um Jubel zu bringen; ein Todeskelch, um Leben zu schenken. Ach, Heiland, und dieser Corneli ist doch bloss ein kleiner Essigtropfen in meinem viel zahmern Opferbecherlein. Und nichts von Pilatus und nichts von Herodes! Und da tu ich schon, als könnt’ ich’s nicht trinken ... O du Allheiliger, Erfinder und immer wieder Finder der Liebe, Herr und Heiland, lass mich dieser deiner Liebe nicht verloren gehen! Lass mich warm bleiben, o lass mich warm bleiben! ... Und Carl schüttelte sich wie einer, den es fröstelt.

Er las vom Wandkalender den Tagesheiligen: Cornelius ... Was? jawohl, Cornelius, Papst und Märtyrer! ... Des Corneli Namenstag? Das ist ein Zeichen! Gratulieren werd’ ich ihm nun nicht, aber dieses Opfer will ich ihm ganz allein widmen. Vielleicht passt es nachher doch noch, Glück zu wünschen ... Und Carl freute sich wie ein Kind auf das heisse Seidenrot der Messgewänder, das ihm der Sakristan nun anziehen werde, als bade er sich da völlig von allen Kälten und Frösten der Eigenliebe los. »Rot, Mesmer, rot,« gebot er und wandte sich in der schneeigen Albe nach dem Manne um.

Aber da stand der bärtige Mesmer gleichgültig da, eine pechschwarze Kasel und Stola auf dem Arm, alles furchtbar, erschreckend schwarz. Kalt leuchteten die Silberborten aus dem düstern Stoff. Es wehte wie Tod und Grab aus ihnen dem heissatmigen Pfarrer entgegen.

»Rot, Mesmer, sag’ ich,« wiederholte der Pfarrer leiser. »Was soll schwarz? Fröhliches Rot haben wir ... Märtyrerfest ... Cornel ...«

»Nein, es gibt heut ein Totenamt, wie Ihr selbst am Sonntag von der Kanzel verkündet habt,« schlürfte der Sigrist aus seinen vielen Zahnlücken hervor.

Carolus fuhr völlig zusammen. »Ja, richtig,« sagte er noch leiser. »Für den hochwürdigen Herrn Pfarrer P. Clamor Brütsch ... Ihr habt recht. Was soll das P. heissen? Sein Bild im obern Hausgang ist mir täglich ein grösseres Rätsel.«

»Pius war er benamst, aber Clamor taufte er sich selber. Das soll doch heissen Geschrei oder? ... Von allen Pfarrern, so unser Dorf noch eine Erinnerung hat, ist er der einzige, der immer im Krach gelebt hat. Die andern waren stille, fromme Männer. Sie waren gesund und wurden alt bei uns und schliefen sozusagen am Friedhof ein ... Aber der!«

»Was denn?«

»Der hatte keine Ruhe. Die ganze Nacht brannte das Licht in seinem Zimmer im Pfarrhof. Und tags war er doch auch immer auf den Sohlen. Er stellte alles auf den Kopf, verstehen Hochwürden, in besten Treuen ... Er hat das Pfarrhaus gebaut, so unvernünftig dicke Mauern ... und die Kaplanei, alles Eichen ... die Kapelle in Schwarzenboden. Er traf’s gerade in die grossen Kriege vor hundert Jahren ... Revolution, Franzosen, Russen, Östreicher, was weiss ich ... Helvetik sagen sie in der Schule, und dann der Näpi ... Das fremde Militär hat uns bald gefunden. Aber der Clamor hat eine Dorfwehr aufgestellt, sogar eine kleine Kanone gekauft, oben beim alten Schloss eine Schanze aufgeworfen, Pulver und Waffen kommen lassen ... er hat mit den Östreichern, sagt man, heimlich konspiriert ... alle Gemeinderäte waren dagegen. Es gab Streit von Haus zu Haus und in jeder Stube ein Für und Gegen. Und doch hat er nichts als Wohltat zu Tür und Fenster hereingeschoben ... aber wie ein Kommandant, friss oder stirb! Verzeihung, aber es gehen da Geschichtlein um ... Zuletzt zündeten ihm die Feinde den Pfarrhof in einer Nebelnacht mitten im Winter an. Clamor habe gerade eine Verteidigung an den Abt in St. Gallen geschrieben ... das Papier mit den Brandflecken soll noch im Archiv aufbewahrt sein, geschrieben wie mit einem Säbel! ... Und so schrieb er und schrieb, hört nichts, merkt nichts, bis es im Gang hellauf kracht und ihm die Türe raucht. Eine Haushälterin hatte er nicht, kochte selber. Stieg und Gang sind wie ein Ofen. Mit dem Papier, der Kasse und seinem Rosenkranz in der Faust tut er einen Satz zum Fenster hinaus in den Schnee, fällt übel, kann nicht mehr aufstehen, zählte schon fast siebzig, wird erst nach langem in Ohnmacht gefunden und stirbt am Lungenstich in drei Tagen. In der Kaplanei drüben. Er habe bis zum letzten Schnauf gepredigt und kommandiert mit irren Sinnen und sei mit Geschrei in die Ewigkeit gefahren. Er hat sich auch selbst die Grabschrift in die Kirchenmauer geschnitten: Er clamor meus ad te veniat ... Und auf den 16. Herbstmond hat er eine Jahrzeit gestiftet, das ist eben heut ... Er soll auch,« fügte der Mesmer zögernd bei, »manchmal den Pfarrherren nachts ins Studierzimmer spuken ...«

Carolus, immer noch im Gange auf und abschreitend, erinnert sich lebhaft, wie er dem Mesmer zuhörte, und dann, als geschehe die Totenfeier für ihn selbst, mit einem kalten Schauder ins schwarze Messkleid schlüpfte. Aber am Altar, bei den uralten und urgewaltigen Klängen des Chorals, der tröstenden Orgel, der Süssigkeit des Kelches und seinem erhabenen Amt, Himmel und Erde zu versöhnen, vergass er das Vorige, sang mit tiefer Majestät, breitete die Arme machtvoll aus, sah sich vom Altar in die Tiefen der Unterwelt ... ad inferos ... hinuntersteigen, den lärmenden, leidenden Clamor an der Hand nehmen und zu den silbernen Schwellen des Himmels geleiten. Clamor kehrte sich noch unter dem Portal um, grüsste, lächelte, dankte und verschwand dann im Überlicht. Und schon hörte man seine Gewaltstimme von innen, aber nicht mehr barsch und rauh, sondern wie die wohlgestimmte, unterste Basspfeife im Osterchoral. Er aber, der Carl Bischof, verneigte sich und kehrte bescheiden die Wolkentreppe hinunter ins Grau des Alltags zurück.

Als er dann nach der Messe mit dem Weihwasserwedel das Schiff hinunterschritt und das wenige Werktagsvolk segnete, da spritzte er einen vollen Schwung des geweihten Wassers in der Richtung, wo steil und hoch mit rasch bewegten Beterlippen der ungeheure Corneli stand, und gratulierte doch noch leise, aber seltsam: et benedicat te et humiliet te, princeps! ... Was? was? korrigierte er sich sogleich empört über den Einfall. Brüder sind wir, es gibt keine Princeps und Herrn im Glauben an den Herrn Jesus Christus und seinen Priester!

An das alles erinnert er sich jetzt voll Unruhe, und geht, ohne es zu merken, immer rascher und knarrender den Holzgang auf und ab ... Und der Kaplan! ... Er lächelte noch im Vorbeigehen ... und sie jassen ... und ihnen ist seelenwohl ... und ich ...

»Pst, pst! leiser!« Marianne steht mit feuchter Schürze und einem Teller in der Hand auf der Küchenschwelle und macht ein sehr strenges Gesicht. »Jetzt lassen Sie mir die Peregrina doch schlafen, Sie Pfarrer Clamor!«

»Was, was?« drängt er aufblitzend an die alte Jungfer heran. »Was heisst das?«

Marianne lächelt durchs ganze, kleine Nussschalengesicht. »Nichts für ungut, das ist hier fast ein Sprichwort. Wenn einer zu laut macht, so schimpft man ihn Pfarrer Clamor. ‘s soll so einer einst hier geamtet ...«

»Gut, gut! Ich gehe jetzt ... Ihr habt recht, ich lärme ein bisschen stark. Krankenbesuche will ich machen, da werd’ ick schon von selbst leise. Guten Tag, Jungfer Marianne, und habet Dank für alles.«

Sie wirft ihm ein Äuglein der Demut und Entschuldigung nach. Denn sie verehrt diesen gewaltigen Priester um so mehr, je schärfer sie ihm widerspricht. Lautlos schliesst sie die Küche. Carl geht auf den Fussspitzen zur Türe der Peregrina, öffnet verstohlen, die Alte hebt die Lider, er tritt ein.

»Nur einen Augenblick! Aber du solltest längst schlafen.«

Peregrina lächelt. Wenn er mich liesse! denkt sie.

»Ja, ja,« sagt sie willig, »nun schlaf ich gewiss ein.«

»Du, die Marianne, was sagst du zu dieser ... dieser ...? Sie hat ein starkes Maul. Und der Kaplan sagt also ... und sie duzen sich ... und wer weiss, vielleicht nach Jassregel duzen sich auch der Ammann und der Eusebius und sogar die Cecili. Und deine Marianne findet das alles recht ... du?«

Das gebrechliche Geschöpf im Bett sah zuerst ängstlich auf den Neffen. Dann wagte sie: »Aber sie kocht gute Suppen und wisset, Herr, so wie sie einem das Bett zurechtlegt, so zum Aufsitzen, das ist ...«

»Suppe, Bettmachen, das kannst du auch, Pellagrina,« scherzte Carl.

»Nicht so gut, nein, so nicht! Wisset, Herr, das ist eine gesunde, wie ein Baum, und immer lustig. Ja, sie mault ein wenig, sie sollte nicht so ... so ...«

»Lass nur!«

»So schier wie ein Mann, ja, wie ein Geistlicher dreinreden. Aber sie meint es gut. Denkt, sie hat ihr Vermögen, ein recht schönes, schon zum Voraus ...«

»Schon recht, Pellagrina. Aber was mach’ ich jetzt? Ich bin ganz in die Sätz’ gekommen.«

»Ein Mittagsschläfchen,« bat die Tante, zum Voraus sich vor der Antwort zusammenduckend.

»Heiliges Wetter, jetzt bist du neunzehn Jahre bei mir und weisst, dass ich nie tags aufs Ohr lieg’. Bin froh, wenn ich nachts Ruh find’. Was plagst mich also immer mit dieser Dummheit? Weisst denn nichts Gescheiteres?« Und der sehr intelligente, sehr energische Riese beugte sich mit wirklicher Sorge zur alten Jungfer hinab und wiederholte: »Was tu ich also?«

»Vesper und Komplet ...«

»Jetzt bin ich wirklich nicht in der Stimmung. Bei jedem Psalmvers hörte ich die Jasskarten dazwischenhauen ... Stöck, Stich oder so was.«

»Dann macht ein paar Krankenbesuche! Im Altershaus hinterm Wildberg seid Ihr ja auch noch nie gewesen und wolltet schon immer. Und auf dem Wildberg dachtet Ihr doch gestern den alten Alberti zu besuchen, wenn es nicht so gewittert hätte, den Alberti, der den Magenkrebs hat und dem sein Bub so hell gewesen sei und jetzt kaum noch reden könne ...«

»Hast recht, hast ganz recht, Perlegrilla!« sagte Carl mit aufsteigendem Humor.

»O was erfindet Ihr da schon wieder Neues!«

»Das ist mir jetzt so ohne Denken herausgerutscht und tönt ganz famos. Eine Perle bist, Tantchen, und Grillen hast, weisst, mit der Suppe der Marianne und mit dem Mittagsschläfchen etcetera.«

Peregrina lächelte glücklich aus ihrem ungeheuren grauen Haarstrudel heraus. Ihre wässerigen Augen glänzten. Schon fühlte sie sich besser.

»Weisst du, was ich auch könnte? Wenn ich jetzt so blitzblank dem Corneli in die Stube fiele, in den Jass hinein?«

»Oh!«

»Was oh? Es lässt mir doch keine Ruh’! Wenn ich’s dann selbst seh’ und erleb’, ist’s auf den Minutenschlag überwunden. So mal’ ich mir alles doppelt dick aus.«

»So geht, wenn Ihr meint ... aber ...«

»Beim Installationsessen ging’s gar steif her und bei der ersten Anstandsvisite war auch nichts als Eis. Aber jetzt bei Eierröhrli und Most und dem Schellegoggi fänden wir vielleicht den Rank. ‘s kommt ja leider so viel auf die Umständ’ an. Und da wär’ ja noch der Kaplan dabei, der Grossvater Frie-d-e, Frie-do-lin und liesse es zu keinem scharfen Disput kommen. Was meinst?«

Die Alte schüttelte das Haar von sich, forschte ihn mit ihren kleinen, grauen Augen aus, und es kam etwas Festes und Klares in ihr mattes Gesicht. Sie sagte: »So geht doch lieber nicht! Ich seh’ keinen Vorteil darin. Geht über den Wildberg. Bis Fünfe seid Ihr Zurück und dann kommt ja das Mili, das Ihr bestellt habt. Es könne vor fünf Uhr nicht abkommen, hat es gemeldet.«

»Amen, Amen. Dann bin ich also in zwei Stunden zurück und schau’ mir mal dieses berühmte Hexlein an. Schlaf jetzt! Die Marianne macht dir dann um die Vier den Kaffee und behält mir vielleicht auch noch etwas übrig, wenn ich recht brav bin.«

»Carl, Carl!« entschlüpfte es der Tante.

Er aber war schon draussen, und in fünf Minuten sah man ihn, das rote Nastuch um die Stirne schwenkend, den steilen Hügel emporeilen. Aus Regenwolken erschien die Sonne plötzlich fast weiss wie Kreide und blendete und erhitzte heillos, wo es noch eben kühl gewesen. Ihr eitles Spiegelbild prunkte aus jedem nassen Baumblatt, aus jeder Pfütze, von jedem gesenkten, schwerbetropften Grashalm. Und ein Gekreisch der Vögel begann, ein Schwatzen, Verleumden, Zanken und Liebtun, als wäre Spatzenkirchweih und Alt und Jung halb betrunken. Je höher es ging, desto weiter wurde die Aussicht. Links sah man ins gewellte Thurgau, und der Fluss vom hiesigen Tobel blinkte dort im freiern Gelände bei jeder Schleife fast revolutionär und foppte: he du, jetzt geht es in die Welt, pack mich noch, wenn du kannst! Aber im Hintergrund stieg ein fernes Berggewirr auf. Und die schönste Hoheit am nördlichen Ende, wie ein Turm verspreizt, liess einen graugelben feinen Duft um ihren Leib nebeln und hob nur lässig ihr greises, breites Gedankenhaupt in den Himmel. Dieser Berg stand nicht, er sass, sass schon Jahrtausende gelassen in seinem Felsgestühl und dachte und wartete und dachte wieder und zeigte keinen Hauch von Ungeduld. Das war der Säntis, dieser Salomon der Berge.

»Grüss Gott,« sagte Carl zum vielgipfeligen Gebirge im Osten: »O ihr lieben konservativen Landsleute, ihr bleibt noch im Alten, Soliden wie ich. Der Fluss dort, dieses ausgelassene Wasser, ist ein erzradikales Geschöpf, will immer Neues und kennt keine Vernunft noch Pietät fürs Gestrige und Vorgestrige. Je ungehemmter, je besser. Nur zu! Dich verschluckt ein noch grösserer Radikalinski, der Rhein dort unten. Und so fresst ihr euch selber auf, und der letzte Radikale wird wieder konservativ, wenn es ins alte, ewige Meer geht. Zuletzt bleibt doch nur das Konservative ... Und Gott,« der Pfarrer lüpfte begeistert den Hut, »ist das Konservativste, was es gibt. Das Konservative ist das Ewige. Nicht wahr, ihr Berge, du alter Säntis, ihr bleibet mir standhaft. Lasst die Bäche davonlaufen und die Vögel wegfliegen und die Menschennester zu Füssen erwachen und erlöschen wie Kerzen, was macht’s? Da läuft und verläuft, fliegt und verfliegt, flackert hellauf und ist nirgends mehr. Das sind Moden. Ihr aber seid nicht Moden. Ihr gehört schon ins Ewige, seid Gottes granitene Schemel. Nach euch kommt nur noch die Sonne, die liebe Herrgottslampe, und dann sogleich er selber, unser Gott. Ja, ja, alles, gar alles muss zuletzt konservativ werden, wenn es zu Gott will.«

Er setzte sich am Prügelweg auf einen Eichenstumpf, öffnete das Brevier, aber war nicht imstande, ordnungsgemäss die Vesperpsalmen zu beten. Da schloss er das Buch wieder und rezitierte auswendig im Angesicht der Berge und Ebene den vor Freude tausendzüngigen Canticus trium puerorum mit dem Benedicite montes et colles und jubelte dabei immer lauter in die Sträucher, Steine, Äste und Vögel hinein. Und Jass und Marianne und der um einen Fingernagel grössere Gemeindeammann waren in den Schauern des Ewigen spurlos untergegangen.

Kapitel 5

Indessen spielte Eusebius in der erdebenen Ammannstube, über den nussbäumenen Tisch vor den kleinen Strassenfenstern gebeugt, so dass sich sein vogelnestzerzauster Kopf wie ein Igel im altmodischen Kragen verlor, spielte mit Corneli und Cecili den berühmten schweizerischen Dreierjass. Jeder Partner musste einmal allein gegen die andern zwei fechten. Er hatte dreihundertfünfzig Punkte aufzubringen, bevor die andern ihr obligates Tausend erreichten. Da geschah denn beiderseits ein hitziges Zielrennen. Doch, wie es dem Alter und seiner komplizierten Schlauheit ansteht, spielte man äusserlich ruhig, sah durch die vielen kleinen Scheiben fast eben zur Dorfstrasse hinaus und sagte etwa mit erkünstelter Kälte: »Seht, der junge Zellwig, da kutschiert er schon selber mit dem wilden Braunen und zählt doch erst siebzehn, der Schlingel, gewiss nach Uzli für den Fabrikanten.« Aber während man so leichthin brummelte, erbebte man innerlich vor Angst, ob der Gegner wohl austrumpfen und mich in den Bettelsack jagen werde.

Die alte Cecili in ihren alten, schlappen Kleidern schlürfte etwa zur Stube hinaus, holte eine Tasse oder einen Teller und guckte bei dieser Gelegenheit dem Kaplan von hinten ins Spiel. Sie war noch voll Röte und Beweglichkeit im Gesicht, noch vernarrt wie eine frische Braut in ihren Corneli und liess nichts an ihn kommen.

Es war im Grunde recht ärgerlich, mit diesen zwei parteilichen alten Verliebten zu spielen. Auch wenn die Greisin mit dem Kaplan zusammen focht, half sie doch auf jede angängige Art dem Gemahl. An einen Matsch, wo man alle Stiche macht und den Gegner zum Betteln verurteilt, an einen solchen Triumph, so sicher er in den Karten lag, war gar nicht zu denken. Die verflixte Frau liess den Corneli immer wie aus Versehen durch ein Pförtlein entschlüpfen. Dann erboste sich Euseb jedesmal, machte Miene, die Karten auf den Tisch zu werfen, und klagte, so könne der geduldigste Engel nicht mehr spielen, das sei ja offenbarer Schwindel. Diesmal hätte es den Ammann absolut zu Boden werfen müssen. Aber jedesmal nahm er das Spiel wieder auf, wenn die Alten so herzerquickend einander anlächelten, dem Scheltenden ein Eierröhrli zuschoben, sich mit Vergesslichkeit und ihren zusammengezählten hundertsechsundsechzig Jahren entschuldigten, ja, mit bittenden Blicken gestanden: wir können einmal nicht anders! – aber die Cecili dann doch den Kopf rüstig erhob und versprach: nein, jetzt pass ich scharf auf! Corneli, Schatz, jetzt gibt es keinen Pardon mehr ...

Eine grosse, graue, weiche Katze legte sich jedesmal neben den Kaplan aufs Gestühl und strich an ihm und liess allenthalben am Frack ihr Haar. Wenn Euseb wieder einmal in hellen Ärger ausbrechen wollte, schnurrte diese Mieze so behaglich, dehnte ihr Fell so faul und warm an seinen Körper und blickte ihn bei seinen erregten Gesten aus einem dünnen Schlitz so altklug an, dass er sich oft rasch überwand, dass Wort verbiss und sich selbst als Toren verlachte. Er wollte nicht gern den Jass beginnen, ehe die Katze auf diesem Platz lag.

Wie aus stiller, schlauer Übereinkunft sprachen sie sozusagen kein Wort über Carolus Bischof.

»Drei samt Stöck!« kündete Cecili und zeigte Trumpfass, König und Ober. Sie notierte vierzig Punkte und grübelte dann lustig mit ihren kräftigen Äuglein am Corneli und Kaplan herum. »So, wer hat jetzt wohl den Bauer? ... Du schmunzelst, Corneli! ... hopla!«

»Das ist zu viel geredet, das geht nicht an,« beschwerte sich Eusebius, der allein focht und sich ganz unsicher fühlte.

»Ich schmunzle ja gar nicht,« verteidigte sich der Ammann.

»Und ich habe niemand gefragt. Ich hab’ nur so für mich Vermutungen angestellt. Schlau sein darf man denn doch noch beim Jass ... Esst von dem Wecken da!«

»Gut, gut, aber unser Meisterjasser, der Johannes Allenspach lehrt, während des Spiels dürfe man gar nichts reden oder dann nur vom Wetter und von Kalifornien ...«

»Nun wohl, das Wetter sieht nach einem Matsch aus,« neckte die Alte, indem sie zum Schein durchs Fenster über die Hausdächer blickte. »Ich weiss einen, der jetzt gerne nach Kalifornien fliehen möchte ...«

»Immer besser, immer besser!« jammerte Eusebius.

»Der Allenspach,« fuhr Corneli behaglich dazwischen, »da kommt Ihr mir gerade recht. Der redet mit seinem Gespan so eine Gaunersprache von Wind und Hagel und Nebel, dass der andere alle neun Karten haargenau kennt. Sonne heisst zum Beispiel Trumpf, heiss soll bedeuten: trumpf los!«

»Sei das, wie es wolle, aber ihr beide habt zu viel geredet,« beharrte der Kaplan und zauste das Vogelnest auf dem Kopfe auseinander. »Nun wisst ihr ja ...«

»Schau, Corneli,« wich die Frau aus, »dort kommt das Mili und der Johannes die Strasse nieder.«

»Das Eichelnell habt Ihr ja auch gewiesen, Corneli, ich kann das Spiel nur gleich niederlegen. Was soll ich mit dem Banner allein? Es ist ein Matsch, aber kein ehrlicher.«

»Ein Matsch,« jubelte die Greisin, »jetzt drauf los. Aber, Herr Kaplan, so ein Gesicht! Könnt Ihr denn wirklich nicht begreifen, dass der Corneli und ich Mann und Weib sind?«

»Beim Spiel hört das auf,« bestimmte der Kaplan mit seiner kleinsten, aber trotzigsten Stimme.

»Wie? was? und das sagt einer vom Klerus!« klagte die Frau geschickt. »und dann predigt Ihr am Sonntag wieder von einer Seele in zwei Körpern.«

»Ach was, Ihr macht jetzt alles mit dem bekannten Weiberunsinn durcheinander ...«

»Hoho, was sagt Ihr?«

»Perfekt so ist es!«

»Gut denn, wenn wir fürs Jassen uns scheiden sollen, ziviliter scheiden, der Corneli und ich, wenn’s so g’meint ist, Hochwürden ...«

»Ah bah,« machte der Kaplan, die Hand seitwärts in die Luft schlagend. »jetzt soll man spassen und lachen und da ... da,« er tupfte heftig auf sein immer noch gedecktes Spiel, »da ist der offenbare Matsch!!«

Corneli kicherte vergnüglich.

»Aber so schauet uns Alte einmal recht an, Hochwürden,« rief nun Cecili ernster, und stand in ihrer magern Länge vom Stuhl auf. »Achtziger beide. Der Corneli noch anderthalb Jahr höher verschneit als ich. Viel Zeit zum Jassen haben wir jedenfalls nicht mehr. Ihr aber, Herr Kaplan, werdet noch dutzendmal alle vier Bauern bekennen. Und da sollen wir zwei, der Corneli und ich, uns diese kurze Zeit noch sauer machen, das Spiel verderben? Ach, lieber Herr Euseb, müssen wir nicht im Gegenteil noch hurtig jede gute Gelegenheit benutzen, einander einen rechten Gefallen zu tun ... etwa den Matsch hier! ... und in die knappe Zeit noch einen Rest Liebe unterzubringen, gerade wie man jüngst, vor diesem Regen, beim Heuet pressiert und geschwitzt hat, noch vor dem Abend und Unwetter den letzten Schochen unters Dach zu schaffen. Jawohl, jetzt sollte man jede Minute vergolden und einrahmen. Nicht wahr, Corneli, dass der Kaplan den Bauer nicht hat, sondern dass du ihn hast und wir ihn jetzt gehörig abmorxen, das tut uns so wohl wie einst ein Küsslein hinter den Holunderstauden?«

»Abscheulich redest du,« tadelte er lachend.

Sie aber fuhr mit ihrer entfleischten, rauhen, roten Hand über die bleiche Wange mit einer so feinfühligen Zärtlichkeit, ihr Flämmchen und seines von Aug zu Aug schmolzen so ergreifend lieb zusammen und waren bereit, auch zusammen auf einen Hauch Gottes für diese Erde zu erlöschen; sie schienen so willig, miteinander in die Schollen des Friedhofs hinunterzusteigen und sich da steif, aber erwartungsvoll nebeneinander zu strecken, es war hier so viel Irdisches mit Ewigem und Schwächliches lieblich mit Unsterblichem vermischt, dass der Kaplan zuletzt nur verlegen hinstaunen und begütigend nicken konnte, und es gar nicht merkte, wie er alle Karten offen gegen seine Gegner hielt.

»O schau, auch kein Ass hat der Arme!« rief die Greisin, aus aller Schwärmerei klug und praktisch ins Spiel zurückkehrend, »der Matsch liegt auf der Hand.«

»Ich strecke die Waffen,« versetzte Eusebius resigniert. »Mit der Fahne allein schläft man keine Schlacht.« Da log er ein bisschen. Er hatte noch das nichtige Sieben und Acht. Aber was galten die? Er warf das gezipfelte Banner, die interessanteste, geistreichste und schönste, aber auch zarteste Karte des Jasses, als wär’s wirklich sein einiger Trumpf, ergeben auf den Schiefertisch.

Es klopfte sehr stark, wohl schon das zweite Mal, an die Stubentür.

»Aha, das Mili! Das ist sein Knöchel! Nur herein in Gottes Namen!« schrie das fröhliche Weib uns kreidete die zweihundert Punkte des Matsches zu den hundertsiebenundfünfzig des vollen Spiels zum Übrigen auf dem Schiefer. Und ohne aufzuschauen sagte sie: »So, ihr Leutchen, was fallet ihr uns da mitten in den Krieg? ... Sitzet!«

Das Mili, ein blondhaariges, aber von der Sonne oder vom eigenen Blut dunkel gebräuntes, grosses Mädchen mit wundervollen Achseln und schon recht fraulich entwickeltem Körper, zog den Johannes sofort auf die Ofenbank und rief: »Guten Abend, Her und Frau Ammann! Guten Abend, Herr Kaplan!« Johannes nickte dazu mit seinem schmalen, kalten, merkwürdig vornehmen Gesicht und lächelte zufrieden an seiner bleichen, geraden Nase hinunter.

»Ich hab’ sie doch zu mir gerufen,« erinnerte Corneli seine Frau, und aller Leichtsinn der Karten war aus seinem Antlitz verschwunden. Eine würdevolle Amtsmiene erschien ungesucht, wie von selbst, und sogar seine leise Stimme verlor alle Wärme.

»Wir können schon eine Weile Pause machen,« fuhr er fort. »Der Kaplan hat’s nötig. Nun ja, wie stehen wir denn jetzt?« fragte er das Mädchen und furchte wie vor Schwierigkeiten die Stirne.

Der verstorbene Täler war sein Patenkind und in vielem sein Schützling gewesen. Auch dem Johannes war Corneli Gevatter gestanden. An jedem Neujahr hatte der seinen Fünfliber, einen armdicken Ankenweggen und ein halbes Dutzend leinene Nastücher holen dürfen. Als der steckköpfige Täler für seinen Bruder Julius Bürgschaft leisten wollte, warnte Corneli mit aller Macht. Denn bei diesem Tunichtgut war jedes Fränklein von vornherein wie ins Wasser geworfen. Julius hatte etwas Genialisches an sich, aber er war der Unbestand in Person. Auf unkontrollierbare Weise strich er durch die Welt, ein Phantast und Faulenzer, und schwamm mit einem gewissen Instinkt durch alle Künste und Schwindeleien, ohne etwas andres als fremdes Geld zu verlieren. Verheiratet, unbeweibt, niemand wusste das recht. Selten einmal erschien er im Dorf, verschwand dann nach wenigen Tagen wieder spurlos für ebenso viele Jahre. Ob er den Tod seines viel älteren Bruders erfahren hatte, wusste niemand. Aber allgemein war die Erwartung, man werde ihn plötzlich einmal im Tälerhause seine Geige spielen hören. Diese strich er so sicher, wie er wundervoll von den Lippen pfiff. Dem Corneli war dieser Ausbund von Unordnung ein Greuel. Sowie der Täler gebürgt auf jede angängige Art dem Gemahl. An einen Matsch, wo man alle Stiche macht und den Gegner zum Betteln verurteilt, an einen solchen Triumph, so sicher er in den Karten lag, war gar nicht zu denken. Die verflixte Frau liess den Corneli immer wie aus Versehen durch ein Pförtlein entschlüpfen. Dann erboste sich Euseb jedesmal, machte Miene, die Karten auf den Tisch zu werfen, und klagte, so könne der geduldigste Engel nicht mehr spielen, das sei ja offenbarer Schwindel. Diesmal hätte es den Ammann absolut zu Boden werfen müssen. Aber jedesmal nahm er das Spiel wieder auf, wenn die Alten so herzerquickend einander anlächelten, dem Scheltenden ein Eierröhrli zuschoben, sich mit Vergesslichkeit und ihren zusammengezählten hundertsechsundsechzig Jahren entschuldigten, ja, mit bittenden Blicken gestanden: wir können einmal nicht anders! – aber die Cecili dann doch den Kopf rüstig erhob und versprach: nein, jetzt pass ich scharf auf! Corneli, Schatz, jetzt gibt es keinen Pardon mehr ...

 
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hatte, zog er sich sichtlich vom Patenkind zurück. Wirklich ging in kurzem die ganze Summe, mehr als Fünftausend in Mühsal erschwitzte Franken, an die Gläubiger des Julius verloren.

Als dann der Täler nochmals heiraten wollte und wieder eine Witwe, dazu mit zwei halbwüchsigen Kindern, dem Heli und dem Mili, warnte der Ammann ein zweites und noch strengeres Mal. Aber die Täler sind unverbesserliche Steckköpfe. Es wurde doch geheiratet. Nun überliess Corneli den Mann grollend seiner Torheit und seinem Elend. Dagegen beharrte er nun erst recht unerbittlich auf den fünf Prozent Zins, um die er einst dem Sticker eine famose Maschine geliehen hatte.

Aber so sehr er sich gegen den einstigen Liebling verhärtet hatte, in der letzten kurzen Krankheit war er dann doch in die arme Stube des Todkranken gegangen und hatte unter dem ersten Eindruck des Unglücks des hilflosen, keuchenden Mannes, der ihn nicht mehr kannte, aber furchtbar traurig anblickte, zu den Jungen gesagt: ich werd’ mich euer schon etwas annehmen ... Aber bereits auf dem Heimweg beruhigte er sich, die drei Kinder seien ja alle erwachsen und können sich leicht selbst durchschwingen. Er habe es ja auch in noch viel zarterem Alter und bei viel grösserer Verlassenheit probieren müssen. Sie sollen sticken wie die andern hablosen Lustiger. Das gebe noch immer genug Brot. Das Mili fädle den Buben und besorge den Haushalt.

Heimlich schwankte er auf und ab, ob er den Waisen den Maschinenzins für das laufende Jahr schenken wolle. Es waren hundertfünf Franken. Ab und zu, besonders, wenn er seltenerweise ein Gläschen Veltliner geleert hatte, dünkte ihn, dieses Sümmlein lasse sich leicht verschmerzen. Öfter aber, besonders wenn er nüchtern war und an den Julius und alle Steckköpfigkeiten des Verstorbenen dachte, kam es ihm wie ein ungeheures und untunliches Werk vor. Es plagte ihn förmlich, dieses halbe Ja und halbe Nein: er lud die zwei Ältesten zu sich herunter und dachte, bis dahin mit sich im Reinen zu sein. Aber er hatte noch nicht entschieden. Jetzt vor dem drängenden Augenblick wurde ihm das Herz wieder schwer. Hundertfünf Franken, einundzwanzig blitzende Fünfliber! Und was für schöne Hosen und welch eine schmucke Jacke der Johannes trägt! Vom gleichaltrigen Emil Zellwig, dem reichen, noblen, geschenkt. Das schon. Aber solche Geschenke passen nicht, er sieht darin wie ein Herrenbub aus und meint am End gar noch, ein solcher zu sein. Wenigstens sitzt er so lustig und sorglos da wie ein Millionär. Nein, nein, schenken heisst sich und andre narren. Auch das Mili sieht nicht nach Not aus. Die zwei gucken ja wie Spatzen in die Welt. Ein leiser Ärger stieg im Greis auf, der nie etwas Spatzenhaftes an sich gehabt hatte.

»Wie wir stehen,« nahm das Mädchen mit einer beherzten, langsamen, vollen Stimme den Satz auf, »ja, darum kommen wir eben. Da müsst Ihr uns raten, Herr Ammann. Wir tun nichts ohne Euch, Herr Götti.«

Hop, hop, dachte Corneli, das klebt sich schon eifrig an die Fräcke. Wart’ du! Und laut tadelte er: »Hätte nur der Verstorbene auf meine Einsprachen gehört, wäre er weise und gehorsam gewesen, so gäbe es jetzt keine bittern Fragen und Ratlosigkeiten.«

»Gott hab’ ihn selig,« fuhr Eusebius sanft dazwischen. »Der gute Marx Täler hat es auf seine Art wohl immer gut gemeint. Das richtet jetzt Gott, nicht unsereiner!«

Etwas Priesterliches überflog ihn bei diesen Worten. Seine kleinen runzeligen Hände, die noch eben die schmutzigen Jasskarten gehalten hatten, schienen nun, wie er sie gütig gegen die Brust hob, etwas Sakramentales zu verrichten. Und das ergriff auch den Corneli. Trotz seiner Knauserigkeit und seinem unerschöpflichen Geschimpfe über die heutige närrische Geldvertuerei der Armen gebrach ihm der Mut, im gleichen Tone weiterzufahren.

»Ihr werdet jetzt wohl tapfer sticken und fädeln zusammen,« meinte er freundlicher. »Auch du, Johannes! Hast bisher mehr oder weniger gefaulenzt. Nun heisst es halt unter den Sattel. Wir alle müssen’s.«

Johannes lächelte leise. Seine prachtvollen kieselgrauen alten Augen blieben voll selbstgefälliger Ruhe. Er betrachtete seine schmalen, weissen Finger, diese Faulenzerfinger, wie der Corneli meinte, diese sehr wichtigen Künstlerfinger, wie er selber ganz bestimmt wusste. Ungeniert stupfte er das Mili mit dem Ellbogen, es solle nur antworten, wenn etwas zu sagen sei; er höre zu und lächle ein wenig.

Aber das Mädchen schüttelte leise den Kopf. Es war noch nicht der rechte Augenblick zum Reden.

»Eine zweite Maschine müsste beschafft werden,« sprach der Ammann geschäftlich weiter, »ja, die muss her. Doch Narr ich, ihr habt ja keinen Platz dazu. Nein, Bursche, du gehst besser zum Zellwig in die Fabrik.«

Johannes kräuselte über das »Bursche« spassig die dünnen Lippen .

»Der ist dir ja wohlgesinnt. Dieses Feiertagskleid hast du doch vom jungen Herrchen, dem Hugo, nicht?«

Weder Röte, noch Befremden äusserte sich im Gesicht des Johannes. Er nickte: »Ja, Herr Götti, ich hab’ ihn gezeich ... porträtiert ... Es gefiel ihm ...«

»Man kennt ihn aufs Haar,« half Mili. »Sie haben das Bild eingerahmt, und es hängt jetzt in der schönen Stube. Man meint, er rufe: Auf die Seite, he, oder ich überreit’ dich! – Wisset, wie er uns oft erschreckt, wenn er auf dem Kohli reitet. Und nun ...« stupfte sie den Johannes.

»Und da schenkt er mir gleich dieses Kleid,« fügte Johannes nachlässig hinzu. »Ihm war es zu eng. Mir ist es wie angegossen.« Er spreizte die langen Beine mit den wohlgeformten Schenkeln weit in die Stube, um sein Wort zu bekräftigen.

»Aber das solltest du doch nur am Sonntag anziehen,« murrte Corneli. Die Frau bejahte mit den Augen jedes Wort ihres Gatten.

»Herr Ammann,« rückte Mili sogleich sieder schneidig vor, »Johannes hat es ja express wegen Euch angezogen. Zum Corneli gehen, sagten wir, ist fast wie Sonntag. Da schlüpft er hinein. Wenn wir zum Bischof müssten, nachten wir es auch so.«

»Du bist ein verflixtes Hexli,« antwortete der Ammann, aufs tiefste geschmeichelt. Hier war er sterblich. Wer ihn da fein packte ...! »Nun also, wenn es Euch Sonntag scheint, so sitzet zu uns und nehmt jedes ein Eierröhrli. Cecili, schenk ihnen ein Glas Most ein!« schloss er aufgeräumt und mit seinem blassen Schneelächeln.

»Gut zurückgegeben,« rief Eusebius aufmunternd zu den Alten. »Kommt her, ihr Waislein. Da, sitz zu mir, Mili!«

»Oha,« sagte das Mädchen und blies anmutig die Oberlippe mit dem goldenen Flaum auf. »Das ist ja ein Matsch, ein kompletter Matsch.« Sie wies auf die neun Karten neben dem Kaplan ... »Eichel habt Ihr doch Trumpf?«

»Was weisst du vom Jass?« spottete Corneli gutmütig. »Aber so ist’s, heute spielt schon jeder Käsehoch den Kreuzjass und den Zuger, ehe und bevor er nur die Nase recht putzen kann.«

»Aber ich reich’ Euch über die Achsel,« wehrte sich das Jüngferchen mit trockener Lebhaftigkeit. »Lasst doch einmal sehen!« Sie erhob sich und ragte wie eine blonde, junge Birke in die Höhe, sicher noch ein, zwei Zoll über die hohe Schulter des Riesen. »Und Ihr sagt Käsehoch!«

Alles lachte. Johannes bröselte an den Eierröhrli herum, sog ganz kleine Schlücke Most aus dem Glas und sah belustigt und ein wenig stolz auf sein Mili.

»Doch, doch,« machte das Mädchen und vertiefte sich eindringlicher in das Spiel, »Herr Kaplan, da habt ihr ja drei Könige und drei Ober und drei kleine Trümpfe. Und seht doch, alle vier Banner! Hundert Punkte, wenn Ihr nur einen einzigen Stich macht. Das überweisen die andern nicht. Einen Stich aber macht Ihr sicher mit einem König oder Ober. Und Ihr seid über dem Graben.« Und an den Fingern zählend sagte sie: »Drei Stich mit Trumpf, vier mit den Ass und ein oder sogar zwei Stiche bleiben ungewiss, aber einer für Euch ganz gewiss. O probiert!«

»Das mach’ du für mich, ich habe die Flinte schon weggeworfen!«

»Aber Ihr!« tadelte das Mili. »Das soll man nie ... Er gilt ja jetzt nicht mehr,« wandte sie sich beruhigend an die Alten. »Nur zum Spass wollen wir mal sehen.« Sie ordnete die neun Karten des Kaplans in ihren festen, aber schönen Händen. Plötzlich wurde sie ernst und ein bisschen weiss im tiefbraunen Gesicht. Scharf sah sie den Ammann an und sagte mit einer merkwürdigen Stimme: »Was gebt Ihr mir, wenn ich doch noch entwische? Gilt’s den heurigen Zins für die Maschine?«

Jetzt ist es da, dachte Corneli beklommen. Johannes aber überlegte, wie gescheit Mili die rechte Minute abgepasst habe.

»Die hundertfünf Franken, gilt es die?« wiederholte sie artig und mit scherzhafter Betonung.

Wie Stösse trafen diese Fragen die Bölsch. Sie schauten einander verwirrt an und keines schien dem andern raten zu können.

»Corneli, Freund,« eiferte nun aber der Kaplan, »das lasset Euch nicht von diesem unreifen Spatz bieten. So eine Hoffahrt! Das geht uns an die Ehre!«

»Und wenn du verspielst, Mili,« sagte Cecili und gab endlich dem Greis ein verstohlenes, aber klares Zeichen, sie dürften sich nicht in diese Falle begeben. Sie wusste genau, mit wie schweren Zweifeln und widerständen Corneli jetzt innerlich focht.

»Matscht Ihr mich, so komm’ ich jede Woche einmal hinunter zu Euch und putz’ Euch das Gröbste, wie ich’s in der Ilge so oft tue, die Böden, die Küche oder miste Euch den Stall aus oder flick’ Euch alles Nötige am Weisszeug, was Euere Augen nicht mehr gut wahrnehmen. Einverstanden?«

»Das ist eine Wette, die hat Saft,« reizte Eusebius. »Die Engel würden dazu in die Hände klatschen. Aber armes Mili,« klagte er mit glücklicher List, »du wirst dran glauben müssen. Die Cecili kann anders trumpfen, potztausend!«

»Wollen wir’s wagen?« fragte Corneli mit einer kühnen Entschlossenheit, wie man in ein kaltes Bad springt, da es nun schon so sein muss. Denn es war doch beschämend, vor der Keckheit eines unreifen Balgs feig das Feld zu räumen. Überdies galt Corneli, obwohl er es gar nicht war, als guter Jasser. An diesem Ruf lag ihm.

»Wie du meinst,« versetzte Cecili widerstrebend und immer noch mit Blicken verneinend.

»Aber liebe gute Frau Cecilia, habet das Herz und schlagt los,« bat Eusebius dringend. »Ihr seid doch sonst immer die Vorderste beim Matschen, und wir sind gegen Euch im Jass die reinsten Schulbuben.«

»O Eusebi«, rief die Alte errötend, »jetzt wollt Ihr mich so hintenum nehmen.«

»Gar nicht, gar nicht!« beteuerte der Kaplan und lachte sein harmlosestes Lachen. »Aber das sag’ ich Euch ohne Spass, in jedem Falle werdet Ihr gewinnen, entweder die Wochputzete des Mili oder was noch wertvoller ist, ein so gutes Werk, wie es wohl mit den unsaubern Jasskarten noch nie erspielt worden ist.«

»Wenn wir verspielen,« drohte Cecili mit halbem Ernst zum Kaplan, »dann habt Ihr das letzte Eierröhrli bei mir gegessen.«

»Fangen wir an,« gebot Corneli äusserlich gelassen. Aber seine Stimme zitterte. Ihm war, er gehe auf einer Brücke, und das mittlere Brett werde beim dritten oder eierten Schritt zusammenkrachen und er in einen heillosen Abgrund fallen. »Jetzt sorgfältig gespielt, Frau! Trumpfe los!«

Das geschah. Zuerst ward dreimal ausgetrumpft, was dem Mili behagte. Hätte man den dritten Trumpf gespart und den Feind hübsch in der Mitte behalten, so hätte es gefährlich werden können. Nun gab es also keine Trümpfe mehr und es folgten die vier Ass. Mili sass da wie eine lauernde Katze. Der vorletzte Stich, ein König, gewann auch noch. Aber nun mussten sie unabweisbar in Milis Rosenkönig werfen. Tscha, tscha, tscha hatten die Alten achtmal ausgeworfen und gestochen, dass es nur so auf den Schiefer klatschte, aber in diesem Siegeslauf die Chancen des letzten Stiches verdorben. Die alten Köpfe waren brandrot geworden, fein wie Tau lag der Schweiss über dem Antlitz des Cornelius; das Mili aber lächelte in unveränderter Blondheit, nur den Flaum der Oberlippe blies es leicht in die Höhe. Nun kam der neunte Stich, ein gegenseitiges, nutzloses Ausfragen der Augen bei den Bölsch, ein frösteliges Zaudern, ein verzweifeltes Auswerfen des Rosenunters, wie ein Donnerschlag Milis Rosenkönig darauf, ein Entsetzen, dann ein Verwerfen der Karten über den Tisch, der Matsch war abgewiesen, das Mili hatte in weniger als einer Minute hundertfünf Franken aus dem engen Beutel des Corneli gewonnen. Im Gesicht der Cecili zuckte es, als wollte sie weinen. Johannes lachte laut auf, Mili aber tat gar nicht siegreich, sondern streichelte die bebenden Hände des Ammanns und tröstete: »Seid nicht böse! Es hätte mich ja auch übel treffen können. Und hab’ ich daheim auch alle Hände voll, ich wär’ halt doch gekommen mit Putzlumpen oder Nähzeug, ich wär’ wahrhaftig jeden Montag oder Dienstag gekommen.«

»So geht es, wenn man auf Freundesräte hört!« brach endlich Cecili los und gab dem Kaplan einen verdrossenen Blick. Dieser wischte sich den Schweiss von der Stirne und schluckte und kicherte ins Nastuch hinein.

»Ihr da, wartet nur,« schimpfte die Alte weiter, »wir seifen Euch auch einmal gehörig ein.«

»Meine Verehrung, Frau Ammann, das soll mir nur recht sein. Aber straft mich mit Euern noch so zornigen Blicken, heute seid Ihr mir dennoch lieber als je und seht wie verjüngt aus. Ja, Frau, so hübsch und jung habt ihr noch nie dreingeschaut wie jetzt im Zorn, der Euch doch gar nicht ernst ist.«

»Sagt, was Ihr wollt, das vergess’ ich Euch nicht,« gelobte die Greisin.

Ganz anders Corneli. Stand er einmal vor der Tatsache, dann fand er sich ohne Hinterhältigkeit und langes Wundkratzen damit ab. »Du Wetterhexe,« knurrte er leise zum Mili, »bist jetzt satt? Soll ich dir deine Räuberei nun noch schriftlich geben? Der Kaplan ist Zeuge. Der genügt wohl.«

»Bitte, schreibt mir doch zwei, drei Worte auf! Ich trau heilig. Aber ‘s ist doch wegen der Ordnung.«

»Mich behandelt sie nur so wie Luft,« seufzte Eusebius komisch.

Dem Ammann imponierte das Mädchen je länger, je mehr. Mit Wohlgefallen ruhte sein Auge auf dem blonden Scheitel. Sobald er aber auf Johannes blickte, der doch viel unschuldiger in der Sache war, verfinsterte sich seine Stirne.

»Der schmatzt und süffelt,« brummte er, »und lässt den Zopf sorgen und fechten. Das Mili hat die Hosen an.«

»Mir ist es so ganz recht,« bestätigte Johannes, »und dieser Most, auf Ehre, schmeckt noch besser als Zellwigs italienischer Schaumwein.«

»Asti spumante,« ergänzte Eusebius.

»Hab’ noch nie welchen getrunken,« bemerkte Corneli barsch. »Asti spumante, das heisst doch schäumen und den Zapfen aus der Flasche jagen?«

»So!« bestätigte der Kaplan.

»Nun, werd’ du nur auch ein wenig lebendig,« wandte sich Corneli ziemlich schroff an den Jüngling. »Reg’ dich, schaff’, ‘s braucht nicht gerade der Hut in die Luft zu fliegen. Aber Hände und Füsse los! Kopf wach! das Blut in Fluss! An die Stickmaschine! Mit schönen, weissen Fingern und ein bisschen Geschnörkel ist nichts geleistet.« Der ganze Unmut über die verspielten einundzwanzig Fünffränkler entlud sich jetzt über diesem kühlen, schlanken Hübschli.

Aber Johannes behielt seine fröhliche Unverfrorenheit, tat kein Nicken noch Verneinen kund, merkte keinen Tadel, noch fühlte er einen Tropfen Scham, sondern schlürfte ruhig ein weiteres Schlücklein aus dem Becher. Das Mili soll fechten.

»Herr Götti,« bat das Mädchen nun wirklich, »Ihr habt gesagt Schnörkel ...« Eilig schoss sie zu einem Paketchen, das sie auf der Ofenbank liegen hatte. »So schaut doch das einmal an!« Gefühlvoll, als wär’s etwas Lebendiges, zog sie eine handbreite Stickerei heraus, eine Art Bordüre. Schneeweiss wie das feinste Sonnengewölke schwebte das Zeug aus ihrer Hand.

»Nun beachtet das Muster da drin!« ersuchte Mili. »Herr Ammann, Ihr habt die Zeichnung gesehen und sagtet selbst, Johannes solle mal so was Eigenes probieren. Da ist’s! Seht, ein Holderzweig, akkurat! Mit Bluest und Laub! Und eine Wespe fliegt davon. Aber da hatte eine Spinne immer zwischen zwei Dolden das Netz gewoben und nun ist die Wespe fast, fast hineingeschossen. Sie hatte schon den Rand gestreift und ein paar Fäden aufgerissen. Ein wenig Spinnweb hängt ihr noch an den Flügeln. So schwirrt sie fort. Und die Kreuzspinne im Schlupf, sehr ihr, wie sie in der ersten Freude aus dem Winkel krabbelt und nun stutzt und zurück will? Sagt, ist das nicht ein Spitzen für Vorhänge?«

»Famos!« entschlüpfte es Corneli rückhaltlos. »Meisterhaft!« Sein Altes Stickmeisterauge prüfte kennerhaft Faden um Faden, die offene, schleierhafte Partie und die Füllung, die Stiche, Linien und Pünktlein und das durchbrochene Gatter, hielt es gegen das Licht, gegen den Schatten und wiederholte: »Ausgezeichnet ... nein so was! so was!«

»Aber Herr Götti, Ihr sprachet noch eben von Geschnörkel ...«

»Sei still! Was verstehst du und schwatzest da, still!« verbot Corneli. »Ich sagte vor zwei Monaten, der Hannes soll seinen Einfall probieren und dem Zellwig vorlegen. Mir schien, das könne glücken. Wisset, Hochwürden,« wandte er sich lehrhaft an den Kaplan, »Zwischen einem freien Entwurf und der Maschinenvorlage ist ein himmelweiter Unterschied. Das eine kann prächtig scheinen und das andere doch ganz nichtssagend ausfallen. Da braucht es einen alten, erfahrenen Blick. Aber hier trifft’s einmal glorios zusammen. Brav, Göttibub, das ist nun doch was anderes als die zwei Hände am Triumphbogen ... füll’ ihm das Glas nochmal, Cecili! ... und noch verkehrt aufgehängt. Schau, Bürschlein, für unsere Industrie hast du eine begnadete Hand. Ein famoser Musterzeichner kannst werden ...«

»Musterzeichner!« Wieder kräuselte Johannes seine fischkalte Lippe und lächelte für sich hin.

»Aber gerade darum darfst nicht schon zu vornehm tun, sondern gleich an die Maschine und selbst sticken! So lernst ihren Schnauf und Willen kennen, was ihr passt und wider den Strich geht, und danach zeichnest du und erfindest uns Stickmuster, dass den Herren in St. Gallen die Augen überlaufen. Und recht viel Neues hinein, nicht bloss diese Wespe da ... übrigens, eine fleissige Biene hätte mir viel besser gefallen! ... nicht bloss das, sondern du spinnst unser liebes Toggenburg, seine Hügel und Häuslein, unsre Geissen und Alphüttlein, kurzum unsere Seele hinein ...«

Ganz eifrig und langatmig war Corneli, der bündige, diesmal geworden. Ein wenig müde neigte er sein Patriarchenhaupt leicht nach alter Gewohnheit auf die rechte Achsel.

Johannes ward weder dunkel, noch bleich bei dieser seltenen Lobesfanfare eines nüchternen, scheltenden Greises. Er verstand das von der Seele nicht und betrachtete fast verliebt seine Fingerspitzen. Dann fuhr er mit der Rechten über die Schieferplatte, als erschaffe er einen Haufen Figuren. Es quecksilberte ordentlich in ihm. Schliesslich ergriff er die Jasskreide, schob die Karten weg, musterte mutwillig das Profil des Corneli und fing plötzlich zu zeichnen an. Langsam entstand das prachtvolle Antlitz mit den langen, dünnen Strähnen, wie sie frauenhaft an den Ohren hinunterflossen. Sorglich, sachte, sachte zog Johannes Linie um Linie, aber sicher und genau. Nur Cecili, die alles sah, merkte auf, wollte zuerst die Nase auswischen, wartete noch, staunte, fing an zu bewundern und bald immer tiefer sich in dieses blasse Genie und sein Werk zu vergaffen als wie in einen Zauber. ‘Herrgott, guckt mal,’ wollte sie rufen. »Pst,« machte der Jüngling und spitzte voll Eifer seine bläulichen Lippen.

Indessen verteidigte das unnachgiebige Mili seinen vergötterten Johannes.

»Die Hände am Bogen?« tat sie erstaunt. »Die waren recht gut getroffen. Ich musste ihm herhalten, so etwa!« Sie ahmte die damalige Haltung nach. »Und haarscharf, so hat er’s gegeben.«

»Das wollt’ auch ich gerad’ sagen,« bemerkte der Kaplan, »es ist exakt. Und auch der Engel über der Kirchentür ist nicht übel geraten. Woher hat er den genommen? Hat das Mili etwa da auch als Modell herhalten müssen?«

»Ach, Hochwürden!« schmollte die Jungfer. »Den hat er aus einem alten Kalender. Er klaubt und spioniert aus allem etwas. Und das Stickmuster hat er auch in hinter dem Haus gefunden, wo unser Holunder wächst. Es hat da unsinnig viele Wespen.« Dass Heli eigentlich diese Dinge der Natur sah und erst dem Johannes mundgerecht machte, verschluckte sie.

»Ein wenig dem Heli an der Maschine beistehen, das mag er ja,« begütigte Euseb gelinde gegen den Ammann. »Aber sich nicht der Maschine verschreiben! Die Maschine tötet den Künstler. Er soll ausserhalb von Pedal und Manual bleiben, frei beobachten, üben, studieren, unablässig zeichnen und vielleicht eine Zeichnerschule in St. Gallen besuchen ...«

»Hoho, Ihr geht gerade hoch hinaus ... Setzt ihm nur keine Mücken in den Kopf!« bat Corneli. »Einstweilen findet er bei uns genug zu lernen und zu lehren. Ich lernte mich selber lesen und schreiben. Unter dem Kopfkissen hatte ich nachts das Schnupftuch, weil ich vom nassen Webkeller tagsüber den Schnupfen bekam; aber neben dem Nastuch lag meine Schiefertafel und ein Griffel, und mit dem gleichen Lumpen hab’ ich die Nase und meine Fehler von der Tafel geputzt. Dann probiert’ ich ein Artikelchen ins Bezirksblatt. Es betraf einen voreiligen Baumschlag in einem unreifen Tannenwäldchen. Nur weil die Gemeindekasse Hunger hatte. Es traf. Aber noch schrieb ich etwa hinter mit einem d und vorder mit einem t. Aber die Schiefertafel in der Nacht hat mich bald kuriert. Dreissigmal schrieb ich die Korrektur, und noch im Traume sah ich ein Hinter mit einem ausgerupften d durch die Luft fliegen. So setzt’ ich nun grössere Aufsätze ins konservative Hauptorgan. Kein Lehrer hat mir geholfen und doch wurd’ es recht. Viel kann man ganz selbst! Und behält dabei sein Eigenes. Keine Bank rutscht es ab ... Johannes, alles was recht ist, meinethalb! Aber jetzt bild’ dich so recht im Stillen und für dich, such’ und schau’ andern nichts ab, sondern der Natur und den guten Büchern, gib dich selbst, sei es auch mit hundert Fehlern. Die sind Nebensachen und fallen einmal wie dürres Laub vom soliden Holz ...«

Alle horchten ehrerbietig dem Alten zu; alle fühlten, dass da fast ein Jahrhundert mit seiner Erfahrung rede. Nur der, den es anging, schien den Kern der Ermahnung nicht zu sehen.

»Keine Angst!« versprach Johannes wohlgelaunt, »ich lauf’ Euch nicht fort. Noch etliche solche Stickmuster will ich erfinden, ‘s ist recht kurzweilig. Dann aber mal ich der Totzbarbara das Bild mit dem Esel, sobald ich die Farben hab’. Und der Pfarrer soll gesagt haben, er hätt’ mir Arbeit für drei Jahre, denkt!«

Spöttisch schüttelte Corneli den Kopf. »Will er etwa den Turm anstreichen? Mach’ du nur keine dummen Sprünge mit! Bleib’ bei den Mustern! Das Figürliche, glaub’ mir, passt dir nicht. Zu solchem braucht es eine dicke Phantasie. Ihr Täler habt ein zu dünnes, nüchternes Blut ... Der Julius ja, ... Reden wir nicht davon!«

»Wartet erst,« bat Johannes sorglos.

»Ja, lieber Corneli,« wünschte auch Eusebius zutraulich, »warten wir! Das Egidibild soll die Probe sein, was Euer Göttibub kann. Dabei ist er ja für die Stickerei nicht verloren.«

»Aber das da,« rief nun doch die Cecili fast widerwillig ins Geplauder, und zeigte auf den Schiefer, »das ist mein Seel’ mehr als ein Stickmuster. Da guck dich an, Schatz! So bist! Mit zehn langsamen Strichen hat er dich auf die Platte gekreidet. Schöner nützte nicht!«

»Ei, ei,« lachte Corneli und errötete leicht, obwohl er längst etwas gerochen hatte, »du Tausendsfeger! Soll ich das sein? Sogar das Wärzlein unterm Ohr hat er nicht ausgelassen. Je, je, je!«

Alle bogen sich über den Tisch, das Mili stolzierte mit ihrem blonden Kopf in die Höhe und nickte: da seht, so einer ist er, alles kann er! Doch plötzlich tunkte Johannes den Daumen in seinen Most und strich kreuz und quer das Greisenhaupt aus.

»Oh,« scholl es bedauernd und empört. »Dummer! du!« Die Cecili hieb ihm eine ums Ohr.

»So was mach’ ich in fünf Minuten wieder« rühmte Johannes und lächelte allen mit seinen kleinen, verkitteten, schneeweissen Zähnen und den frostigen, aber blitzendklaren Augen eine stille Entschuldigung ins Gesicht. Es war, als narre er die Menschen und wisse es nicht einmal.

»Sofort zeichnest du das wieder her,« befahl die Cecili und langte einen Zweifränkler aus der Tasche. »Sofort!«

»Still gehalten,« bat Johannes nun, aber zum Kaplan, »still doch,« bat er nochmals dringender mit seiner leisen, kleinen, in der Kehle etwas rauhen Stimme. Und langsam, langsam, indem er dafür die Augen vogelschnell vom Original zum Bild hin und her flattern liess und mit dem kleinen Finger ab und zu etwas auswischte, erstand das genaue Kaplanenhaupt mit der grossen Henkelnase, dem langen, dünnen Gelehrtenmund, den abstehenden Ohren und dem verstraussten Vogelnest auf dem in der Mitte abgeplatteten Schädel.

Alle sahen mit fiebriger Neugier diesem zögernden, aber so sichern Schleifen der Kreide und diesem noch nie erlauschten Lebendigwerden auf dem schwarzen Steine zu. Cecili verhielt ihr Gewohnheitshüsteln vor Angst, sie blase damit den ganzen Zauber weg.

»Nein, aber so ein Haken soll meine Nase ...«

»Akkurat so,« marterte Cecili boshaft, »so einen Kirschenhaggen ... um Früchte von fremden Bäumen herunterzuholen ...«

»Und die Ohren! Grösser als der übrige Kopf?« beschwerte sich Euseb.

»Nur ruhig! Ihr predigt und redet ja so gern von den Tieren, die solche Ohren haben.« Dabei liess sie unversehens das Silber wieder in ihren Sack fallen.

»Du Erzschlingen,« eiferte der Kaplan, »ich gebe reumütig zu, das bin ich. Aber nun schnell den Schwamm darüber! Da hast einen Fünffränkler. Jetzt kauf’ gutes Papier und weiches Blei und fang’ an, unser Dorf abzuzeichnen. Mit dem Corneli und dem Pfarrer beginnst ... die zahlen gut! ... Dann steigst hinunter vom Goldstück zum Silber und zum Nickel des Hundertjosefs, des armen Narren ... Unser Pfarrer aber ...«

»Euer Liebden zu Befehl, da bin ich ...« erscholl ein machtvoller Bass von der geöffneten Stubentüre, und im tiefen Rot der Abendsonne, das die Küche füllte, grüsste das purpurne Gesicht des Carolus Bischof in die Stube herein. »Gott grüss’ Euch, muntere Leute alle miteinander!«

Kapitel 6

Das Stubenvölklein fuhr, als ob es bei unrechten Dingen ertappt worden wäre, verlegen vom Tisch auf.

»Ich habe dreimal geklopft,« entschuldigte sich Carolus.

Langsam reichte ihm Corneli die Hand und bot ihm den Ehrensitz oben am Tisch, wo er selbst thronte. Aber das Mili musste den von einem Teppich wie ein Heiligtum überdeckten Armstuhl aus der Ecke daherrollen. Die ganze Majestät des Hausherrn kehrte in den Corneli zurück, als er gebot: »Den Armstuhl her! Cecili, eine frische Flasche vom Goldäpfler und das Kelchglas mit den Goldborten!«

Auf dem Tische lagen noch die Karten, die Kreidezeichen des Jasses und das Profil des Kaplans.

»O Sie alter Sünder,« grüsste der Pfarrer lächelnd den Kaplan, aber sah taktvoll über die Zeichen der Sünde hinweg. »Hoffentlich haben Sie auf Haut und Haar alles verspielt ... Und ihr da,« herrschte er gnädig die jungen Leutchen an. »Das ist doch das Mili und das der Künstler. Hab’ dich auf die Fünfe erwartet, rare Jungfer, aber,« fügte er gleich ehrlich hinzu, »auch ich war nicht zeitig zur Stelle.«

»Sofort wär’ ich jetzt gekommen, im Augenblick,« schoss das Mädchen ohne Zaudern wie eine Kugel ins Wort. »Ich wollt’ den Johannes mitbringen. Auf die Fünfe, ja, ... aber, da haben wir uns bei seinem Zeichnen vergafft.«

»Schon gut,« beruhigte der Pfarrer. Er bat den Ammann, neben ihn zu sitzen, rückte ihm so nahe, als ein Grosser einem Grossen kann, stiess nur mit ihm an und bei der zitterigen Hand und Stimme des Corneli begann eine unterdrückte Rührung in ihm wieder aufzusteigen.

Zwar beim Kranken auf dem Wildberg und im Altersheim hatte er nur Ungutes, Geiziges, Unterdrückendes von Corneli zu hören bekommen. Das fuhr ihm jetzt wieder wie eine blitzartige Repetition durch den Sinn, indessen man sich in der Ammannstube mit den ersten nichtssagenden Fragen und Antworten behalf.

Corneli habe den einzigen, sehr geweihten Sohn des Alberti, der durchaus nach den höheren Schulen dürstete, von diesem Wagnis, wie er sagte, fast mit Drohungen abgehalten, da er eine Hypothek auf dem Wildbergwäldchen jeden Augenblick künden konnte. So fesselte er den überschwellenden Jüngling an die Maschine, und der Bursche, der hell und keck wie eine Drossel gewesen, ward nun düster, menschenscheu, las nichts, spielte nicht, ging Sonntags zu keinen Gespanen, stickte, stickte und schlief, schlief, war eine Maschine, mit einem Rädchen zu viel, behauptete Corneli, aber beim Studieren wäre aus diesem Rädchen ein Rad geworden, das ihn und die Familie zermalmen würde. Carl hatte vor Grimm kaum recht zuhören können.

Sonst war es einsam und schön dort oben, wo das kleine, niedrige Haus im Winde stand, und auch das Stübchen mit seiner heimlichen Stiege in den Keller und in die obere Kammer atmete Gemütlichkeit. Aber die Alten hatten ihre liebe Not, die Zinsen für den magern Boden und den Wald zusammenzubringen. Nun litt der Vater am Magenkrebs, konnte fast nur noch dünnen Brei geniessen, las tags in alten Kalendern, ohne zu merken, dass er die gleichen Geschichten schon dreimal gelesen, und paffte und dampfte aus seiner Pfeife, so schädlich das war, vom Morgen bis zum Abend und selbst noch im Bett durch die schlaflosen Nächte hindurch. »Etwas muss der Mensch haben,« sagte er bitter, »und wär’s nur noch der Rauch vom Rauch. Nehmt,« zürnte er, »nehmt mir noch den Tabak weg, aber dann bettet mich nur gleich in die schwarze Kiste!«

»Wir sehen oft wochenlang keine Menschen hier oben,« erzählte die rührige, herrschende Frau mit zwei hüpfenden Mausäuglein im breiten Gesicht. »Und wir sind froh darum. Kämen nur keine! Mit ihnen kommt immer nur Ärger hinauf.«

»Da hätt’ ich also hübsch unten bleiben sollen,« spasste Carl.

Die Frau schlug erschrocken ihre kurzen Arme zusammen. »Ich hab’ doch gesagt, die Menschen ... die Menschen ...«

»Jawohl und ich bin doch auch so ein verflixter Mensch!«

»Nein ... ja ... aber anders! Mit Euch, Herr Pfarrer, kommt ein Stück vom lieben Gott zu uns ... Man darf doch so sagen? ... Ja, ein wenig Himmel! Mit den anderen ...«

»Der Teufel! ... sag’s nur,« warf heiser der Kranke in der Tischecke, den bei diesem schwülen Wetter noch fror, grob in die Stube hinaus. »Es sei denn, man bringe mir am Samstag meinen Beutel Tabak.« Dann blies er einen vollkommenen runden Kringel gegen die Diele.

Die Frau zuckte mit der Achsel gegen den Pfarrer: entschuldigt ihn! Laut sagte sie: »Wenigstens saure, saure Erde, Staub und Unruh, das wohl ...!«

Die Einfachheit dieser Sätze rührte, ja beschämte den Pfarrer. O ja, das will ich nie vergessen, nahm er sich vor, was diese Frau ebenso schön als ungeschickt gesagt hat. Ich will nur von Gott, nichts von Welt und Weltstaub in meine Herde tragen. Und er plauderte nun farbig und warm, wie er so gut konnte, erzählte, scherzte, lachte, lud den abwesenden dreissigjährigen Sohn, der zur Maschine verhärtet sei, auf Sonntagabend zu sich ein und füllte die engen Räume mit einer Art von heiliger Sorglosigkeit aus. Der Jeremi Alberti vergass sogar die Pfeife zu stopfen und fühlte ein Weilchen die hässliche Üblichkeit im Unterleibe nicht mehr.

»Ich werde Euch helfen, so gut ich kann,« versprach Carl. »Im Wäldchen sah ich ein paar schöne, alte, reife Eichen. Wie Türme schossen sie auf. Mein Kirchturm ist dagegen nur ein Krüppel. Vergebt sie noch nicht! Ich hab’ etwas im Sinn und kann sie besser als jeder Händler bezahlen. Wenn ihr euch nur noch ein paar Monate geduldet!«

Voll neugieriger Hoffnungen blickten die Eheleute den Sprecher an.

»Man sagt,« lenkte Carl ab, »es gebe jetzt nichts Besseres für den Magen als eine fein ersonnene Art Kunstwein. Darin sei Eisen, Ei und allerhand Zeug, was den Mensch brauch’, in einer so verdaulichen Weise zusammenstudiert, dass den schwächlichste Magen es vertrag’ und behalt’. Meine Peregrina trinkt täglich ein Schlücklein. Jeremi, probiert das einmal! Ich geb’ Euerm Sohn dann gleich ein Gütterli voll mit. Aber,« drohte er noch unter der Tür scherzhaft, »nur löffelweis zu nehmen!«

Von da stieg Carl die Rücklehne des Hügels hinunter in den tiefen Jochsattel, wo sich fast an gebirgig engem Fleck das katholische Lustigern, das viel grössere protestantische Uzli und das paritätische Lüthun zum Willkomm, wenn sie Frieden haben, zum Abschied, wenn sie zanken, die Hände reichen. Und auf diesem Dreiländerpunkt steht ein gemeinsames Altersasyl. Sein Hausvater mit einer traditionellen Selbstverständlichkeit, aber auch die überwiegende Mehrheit derjenigen, die in diesem uralten, oft geflickten, vielkammerigen Hause ihr Gnadenbrot assen, war protestantisch.

Dem jeweiligen Pfarrer von Lustigern lag es ob, die katholischen Gäste zu pastorieren. Gewöhnlich wussten die frühern Kilchherren nicht einmal, ob dort zur Zeit überhaupt Katholiken hausten, bis dann vom nicht sehr gewogenen Hausvater plötzlich einmal ein Bote in den Pfarrhof sprang und schrie: schnell, die Frau so und so sei am Sterben und begehre soeben die Sakramente. Man müsse sich sputen ... Und nun gab es ein Gehetz und Gewirbel und der schweissgebadete Priester musste froh sein, wenn er noch knapp vor dem letzten Atem mit dem Armen hatte ein sakramentales Wort reden und einen göttlichen Trost in die fliehende Seele hatte werfen können.

Das kühle, fast feindliche Verhältnis zwischen dieser Anstalt und dem Lustiger Pfarrhaus wollte Carolus als guter Hirte in ein höfliches und dienstfertiges umwandeln. Er wollte jede Woche einmal auf so weitem Weg die paar Katholiken hier aufsuchen und ihnen jeweilen eine religiöse Übung, sich selbst aber eine regelmässige Kontrolle über die grauen, greisen Schäflein verschaffen, die er hier, sozusagen nur in einem Anbau seiner Hürde, beherbergen durfte und die ihn darum nur um so nötiger hatten. Vielleicht mit der Zeit würde die Asylkommission und sein Bischof ihm gestatten, hier in einem kleinen, saubern Lokal sogar die heilige Messe zu feiern, damit diese Verlassenen in den letzten Tagen ihres Erdenwandels nicht halb verhungern und verdursten müssten, so getrennt vom Wunder- und Gnadenleben, in dem sie doch einst familienwarm aufgewachsen waren.

Carl vertraute auf den Zauber seiner persönlichen Erscheinung und seines beredten Umgangs und vor allem im rechten Augenblick auch auf eine glückliche Idee. Er hatte sich nicht verrechnet. Zwar konnte er nur mit dem dreissigjährigen Sohne des Hausvaters reden, einem studierten, sozialen Kopfe, Doktor phil., der seit kurzem für den schwerkranken Vater das winkelreiche Haus leitete. Dieser bekannte sofort ehrlich, je öfter die Pfarrer zu ihren Schäfchen in die Anstalt kämen, um so lieber sei es ihm. Denn vom geistlichen Wohl hänge doch das leibliche wesentlich ab, und er möchte gerade, dass seine greisen Mietleute immer lachten und spassten und sich recht daheim fühlten. Dieser junge, farblose, ernste Mann mit einer merkwürdigen, senkrechten Furche die Stirne hinunter zur Nasengrube zeigte dem Pfarrer dann die neu getäferten Kammern, die ausgebrochenen grössern Fenster, die hellen Lärchenböden und in jedem Stüblein einen Blumenstock und einen bequemen Lehnstuhl mit einem feuerroten Sitzkissen.

»Das wird ein schönes Geld gekostet haben?« fragte Carl, »so einen Rumpelkasten bequem und fröhlich machen?«

Der Dr. phil. erzählte nun, dass sie den Corneli aus der Kommission wegwählten, weil er mit seinem angesehenen Nein die nötigsten Ausgaben verhindert habe. Das ist Luxus! Wir haben es einst nicht halb so gut gehabt! Mit solchen Argumenten habe er die ältern Herren regelmässig geangelt. Es sei dann eine lustige Fastnacht gewesen, wie man diesen Alten wegschob. »Soll ich« ... Doch der Pfarrer wehrte zartsinnig ab. Er mochte über seinen Gegner nichts Unfreundliches von einem Nichtkatholiken hören.

»Der Arzt,« fuhr der Dr. phil. fort, »hat geradezu behauptet, dass wir während der Grippe vor zwei Jahren nicht die Hälfte Särge gebraucht hätten, wenn im Haus nur die Abtritte, die Luft und Wasserzufuhr gebessert worden wären und man dem Licht mehr Einlass gewährt hätte. Aber der Bölsch sagte: ich bin achtzig, ich werde wohl neunzig, und doch hab’ ich viele Jahre in einem Keller, der eher ein Morast war, gewoben und noch heute hab’ ich den Stall und seine Düfte neben meiner Schlafstätte ... Herr Pfarrer, dieser zähe, alte Neinsager ist ein Radschuh für jeden gesunden Fortschritt. Sie werden es schon noch erfahren ...«

Carl blickte abseits, aber ein wahrer Abscheu würgte ihn vor diesem Corneli. Hat er denn nicht einmal vor einem Menschenleben Respekt? Und das auf dem Wildberg Vernommene grollte drohend in diese neuen Anklagen. Das wäre noch schlimmer, ein junges Bäumchen knicken, Herrgott, es wird doch nicht alles wahr sein!

»Es ist Ihnen unangenehm,« bemerkte Eugen Dott, der Dr. phil., »lassen wir das Thema! Sie denken nun vielleicht: wozu aber sogar herrschaftliche Stühle und dazu mit so roten, hübschen Kissen. Ich bitte Sie, dieses Kissen ist mir furchtbar wichtig.« Mit geübtem Dozententon spann er weiter: »Das Alter will nichts mehr als einen stillen, guten Hock. Das Kind springt, der Jüngling marschiert und ficht, der Mann steht, steht stattlich und fest auf dem Posten, aber der Greis sitzt. Nicht?« fragte er, die Wangen leicht gerötet und selig, als hätte er in dieser einfachen Darlegung etwas gedeutet, das vor ihm keinem eingefallen war.

Carl Bischof lächelte zustimmend. Der Mann gefiel ihm.

»Und nun muss ich ihm das Sitzen wenigstens bequem machen, denn wie er sitzt, so denkt und so lebt er. Sein Dasein hängt förmlich von seinem bessern oder mindern Sitzen ab. Darum soll er sein Kissen haben. Und rot muss es sein. Alte Leute lieben keine Farbe so wie das Rot. Ich machte die Probe, zeigte Grün, Blau, Lila, aber alle Finger wiesen nach dem Rot, nur ein verwitterter Kauz zeigte auf Geld, denken Sie, gelb! Aber der ist nicht normal.« Herr Dr. Dott fuhr im Zickzack über die Stirne.

»Das klingt ja ganz seltsam,« versetzte Carolus, »und eigentlich doch so natürlich. Was weiter?«

»Seit meine alten Zeisige nun diese roten Kissen haben, seh’ ich auch rötere Gesichter, kein Spass, Herr Pfarrer, man lacht mehr, seufzt weniger, tut friedlicher. Nicht wegen dem Rot, das ist und bleibt doch nur eine Farbe, aber wegen all dem, was dieses Rot als geschickter Schlüssel im Menschen öffnet, auslöst, so dass verhockter Trödel und Staub auseinanderstiebt, und Edles und Inniges, was unter solchem Schutte lag, wieder aufstehen und wirken kann ... O es ist schön!« sagte Eugen Dott leiser, in einer Art von selbstvergessenem Jubel, und strich sich wie geblendet über die Augen.

»Ich freue mich, heute so einen verständigen Mann kennen gelernt zu haben,« bekannte Carl und suchte die Hand seines Führers.

»Eine alte, griesgrämige Judith keifte immer mit ihrer Zimmergenossin, der geduldigsten im Haus, einer Katholikin – Herr Pfarrer, mein Kompliment. Seit sie das rote Kissen hat, ist sie wie gewechselt. Nur dass sie immer meint, das andere Kissen sei noch röter und siebenmal im Tage mit der Clara Höfler tauscht. Jetzt geb’ ich ihr noch einen roten Kniewärmer und rote Finken, dann ist sie selig ... Aber nochmals, das sind alles nur äussere Behelfe,« gestand Herr Eugen Dott wie erwachend aus seinem roten Himmelreich und viel ernster im Ton. »Das beste Rot kommt von innen, von dem, was der Mensch glaubt und liebt. Und da,« der Dr. phil. verbeugte sich, »ist mir der echte Geistliche ... verstehen Sie! der Gei ... st ... liche ... immer willkommen, der katholische von Lustigern, der evangelische von Uzli und der Reformer von Lüthun. Wenn sie nur das echte Rot besitzen, will sagen, wenn sie nur dem Geist dienen, sonst wären sie ja schon mit ihrem prachtvollen Namen Lügner und hiessen besser als irgendwer Leibliche, Materielle, Staubknechte ...«

Geistreich, dachte Carolus. Aber die Gleichstellung der drei versauerte ihm ein bisschen den Vortrag. Es gibt denn doch verschiedene Rot. Immerhin, dieser junge Mann war kein Hetzer, wie sein Vater es gewesen. Eine reine, kluge Ehrlichkeit lag auf seinen sanften Lippen. Er hatte Respekt vor etwas Ganzem.

Zuletzt, nach allem Zeigen und nach einem herzlichen Gruss bei den drei katholischen Insassen, wo Eugen den Pfarrer taktvoll allein liess, wollte er absolut, dass der Pfarrer noch seinem Vater Guttag sage, eben dem Hausvater, mit dem durch fünfzig Jahre alle Lustiger Pfarrherren offen oder heimlich in Fehde gestanden. Carolus machte ein halbes Dutzend Ausflüchte, denn er empfand einen geradezu unbesieglichen, ihm selbst unerklärlichen Widerwillen zu jenem fanatischen Hasser aller, die nicht orthodoxe Protestanten waren, ohne einen amtlichen Anlass in die Kammer zu treten. Aber Eugen gab nicht nach und der Pfarrer ergab sich drein.

Der Hausvater befand sich im hellsten Punkt des Zimmers, halb sitzend, um besser zu atmen, zu Bette, sah fahl, bläulich und aufgedunsen aus und hatte neben sich ein Fenster offen, in das ein Zwetschgenbaum schaute und von irgendwoher ein tiefes Bienengesumse musizierte. Hals und Wangen waren seltsam grau, die weissen Haare nass, die Arme dick, selbst die Finger noch wie kleine Würstchen, so geschwollen. Offenbar stand er in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Wassersucht. Mit einem giftigen Blick traf er auf den Mann mit seinem blühenden Überschuss von Gesundheit. Alles, was so schrecklich gesund war, verletzte ihn schwer.

»Vater, der Pfarrer von Lustigern beehrt uns.«

Der Kranke nickte höflich, ohne die geballte Hand, die er in die Decke verknüllt hatte, zu bewegen. Eine ungeheure Wut, um jeden Preis zu leben und diese Krankheit von sich zu schütteln, glühte aus den alten, katzengrauen Äuglein.

Merkwürdig, kaum hatte Carl den Patienten erblickt, so waren alle unangenehmen Gefühle, wie er sie noch eben empfunden, wie weggeblasen. Nur ein ungeheures Erbarmen mit diesem zähen Greis blieb übrig. Er kam ihm wie ein Ertrinkender vor, der ans Ufer emporklimmt, aber immer wieder in die Flut zurückfällt, da die Wände nirgends eine Handhabe bieten. Er probiert wieder und wieder, und die helle Verzweiflung vor den grünen Untiefen schaudert aus seinen Augen; aber alles ist umsonst, er ist nicht zu retten.

Carolus fühlte diese Verzweiflung wie mit einer Inspiration. Er beugte sich mit der ganzen, unschuldigen Bläue seiner Augen herunter und sagte ergriffen, wie sehr er sich gefreut hätte, den Leiter einer so schwierigen, paritätischen Anstalt ausser Bett begrüssen zu können. Beim Wort »ausser Bett« huschte etwas über das geschwollene Gesicht wie Licht und Schatten nacheinander.

Noch tiefer beugte sich Carl zum Leidenden und nun, da er den Atem und die Angst, sozusagen das entsetzte Herumflattern dieser armen Seele, in sein Gesicht hinein spürte, überkam ihn etwas, wofür es keine Vorbereitung und keine Absicht gibt. Er sah, wie der Kranke plötzlich sich gleichsam mit dem ganzen Gewicht seiner Verzweiflung an ihn hing. Er sog den Brand dieser Augen, die nur noch ihn sahen, den Schrei dieser Lippen, die nur noch ihn riefen, den heissen Dampf dieser Lebenswut und Lebensnot, die ihn wie eine letzte, allerletzte Hoffnung umkrampfte, in sich ein und fühlte sich mit dem Hilflosen auf eine unerklärliche Weise verbunden. Dieser harte, kalte Greis, der so vielen Toten den Sarg bestellt und so oft den Wärter ungeduldig aus der Sterbekammer geklopft und gefragt hatte, wie lange das denn da drinnen noch dauere, merkte jetzt, wie ungeheuerlich das eigene Sterben ist. Vielleicht, wenn er jetzt nochmals auflebte, würde er mild, weich, väterlich und stürbe dann einmal im Guten dahin. Den Pfarrer überschattete auf einmal die Erinnerung an das Evangelium von der Totenerweckung durch Christus, vom Aufseufzen des Heilandes, von der göttlichen Urmacht über alles Sein und Nichtsein. Wie eine visionäre, zwingende Gewalt kam es über ihn. Auch er seufzte tief auf, sein grosses Auge ward nass, aber von Wundern leuchtend, er legte den Zeigefinger auf den ihn unverrückt Anstarrenden und geheimnisvoll Verstehenden und sagte dann mit einer Kraft, von der er fühlte, dass es nicht die seinige war: »Bruder, heilet Euch selbst! Werdet gesund! Gott hat Euch diese Macht gegeben. Ich weiss es, ich muss es sagen ... Glaubet es auch, glaubet es ...«

Dr. phil. Eugen Dott wurde blass und trat einen Schritt zurück. Der Kranke verzog das breite, bläuliche, fettige Gesicht, in dessen Spannung alle Runzeln untergegangen waren, zu einem unsagbar winzigen, feinen, hässlichen Geriesel von Lächeln. Aber es war eine selige, gläubige, seelenschöne Hässlichkeit.

Noch tiefer, so dass er ihn fast berührte, neigte sich Carolus nieder, immer unter dem gleichen ungeheuren Druck, dessen fast widerspenstiges Werkzeug er war, und keuchte wie aus einer unendlichen Wahrheitstiefe und Wahrheitsgewissheit herauf – »So ist es, das geschieht ... und Bruder ... dann bitt’ ich ... seid dann gut!«

Erschöpft und über sich selbst erstaunt erhob er sich nun. Es schwindelte ihm, alles schwankte vor ihm auf und nieder, er suchte die Türe. Ihn dünkte, es wolle ihm über etwas ganz Grosses die Brust schmelzen, seine eisenharte, gepanzerte Brust. Er vermochte keinen Gruss zu sagen, stürmte die Treppe hinunter und zum Tor hinaus wie ein Schlafwandler, und als er sich endlich klar und frech am Kopf lackte, um eine Erklärung über das Erlebte zu finden, befand er sich schon wieder hoch oben am Hügel in den Tannen, und ihm schien jetzt durchaus, er habe überhaupt nichts selber getan, er habe nur gespürt, wie ihn ein Gewaltiger in die Faust nahm und mit ihm machte, was er wollte.

Ist das Schwäche? Oder Stärke? fragte er sich. Macht es das neue Klima, dieses am Mittag so weiche und schwüle und am Morgen und Abend so herbe Lustigerklima? oder die sonderbare, nervöse Rede des Dr. phil. mit so viel Rot? Oder was? ...

Aber eine berauschende Fröhlichkeit durchbrauste sein ganzes Wesen. Er merkte, dass der Abendwind anfing, in die Äste zu greifen und immer stärker von den Kronen hinunter ins Land zu rauschen. Seine Seele orgelte mit. Lehnstühle mit Kissen, ja, und Sitzen und Ruhehaben, jawohl ... und dieser Kranke wird gesund, und wenn ihm das Herzwasser schon bis in die Kehle gestiegen wäre ... er will’s, er kann’s ... er hat die Gnade ... und so könnte man alle sieben Himmel spalten. Und dieses schöne Rot ... und wie er lächelte, wie ein Kind ... nie sah ich so himmlisch lächeln ... Er konnte noch nicht Liebe zeigen, er probierte es erst, es tröpfelte mit diesem Lächeln langsam heraus ... Ach wie lieb’ ich ihn! Küssen hätt’ ich ihn da mögen ... ob er auch ein noch so bitterer Pfleger war. Was wusste er, wie’s Kranksein schmeckt!

Und der Corneli! Der ewige Kopfschüttler und Neinsager, was weiss er, wie es Schwachen zumute ist ... Er war ja immer ein Starker! Was weiss er vom Elend derer, die sich einfach nicht helfen können ... Er konnte sich immer helfen! ... von den Ungeschickten, die keine Energie haben und denen kein tapferer Stern leuchtet ... was weiss er in seiner Felsenhaftigkeit davon? Noch niemand hat ihm gezeigt, dass Kraft nicht alles kann, dass viel neues viel besser ist als viel Altes. Dass man das Bessere so wenig aufhalten kann als dieses Bächlein neben mir. Zehntausend Corneliriesen könnten nicht einmal dieses Bettelwässerlein verheben, abwärts zu fliessen.

Oh, er ist gewiss gut, nur blind. Und wenn der Wassersüchtige dort noch gesund und weitherzig wird, so kann auch der Corneli noch weitäugig werden ... Ich bin jetzt im rechten Schwung. Es läuft mir alles nur so vom Herzen. Jetzt müsst’ ich reden können mit dem Corneli. Soll ich’s nicht nutzen? So wie ich bin, lauf’ ich jetzt gleich in seine Stube ... Und mit raschen Schritten, das Dunkle Haar vom Wind und von der innern Bewegung aufgewirbelt, nahm er bei der nächsten Verzweigung der Strässchen den kürzern Weg, bog um den Hügel und sah bald das Dorfnest behaglich wie eine schlummernde Katze in sich selbst verhaspelt und versponnen ... und den niedrigen, feigherzigen Kirchturm leider auch dabei.

Das sag’ ich ihm, heut hab’ ich Gnad’. Da darf man nicht zaudern. Überraschend muss es kommen wie alles besonders Gute.

Wie er dann aber durch die Hinterdorfgasse hinabmarschierte, um nicht von der Ammannstube schon zum voraus bemerkt und verschluckt zu werden, da ernüchterte seine Begeisterung von Schritt zu Schritt. Diese Enge zwischen schiefen, fleckigen Hauswänden, das schlechte, verbröckelnde Gemäuer der Hinterseite, die schmalen Gässchen, schlechten Zäune, unebenen Fenster und die Finsternis dahinter in den Stuben, die vielen nicht etwa von den Jahren, nein von der Arbeit verbrauchten Frauen, die er am Gallusbrunnen waschen sah, mit spitzen Ellbogen, schwachen Augen und wenig und zerfasertem Haar, und sogar der magere Rauch, wie er vom frühen Nachtessen schon aus einigen Kaminen fast wie ein Zeichen ungenügender Sättigung, fast wie Hunger, hervorquirlte und sofort im Wind zerfloss, statt eine blaue Danksäule gegen Himmel zu dampfen, das und der ungeheure Giebel des Cornelihauses, der alles übergipfelnd und erdrückend hinter den andern Häusern und über sie weg in die Abendluft ragte, das liess den Schwung des Pfarrers immer schwächere Fittiche schlagen, bis er an der Tür stand und am liebsten ungeklopft davongelaufen wäre. Was bin ich doch für eine Fahne! tadelte er sich. Ich überlasse nun alles meinem guten Schutzgeist. Er Pochte, hörte drinnen lachen, rufen, schuhscharren, das ärgerte ihn. Er klopfte wieder, ein drittes Mal und öffnete dann energisch. Und nun sass er oben am Tisch und fuhr sich an die Stirne, ob er nicht eine grosse Dummheit begangen habe, jetzt, gerade jetzt, bei seiner erhabenen Stimmung vom Altersasyl her, in diesen kleinlichen Spiel- und Scherzknäuel hineingerannt zu sein.

Kapitel 7

In der dunkelnden Stube ward es nicht mehr behaglich. Das fühlte Euseb aus dem Ton und Lachen seines Pfarrers deutlich heraus. Aber auch die beiden Bölsch witterten eine Peinlichkeit voraus und wappneten sich gegenseitig mit festen Blicken. Für heute ist es wahrlich genug, dachte Corneli, soll es noch was geben, so greife ich zuerst an. Dem schlauen Mili war, es stehe zwischen zwei Winden und sollte gleichzeitig mit beiden segeln. Es will gehörig aufpassen. Nur Johannes leckte seelenruhig den neuen süssen Most aus dem Glas und wartete neugierig, was für Aufträge ihm der Pfarrer wohl geben wolle.

In dieser niedrigen Bauernstube schien es dem Pfarrer, er werde erdrückt, der gewaltige Gemeindepräsident fülle den Raum völlig aus. Nie war er ihm so gross erschienen, und doch sass Corneli neben ihm auf einem viel niedrigern Sessel und prahlte nicht und überhob sich nicht.

Die Fliegen schwankten abendlich schwer und müd’ von den Ställen her in die Stube, aber, vom Duft des süssen Trunkes gereizt, wurden sie lebhaft, sassen auf die Kelche und schwirrten um die Gesichter oder suchten die Hände und das feuchte Haar der Gäste. Corneli, weiss und kalt wie eine Leiche, liess sie ruhig über seine Stirne füsseln. Dem Pfarrer jedoch war es schon unerträglich, wenn sich eine auf seine dicken Krausen niederliess. Eine besonders aufdringliche, die ihm immer wieder gegen die kurze Nase stiess, liess er schliesslich auf dem Ärmel absitzen, dann zog er mit der hohlen Hand mächtig aus, als gälte es einem Adler, schwapp, da hab’ ich sie!

»Keine Rede,« neckte der Kaplan, »da hinüber schoss das Ungeheuer.«

»Und ich hab’s,« wiederholte Carolus und löste vorsichtig Finger um Finger. Leer war die Hand. Johannes lachte hell auf.

Da fasste Corneli ein Herz und sagte leise, aber sehr deutlich über den ganzen Tisch: »Wir haben einen Spruch, Hochwürden. Der passt zu diesem Streich und ist mir immer ein braves Motto fürs Leben gewesen:

Mit zu viel Kraft Nichts errafft. Mit zu viel G’walt Nichts erhalt. Doch mit Warten, Weil und Ruh Trägst am weitesten den Schuh.«

Eine Totenstille entstand. Carolus sah den Ammann forschend an und antwortete dann ruhig: »Aber man könnte auch so reimen:

Doch mit blosser Weil und Ruh Bist der Friedhof selber du.

Den Toten das Warten! Wir Lebendige wollen uns rühren und regen.«

»Ach, liebe Herren, das sind Sprüche. Wie man sie stellt, immer stehen sie aufrecht gleich Rädern und rollen, rollen und bleiben rund. Aber Sie, lieber Herr Pfarrer, sind sicher gekommen, um zwei Fliegen in einem Streich zu fangen, das Mili und den Hannes. Ich wett’ was drauf.«

Dabei blickte er so traulich und bescheiden auf den Pfarrer und lächelte so verschmitzt zu den Tälern: ja, um euch zwei geht’s, passt nur auf! Ihr werdet nun was hören! ... dass das kleine Gewitter sich sogleich verzog.

»Fri-do-lin!« drohte der Pfarrer zum Kaplan. Niemand verstand das Wortspiel ausser den beiden.

»Ein treuer Knecht war Fridolin,« deklamierte plötzlich Johannes. Er liebte Gedichte, wusste eine Menge auswendig und glaubte einen Witz mit dem Zitat zu machen.

Carl und Euseb mussten über diesen Einfall herzlich lachen. Versöhnung wob sich mit der Abenddämmerung still wie Samt über die seltsame Gesellschaft.

»Nun, du lauter Jüngling,« begann Carolus, »bist die erste Fliege, die ich also packen muss. Sag’, wagtest du, das Zifferblatt am Kirchturm frisch zu malen?«

Eine heillose Verblüffung trat ein. Man traute seinen Ohren nicht. Niemand hatte an eine solche Möglichkeit gedacht.

»Aber,« wandte Corneli endlich langsam und feierlich ein, »aber ...«

»Bist schwindelfrei?« fragte Carl, ohne dem Ammann zuzuhören. »Ein Gerüste gibt es ja wohl. Aber etwas lauter geht der Blick schon in die Tiefe.«

»Oh, wegen dem ...« versetzte Johannes geringschätzig.

»Warum dann also nicht?«

»Das ist doch Flachmalers Sache!« entgegnete der feine Bursche vornehm.

»Was solche Reparatur anlangt,« mengte der Ammann sich wieder ein ...

Carolus liess ihn nicht ausreden. »Ei, seht einmal, Herr Ammann, wie sich dieser Rafael schon spreizt! Da gibt es doch schöne grosse Zahlen zu malen und zu vergolden. Was für stolze Typen findet man da! Dann der Hintergrund! Das ist gar nicht so einfach, nicht wahr?« wandte er sich noch dringlicher an Corneli, um den Machthaber durchaus in seine Sache zu zwingen, »nicht wahr, Herr Ammann? Ihr selbst habt ja das frühere Blatt malen lassen. Recht gut, das hör’ ich allgemein ... Alle alten Leute sagen mir, wie es ursprünglich geglänzt habe ... Nein, Hannes, das ist gar nichts Einfaches. Die Farbe muss gut gewählt werden. Sie soll der Sonne tapfer widerstehen. Jetzt sieht man nicht mehr, wie es früher war. Kaum die Stundenziffer ist noch lesbar. Die Zehn sieht wie eine Fünf aus und die Elf wie die Eins. Nein, so ist es unhaltbar. Aber einst war’s brillant. Der Grund war hellblau, nicht, Herr Ammann?«

»Grünlichblau, aber ziemlich hell,« versetzte mit zitternder Stimme der Ammann. »Zu hell, ich wollt’s etwas dunkler haben. Es hätt’ sicher braver gehalten ... Aber zur neuen Angelegenheit habe ich als Kirchenverwaltungspräsident vor allem zu bemerken, dass ...«

»Lieber, lieber Freund Corneli,« bat der Pfarrer und wehrte mit der Hand gleichsam die hochoffizielle Behandlung ab, »lasst uns jetzt nur probeweise das Technische und Künstlerische besprechen. Dann bin ich ganz Ohr ... Auch die Zeiger müssen frisch vergoldet werden. Vielleicht passen sie überhaupt nicht mehr. In Wyla soll man zwei Finger geformt haben, weiss und schwarz, Maria und Martha ... Es soll grossen Eindruck gemacht haben ...«

»Ja, eine Fastnacht! Gehen Sie nur selber hinschauen,« bemerkte Cornelius sehr bestimmt. »Alle Verständigen schütteln den Kopf darüber.«

Jetzt knoteten sich die Aderstränge an den Schläfen des Pfarrers merklich und die kleinen, runden Ohren färbten sich dunkel.

»Hast du’s auch gesehen, Eusebi?« fragte er barsch über den Kopf des Ammanns weg. Vor Dritten duzten sich die beiden Hochwürden sonst nie. Eusebius ersah daraus, dass sein Heisssporn von Prinzipal mehr und mehr die Fassung verlor. Aber hier war ihm nicht zu helfen. Ernst sah er ihn durch die Brille an und gestand ruhig: »Gewiss, und ich kann nur bestätigen, dass es ein ganz gehöriger Schnitzer, besser gesagt, eine unwürdige Spielerei mit Heiligem ist.«

Ein Krach. Der Pfarrer hatte in der Aufregung seinen Sitz rückwärts gestossen. Dabei war das eine invalide Bein des Bischofstuhles halb aus der Zwinge geschlüpft, und der Sessel neigte sich hintenüber.

Carl schnellte energisch auf. Corneli blieb lächelnd sitzen.

»‘s ist nicht, es ist nichts,« beruhigte Cecili, huschte rasch wie eine Junge zu Boden und schlug das Knie des kranken Beines mit zwei kundigen Stössen in den eisernen Beschlag zurück. »Seht nur,« sie hob den Stuhl schief, »wie schnell das geht.« Jetzt erst sah man, welch alte, kunstvolle Schnitzarbeit an diesen Armstuhl aufgewendet war.

»Setzt Euch wieder!« bat die Frau Ammann.

»Darinnen sind schon drei Bischöfe gesessen. Aber nur dem Carl Johann Greith ist das gleiche passiert wie Ihnen,« neckte Corneli. »Nur den ganz Grossen! Wer weiss, was dieser Krach bedeutet! Cecili, notier’s vor dem Rosenkranz!«

»Und Sie, Cornelius,« versetzte der Pfarrer, dem der Scherz menschlich wohltat, »Sie sind nicht bloss ein ganz Grosser, sondern auch ein ganz Schlimmer. Das merk’ ich immer besser.« Vol Versöhnlichkeit blickte er vom Ammann zum Kaplan, hin und zurück. Er dürstete förmlich nach einem freundlichen Gegenblick. Dann rief er geduldig: »Fahret weiter, Kaplan, mit Euerem Gericht!«

»Niemand merkt von unten, was die Zeiger sein sollen. Finger, ja! Aber die Stadtzunge von Wyla, die bekanntlich die Witze nur so herausspuckt, nennt die Zeiger immer nur die grosse und die kleine Wurst.«

Über ein leises Kichern der Bölsch schlug die helle Lache des Johannes grell wie eine gelbe Flamme. Cecili wischte sich vor Spass die triefenden Augen mit dem Schürzenzipfel aus. Der Kaplan blieb trocken, das Mili rührte sich nicht. Niemand wagte den Pfarrer anzusehen.

»Auch Schüblig und Cervelat,« fügte Euseb noch trockener hinzu, »taufte man sie. Die Cervelatwurst wäre der kleine Zeiger, der Mariafinger!« ...

»Gibt das eine wurstige Zeit, von solchen Zeigern!« witzelte Johannes.

»Das klingt recht ehrerbietig,« wandte sich Corneli an den wortlosen Carl, »Cervelat und Schüblig ... grosse Wurst ... kleine Wurst ... und sollte Marias und Marthas gesegneter evangelischer Finger sein.«

»Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schrittlein!« erklärte Euseb.

»Nun, nun, macht sie nur nicht noch länger, diese Würste,« schrie Carl endlich heraus. Es zuckten seine Kinnbacken. Man sah, er musste an sich halten, um selbst nicht herauszuplatzen. Und doch, wie durfte man!

»Und das Beste von allem,« schloss Eusebi nüchtern wie Streusand, »höret wohl, besteht darin, dass der Dekan Linus Brich, ein bewährter Kunstkenner, sich mit Leib und Seele gegen den Unfug gesperrt hat. Der Streit schwebt nun vor dem Bischof. Der ganze, schöne Kirchturm ist wegen einer Lappalie lächerlich geworden. Bleibe man bei den alten, braven Zeigern! Schwarz, mit vergoldeten Zinken, das ist erprobt. Unsere Domkirche bekam nichts andres, und da war Carl Greith am Ruder.«

»Der gleiche Greith?« fragte Corneli schalkhaft und wies auf den Armstuhl.

»Derselbe,« bot Eusebi kaltblütig zurück.

»Ihr Tausendwetter Ihr,« rumpelte der Pfarrer mühsam hervor. »Wollt Ihr mich heute noch völlig totschlagen? Dann wisset wenigstens, dass mir der sehr unterrichtete und geistvolle Dr. Eugen Hobis,« er antizipierte kühn das Dr.... »von allem das Gegenteil sagte. Nur daher weiss ich’s ...«

»Was?« rief Eusebi wirklich erstaunt, »der Gemeindeschreiber von Gons? ... Ich wusste übrigens nicht, dass er seine Dissertation schon eingereicht hat. Sie beschlägt das brennende Thema, ob der Staufe, Friedrich der Zweite, seinen Weg ...«

»Im Oktober wird er sie einreichen,« beichtete Carolus, nun röter als die Abendsonne, deren blutiges Bild jetzt aus den obern Fenstern der rechten Strassenseite wohl zwanzigmal auftauchte ... »Der Dr. phil. ist ihm absolut sicher. Entschuldigt, Hochwürden!«

Dankend nickte Euseb: »Nun, Dr. Hobis ist es ja gerade, der im liberalen Organ seine Spässe über ultramontane Zeigefinger machte und den Wurstwitz durch den ganzen Kanton feilbot. Die Ultramontanen wollen sehr fromm tun, schrieb er. Sie wollen nach Tom und Jerusalem und ins tiefste Evangelium zeigen und zeigen in die Metzgerei. So was! Euer gefährliches, hübsches, schlaues Pfarrkind von Gons! ... Und was für eine fromme Rede hat er Euch bei der Installation gehalten! Wie ein Kirchenvater!«

Dem Pfarrer rieselte nun wahrhaft der Schweiss der Scham und Bedrängnis aus dem Stirnhaar. Er sah sich auf der ganzen Linie geschlagen. Und er, er hatte vom Höherbauen des Kirchturms reden wollen!

So weit mag es dir nun wohlbekommen, Hitzlig, dachte der Kaplan gelassen. Aber jetzt zerr’ ich auch ein bisschen am andern Ohr. ‘s tut gerade so not.

»Aber,« erklärte er lauter und ward nun unbestritten die Hauptperson, »nun muss ich auch offen gestehen, dass unser Zifferblatt je eher je besser renoviert werden soll. Unser neuer Pfarrer hat da vollkommen recht ... Schaut, Corneli, wir werden alt und merken beim kleinen Unterschied von gestern auf heute und von heute auf morgen nicht, was in vierzig und mehr Jahren zu alt geworden ist. Was sag’ ich zu alt? nein, faul, hässlich, beschämend wüst. Da müssen die neuen, jungen Augen kommen und es uns sagen. Dafür hat ja Gott das Junge erschaffen. Auch wir haben einst gegenüber den Frühern das Neue bedeutet. Denkt doch an Euere Stickerei! Wie sind da die alten Weber aus dem Keller wie Drohgeister aufgestanden! Also es ist immer so: die Frischen, Neuen, Jungen müssen den Alten sagen, was zu tun ist. Dann schauen wir nach, prüfen und staunen, dass wir das nicht selbst bemerkt haben. So ist’s mit unserem Zifferblatt. Übrigens viele, viele ältere Leute verspotten es längst ...«

Corneli rutschte unruhig auf seinem Gestühl hin und her.

»Aber wenigstens schlägt die Uhr noch deutlich,« sprang Cecili zu Hilfe.

»Nur die Stunde und die halbe, liebe Frau. Für uns Sklaven der Zeit sind aber auch die Viertelstunden und sogar die Minuten wichtig. Vom Funkenbühl, von der Nonnegg, von Notkersmatt, von den Bettenerwiesen, wie oft schauen unsere Dörfler nach der Uhr und möchten die Minuten lesen und sich mit der Arbeit danach genau einrichten.«

»Mag sein,« versetzte Cecili hartnäckig, »dass das Zifferblatt gegen das Tal hinauf den Pinsel braucht. Das ist die Mittagseite. Aber gegen Uzli sieht es noch frisch aus.«

»Dort spritzen Regen und Bise um so wilder dran. Ein Hochmut ist es auch dort nicht. Übrigens wär das, wie wenn der Corneli auf der rechten Seite das Haar scheren lässt, weil er da eine Wunde bekam, und auf der linken lässt er es stehen, weil er dort keine Wunde hat, Frau Cecili ...«

Johannes lachte wieder sein königlich helles, sorgloses Lachen. Es tönte fast wie süsses Vogelgezwitscher. Die Ammännin dagegen sagte sauer: »Ach, Ihr, heute verdreht Ihr einem alles!«

»Man hat auch etwa den Corneli mit dem Kirchturm verglichen und die zwei Zifferblätter mit seinen Augen,« probierte die Cecili wieder den Kampf. »Merkt Ihr, wohinaus das geht?«

»Ganz recht,« sprang Corneli seinem Gespons zu Hilfe. »An einem Auge bin ich erloschen, wie das Zifferblatt gegen Süden, am andern seh’ ich wie jenes gen Norden. Nun frag’ ich: sieht man mir nicht aus dem einen Auge genügend an, was ich will?«

»Da überseht Ihr eben einen grossen Unterschied,« mischte sich nun der Pfarrer wieder ins Gefecht, nachdem er fröhlich verschnauft und zugehört hatte. »Türme seid Ihr beide! Ihr, Herr Ammann, noch der stattlichere. Aber drehen kann sich nur der eine. Der Kirchturm bleibt für alle Leute rechts von der Kirche, und dort liegt die überwiegende Dorfschaft, mit dem blinden Auge stehen, und so viel man schreit, er hat sich noch nie gedreht ... Ihr aber, als ein gütiger Vater des Volkes,« ... eine leichte Ironie zwinkerte aus den Worten ... »kehrt Euch rechts und links, wo man Euch eben sucht.«

»Wir schwatzen wie Kinder,« fuhr nun die Ammännin drein.

»Weil Ihr solche Vergleiche bringt,« schalt Carl voll Humor.

»Ja, ja, wir haben nicht mehr die gelenke Zunge,« entschuldigte Corneli bitter, »die Jungen von heute sind uns weit über, liebe Frau! Das Maul zu, den Beutel auf, so tönt es.«

»Nein, Herr Ammann, so tönt es nicht,« bemerkte der Pfarrer sehr ernst. »Wir wollen uns ja mit Verstand und Liebe über alles aussprechen, gerade mit Euch. Wenn Ihr’s einseht und bejaht, ist’s vom ganzen Dorf bejaht.«

»Ich hab’ nichts dagegen, wenn es so mörderisch nötig sein soll,« gab Corneli zu. »Aber keinen Luxus, bitte schön, alles erst genau berechnen, sparsam sein im Auftrag, man wird fast immer beschwindelt, fast immer.«

»Hundert Franken von meinem Gehalt geb’ ich daran,« gelobte der Pfarrer erfreut. »Und ich hundert,« schloss sich der Kaplan lustig wie ein Bub an. Fragend forschte Carl nun im Antlitz des Corneli, der die Lippen tief in den Mund einsog. Cecili tat ihm ein Zeichen ums andere. Sind wir heute etwa nicht genug geschröpft worden! »Ich werde es mir noch überlegen,« sprach Cornelius nun gelassen!

»Den Beutel des Herrn Ammann haben wir heute schon einmal gemolken,« spasste der Kaplan, »Zweimal wäre ungesund.«

»Wie? was?« fragte Carolus und fühlte einen Stich ins Herz.

»Das heisst ich und das Mili zusammen. Die Milch trägt sie weg. Einundzwanzig Fünfliber.«

»Für ... für ...?« fragte Carl nervös.

»Für die lieben Patenkinder im Tälerhaus. Der Corneli schenkt ihnen den ganzen Jahreszins für die Stickmaschine!«

Cecili nickte in grossartiger Ergebenheit. »Jawohl! Herr Pfarrer.«

»Einundzwanzig Fünffränkler,« wiederholte Carolus ereifert und stellte sich dabei eine viel grössere Summe vor. »Das hätte auch uns wohlgetan. Das hätte vielleicht die beiden Zeiger bezahlt!« ...

In diesem Augenblick sah Eusebius etwas Sonderbares, Trübes im pfarrherrlichen Gesichte, das vorher so offen ausgesehen hatte, wie ein Haus mit offenen Türen und Fenstern, so dass man tief in die lichten Stuben sah. Jetzt schien es, die Läden schlössen sich halb, die Pforte knarre seltsam zu, es werde finster drinnen. Der Kaplan ahnte, dass im Pfarrer, der für seine Person nichts begehrte, dennoch ein staubiger, fast schmutziger Kampf ausgefochten werde zwischen Geld und Geld: Geld, das Glanz ausbreitet und die Ehre Gottes nach aussen laut verkündet, Geld, das in den Uhrzeigern goldig winkt, im hohen Turm gen Himmel jauchzt, in warmen Farben die Kirche ausstaffiert, die Sakristei für den Gottesdienst mit Kostbarkeiten füllt, das Geld, das unsere ewigen Dome und Stifte wie kleine Städte und die ergreifendsten Statuen schuf; und nun das andere Geld, das lautlos ins Dunkel der Armenstuben, ins Maul der Gläubiger, in die hungrigen Pfannen und Küchenteller, in die schlotterigen Kleider der Waisen fällt, nirgends leuchtet, nirgends klingt, zu allererst an den gewöhnlichsten Menschen geht und vielleicht Gottes Ehre doch besser wahrt als die köstlichsten Altäre. Ein Enthusiasmus für alles, was Gott und seine heilige Kirche betraf, ging in Carl gefährlich zusammen mit einem angebornen Hang für Schimmer, Prunk, Majestät, Grossartigkeit, für glühende Farben, für gewaltige Glocken, hohe Türme und rauschende Priesterherrlichkeit.

Rot, rot, gib Gott das schönste, das mächtigste Rot, rief es in verwirrter Gedankenfolge durch seine Sinne. Eine verwilderte Kirchenglanzfreudigkeit überkam ihn, worin wie in einem Rausch für eine Weile das Gewöhnliche, Tagtägliche und vielleicht Allernötigste unterging.

Der Kaplan kannte diese Leidenschaft Carls und verstand diesen heilig-unheiligen Zwiespalt im Pfarrer sehr wohl. Fast zurechtweisend ernst sah er Carl an. Seine Brillengläser flammten. »Sie haben es bitter nötig, diese Waisen!« flüsterte er ihm ans Ohr.

»Gewiss, gewiss, ich freue mich,« brach Carolus endlich durch. »Den Armen soll kein Rappen um der Pracht Gottes willen entgehen. Im Gegenteil,« brauste er auf, »wer gerne dem König gibt, hat auch ein Herz für den Bettler am Schemel des Königs. Man kann nicht oben kränzen und unten vermodern lassen, nein!« rief er immer heftiger, als streite er gegen eigene Zweifel und Gegenstimmen und wolle sie totschreien.

»Das ist wundervoll gesagt,« lobte Euseb ehrlich.

»Ich gebe gerne, mir liegt an Silber und Gold so viel,« erklärte Carl weiter und knipste mit den Fingern. Die Aufregung des Nachmittags bebte noch in ihm deutlich nach. »Aber wie oft geht das Almosen in bodenlose Löcher, mästet die Faulheit, mehrt den Gestank der Sünde, nimmt’s dem Tag und gibt’s der Nacht, raubt’s dem Erhabenen und wirft’s der Gemeinheit in die Zähne, o wie oft, meine Herren!«

»Jedes Wort, Herr Pfarrer,« liess sich der Ammann nun gemessen hören, »unterschreib’ ich. Nicht umsonst sagt der Volkswitz: ›Almosen Fällt durch die Hosen‹.«

»Und ich,« ertönte jetzt plötzlich eine hohe Mädchenstimme durch die ganze Stube, und das Mili stand auf und blies seine beflaumte Oberlippe empört auf, »ich habe von der Ilgenwirtin drei Flaschen alten Veltliner bekommen und zehn Franken und Butter. Hast du,« wandte sie sich richterlich an Johannes, »einen einzigen Schluck davon bekommen?«

Johannes zog geringschätzig die frostigen Lippen schief.

»Oder haben wir nur einen Rappen von dem Geld für uns genommen? Gerstensuppe und Milch haben wir morgens und abends genommen und Kartoffeln, und dem Vater, obwohl er nichts davon merkte, löffelweis den Wein eingegeben. Und ein Federkissen hab’ ich ihm für die zehn Franken gekauft, unter den Kopf, da er so müd’ lag ...«

»Aber der Anken?« spottete Johannes und spülte sich ein Schlücklein Most über die Zunge.

»Den hätt’ er in keiner Art mehr ertragen, da hab’ ich uns Küchli gemacht. Ganz blöd ist uns zuletzt vom steten Suppentrinken geworden ... Spinatküchli, ja, das hab’ ich ...«

»Ganz recht hast getan, braves du!« Gütig tätschelte der Pfarrer ihr eins über den Zopf.

»Und als wir,« rief das Mili fast mit Zorn und wich der pfarrherrlichen Hand aus, »die Küchli fertig assen, der Vater war schon tot und du liefst zum Einzug des Pfarrers, da kam das Sandmeitli, das arme, verhurschte, dem wir fast nie Fegsand abgekauft haben. Da sagt’ ich: iss mit mir, dir ist auch blöd, das sieht man. Da ass sie wacker. Und was meint Ihr? Sie kam am Abend und half mir die Leiche waschen und anziehen, und ich hatte ihr doch kein Wort gesagt. Und während der Beerdigung hat sie das Bett an die Sonne getan, ausgeklopft, gereinigt, und als ich immer wieder bat, hör’ jetzt auf, ich hab’ ja kein Geld, lachte sie und stotterte: hast mir ja Küchli gegeben. So, das ist wieder eine Arme ...« Mili stützte die Arme in die Hüften und forderte die ganze Stube heraus: »Und jetzt, was meint Ihr von den Almosen?«

Feurig stand sie da. Ihr helles Auge war dunkel geworden. Die Alten hörten sie widerstandslos an.

»Almosen ... fällt durch die Hosen ... wenn Ihr es so meint, Herr Götti, dann könnt Ihr Euere einundzwanzig Fünffränkler auch wieder haben ...«

»Aber Kind, Kind,« beruhigte Corneli, »was für einen Most haben unsere jungen Leute im Blute ...«

»Nein, Almosen fällt nicht durch die Hosen,« schrie sie überlaut.

»Wenigstens nicht durch die Röcke,« spasste Cecili. »Das glauben wir dir alle. Aber nun sei doch gescheit! So war’s ja nicht gemeint.«

»Aus dem Munde der Kinder ...« flüsterte Euseb für sich.

»Ich hab’ es aber so verstehen müssen,« sagte Mili milder und wischte sich die Augen, doch die waren trocken und flackerten wie aufgeregte Sterne im Föhn. Ihr feines Ehrgefühl gab das Öl dazu.

Alle fühlten, dass man jetzt am besten auseinander ginge. Da rief Johannes unverfroren: »So sitz’ doch ab, Mili, ‘s ist noch nicht fertig ...« und zu den Herren: »Soll ich also ans Zifferblatt?«

»Selbstverständlich, das ist abgemacht,« erklärte Carolus aufstehend.

»Wir müssen aber jedenfalls die Kirchenräte zusammenrufen,« versetzte Corneli.

»Wozu das, Ihr habt Ja gesagt, mehr braucht es nicht.«

»Doch, es braucht noch mehr,« erwiderte der Ammann ebenfalls aufstehend und sich gewaltig reckend. Eine Blässe mehr zur gewohnten Blässe trat auf sein Riesengesicht, Schwäche zitterte durch seine Stimme, als er zur Frau sagte: »Hab’ ich übrigens klar und formell Ja gesagt, Cecili?«

»Ich habe nichts gehört,« versetzte die Greisin hart.

Der Kaplan hüstelte schmerzlich. »Wir aber haben alle es so verstanden; das müsst Ihr denn doch zugeben, Corneli,« betonte er fest.

Carolus blickte verwundert auf. Seine ehrliche Seele verstand dieses Feilschen nicht.

»Und wenn auch! Es braucht mehr als so ein: Wollt Ihr? wollt Ihr nicht? am Glas Most! und mehr als meine einzelne Stimme. Es braucht noch Ordnung, Gesetzlichkeit. Wir können nichts allein machen.«

»Ein Zifferblatt! Ihr spasst!« lachte der Pfarrer zornig auf. Er sah und hörte plötzlich den Corneli der Wildbergleute und des Altersasyls. Dieses eine harte Auge wie von Horn! nein, anders, ganz anders hatte der alte Hausvater ihn angeblickt.

»Wenn ich jetzt vom ganzen Turm geredet hätte,« fuhr er gewaltig fort, »dass man diesen hässlichen Zwerg strecke ... wenigstens über die nächsten Pappeln hinausbaue, dass es wirklich ein Turm sei und nicht so ein Baumstumpf! ... aber nur vom Zifferblatt ... solche Kleinigkeit!«

»Es gibt gar keine Kleinigkeiten, Herr Pfarrer!«

»Sagt lieber, es gibt nichts Grosses mehr!«

»Ach, was soll das jetzt?« rief die dünne, hohe Kaplanenstimme hinein. »Formalitäten! Der eine hält zu viel darauf, der andre zu wenig, und beidemal leidet die gute, unschuldige Sache darunter. Das ist die Weltgeschichte, und die Dorfgeschichte! freunde, versalzen wir uns doch diesen lieben Abend nicht! Wir sind ja im Innersten doch einig.«

»Ihr habt recht, der Abend ist zu schön,« sagte Carl, von der Küchentreppe ins Freie tretend und auf die violetten und purpurnen Schatten der Dorfstrasse weisend, in die von da und dort ein gelber Stubenlampenschein flockig hinausfiel. Es ging ihm schwer aufs Herz, dass er sich soeben unklugerweise mit dem Turm verraten hatte. Er wollte einlenken.

»Wann wollt Ihr also den Rat einberufen?«

»Ganz wie’s Hochwürden passt.«

»Heut ist Donnerstag. Gut, vielleicht am Sonntag nach Vesper in der Ilge?«

»Soll geschehen.« Höflich, aber schwerfällig verneigte sich Corneli. –

»Diese Visite hat uns nicht näher gebracht, Eusebi,« unterbrach Carl das Schweigen unterwegs.

»Du bist auch gar eine Feuersbrunst neben diesem Gletscher, Carli!«

»Na, Kinder, was spitzt ihr die Ohren?« fragte der Pfarrer. Der Vergleich des Kaplans hatte ihn sogleich aufgeheitert. »Dich, Mili, hab’ ich ja ganz vergessen. Du bist die zweite Fliege.«

»O Ihr habt mich noch nicht,« neckte die Blonde.

»Willst denn nicht gern in den Pfarrhof kommen, so alle Morgen um die Sieben? und meiner Peregrina bis über Mittag helfen? Nachher wärest frei und ich gäb’ dir einen braven Taglohn.«

Mili sah den Johannes staunend an. Der nickte sofort zu.

»Aber wer soll dem Heli fädeln?«

»Kannst das nicht nachher reichlich gutmachen?«

»Und den Buben kochen?«

»Jaso!«

»Aber der Julius mit der Frau!« half Johannes.

Das Mili überblutete rot.

»Das ist der Onkel,« erklärte Johannes. »Er hat schon kurz nach dem Begräbnis des Vaters geschrieben, er komme zu uns mit seiner Nachtigall. Das wird wohl seine Frau sein. Nachtigall, wie komisch!«

»Ob er kommt?« zweifelte Euseb. »Wie oft hat er’s gemeldet. Und jedenfalls nur zu einem dummen Streich. So ein Wind- und Strassenläufer hält es doch in unserm stillen Winkel nicht drei Tage aus. Schreibt ihm lieber ab!«

»Kommt ihr zwei morgen um vier Uhr zu mir,« entschied Carl. »Dann wickeln wir alles beim Kaffee glatt vom Knäuel. Ich verlasse mich drauf, Mili. ‘s ist mir neu, das vom Onkel!«

»Wir reden nicht gern von ihm,« bekannte das Mili offen.

»Aber da hat er’s dick,« bemerkte Johannes und tupfte auf die Stirne. »Ein Spassvogel, du meine Güte!«

»Aber wegen ihm sind wir arm. Fünftausend ersparte Franken hat der gute Vater an dieses Luder verloren. O verzeiht, aber das wüste Wort hab’ ich nicht halten können.«

»Was will er dann noch bei euch holen?« fragte Eusebi.

»Er schreibt, er brauche Ruhe für die Nerven und, denkt Euch, wieder einmal ein sauberes, weiches Kopfkissen. Das halbe Haus gehöre ihm, basta! Basta hängt er an jeden Satz.«

»Lasst mich nur machen! Der soll euch nicht plagen,« gelobte Carl.

»O was mich betrifft,« wandte Johannes ein, »ich seh’ ihn ganz gern kommen. So kurzweilig wie Julius plaudert kein Mensch von Lustigern bis St. Gallen.«

»Du hast zu malen, nicht Plappermaul an Plappermaul zu hängen, Bursche, verstanden. Das heisst, wenn du ein Stümper bleiben willst, dann plappere nur! ... Ah, da geht euer Weg. Gute Nacht miteinander!«

»Das wäre ein wahres Unglück, wenn der Julius Täler käme,« seufzte der Kaplan. »Der passt in dieses Dorf wie ein Ziegenbock in die Ammannstube. Sapperlot, der ...«

Aufmerksam musterte Carl den ereiferten Eusebius. Dann aber schlug er an die Rocktasche und fragte: »Ach, du, ich hab’ noch das halbe Brevier auf dem Buckel. Hast du schon antizipiert?«

»Ja, liebe Seele.«

»Aber die Vesper und Komplet könntest mir wohl respondieren. Es geht um vieles leichter. Komm, der Mesmer hat noch nicht geschlossen.«

Sie traten in die abendliche Kirche mit ihrer feierlichen Stille und Leere. Das Abendrot floss in die westlichen Fenster, rieselte schräg über die Stühle zur Kanzel und übergoss die Taube, die dort aus weissem Stein über dem Schalldach schwebte. Der heilige Vogel glühte wie ein Pfingstfeuer.

Im hintersten Stuhl psalmierten die zwei Priester durch das zunehmende Düster. Aber dem Kaplan haspelte sich das kleinlich Erlebte in die grossen Worte: der Corneli, die Ammännin, das Zifferblatt, Fünfliber, Kirchenräte, Stickmaschine und der elegant lotterige Onkel Julius mit der grünen Velomütze. Er zupfte sich an der grossen Hakennase, wo er heillos empfindlich war. Aber es half wenig. Carl jedoch stand im Glanze Jerusalems da, hörte die Harfen und Zymbeln tönen und den Vorhang vom Allerheiligsten aufrauschen.

Welch eine saubere, reine, unschuldige Stimme, ein wahrer Glockenklang! dachte Eusebius und versank neben dem Riesen noch tiefer ins Bänklein.

Kapitel 8

Einige Wochen später malte Johannes hoch über den Hausdächern, auf schwankendem Gerüste, den Lustigern ihre Tageszeiten vom Morgen bis zum Abend und durchs Dunkel der Nacht an den Kirchturm. Es hätte arg bemüht, das mächtige alte Blech von den zahllosen rostigen Nägeln, Schrauben und Haften zu lösen, womit eine solide Urgrossväterzeit das Zifferblatt als das Auge des Turmes unzertrennlich mit dem Leib aus Stein und Gebälke hatte verwachsen lassen. Überdies zog Johannes, sicher mit Fuss und Blick, gerade diesen luftigen und herrischen Arbeitsplatz jeder bequemen Hantierung im Pfarrsaal weit vor.

Der Pfarrer nannte ihn spassig den Augenarzt des Kirchturms und sass manches Weilchen hinter dem Künstler im sichern Turm. Es war für den Riesen nicht leicht, das schmale Leiterchen zwischen den Glocken zu ersteigen und sich durch eine enge Bodenluke zum Uhrgehäuse emporzuschwingen. Die Hitze in diesem Sparrenwerk drückte wie in einem Dörrofen, das Blut stieg dem Seelsorger dunkel bis unters Haar, und der Schwindel kitzelte ihn an den Beinen herauf, wenn sein Blick durch das Fenster in die Tiefe fiel. Man sah die Leute stillstehen und heraufzeigen. Ilgenwirts Sigi – er hiess eigentlich Sigismund – der gerade in den Ferien daheim war, sass mit dem Operngucker auf dem Gesimse seines Dachstübleins, rauchte Zigarette auf Zigarette, las in einem wilden Buche, funkelte dann wieder mit seinen erbarmungslosen grünen Augen gelangweilt in die Höhe, ob es denn noch nicht krache und irgendwas, der Maler oder die Farbentöpfe amüsant in die Tiefe purzelten. Sobald der Pfarrer weg war, wollte er ein Weilchen zum Maler hinauf.

Er musste und musste immer wieder emporblicken und sich vorstellen, wie es wäre, wenn er dort oben hinge, ausglitte und niedersauste. Ein süssunheimliches Gruseln packte ihn. Er schloss die grünen Augen, um es deutlicher zu erleben und ihm war dunkel, er habe es schon einmal erlebt.

Ab und zu schlüpfte zwischen den Vorhängen beim Pfarrhof der klargescheitelte, blonde Kopf des Mili hervor und schoss einen leuchtenden Blick zum ... Bruder? ... das war Johannes nicht ... zum Kameraden? ... Schützling? ... Freund? ... ach was, zu ihrem Johannes empor. Ihr Herz hatte zum ersten Mal in ihrem Leben auf eine ganz neue Art geklopft, als Johannes auf das Brett hinaustrat und dabei alles einen Moment schwankte und der Jüngling rasch mit der Hand nach dem Seil langte, so dass im ersten Augenblick diese sehr gewöhnliche Sache den Untenstehenden wie eine ungewöhnliche Gefahr erschien. Was war denn dieses Herzklopfen? Sie fragte sich und nun wurde plötzlich etwa bisher Selbstverständliches im hellen Mädchen zu einem wonne- und wehvollen Rätsel.

So oft sie nun den Torhang lüpfte, so oft lächelte auch der hübsche Sigi herüber. In seinem unheimlichen Kopfe gingen schon merkwürdige Ferienpläne durcheinander.

Es war ein tiefes Samtbraun, womit die Blechscheibe des Zifferblattes grundiert ward. Der Kreisbogen aber, in den die Zahlen nicht mehr gemalt, sondern als massive vergoldete Nickelstücke hineingeschraubt wurden, war kohlenschwarz. Der Schlosser hatte alles Nötige hierzu hergerichtet. Carl wünschte noch einige verzierende Füllungen. Aber Johannes weigerte sich. Es verwirre und mindere die Helligkeit der Stundenziffern.

Carl hörte es trotz des Windes, der lau, aber heftig um die Ecken pfiff, jedesmal genau, wenn Johannes wieder eine Zahl aus dem Korbe nahm, aufstand und mit starken Schrauben die gewaltige Ziffer ins Blatt hineinzwang. Von unten wie ein Kinderspielzeug, sahen diese Zahlen in der Nähe wie geharnischte Knappen aus, blitzend von Kühnheit und Durst nach Sonne. So schien es wenigstens dem Pfarrer. Aber Sigi hatte geholfen, die Ziffern auszupacken, und geistreich böse, wie er war, seine kleinen, braunen, nassen Zähne gebleckt und gesagt: wenn die wüssten, dass sie da oben nur zum Stillesein und Dulden verdammt wären, bis sie von der Sonne und allen frechen Augen ausgesogen sind, oh, sie glänzten nicht mehr so leichtsinnig. Und er lachte ein dunkles, unschönes Lachen und dachte an Menschliches-Unmenschliches, das er schon erlebt hatte. »Wie redest wieder einmal?« schalt die Mutter, heimlich stolz über dieses gescheite Zeug, das sie nicht verstand. »Hast es aus den Büchern? Das sind Zahlen und wollen nichts und sollen nichts als einfach gezählt werden.«

»Oder Menschen, Mütterchen! Mädchen! ja, hübsche, arme, feilgebotene Mädchen!«

»Wüster du!« Sie schlug ihm so scharf über den glatten, hübsch gescheitelten braunen Kopf, dass er verblüfft aufschaute und eine helle Wut seine Augen schlangenhaft grün färbte. Aber die Disziplin in der Ilge war zu stramm. Der Jüngling wurde plötzlich wie matt, fasste die schlagende Hand und lispelte: »Mutter, wenn du alles sähest, was ich in der Stadt sehen muss.« Dann zog er ein Taschenspiegelchen hervor und strich den Scheitel mit gewandtem Finger wieder zurecht.

»Was hast jetzt für eine Stunde?« fragte indessen oben Carl.

»Die Eins! Die braucht am wenigsten Schrauben.«

Und am wenigsten Sorgen, dachte Carl. Nachts schläft der Christ, wenn sie tönt, und mittags schlägt er das Kreuz über den gestillten Hunger, liest das Amtsblatt oder nickt eine halbe Stunde ein.

»Und jetzt?«

»Die Acht!« versetzte Johannes ungeduldig. Was kümmern doch den drolligen Mann diese Ziffern! Ist doch eine Stunde wie die andre!

»Die Acht,« murmelte der Pfarrer. »Das ist nun etwas ganz andres. Da fängt die Morgenarbeit an, das Schreiben, studieren und Sorgen fürs Dorf. Und das Läuten am Haus und das Türklopfen und das Herr Pfarrer hier und Herr Pfarrer dort, oft wegen einem Mückenstich, während ich im selben Moment von sieben Seelen nichts weiss, die zugrunde gehen ... Aber dann abends um die acht ist ... Ruhe? Ja, schön! Im Haus wird es still, nicht im Kopf. Endlich kann ich ans Schwierigste gehen, ans Rechnen und Planen, wie’s vorwärts soll trotz Radschuh und hinkenden Räten und eigner Feigheit ... und dann das Gebet, das kopf- und herzwaschende Gebet ...«

»Die Zwölf,« schrie Johannes von aussen nun aus freien Stücken. Er war erfreut, dass er schon an der letzten und grössten Stunde angelangt war.

Carolus schoss auf. Das ist die Reife, die Vollendung. Sollt’ es wenigstens sein. Das ewige Gericht entscheidet. Vorbei Schlimmes und Holdes, fertig! Sieh zu, wie du aussiehst! ... Unwillkürlich fiel Carls Auge schräg durchs untere Fenster übers Chordach zum Friedhof nieder. Wie müd’ lag er da, wie stumm! Das schlief aus aller kleinen Zeit in die grosse Ewigkeit hinüber, tausendlippig, tausendpulsig, und doch nun fertig, jeder auf seine Art, in der Güte oder im Zorne des Himmels. Jedes Kreuz, jeder Stein, ja, jede Blume auf dem Grabe kam ihm vor wie ein Finger, ein Pst! an einem dunkeln, stummen Munde. Dieser Mund würde sich noch so gern zu einem Worte, zu einem einzigen Worte öffnen, das alles gutmachen könnte. Aber der Finger warnt: still! Dein Geschwätz, dein Prahlen, dein Fragen, dein Predigen ist fertig. Jetzt redet ein anderer mit dir. Stille! Punktum! ...

Wenn sie jetzt erwachten, diese alten Lustigerschläfer, für eine einzige Stunde erwachten und herausstiegen, was täten sie wohl?

Die schweren, fetten Augendeckel fielen ihm schläfrig zu, und da war es Carl zwischen Traum und halbem Wachen wahrhaft, als sähe er an Rosenbäumchen und Taxus vorbei etwas Graues, Hastiges huschen, zur Kirche, zum Pfarrhof, zur Schule, zum Ammannhause, aber nein, vor allem in die eigenen Häuser. Er hört sie Schimpfe zurücknehmen, Schuldscheine zerreissen, kniend wegen Sünden um Verzeihung bitten, Titel und Gelder zum Fenster hinauswerfen und schreien: nicht Nebensächliches, nur das Wichtige, nur das Wichtige. O wie haben wir uns dumm in kleinen, hübschen Nichtigkeiten verloren! Zur Hauptsache, zum Wichtigsten, zu Gott! Die Gnade ist kurz.

»Und das Zifferblatt?« fragt Carl hinunter, »Ihr Kenner der Dinge, ist das wichtig?«

Aber niemand schaut zu ihm hinauf. Niemand hört ihn. Was frag’ ich da noch lange? gab er sich selbst voll innerster Überzeugung die Antwort. Ja, das Zifferblatt da, mit der furchtbaren Zwölf, o das ist äusserst wichtig. Mit dem lässt sich nicht spassen.

Und das Zierwerk, das da hineingepinselt sein soll? fragt er weiter ... Zier ... Zier ... Haupt ... Nebensa ...

»Herr Pfarrer, Herr Pfarrer!« Johannes stieg gebückt herein, um zu sehen, warum ihm Carl nicht mehr Bescheid gebe. Er hatte durchs Loch gejubelt: fertig! »Kommen Sie ans Gesimse! Da unten stehen die Leute bienenschwarz. Der Student hat mir geklatscht und eine Zigarette durch die Luft geboten ... der Typ!«

Aber der Pfarrer lehnte den schwarzen Strubelkopf an das Uhrgehäuse und war eingenickt. Der eintönige laue Wind, die drückende Luft, die durch alle Ritzen flimmernde Sonne und sein eigenes Grübeln hatten das zuwege gebracht.

»Herr Pfarrer, so kommen Sie doch,« rief Johannes kühl lächelnd. »Die Zahlen stehen fix wie die Sterne am Himmel.«

Carl ward sofort wach, genierte sich aber heillos vor dem unverfrorenen Burschen, wie er da ein Bein zum Loch hinaus in die Luft streckte und ihn beinahe schäbig anblickte.

»So, das wär’ überlegt,« rief er, als hätte er nur so für sich etwas bedacht, »du musst mir halt doch etwas Blumiges ins Viereck malen.«

»Kommen Sie erst und schauen Sie, wie das rund herum blitzt. Eine Sünde wär’s fast, noch mit einem Finger dran zu rühren.«

»Ich will’s von unten anschauen, ‘s ist ohnehin fast Mittag ... Oder wart’, doch ... oh ... oh ...«

Der Pfarrer fuhr jäh zusammen und griff nach einem Balken. Hart an seinem Kopf hatte es gerasselt und gekrächzt und wie mit einem ungeheuren Hammer geschlagen. Und sofort fiel ein Klöppel auf die grosse Glocke. Er merkte es durch den Bretterboden hindurch, so zitterte alles Gebäu. Es summte und toste heillos zwölfmal! Dann krachte der ganze Glockenstuhl, die eine Glocke geriet langsam ins Schwingen, der ganze Turm wurde lebendig, man läutete Mittag.

Carl musste sich wieder setzen und, den Finger im Ohr, warten, bis der Turm seine ungeheure Zunge wieder schweigen hiess. Ihm war, Leib und Seele schwängen mit. Dabei ward ihm fast schwindelig. Zweimal probierte er den englischen Gruss zu beten, wie er zu diesem Zeichen passt, aber er kam nicht über das erste Ave hinaus.

Noch lange toste das Metall in seinem Innern fort. »Wollen wir jetzt?« fragte Johannes. »Die Schule ist aus. Alle Kinder gucken herauf.«

Probieren geht über Studieren, dachte Carl und tastete sich zum Mauerloch. Er kannte seine Schwäche, die es ihm nie erlaubt hatte, mit den andern Knaben in die Kirschbäume zu steigen oder bei Neubauten Ziegel über die Leiter zu reichen und dabei Wurst und Wecken zu verdienen. Aber hier war es gleichsam seine Pflicht. Er musste zeigen, dass er mit diesem Turm auf eine besondere Art verbunden sei, dass sie zusammengehören, dass er ein Recht auf den Turm und sein Schicksal habe. Er musste sich dem Volke da oben zeigen.

»Stehen sie jetzt mit dem linken Fuss aufs Gerüst hinaus, den rechten behalten Sie noch auf der Mauer ... so hier! ... Stehen Sie ab ... Halten Sie sich da an der Tanne, das gibt Halt ... Herunter den Schuh,« rief Johannes ungeduldig, »‘s ist ganz sicher. Alle Räte dürften hier stehen und der Corneli dreimal dazu.«

Der Name Corneli stupfte den Pfarrer vorwärts. Mit einer unglaublichen Selbstüberwindung bückte sich Carl, rutschte langsam hinaus, sah die leere, lautere Landschaft heraufgähnen, blickte weg, musste schaudernd wieder hinsehen, fasste mit beiden Händen den geschälten, weissen Tannenstamm, der in Armhöhe am Gerüst hinauslief, dann war es genug. Es luftete und kitzelte ihm die Hosen hinauf, drehte sich alles ringsum; Bäume, Häuser, Strässchen, Menschen unten, das zog sich wie ein Netz auseinander, ging wieder zusammen und sank dann tiefer und tiefer in namenlose Abgründe. Grünes, Blaues, Rotes flimmerte ins Auge ...

»Was machen Sie? Da hinauf müssen Sie schauen ... die Zahlen ... goldig ...« hörte er noch wie verschwimmend unter Wasser von ferne den Johannes sagen. Dann sank er am Gemäuer nieder, totenblass, mit den Zähnen klirrend und die Augen voll Nacht. »Weg, weg!« stammelte er wie ein Kind.

Nun erst erlosch der Spass des Johannes. Das wurde ja ernst. Was hat er? Will der gewaltige Mann da oben sterben? Genau so fing es beim Vater an.

Er packte den Pfarrer am Oberkörper, dass er nicht hintenüber in die Bresche falle, und wischte ihm das Gesicht, das plötzlich mit einem dicken, kalten Schweiss belegt war, mit einem saubern Taschentuch ab. So hatte es Mili dem Vater damals auch gemacht.

Aber schon kehrte die Lebensröte ins Gesicht des Priesters zurück. Er hob den Arm, nestelte am Kragen und sagte noch wie im Schlaf: »Nein, so eine Schwäche; alles Blut fiel mir aufs Herz ...« Dann öffnete er die Augen und erschrak, da er noch immer mit einem Beine ausserhalb des Turmes halb sass, halb lag.

Doch Johannes lächelte schon wieder und meinte: »Herr Pfarrer, das war ja wie eine Ohnmacht. Jetzt blicken Sie nicht mehr hinunter, schnell das Bein über, so, hinein! – da sind wir!«

Sie standen wieder auf festem Boden. Dem Pfarrer zitterten noch die Beine. Und das ist, spottete er sich leise aus, der viel zu niedrige Turm.

Unten hatte man halb und halb vermutet, dass oben auf dem Gerüste etwas passiert sei. Doch nur der Sigi mit seinem Opernglas hatte genau bemerkt, dass der Pfarrer an der Mauer zusammengesunken war. »’s ist nichts,« sagte er dem Mesmer, »bleibt nur. Ich hüpfe hinauf. Der Johannes hat mir gewinkt.« Die Zigarette zwischen den Lippen glitt er wie eine Katze stiegenauf, begegnete aber den beiden schon auf halbem Wege.

»Ich wollte mich gerne nützlich machen,« sagte er, den Pfarrer ehrerbietig grüssend. »Aber da komm’ ich zu spät!«

»O es ist nichts!« dankte Carolus. »Die Hitze! Sonst bekomm’ ich Nasenbluten und das hilft. Aber diesmal schlug es mir aufs Herz oder was weiss ich ... ‘s ist nicht der Rede wert. Aber ich danke für die gute Meinung.«

Der flotte Gasthofsohn, im eleganten städtischen Anzug, mit den grünen, wimperlosen Augen, sah den Sprecher mit feinem Spott an, und als Johannes nochmals hinaufkletterte, um die Farbentöpfe in den Schatten zu stellen, erlaubte sich der Witzbold zu sagen: »Es hat verlautet, Hochwürden wollen den Turm fünf oder sechs Stockwerke höher bauen.«

Der Pfarrer schwieg. Ein andrer Hobis, dachte er grimmig. Er mochte und konnte jetzt nicht fechten. Sigi sog leise an der Zigarette und spie zu einem Turmfensterchen hinaus. Strafend sah ihn Carolus an. Da unten steht doch viel Volk, sagte dieser Blick.

»Volk!« sagte nun aber laut und schmähend der Jüngling und warf eine geradezu königliche Hand von sich, »Volk, was ist das?« Bei dieser Geste fuhr die Hand durch einen dünnen Sonnenstrahl, und mächtig blitzte ein gelber, beschildeter Ring ins Turmdunkel hinein.

Sauberes Bürschchen, besorgte der Pfarrer für sich, siebzehn-, allerhöchstens achtzehnjährig und blaguiert schon mit einem dicken Siegelring. Unsere »bessere« Jugend!

»Sie, Herr Pfarrer,« begann der Jüngling wieder, »sind doch eigentlich auch eine Art Herrschernatur. Aber anders als der Corneli.«

Erstaunt sah Carl auf. Diese Dreistigkeit hatte etwas Imponierendes.

»Aber was ist nun wahr,« bat der Elegante mit melodischer Eindringlichkeit und sprühte Feuer aus den grünen Augen; »ist das Volk für die Herren da, damit sie an diesem Probierlumpen ihren Blödsinn oder ihr Genie versuchen? ... Oder aber ist der Herr für das Volk da, damit es einen Popanz hat, dem es heute Butter und Konfitüren anstreichen und morgen faule Eier anschmeissen kann? Oder gehören beide zusammen, wissen Sie, wie das ein alter Gymnasiumswitz den Konsul Manlius oder Spurius so artig mit den Gliedern des Leibes beweisen lässt? Mir scheint, das ist alles Schwindel. Jeder soll sich ein bisschen zum Herrn erziehen, wo er sich stärker als andere fühlt, und jeder ein bisschen zum Knecht, wo er sich schwächer weiss, und alles geht von selbst ...«

»Für diese Philosophie, guter Junge, habe ich momentan einen zu leeren Magen,« foppte der Pfarrer. »Lass mich zuerst einen Teller voll Mehlsuppe essen, bevor ich an dieses Ragout gehe.«

Sigi biss sich mit den zwei braunen Schaufelzähnen in die Unterlippe. Das »guter Junge« ärgerte ihn ungeheuer.

»Dann gesegneten Appetit zum dicken Brei und dem aufrecht stehenden Löffel darinnen, Herr Pfarrer,« sagte er, »entschuldigen Sie mich, bitte! Wir wurden jüngst in der Matura gerade über die französische Revolution examiniert und über die Ludwige vor- und die Napoleone nachher. Und da, geben Sie es nur zu, weicht einem aller Boden unter den Füssen.«

»Solche Dinge musst du mit dem Kaplan verhandeln. Der weiss dir auf alles Bescheid. Ich begnüge mich mit der kleinen Geschichte von einem Dorftag zum andern, so zwischen Kirche und Pfarrhaus.«

»So schmal!« spottete Sigi ungläubig.

»Oder so breit! Wie du willst! ‘s ist doch noch genug Historie daran.«

»Aber diese Historie hätte vorhin, Hochwürden verzeihen, da oben ein schlimmes Ende nehmen können. Mit dem Gucker da hab’ ich alles gesehen. Der Turm, dieser Baumstumpf, haben Sie ihn nicht so getauft? ist dennoch zu hoch für Sie, Herr Pfarrer.«

»Wieso?«

»Wenn Sie doch schon auf Zifferblatthöhe Schwindel und Ohnmachten kriegen!«

»Ich habe einen Fehler begangen, doch einen Fehler nur gegen mich! Aber du begehst jetzt Tausende, weil dür Tausende. Wir beide haben vergessen, wozu die Türme eigentlich da sind.«

»So, jetzt hab’ ich Sie endlich am rechten Zipfel. ‘s ist das Haargleiche wie mit den Herren. Sind die Türme zum Herabschauen oder zum Hinaufschauen da?«

»Zum Hinaufschauen, und das habe ich vergessen! Ich muss dir danken. Du hast mich nolens volens wieder auf die rechte Spur gebracht. Denn gescheit bist du, aber ob immer fürs Gute?« – Sie traten inzwischen zum Turmpförtchen hinaus. Hier begann der Friedhof mit einigen Gräbern der Pfarrer.

»Argumente,« forderte Sigi und gähnte in die Sonne.

»Von hundert Lustigern sind noch nicht drei in den Turm gestiegen. Aber das volle Hundert schaut tagtäglich ungezählte Male am Turm empor.«

»Das lässt sich hören,« sagte grossartig der Jüngling, spie graziös über einen Grabhügel und warf den Zigarettenrest nach.

»Bursche!« donnerte ihn der Pfarrer an, »Respekt vor den Toten!« Schwer legte er seine Pratze auf die Achsel des Jungen.

Sigi entwand sich mit einer eleganten Wendung, staunte den Pfarrer mit gekünstelter Harmlosigkeit an und sagte: »Da regnet es, da hagelt und schneit es darauf nieder, sogar Katzen und Hunde kommen dran, was ist nun da Besonderes? Haben Sie zu Ihren Zeiten noch keine Chemie studiert? Das da,« er fuhr mit dem Arm über das weite Gräberfeld, »das ist alles Chemie, ganz einfach Chemie. Ich kann Ihnen die Formel auf den Daumennagel schreiben.«

Carolus schaute ernst und fast schmerzlich den Prahlhans an. »Und die Auferstehung, Knabe, und die Ewigkeit? und Gott? Ist das auch Chemie? Wahrscheinlich hast du auch da eine Formel, die auf den kleinen Fingernagel geht.«

»Das habe ich nicht gesagt,« wehrte Sigi ab. Der Student fing an, vor Carls Schlagfertigkeit Respekt zu bekommen.

»Wenn du aber praktische Chemie studieren willst, so geh’ einmal in euern Weinkeller. Ich und alle Kirchenräte tranken am Sonntag bei euch eine Chemie, die uns Kopfweh machte. Die Flaschen schworen freilich, das Gesöff komme aus dem Markgrafenland. Wir aber rochen die Trauben des Laboratoriums.«

»Ausgezeichnet,« lachte leise und aufrichtig Sigi. »Das haben Sie Famos zurückgegeben. Aber nun garantier’ ich Ihnen, Sie sollen bei uns nur noch Messwein, bischöflichen Messwein trinken.«

»Das ist ein Typ, Herr Pfarrer, he?« sagte Johannes, der eben aus dem Turme kam. »Mit ist, ich trinke scharfen Most, wenn ich dem Student zuhöre.« Er tat, als sähe er nicht, wie hinter dem Fenster das Naschen und Bäschen Mili vergnügt winkte. Sehr gut beobachtete das unser Sigi.

»Herr Pfarrer, nichts für ungut,« schloss Sigi. »Sie haben jetzt eine Idee von mir wie von einem, der immer auf Stelzen geht. Nicht wahr, so? Bitte, laden Sie mich heut zum schwarzen Kaffee ein. Ich komme barfuss und mit Asche auf dem Haupt, wenn Sie wollen. Aber bitte, ich möchte heute so gerne ein halbes Stündchen mit Ihnen plaudern. Ihnen kann man alles sagen, alles ... Darf ich kommen um die Eins? ... barfuss?«

Der Pfarrer musste wider Willen lachen und nickte: »Komm nur! Und du auch, Hannes!«

Kapitel 9

Der Ilgensohn Sigi Quäler langweilte sich zum ersten Mal in seinem Dorf. Früher hatte er die Waldhügel nach Pilzen und Eichhörnchen auf und ab gepirscht, war dem Fluss durchs Tobel an den abenteuerlichsten Stellen nachgerannt, hatte an waghalsigen Stellen Eichelhähernester ausgenommen, war mit der Flinte verstohlen den Hasen oder Mardern auf die Spur gegangen oder er hatte sich als beliebter hübscher Junge mit frechem Geplauder in die Fenster der ebenen Sticklokale gesetzt und recht grüne, wilde Politik mit den Insassen verzapft. Am Abend war er dann zu den paar Stammgästen in der Wirtsstube gerückt und hatte mit ihnen gejasst und den alten, reifen Gesprächen wie ein Alter zugehört. Alles hatte den reichen, lebhaften Herrenbub trotz einer gewissen vornehmen Anmassung ... oder vielleicht gerade deswegen, denn wunderbarer ist das demokratische Gemüt in seinen Rätseln als der ganze Sternenhimmel ... hatte ihn gern gehabt, gehätschelt, verehrt und sogar die Bergbauern, die sonst steif wie Buchenscheiter sind, probierten die Mütze zu lüpfen, wenn er ein Weilchen so klug mit ihnen geredet und sie dabei mit seinen gletschergrünen und gletschertiefen Augen so gross angeschaut hatte, »als wollte er mich lebendigen Leibes anzünden und verbrennen«, wie der Mesmer sagte.

Und Sigi selber war verliebt gewesen in jeden Fleck dieses Hügellandes, in jedes alte Gemäuer, in jeden Brombeerstrauch, aus dem eine Eidechse schlüpfte und woran eine schwarze Frucht hing, in jedes Steingeblöck, worein sich das grüne Flusswasser verlor; Gedichte, Musik, eine flotte Zeichnung und besonders eine tüchtige Beredsamkeit, vom Bauer oder vom Regierungsrat, hatten ihn vor einem Jahre noch förmlich begeistern können, so dass der alte Ilgenwirt, ein ruhiger, lässiger Mann, zu seinem schnellen, aber undenklich zahmen Frauchen oft spöttisch sagte: man merkt, dass dein Grossvater einst Kandidat für einen Grossratsessel war. Der Glanz geht dem Bub noch heut nach ...

Nein, von Langeweile allein oder mit andern hatte der tolle Junge nichts gewusst. Die lernen unsere gescheiten Landkinder regelmässig in der überkurzweiligen Stadt!

Im letzten Winter begann Sigi das Universitätsleben. Er schrieb sich für juristische, sozialökonomische und historische Fächer ein. Lange hatte er an Chemie gedacht. Daheim trieb er immer laboratorische Abenteuer mit Kläpfen, Gestänken und schmutzigen Resten in den Retorten. Aber das historische Blut der Quäler überwog. Der Grossonkel hatte eine Chronik des Tales, ein Pfarrer Quäler sogar ein Schauspiel über den berüchtigten Bruderstreit der Grafen von Toggenburg verfasst und Titus Quäler, ein ganz Früher, hatte über berühmte Durchreisende des Thurtales eine ganze Beige blauer Hefte vollgeschrieben, um derentwillen Sigi, der diese Schätze hütete, mit Sekretär Hobis von Gons in Verkehr geraten war. Sigi selbst hatten einst Hannibal und Scipio, Sulla und Marius, dann Belisar und Totila und zuletzt die Fehden zwischen den Äbten und den toggenburgischen Untertanen mächtig beschäftigt. Er hatte nur eine jüngere, schwachsinnige Schwester, durfte einst ein stattliches Vermögen erben und dachte auf nichts als jetzt recht wie ein Prinz zu leben und zu lernen und später einmal wie ein König in einem engern oder weitern Kreise mit seiner Gescheitheit, seinem Geld, seiner abenteuerlichen Schönheit und seinem wunderlichen Gemisch von Gut und Böse zu regieren.

Nie war es ihm langweilig gewesen. Konnte er sich nicht in den tausend schönen Streifereien über Land und Waldhügel ersättigen, weil es regnete, regnete die endlosen, eintönigen Landregen des Sommers mit zehn Regenbogen an allen Himmelsrändern und zehn neuen katzengrauen Güssen, so dass die Luft wie nach einer ungeheuern Menschheitswäsche schmeckte und die Wolken wie aufgehängte, schwertriefende Hemden und Laken dieser Riesenfamilie fast die Erde streiften, dann hockte Sigi vergnügt wie eine Ofenkatze in die Fensternische seines Dachstübleins, von wo er Kirchturm, Pfarrhof, Kaplanei, Gärten, wasserschwere Birnbäume und durch die Pfützen platschende Menschen sah, während er einen Band Weltgeschichte auf den Knien, ein Glas frischen Most auf dem Tischchen und seinen geduldigen Pudel Wehleid unter den Füssen hatte und das Gefühl in sich nährte, dass jene Menschen dort unten in der Nässe durchaus so frieren und verdreckt werden müssen, solche erlesene Bürschchen aber wie er und vielleicht der Zellwig durchaus so bequem von der Höhe zuschauen, gelben Obstsaft schlürfen, sich ins Rückpolster lehnen und Dinge studieren dürfen, von denen jene andern nicht einmal eine Ahnung hätten. Für solche Menschen denken, das ist unser Amt, für uns schwitzen das ihrige, so! Dann lächelte er etwa, kommandierte: ruhig! dem Hund, der sich unter seiner Sohle unwohl fühlte, und besah sich in der Scheibe, ob er wirklich ein so zartes, rötlich überhauchtes Weibergesicht und einen solchen Kindsmund, aber solche Satansaugen habe, wie ihm der Johannes gesagt hatte. Er sprach dann sehr ausgeprägt und laut das Wort Barbar und Despota in den Fensterflügel hinein und betrachtete dabei das weiche Spiel seiner Lippen. Sobald er nämlich sprach, hob und bog sich die Oberlippe wie der Rand eines chinesischen Pagodendaches eigensinnig heraus; die kleinen, vom Rauchen gelben, dicht verkeilten Zähne glänzten raubtierhaft hervor, die Zungenspitze schlüpfte wie bei einem Schlänglein feuerrot bei jedem längern Worte heraus. Sie war zu lang, stiess kindlich an und konnte das sch nie recht aussprechen. Die Nase war gegen die Mitte ein wenig eingeknickt, und die Nasenlöcher standen seitlich und waren immer steif offen. Das gab dem Sigi ein fremdartig verwegenes Gepräge. In diesem hübschen Gehaben betrachtete er sich, gratulierte sich zu allen Besonderheiten, vor allem zu den Phosphoraugen, und las dann in der Geschichte so eigentümlich weiter, als ob er dieser blonde Sulla oder der blaugeäugte Oktav August wäre, er mit den seitlich gesperrten, schnaubenden Nasenlöchern und dem lebendigen Fell unter den Füssen.

Im Bösen und Guten, bisher hatte Sigi sich nie gelangweilt.

Auch in diesen regnerischen Sommerferien probierte er es mit der alten Gemütlichkeit seines Taubenschlages, wie die Mutter, Adlernestes, wie er sein hohes Kämmerlein taufte. Aber es gelang nicht mehr.

Er langweilte sich einmal, weil er das bunte, geräuschvolle Vielerlei nicht mehr um sich wogen fühlte, besonders jene künstliche laute Farbigkeit, womit die kleine Grossstadt seine Sinne fast besessen gemacht hatte. Denn seine ungeheure Sensibilität begann immer mit Farben. Hier im spinnwebgrauen Stüblein zog er dann als blasse Erinnerungen die seidenen Socken von verschiedenen weinroten Farben und die vielen Krawatten mit durchstickten gedämpften Gold- und Silberblumen auf violettem Grunde, wie sie gerade Mode geworden, aus der Schublade hervor und weidete sich daran.

Aber noch viel mehr langweilte er sich, weil es plötzlich nichts mehr von dem zu tun gab, woran er sich in Zürich die letzten neun Monate zuerst nur wie an eine neue farbige Schönheit, dann aber auch als an sehr fassliche Genüsse gewöhnt hatte. Er gab sich als vollendeter Egoist dabei nie unmässig aus, achtete peinlich auf Gesundheit und äussere Sauberkeit, aber hatte gar kein Gewissen, ob der andere Teil dabei viel oder wenig, ob er sich ganz verliere.

Erst vier Tage war er daheim und lauerte bereits ununterbrochen, ob wohl das Dorf, das er unter solchen Gesichtspunkten noch nie betrachtet hatte, denn auch gar nichts von den bewussten Annehmlichkeiten biete. Nicht das Plumpsackige, das auch hier etwa vorkam, dass ein Knecht der Melkmagd im Dunkel des Stalles nachstellt, sie wollüstig an den roten Schnurrbart presst, nicht dieses Klotzige wollte er, sondern hübsche, runde Gesichtlein auf der Strasse sehen, Artigkeiten schwatzen, mitsammen gehen, an einem verschwiegenen Plätzchen zusammensitzen, Arm in Arm ihrem Geplauder lauschen, es sozusagen wie Schneeglöcklein und Veilchen, aber nach und nach auch wie heftigere, gewürzte Nelken oder Blutröschen von den Lippen pflücken und immer wissen, ich darf diese Wange an die meine drücken, darf Küsse befehlen und geben, zehn, hundert, und sie ist glücklich und ich bin ihr meisterloser Meister; aber ich will das gescheitelte Haar nicht in Unordnung bringen, die Manschetten nicht beschmutzen, die Hosenfalte schmuck behalten ... kurz es ist fast etwas wie den Hund unter der Sohle warm und brav besitzen, nur gescheiter, schöner, sozusagen menschlicher! ... Freilich, mit dummen, wenn auch hübschen Mädchen verleidete es Sigi in der ersten Minute, er blies sie gleich wie eine Fliege von sich.

Wie schnell war er erfahren! Ach wie suchten diese städtischen Honigbienen seine Lippe, sahen in ihm mehr als einen der vielen städtischen Zierbengel, einen vornehmen Landjunker. Und wie er alle und jede mit seinen grossen Phosphoraugen bändigte und drangsalierte! Aber bald regierte diese billige Gelegenheit auch ihn. Bald konnte er es ebensowenig einen Tag ohne eine Mädchenlippe als ohne eine Zigarette aushalten. Er schwankte nur, was er von beidem eher missen könnte, je nach der Stimmung einmal das Mädchen, einmal die Zigarette. Beides schliesslich schien zum gleichen Zwecke da: rasch angezündet und mit ein paar duftigen Zügen gekostet und weggeworfen ... nein, vielleicht auch fertig geraucht und zu Asche verbrannt zu werden. Zuerst zitterte er noch, wenn er den Vergleich völlig zu Ende dachte. Später verglich er gar nicht mehr.

Nach kurzer Zeit bekam sein weiches Kindermäulchen eine bläuliche, verwaschene Lippe, seine Zähne schwärzten sich und in die wilde, kühne Schönheit seiner Augen mischte sich ein leiser fleckiger Zug von Gemeinheit, der beim Lachen oder im Zorne jedem kenntlich wurde.

Welch ein armes Dorf! dachte er nun oft, wo er selber unbewusst immer ärmer wurde. Dass ich das bis heute nicht merkte! Diese groben Kartoffelgesichter, diese Bauernschönheit so rauh wie ihre Schuhe und Strümpfe! Dazu nun noch dieser strenge Pfarrer, der wie ein neues Messer ins Dorfleben fährt und am letzten Sonntag so glühend gegen das Tanzen gepredigt hat!

Es gab, so weit er in diesen vier Tagen spähen mochte, ein paar schwache Ausnahmen. Aber das waren Jungfern, zu denen keine Gelegenheit führte, die schon verlobt waren oder zum vorneherein sich vor jedem Spiel wie vor dem Teufel bekreuzen würden. Die Schwester des Zellwig war hübsch, aber noch gar zu klein und mit dieser angesehenen Fabrikantenfamilie durfte auch Junker Sigismund nicht spassen. Der gleichaltrige, schon im väterlichen Geschäft wirkende Hugo Zellwig war ein zu gefährlicher Bursche, als Freund oder als Feind, wie’s kam. – O wie langweilig, und erst hat der August recht begonnen.

Das Mili hatte er als armes Geschöpflein früher, wenn es seiner Mutter beim Waschen und Putzen aushalf, nie beachtet. Jetzt sah er es mehrfach von weitem und staunte, was für eine gut gewachsene Person dieses Ding geworden sei, mit etwas zu steilen Achseln, aber einem vergnüglichen Hals, auf dem sich der blonde Kopf so melodisch hin und her neigte wie ein Windröschen. Und ihr Schritt, so leicht und bestimmt, wie er ihn von seinem Adlernest nun öfter bis zur Pfarrhoftüre verfolgt hatte, gefiel ihm ausnehmend. Vom Gesicht hatte er weder eine schlimme, noch eine angenehme Erinnerung. Er fieberte geradezu, es in der Nähe zu mustern, und irgendein Instinkt sagte ihm voraus, dass es sich lohnen werde. Darum hatte er sich aufdringlich zum schwarzen Kaffee ins Pfarrstüblein geladen.

Aber so manches Tässlein er schöpfte, immer war es die alte, haarzerzauste, seufzende Peregrina, die ihm die Sahne reichte. Das Mili blieb unsichtbar.

Carolus erklärte, dass die Beichtstühle aus dem Chor ins Kirchenschiff gehörten. Sie seien die rettenden Ankerplätze und Häfen für die herumgeschwemmte und ertrinkende Menschheit. Sie gehören ins Volk, nicht in die Ruhe des Chores, an dessen Stufen alle Brandung verebben müsse. Prachtvoll erklärte er das, auch sei es geradezu ein Gesetz der Kirche. Der Kaplan, der mitten im Vortrag hereingekommen war und auch sein Tässchen erhalten hatte, nickte ein fleissiges, aber schalkhaftes Ja dazu.

»Nun habe ich in der Sitzung der Kirchenräte bei Euch in der Ilge,« der Pfarrer wandte sich an Sigi und behandelte den Jüngling wohltuend wichtig, »nicht bloss die Renovation des Zifferblattes, sondern auch diese kleine Umstellung im Gotteshaus beantragt. Der Corneli sagte ungern Ja zum ersten, und ein steinhartes Nein zum zweiten. Und die Hasen von Räten stimmten mit. Ich blitzte, donnerte, hagelte, es nützte nichts. Warten wir! Nach und nach werden die Herren schon klüger. Einstweilen mach’ ich’s ohne sie. Ja, freilich, Bruder Fri ... do ... lin ... ohne sie. Die zwei alten Beichthäuschen und zwei neue kommen ins Schiff. Gutes Holz und einen geschickten Zimmermann hab’ ich schon ...« Herausfordernd sah er die drei Gäste an. Johannes gähnte.

»Peregrina, tut dem Pfarrer noch einen Zucker ins Schwarze,« spasste Eusebi.

»O du heimlicher, süsser Widersacher!« zürnte Carl, »salze du ein wenig dein Fleisch und Blut, das tät mehr not.«

»Ach, Bruder,« widersprach der kleine, flinke Greis, »gesalzen sind wir alle übergenug. Die andere Würze, die andere ... die Liebe ...«

Von seiner dürren, heisern Lippe flog dieses schönste irdische Wort ohne Klang und Fülle auf. Aber es war von sich aus so stark, dass jeder der drei Zuhörer eine gewisse Unruhe empfand. Es kam an den Pfarrer und dieser sagte: »Weg, du bist hier Schwäche!« Es trat zu Sigi und dieser schauderte leise und sprach: »Weg! Du willst nur meine Kurzweil zerstören ...« Vor Johannes aber stand es wie vor einem Schneemann. Ich kenne dich nicht, erklärte der Blasse, lass mich doch in Ruhe diesen Kirsch austrinken!

Sigi horchte auf jeden Tritt im Gange, auf jedes Türengeräusch, aber der blonde Zopf zeigte sich nicht. Da wurde er im stillen wütend über diese Hockerei. Was sind das für strenge Häuser, diese Pfarrhöfe, was ist das für eine herbe, allzu männliche Luft, mit Schnupftabak, Weihrauch und Weihwasser, wie kann ein frisches Blut nur Priester werden! Nein, nein, hinaus, das ist nicht meine Luft ... Eine sonderbare Art von Mitleid für das arme Mili rührte ihn. Als er aus dem kühlen Gemäuer wieder in die Nachmittagssonne hinauskam, schüttelte er sich wie erfroren.

Da traf es sich, dass er Johannes eines Abends vom Turme nach Hause begleitete und auf dem Bänklein vor der Türe das Mili traf. Einfach, aber blank in seinem blaugetüpfelten Sommerkleide sass es da und besserte einen Strumpf aus. Die letzte Sonne fiel über die Dächer und Dolden schräg ans Haus und berührte den glatten Scheitel der Jungfer, dass er wie rotes Gold flammte. Wie ein eng anliegender, oval zu den Ohren geschweifter, blitzender Kopfhelm leuchtete dieses glatte Haar. Eine Jeanne d’Arc, halb Bäuerin, halb Heldin, schoss es durch seinen phantastischen Kopf. Ruhig stand das Mädchen auf und grüsste gemütlich. Der Helm zerfloss in nichts. Sigi bemerkte sogleich, dass dafür etwas anderes, eine süsse, liebe Ordnung auf diesem Gesichte glänze. Diese kleinen, braunen, tiefen Augen, die wie zwei Lampen gleich hoch hingen, gleich viel Öl hatten und gleich hell leuchteten, diese glatte Stirne, durch die aber bei jeder Sorglichkeit kleine Schlänglein von Linien zuckten, das etwas spitze Näschen, der spatzenflinke Mund, wobei die Oberlippe wirklich in der Mitte wie ein Vogelschnabel sich in die untere Lippe hackte, besonders wenn das Mili scharf wurde, dann der silberige Seidenflaum ringsum, die gesunde, saftige, fast südländische Bräune des ganzen Gesichtes und dabei doch eine Klarheit, ja, Durchsichtigkeit des ganzen Wesens, als ob es immer Morgen wäre und immer ein erfrischender Wind über das Dirnlein bliese, nein, das war auch für einen, der sich auf städtischen Fluren verköstigt hatte, eine verlockende Weide.

Sigi hatte das Mädchen gewiss drei Jahre nicht mehr in der Nähe gesehen und auch jetzt sah er es noch nicht recht, da er mit Johannes heftig über die Farben stritt, weil jener dozierte, jede sei gleich schön, während Sigi das ins Violette spielende Weinrot über alles pries und überhaupt Johannes nur einen halben Maler schalt, wenn er in den Farben nur Farben und nicht Seelen sehe, ja, ganz verschiedene Wesen voll Leidenschaften, Gesichtern und Zaubern.

Sie setzten sich rechts und links zum Mili und erst jetzt, da das Jüngferchen mitredete, fiel der Zauber dieses Mädchens wie ein Himmel über Sigi.

»Sag’ du, ob ich nicht recht habe, Milmili,« sprach er es mit dem Schulmädchennamen traulich an und liess seine Augen rund und voll über ihren Scheitel aufgehen.

Aber ungeblendet und mit einer Stimme, deren Trockenheit ihn sofort etwas missvergnügt machte, belehrte Mili, sie hätten beide unrecht. Nicht alle Farben seien gleich prächtig, aber die vom Sigi gehöre jedenfalls nicht zu den schönern.

Gott, dachte Sigi allen Ernstes, wenn ihr dieses Weinrot auch am besten gefiele, ich wette unsere beiden hübschen Köpfe, dass wir wie ein Herz zusammengepasst hätten, sicher wie ein Herz oder doch wie ein grosses Vergnügen ...

Dieses Weinrot-Violett sei ein Etwas und ein Nichts, ein Zwitter. Ihr aber gefalle am besten das richtige Rot und noch mehr das richtige Blau. Dieses sei etwas Offenes, Ehrliches, Einfaches. Da könne man sich nicht verstecken und nicht missfärbig heucheln. Drum sei ja auch der Himmel so, der liebe, redliche Himmel über uns.

Diese Rede gefiel ihm gar nicht, er hörte heimliche Angriffe heraus. Daneben erquickte ihn doch, wie gescheit sie redete. Ja, ja dachte er, man merkt wohl, dass ihre Mutter keine Lustigerin, sondern eine ziemlich feine Frau von der Stadt war. Wie könnte das Mili sonst so hübsch sein? Freilich der Johannes ist auch hübsch! Dieser Tälerklüngel ...

»Und Grün?« fragte er, allen Phosphor seiner Augen in einem Schuss ausströmend.

Mili hielt diesen Blitz aus, ohne mit einem Lid zu zucken. Grün, o ja, das gefalle ihr. Grüne Wiesen, grüne Tannen, feiner grüner Salat oder Spinat! ... Aber dann gebe es ein Grün, das sogleich falsch werde, das mit Blau oder Gelb konspiriere, ein Schmutzfinkgrün, das liebe sie gar nicht. Entweder grün oder gar nicht grün!

»Donnerwetter, du redest ja so sicher wie eine Muttergottes.«

»Aber, Sigi!« wehrte das Mädchen.

»Was versteht ihr zwei wohl von den Farben?« fiel nun Johannes wie ein nachsichtiger Meister ein. »Ich hab’ Hunger, Mili, und da, schau, ist noch einer!«

Barfuss und hemdärmlig stand der Heli mit seinem breiten, geduldigen Gesicht und seiner Quetschnase in der Haustüre und lachte alle gütig an. Seine kleinen, braven Augen waren entzündet, auf seiner Stirne stand nichts als Fleiss geschrieben. Er schwitzte immer ein wenig. »Kann man essen?« fragte er, »sonst lad’ ich noch zehn, zwölf Gänge ab.«

»Jetzt verluft ein wenig!« gebot das Mili. »Sei doch nicht wie eine bare Maschine!«

»Lass ihn doch, wenn’s ihn freut,« meinte Johannes gefühllos. Dann merkte er erst das heimliche Winken des Heli und folgte ihm ins Haus.

»Ah, er will ihm das neue Muster zeigen,« erklärte Mili leise aber wichtig, mit der Oberlippe aufblasend. »Willst du’s auch sehen?«

»Das neue Muster,« wiederholte Sigi mechanisch und ganz verloren in dieses neue, so durchaus neue Persönchen.

»Johannes hat es für Vorhänge erfunden. Das heisst,« flüsterte sie, »eigentlich hat der Heli ihm die Idee gegeben.«

»Was ist denn das für eine Idee?« fragte Sigi und versuchte das Mädchen mit einem Blick auf die Bank zurückzuzwingen.

»Hop, ich muss zur Pfanne. Die Milch!« widersetzte sich das Mili und entschlüpfte wie ein Aal durch die dunkle Türe ins Haus. Nicht minder gelenk eilte ihr Sigi nach. Indes sie das Feuer aufstocherte und im Widerschein dunkel aufglühte wie eine Zigeunerin, dann den Kaffee absott, drei Ohrlappentassen auf den Tisch stellte und das schneeweisse Toggenburgerbrot auflegte, liess er sie wie ein wachsamer Kater mit keinem Auge los. Jetzt beim Zappeln und Schwänzeln um Tisch und Herd, sagte er sich, sie ist lustig und glänzend wie ein Goldfisch, aber gottlob nicht so dumm! ...

In allem Hantieren beschrieb sie das Muster: ein Vogelnest, Spätzlein, den Schnabel weit aufstreckend, fern die davonfliegende, futtersuchende Mutter und ein Mückentanz ringsum, ganz toll und froh, weil die mörderische Spätzin weg ist. Und die Insekten machen sich lustig über die aufgesperrten Schnäbelchen, blöd und hilflos schauen die Vögelchen in diesen Plaggeisterhumor hinein ... Zugleich lärmte Mili leise mit Löffeln und Tellern, stiess ihn jeden Augenblick, da er überall nahe trat und hinderlich war, mit rücksichtslosen Stüpfen aus dem Weg, und bei jedem Puff kitzelte und brannte es den armen Sigi vom Scheitel bis zur Zehe, je länger, je mehr. Sein Blut schwoll und sott wie die duftige Kaffeebrühe, die das hübsche Geschöpf nun durch den Sack in die Kanne goss.

Er verlor zum ersten Mal seine Sicherheit und schwatzte dummes Zeug.

»Drei Tassen nur! Sei barmherzig und gib mir auch eine!«

»Wenn die Milch reicht,« versprach das Mili. Sie schenkte ein, zuerst dem Heli, dann dem Johannes ... »Der Rest dir und mir!«

Dir und mir! Er wollte nur das hören, nicht das vom Rest. Dir und mir! Herrgott, wie das tönt!

Er staunte, als sie nun Käse und Brot und heisse Kartoffeln, sowie hartgesottene Eier, aber nur zwei, je eins für Heli und Johannes, und kalte süsse Zwetschgen auftischte. Das Geschirr war sauber, aber abgenützt und zerkratzt. »Wir sind gar nicht so arm,« kam sie ihm rasch zuvor. »Der Zellwig zahlt dem Johannes für jede gute Zeichnung, die ins Sticktuch passt, sechzig Franken. Der Hugo holt sie, und wenn er sagt, das sei gut, so sagt’s auch sein Vater und zahlt es bar.«

»Hierher kommt der Hugo?« fragte Sigi mit stiller Empörung.

»Und sitzt, wo du sitzest, und nimmt mit uns das Nachtessen ... aber auch ohne Ei!«

»Und ich wusste nichts davon,« brauste Sigi auf und schob das Pagodendächlein empor, »und langweile mich abends entsetzlich und werde nie eingeladen ... und sitz heut zum ersten Mal da, weil ich mich frech selber eingeladen habe. Meitli, das ist wüst von dir!«

Verwundert betrachtete das Mili den Zornigen ... Sie glaubte, er spasse. Wunderschön war er, wie ein schimpfender Engel, wenn nicht so grünes Feuer aus den Augen schwefelte.

»Nein doch, was hast du für ein grünes Licht im Auge! Zum Fürchten!«

»Und der Hugo hat wohl goldgelbes zum ... Sich-verlie ...«

»Ich weiss nicht einmal, ob er graue oder braune Augen hat,« sagte sie hell auflachend und strich ihm mit einem Wisch übers wachsgelbe Haar. Diesmal vergass er, mit dem kleinen Finger die zerstörte Scheitel wieder zu schlichten.

»Das weisst du wirklich nicht?« rief er aufatmend.

»Was hast du,« begann sie und merkte auf, »was gehen mich eure Augen an? Habt ihr Streit miteinander?«

»Nichts, gar nichts,« antwortete er mit ganz gewöhnlicher Stimme, aber innerlich wütend. Er fühlte sich schwer in seinen Rechten verkürzt. Ihm fiel ein, dass niemand zur Zeit der Not so viel Trost, in aller Abendheimlichkeit niemand so manchen Korb mit Brot, Mehl, Butter, Käse ins Tälerhaus getragen habe wie seine Mutter. Doch solches zu erwähnen, dazu war er selbst noch im Zorne viel zu nobel. Aber das andre!

»Hast du vergessen, dass wir eigentlich Verwandte sind?« fragte er gelassen und wollte, um seine Aufregung zu verbergen, bereits zum Käse greifen. »Schäl’ mir die Kartoffeln da,« befahl er und sah seine rötlichen, schlanken Fingerspitzen an. »Sie sind mir zu heiss!«

»Keine Minute vor den andern kriegst du was,« entschied das Mili und zog ihm kurzweg den Teller weg.

»Du bist ja der reinste Kommandierteufel geworden,« spottete er. »Gehorchen sie dir denn?« fragte Sigi und wies in den Gang hinaus, wo Schuhlärm die Kellertreppe herauftönte.

»Hier befiehlt niemand und darum muss auch niemand gehorchen.« Sie fühlte nicht, was Grossartiges sie da in aller Einfachheit sagte, aber der geistvolle Ilgensohn spürte es sogleich.

»Das scheint mir unmöglich,« entgegnete Sigi und mass die schöne Hexe mit misstrauischen Blicken. »Du warst doch schon so ein verflixter Regent in der Schule. Aber den Zopf hab’ ich dir doch ein paarmal um die Ohren geschlagen. Verzeih,« verbesserte er sofort, indem er jene Schulkinder-Abenteuer jetzt als unpassend und roh empfand. »Jetzt tät’ ich’s nicht mehr.«

»Hoffentlich,« gab das Mili belustigt zurück. »Aber wie sind wir denn eigentlich verwandt? Ich nahm an, allerwenigstens im fünften Grad, sonst marschierst du mir sofort da hinaus.« Scherzend wies sie zur Schwelle. Dabei lachte sie in all ihrer südlichen Bräune, wozu das blonde Haar so merkwürdig kontrastierte, so dass Sigi immer dachte: deutsches Korn und welsche Oliven oder Orangen. Die hat ihre Ahnen sicher um Rom herum gehabt.

»Aber auch nicht zu stark verwandt, verstanden!« Er sah sie mit verzehrenden Blicken an, fühlte dabei alle Dummheit seines Schwatzens und machte einen dürftigen Versuch zu spassen.

»Keine Gefahr!«

»So verwandt, dass man sich noch heiraten könnte, ohne nach Rom telegraphieren zu müssen.«

Jetzt zog Mili die blaugewürfelte Schürze übers Gesicht und lachte die herzlichsten Schollen hinein. Sie wischte sich den leichten Schweiss oder Küchendunst von den Wangen und sagte dann: »Der Papst würde mir nie erlauben, so einen zu heiraten, wie du einer bist ... so einen ... so gescheit ...«

»Ist das ein Ehehindernis?«

»Langsam, langsam ... so gescheit fürs Schlimme,« das Jüngferchen wollte scherzen, aber kam, ohne es zu wollen, in Ernst ... »So gefährlich, sagt man ... so gottlos ... sonntags zur Messe immer ausserhalb der Kirchentüre stehen und vor dem Segen davonlaufen ... so einen, ja, ja, man weiss allerlei ... Zürich liegt nicht am Ende der Welt ...«

»Aber Mili,« wehrte sich Sigi. Zum ersten Mal hörte er frech einen Verdacht über sein Studentenleben laut werden. Der Vater kümmerte sich um nichts als um das Geschäft, die Mutter wusste nichts, der Pfarrer runzelte leicht die Stirne, diese aber schrie es keck heraus.

»Ich sah nichts ... ich untersuch’ nichts ...« rief sie hell und heiter und zog die Schürze wieder straff übers Knie. »Aber der Heilige Vater zu Rom liesse mich niemals mit so einem ... so einem grünäugigen, eidechsenäugigen ...«

»Lieber Himmel,« jammerte er mit komischer Untröstlichkeit, »was kann ich für meine Augen. Gott hat sie mir gegeben. Dank sei ihm! ... Nun hör’: dein Grossvater, der Lunzi Rack und der Schwiegervater meiner Mutter, der Simon Rack, der die Tobelbrücke ausgebessert hat, sind Brüder gewesen. Jetzt möge Rom entscheiden, wie man diese Verwandtschaft heisst. Ich fang’ unterweil mit Käse und Kartoffeln an ... Da, schäl’ mir doch die!«

Mili nahm die schönste aufgesprungene Kartoffel und verschnitt sie dem fernen Vetter in den geblumten Teller, säbelte feine Käseschnefelchen dazwischen und sagte ohne jegliche Untertänigkeit: »Nun Kaffee dazu, das schmeckt!«

»Und ein Ei bekomm’ ich nicht?«

»Nein, feiner Vetter, das gibt’s nur für die Brüder. Die haben nicht gefaulenzt.«

»Und den schlechtesten Teller gibst mir überdrein, schau da! Gespalten und zernagt, als ob du einst zu wenig zu essen gehabt hättest!«

Diesmal wollte sie böse werden. Aber da rumpelte der Heli herein. Und sie erwiderte nur: »Du hast exakt den Teller, den du verdienst.«

Sigi verbeugte sich: »Im Käfig muss man’s nehmen, wie’s kommt.«

»Aber wenn der Käfig gewünscht wurde ...«

Sigi biss sich auf die zu lange und diesmal zu ungeschickte Zunge.

»Was habt ihr vom Käfig?« fragte Heli und fing gleich an, geräuschvoll zu essen und Käse und Kartoffeln mit den Fingern zu packen.

»Ach, Dummheiten schwatzt der Sigi wie immer,« beschwerte sich das Mili.

»Nein,« fuhr Heli fort und sah mit seinen kleinen, tiefen Augen irgendwo ins Küchendunkel, »nein, das mit dem Käfig ist keine Dummheit. Schau, Meitli, wenn ich so sitz’ und schaff’ in der Kellerstube und nachsinn’, was man alles von draussen hereinnehmen könnt’, Bäum’ und Hütt’ und Hühnergeier und Eichhorn und Geissen und noch viel, viel mehr ... nur wie, wie? Das ist die Frage! ... Und wenn ich’s so hereinspinn’ und die Sonne dazu und die Sterne und sogar den Viertels- und Halbmond ... und noch viel mehr, ich kann’s nicht sagen ... da ist mir, der Keller sei der schönste Käfig, viel schöner als die Freiheit draussen, wo man ertrinkt und dann gar nichts hat ... Und einfach, ich möcht’ gar nicht mehr hinaus ... Aber woher hast diesen Käse, das ist verdammt guter!«

»Werd’ mir nur nicht so ein Sonderling wie der junge Wildberger,« warnte Mili.

»Und ich hingegen möcht’ hinein und wieder hinaus und nochmals hinein, weiss der Teufel,« phantasierte Sigi.

Johannes trat jetzt herein. Er hatte sich umgezogen. Trüge er so hübsch geschnittene, englische Kleider wie Sigi, er machte mit seinem blassen, kühlen, sorglosen Gesicht und den langen Beinen eine noch aristokratischere Figur als selbst dieser Galan von einem Sigi.

Jetzt bemerkte Heli, da er sein Ei aufklopfen wollte, dass der Gast keines habe. Gutmütig reicht er ihm das seinige: »Nimm nur, ich esse mich an den Kartoffeln satt.«

»Halt!« wehrte das Mili mit schneidigem Blick. »Das geht nicht, das issest du!«

»Dulden, dulden,« deklamierte Sigi. Johannes lachte mutwillig. Er hatte sein Ei schon gegessen.

Da schob Heli seines verstohlen dem Bruder zu. Mili sah es mit schief gehängten Lampen und leichtem Aufplustern des Lippenflaumes, aber sagte doch nichts, und Johannes ass mit glücklicher Selbstverständlichkeit auch das zweite Ei. Sigi drohte dem Mili mit dem Finger: »Zehn Minuten sitz’ ich hier und schon sind zehnmal zehn Ungerechtigkeiten über mich hingegangen.«

»Und wollt ihr denn gar nichts Neues wissen?« fragte nun Johannes. »Etwas ganz Munteres ist geschehen. Das kann noch krachen.«

»Was? wie? heraus!«

Gestern Nachmittag, erzählte der Maler gemütlich, seien die Kirchentüren, die tagüber doch immer offen stehen, von innen verriegelt worden und Zimmerleute und Maurer hätten darin mächtig gelärmt. Bis Mitternacht! Für heute sei nur eine Frühmesse in allem Hergottsdunkel verkündet gewesen, und gleich wieder seien die Portale gesperrt worden. Gegen Mittag sei dann der Corneli langsam, langsam und blässer als eine Leiche mit dem Dorfweibel zur Kirche hinaufgeschritten und habe mächtig ans Tor geklopft. Kein Einlass, auch im Pfarrhof nicht! Da habe er ein Pergament aus der Tasche gezogen, der Weibel ein Kerzlein angezündet und so sei das Blatt an die Türe gesiegelt worden mit dem Kirchenratsstempel. Johannes habe die paar Worte gelesen: »Im Namen der Kirchgenossenschaft, wegen ungesetzlichen, eigenmächtigen Handlungen am Kirchengut, ohne Zustimmung des Rates, klagen wir beim Bischof. Cornelius Bölsch, Präsident.«

Dann sei der Ammann majestätisch, ohne ein Wort zu reden, das Dorf hinunter heimgekehrt. Der Weibel habe ihn ehrfurchtsvoll bis zur Haustüre begleitet, wo Cecili mit harten, nassen Augen ihn am Arm ergriffen und über die drei Stufen hinaufgeführt habe. Aus den Dorffenstern hätten die Leute geguckt wie bei einem nahenden Gewitter ...

Das Mili faltete die Hände zusammen wie beim Beten.

Und nun sei vor zwei Stunden eine Depesche aus der bischöflichen Pfalz im Pfarrhof angelangt: »Unternehmung womöglich sistieren. Hochwürden werden morgen um zehn Uhr vormittags präzis in der bischöflichen Kanzlei erwartet.«

Johannes gab das vom Munde wie frisches, Lustiges Wasser. Das Mili ward immer trauriger. Der Kaplan hatte am vorletzten Sonntag auf seine einfache Art gepredigt, dass wir uns oft und oft im Tage fragen sollten: wo ist Christus? Das sei eine prachtvolle Wegweisung. Denn das Gewissen antworte sofort, ob Christus im Moment bei mir oder ferne sei. Und nun, so oft sie von den Zwisten der beiden verehrten Männer hörte, stach sie immer diese Frage: wo ist Christus? Er musste doch beim Pfarrer sein, das unbedingt! Der Pfarrer ist ja der besondere Diener des Herrn. Aber wie? Unglaublich, wenn Christus nicht auch beim Ammann wäre, der zwar oft hart und harzig sein kann, aber doch so kindlich betet, so eifrig zur Messe geht, so oft einen schelmischen Blick Güte und Liebe aus dem felsigen Kopf hervorschimmern lässt; der sein steifes, altes, übermüdes Bein noch innig zum Rosenkranzgebet beugt, die Evangelien eines jeden Sonntags auswendig weiss! Wo ist Christus? Kann er an beiden Orten sein? Ach Gott, wie ist das?

Heli hörte so halb und halb zu, ass und gähnte dazwischen. Sigi aber sann schadenfroh: ja, lieber Pfaff, es tanzt auch mir nicht alles nach der Pfeife, nicht einmal dieser grüne, schwache Schnitz da; und du willst das ganze Lustigern und seinen ehrsamen Tat und gar noch den gewaltigen Ammann am Bändel drehen! Und wieder dachte er, sowie er nur einen Blick auf das frische Mädchen, diesen grünen Apfelschnitz warf: ach, diese kühlen, blutlosen, kirchenpolitischen Sachen, es rauscht wie alte Buchblätter, aber gibt nicht Schatten noch Frische. Leben, Leben! Der Kuss von einer solchen Lippe ist mehr wert als alle kanonischen Dispute. So ein weiches, rundes Kinn in die hohle Hand zu nehmen und den kleinen, feinen Puls durch alle Finger zu spüren, das geht über alle Belehnung mit Inful und Stab ...

In dieser Nacht, die einen runden, ausgereiften, zitronengelben Mond über den Ilggarten niederlachen liess und den kleinen Springbrunnen und die Dachspeier am Pfarrhof, aber namentlich die einsamen Stundenziffern am Turm zu flüssigem Gold umzauberte, in dieser schönen, schweigsamen Dorfnacht, wo nur etwa in einem nahen Stall das unruhige Mutterkalb sich an der Krippe rieb oder ein Pferdehuf im Rosspferch auf den Strohboden schlug, in dieser Nacht schlief Sigi miserabel. Er zog die Vorhänge zu, dass der Mond nicht hereinspotte. Er las in Carlyles französischer Revolution, dann wieder in Kleists Penthesilea, warf die Bücher auf den Boden und sagte sich dutzendmal, da geschehe etwas Neues in ihm, ward zornig darüber und freute sich doch, schmiedete Pläne, wie man das Mili ins Ilgenhaus bekommen könnte, streckte dann die gesunden, faulen Glieder und zog sie wieder wollüstig zusammen, schwitzte, warf die Decken weg, kehrte sich zur Wand und zählte eintönig eins ... zwei ... drei ... vier ... um nur endlich einzuschlafen, da es vom Turme schon die zweite Stunde nach Mitternacht aufs Ilgendach niederdonnerte ... fünf ... sechs ... fünf ... sieben ... sieb ... lieben ... lieben ... sechs ... Sie ... sil ... mili ...

Ach was, es ging einfach nicht. Er sprang wieder aus dem Bett und wäre am liebsten ins Freie und den Hügel hinauf geabenteuert. Aber das philisterhafte Dorf! Ein Spaziergänger nachts um die zwei! Wenn das eine Schlafmütze sähe! So schlüpfte er nur in einen alten Wintermantel, setzte sich ans Fenster und bemerkte nun erst recht verblüfft, dass drüben im Pfarrzimmer auch noch die Lampe durch die Vorhänge leuchte. Dann und wann fuhr ein grosser, unbestimmter Schatten vorbei.

Das tat ihm wohl und ohne noch etwas zu merken, nickte er im Lehnstuhl ein, das unheimliche Gesicht geradeswegs in den vollen Mond gerichtet. Das Antlitz in seiner unruhigen Schönheit sah aus wie ein Feld, in dem sich eine Schlacht entsponnen hat, nun eine Kampfpause eintrat und niemand weiss, wie es endet.

Kapitel 10

Carolus Bischof verbrachte eine weit schlimmere Nacht.

Die Beichtstühle sassen nun festverankert und wohlgefügt in den Wänden des Kirchenschiffs und die hohe Opposition der Räte stand vor der fertigen Tatsache und konnte Aug’ und Maul aufreissen, so weit sie wollte. Aber jetzt?

Solange die Stemmeisen und Hämmer lärmten, hatte der Pfarrer nichts als Genugtuung empfunden. Nun alles vollendet und Stille war, fing ein leises Unbehagen an, seine grauen Fäden um ihn zu spinnen. Ich zahl’ die Kosten aus freiwilligen Beiträgen, der Kirchensäckel soll keinen Rappen schwitzen ... Dennoch, eine schlichte innere Stimme blies ihm ein, es handle sich da nicht bloss ums Geld und woher es komme.

Da zückte die Depesche des Bischofs ins Pfarrhaus. Sie schlug wie ein Blitz ein. Das klang ja wie Tadel und richterliche Vorladung gegen ihn, den makellosen Mann, der den Kirchenschild vor jedem Stäubchen so eifersüchtig hütete. Jetzt, nach zwanzig stürmischen Priesterjahren in einem radikalen Dorf, musste ihn dieses beschämende Schicksal ereilen und dazu in einer sprichwörtlich katholischen, treuen, tintenschwarzen Gemeinde. Offenherzig wie er war, hatte er das knappe Telegramm vor dem Sigrist, vor Johannes und dem Postbuben laut und grimmig vorgelesen.

»Est modus in rebus ...« hatte ihn Eusebi zeitig gewarnt.

»Das sagt ein Heide.«

»In necessariis unitas, in dubiis libertas, in omnibus caritas ... das sagt Augustin, ein guter Christ.«

»Geh, geh, mir ist der Kopf ohnedies voll,« bat Carl.

Ja, der Modus! dachte er jetzt und wanderte ruhelos um den bücherbestellten Tisch in der Kammermitte herum. Der Mond warf eine breite, gelbe Woge über den Boden. Jedesmal, wenn Carl in der Runde an diese goldene Flut kam, stutzte er ein wenig und rannte dann rasch hindurch, als scheue er sich, sein dunkles Gewissen durch eine so fröhliche Helligkeit hindurchzuführen. Der Modus! Davon wird morgen der Bischof sprechen, dieser kühle, sachliche, alle Fräcke durchdringende violette Menschenkenner! Carl nagte an den Fingernägeln, das war eine alte, bübische Gewohnheit bei heftigen Stimmungen.

Über dem Bett hing das Bild seines heiligen Patrons, des Carlo Borromeo mit den stillen, dunkeln Italieneraugen und der ungeheuren Bogennase. Nun, der hat auch nicht viel Federlesens mit den arroganten Weltlichkeiten gemacht. Zwar Freund Eymann, der triftige Historiker jener Tage, hatte ihm jüngst durch Eusebi einen Band Borromeischer Briefe übersandt. Zur Erbauung! sagte die boshafte Dedikation. Seltsam, dieser Kardinal, scheinbar aus Feuer und Eisen, konnte so warm bitten, so schonend tadeln, so geduldig warten, ja zugeben und nachgeben und sich gegen alle seine Natur zu einer frommen Langsamkeit bequemen, wo er lieber blitzartig dreingefahren wäre. Jahrelang löste er an einem Knoten und hatte doch das Schwert der Gewalt neben sich.

Und ich stürze gleich nach Holz und Zimmermann, versperre die milden Pforten der Kirche und handhabe die schroffe, scharfe Faust der Gewalt. Und bin nur ein Pfarrerchen, ein gewaltig hochgewachsenes zwar, aber doch ein Pfarrerchen in einem Hinterdörfchen der Welt. In meinem Alter war der Mailänder schon ein reifer Heiliger und ich gäre noch wie Kindermost. Er erinnerte sich an den bösen Augenblick am Vormittag, da der Corneli mit seinem alten, müden Knöchel ans Tor klopfte und als er die bebende Stimme des Achtzigers hörte: öffnet!

Da hatte auch er eine Minute lang gebebt. Er wagte kaum zu atmen. So nahe und zugleich so ferne standen sie sich in diesem Moment!

Immer wieder musste er sich nun den Greis vorstellen, engatmig, matt, die leichenhafte Stirne im Schweiss, gerade vor der Tür, die den Müden, den Stolzen, den Uneinigen und Ratsuchenden immer offen stehen müsste. Er sah seine Hände zittern und ans Herz langen. Denn so ein Streich war seiner alten Ehre und Würde und Gerechtsame noch nie widerfahren. Carl hörte sein Geschnauf, sein Tasten an der altertümlichen Türfalle, dann das Anheften eines Papiers, einen Seufzer, das matte, schwere Weggehen die Stufen hinunter ... Dann winkte er hurtig den Arbeitern und suchte mit dem äussern Lärm einen anhebenden innern Lärm zu überschreien.

Jetzt in der Totenstille dieser unbarmherzig scharfen Mondnacht gelang das nicht mehr. Jetzt wollte dieses heimliche Geschrei der Seele gehört werden.

Warten ... sich gedulden ... mit Liebe vorgehen, hab’ ich das je ernstlich probiert? Aber man kann auch zu viel warten. Der Eusebi würde warten bis in den Sarg hinein, wenn es drin schon übel riecht! Wenn man nur immer wüsste, wann, wie lange warten! Heute vielleicht? Heute wäre es wohl weiser gewesen zu warten, als diese ... brutale, ja, ja, das war es schon ein wenig ... brutale Zwängerei. Wird der Herrgott wohl daran seine himmlische Freude haben? War es so nötig? So wichtig? Beichtet man nun besser? lieber? Wenn du nun stürbest, sofort, in dieser Minute, würdest du dich wohl vor dem Richter gerne auf die heutige Tat berufen? Auf die klopfende Greisengestalt vor der verriegelten Türe? Auf so eine Rechthaberei? – Beinahe wünschte Carl, es wäre alles Traum und morgen ständen die Beichtstühle am alten, verhassten Ort.

Er sah voraus die vielen Gesichter voll roher Neugier, wenn er am Sonntag mit dem Weihwasserwedel durch das Kirchenvolk schritte, vorbei am aufrechten, bleichen, totenstarren Ammann, diese lauen, herzlosen, schadenfrohen Augen, deren im besten Dorfe so viele leuchten und sich am Streit der Grossen freuen und daraus Profit fischen. In wie vielen Familien wird man sein Draufgängertum unpriesterlich finden, misstrauisch werden, das Zutrauen völlig verlieren!

Aber jetzt kann er nicht mehr zurück und etwas Schönes ist es unbedingt mit diesen vier saubern Häuschen im Schiff, und gemeint war es gut, und keiner, dem es missfällt, braucht auch nur einen Batzen aus der Tasche zu klauben. Und schliesslich hat die Kirche denn doch nicht so mir nichts dir nichts die Satzung aufgestellt, sie möchte es so haben. Was ein Dorfbäcker oder Schenkwirt oder alter, vertrockneter Ammann dazu meint, bedeutet denn doch gegenüber dem uralten, festen Satz der Weltkirche so viel wie Null. Das sind Bauern, in ihren zähen Boden hinein verbauert, und Sticker, in ihrem Maschinendienst erstickt. Was sollen die hineinreden dürfen, hineinreden können in das gewaltige Rauschen des christlichen Weltbaumes, grob in sein ewig Laub greifen, im zarten Bluest grübeln und gar noch sagen: das soll so blühen und das so! Dieser Zweig gehört hierher, jener dorthin! Pagani, Pagani!

Sie verstehen kein Wort Latein, wissen nichts von Stil und Canones, sehen nicht über ihren Kamin und ihren Beutel hinaus, lassen andre schwitzen und zahlen, wenn es drauf und dran kommt, und wollen dennoch über die Peterskuppel hinaus ihren billigen Dorftabak hinausspucken, die Grobiane, die Pag ...

In dieser Sekunde war der oberste Mondstrahl über den Rahmen auf den welschen Kopf des Kardinals geglitten. Die Augen schienen jetzt weich und flüssig, die Nase sanfter gebogen, das Kinn nicht mehr so eigensinnig gehakt, eine süsse Verklärung glomm aus dem abgehärmten Bild und Pfarrer Bischof konnte das Grobiane und Pagani, das ihm noch in den Zähnen stak, nicht mehr ausgeben. Es hätte wie Fluchen getönt.

Müde sass er aufs Bett wie einst als Student, wenn er nachts noch in den Königsbüchern des Alten Testamentes studiert oder von den genialen Taten eines Athanasius und Chrysostomus gelesen hatte und vor wallender Begeisterung einfach nicht schlafen konnte, noch wollte. Jetzt, ach wie anders, wie alt war er schon! Jetzt wollte er, aber konnte er nicht.

Schon längere Zeit schlafe ich übel, bekannte er sich leise, fast geringer als in Gons. Und doch sagte der Reverendissimus, dass ich in Lustigern unter die Schlafmütze gerate. Das werd’ ich ihm morgen entgegenhalten, beschloss er mit kindischer Freude. ‘s ist überhaupt bei weitem nicht so, wie er mir dieses Dorf schilderte. Lustigern! Schon das Wort ist eine Lüge. Recht lustig bin ich hier noch nie gewesen und recht lustig hab’ ich erst zwei, drei unvernünftige Kinder lachen hören ...

Jetzt schlüpfte der Mond über seine gewaltige Brust zum runden Kinn empor und wollte absolut zärtlich tun und schmeicheln. Rasch sprang Carolus auf und rannte wieder mit den ungeheuerlichen Beinen um den Tisch herum.

Auch träume ich seit Wochen die ganze Nacht durch. In Gons passierte mir das selten. Jüngst bei der Messe hätte ich beinahe den Segen vergessen. So zerstreut war ich noch nie. Das muss anders werden. Ich sitze und denke zu viel. Ich habe zu wenig Arbeit. Ich will mehr Arbeit, viel mehr Arbeit!

Und sofort sah er einen Turmbau mit Gerüsten und Seilen und auf und nieder gleitenden Fudern Stein- und Kalkkübeln und Wasserbottichen. Und ein Ameisengewimmel von Armen und Beinen hoch ins Gewölke, bis zu einer prachtvollen, fast den Himmel durchbrechenden Helmspitze empor. Gleichzeitig schlug es drei Uhr, träge, schwer, niedrig, fast am Boden schleichend vom wirklichen Turm. Nie war der Schall dem Pfarrer so knickerig und gemein vorgekommen. Er knickte beinahe zusammen und musste sich erschöpft in den Lehnstuhl setzen.

Ich werde die Bude wechseln, versprach er sich. Im hintern Eck gegen die Tannen und den Friedhof, wo mir keine Strasse und kein Mensch zum Fenster hinaufschaut, dort schliefen die alten Pfarrer, die Hinrich und Rüdli so posaunentief, dass kein Erdbeben sie weckte. Nur der Clamor nächtigte hier und sprang aus diesem Fenster in den Schnee hinunter. Sonderbar, nur er ... und ich!

Carolus wollte sich nicht mehr ausziehen. In zwei Stunden läutete es ja schon zur Frühmesse und dann musste er sofort das Stündlein bis zur Station Uzli ablaufen. Er ging mit einer Kerze in die dunkle Stube, in die Küche hinaus. Ein heilloser Durst stieg ihm plötzlich die Kehle empor, als er das Brünnelein hörte, das Peregrina nachts immer leise aus dem Hahn in den Schüttstein träufeln liess. Die Mäuse, meinte sie, kämen bei solchem steten Geräusch nicht aus ihren Löchern hervor.

In diesem Moment schlurfte etwas durch den langen Gang, ohne Licht, leise, sicher. Eine unruhige Vorgängerseele? Der Clamor etwa, von dem es hiess, er geistere beim Mond auf dem Friedhof herum? O nein, es war das tröstliche Gesicht der Tante Peregrina im ungeheuren weissen Haarschudel. Sie hatte einen katzenleisen Schlaf und ging auch wie eine Katze im Nachtdunkel sicherer als im grellen Mittag.

»Was macht Ihr jetzt da wieder, Herr?« fragte sie weinerlich.

»Hab’ ich dich geweckt? Das wollt’ ich nicht. Mir ist so heiss und ich vergeh’ vor Durst, aber es ist schon längst Mitternacht.«

»Drei Uhr, Herr!«

»So geh’ du wieder ins Bett, Tantchen!«

»‘s ist nichts mehr mit dem Schlafen.«

»Dann mach’ dir sogleich einen guten Kaffee! Wenn du trinkst, mein’ ich, es lösch’ auch mir den Durst.«

Sie lächelte schwach, knüpfte die Schürze um, strich den Haarwisch ein wenig zurück und braute dann gehorsam den Kaffee. Indessen die Scheiter knisterten und der wunderbare Duft Arabiens durch diese nordische Steinplattenküche schwelte, mass Carolus den Raum mit grossen Schritten kreuz und quer. Gerne hätte Peregrina gesagt, dass der Bischof ihm nichts zuleide tun werde, dass man einem so herrlichen Mann, wie Carolus einer sei, nicht ein Haar krümmen werde, doch dass eben immer die Besten und Reinsten am meisten geprüft werden. Aber sie schwieg wohlweislich, da solches Trösten ihn nur reizte.

Während sie nun am Tische sass und eine Tasse nach der andern langsam und mit dem Kaffeegenie alter Pfarrköchinnen leerte, setzte sich Carl nebenan und dachte bei jedem ihrer Schlücke: was wissen doch die Weiber so gar nichts von grossen Dingen! ... Eine neue Bluse, eine Haarnadel, das Pfund Schmierseife um fünf Rappen abgeschlagen und freilich Kaffee ... Kaffee ... das ist ihre ganze Weisheit und Sorge. Und so verstehen sie uns Männer mit dem Weltgewicht auf jeder Achsel absoluti nicht. Und ‘s ist besser so. Sonst schlügen sie mit ihren neugierigen Zöpfen auch noch in alles Staats- und Kirchentum hinein ... O ich habe an den Mannszöpfen, an diesem einen Cornelizopf genug.

Geduldig wartete er ein hübsches Weilchen, dann sagte er schonend: »So, das ist die dritte oder vierte Tasse! Könnten ...«

»Die dritte! ... Nein, wenn Hochwürden meinen, ist es wohl die vierte ...«

»Trink nur sechs, sieben meinethalb. Aber unterdem könnten wir vielleicht trotzdem den Psalter beten. Das macht so ruhig.«

Und ohne auf Bescheid zu warten, zog er einen langen Rosenkranz aus der Tasche, den ihm ein befreundeter Palästinapilger heimgebracht hatte und dessen Kügelchen aus Zedern vom Libanon geschnitzt seien. Sie sahen vielleicht wirklich von der orientalischen Sonne, aber noch viel mehr vom häufigen betend-durch-die-Finger-Ziehen so braun und zutraulich aus. Carl selbst war dann das folgende Jahr auch nach Palästina gewallfahrt und hatte noch vor Jaffa einen grausigen Sturm erlebt. Damals fing dieser Rosenkranz an, vor Mühe und Not so redet verschwitzt und braun zu werden. Sie konnten weder einlaufen, noch sich in die hohe See hinauswagen, wurden geschüttelt wie Kaffeebohnen, die man in der Pfanne röstet. Jedesmal, wenn so eine pfarrhaushohe, grüngraue Woge dahertanzte, packte der Gonser Pfarrer die Kügelchen fester, betete lauter, schwitzte stärker und schloss regelmässig: Schwimmen kann ich wie ein Stein, ertrinken muss ich, wenn du nicht über die Wellen wandelst, Jesus Christus, wie weiland und uns an deiner Hand herausziehst ... Der König der Elemente kam nicht gewandelt, aber legte wohl seine weisse, flache Gotteshand über den unübersehbaren Wassergrimm. Nach Mitternacht konnte man näher fahren und mit Schaluppen ans Land setzen. So oft nun Carl in Bedrängnis steckte, tröstete er sich: so wie vor Jaffa bläst der Sturm doch nicht ... und auch dort ging’s vorbei! Und wie er nun den orientalischen Rosenkranz ergriff, erfüllte ihn dieser Trost wieder. Auch der Bischof lässt kein solches Gewitter über mich los, und Lustigern, o, was das Backen zum Windblasen hat, fürcht’ ich nicht.

Er schlug ein gewaltiges Kreuz über Stirne, Mund und Brust und begann jenen wunderbaren, frommen Dialog, in dem zwei Parteien Himmel und Erde, Gott und Teufel, Jubel und Trübsal, Sündenscharlach und Unschuldschnee, uralte Jahrtausende und die zitternde Stunde der Gegenwart zusammenfassen, mit Millionen Menschen, die gleichzeitig auf dem Globus zu dieser Stunde dürstend wie der einsame Pfarrer hier hinten in der Provinz mit seiner Magd, in den gleichen tiefen Bronnen langen und ihn doch nie erschöpfen, aber alle, alle bis in den letzten Wunsch der Seele gestillt werden.

So beteten sie zusammen, er laut wie an der Spitze der Gemeinde, sie flüsternd wie aus einer furchtsamen Falte der Menschheit hervor. Sie gingen im Geiste nach Juda, übers Gebirge, von Bethlehem nach Nazareth, in den Tempel, von einem Unrecht ins andre, von einem Marterhügel zum andern, bis zum Sterben am Kreuz und flogen dann im dritten Rosenkranz wie erlöste Seelen im Reich der Liebe und Gnade taubenweiss empor.

Das Herdfeuer verflackerte, über den Gottesacker schritt eine trübe Morgenhelle zum Fenster, aber das Dorf lag noch bettstill da. Der gelbe Vogel im Käfig, Peregrinas Liebling, den sie nachts immer in die Küche brachte, war wohl erwacht und hatte verwundert im Gefieder geschnäbelt und gedacht: noch finster, ziemlich finster, aber doch Frühstück, jawohl, Zucker und Frühstück! Dann aber als das Geklingel von Löffel und Tasse aufhörte, schloss er stolz den Schnabel: hab’ ich’s doch gewusst, dass es noch zu finster und dies da nur Traum ist. Zucker, nein, dazu ist es noch viel zu früh. Diese zwei da meinen, es sei Morgen, die Toren, und tun, als wäre Tag. Mich kann niemand betrügen. Seht doch, wie klug ich bin und weiterschlafe!

Aber die männlich tapfern Vaterunser und die zartweiblichen Ave tönten fort, die Küche mit einer wundersamen Musik und das Beterpaar mit einer morgendlichen Stille und Zuversicht erfüllend, als gäbe es keine schlaflosen Nächte im Rücken und keinen kämpfenden Tag vor der Nase.

Kapitel 11

»Ah, Ecclesia militans!« grüsste ein schmaler, kränklicher, papierweisser Priester und lüpfte das Samtkäpplein auf dem Kahlkopf, als Carolus mit gezogenem, steifem Hut in die Kanzlei trat. Der Kanzler sprang von der Morgenpost, die hochgeschichtet auf seinem Sitzpult lag, dem alten Schulkameraden lebhaft entgegen. Aber das fadendünne Lächeln, das sein eingefallenes Gesicht noch erschreckender zeigte, schien dem ehrlichen Landpfarrer sogleich von diplomatischer Höflichkeit.

»Ecclesia titubans, salve!« erwiderte Carl schallend. »Lieber Klaus, wie hältst du’s nur aus in diesem Amt der tausend schiefen Ebenen und Rücksichten? Du bist doch immer ein gescheiter, ganzer Kerl gewesen. Wenn Athanasius solche Rücksichten getrieben hätte mit den verschiedenen Konstantin und Konstans ...«

»Konstantin der Grosse und Athanasius der Grosse in Lustigern! Unsere Diözese darf sich zu solcher Weltgeschichtlichkeit gratulieren,« meinte der Kanzler und zog Carl auf einen Sessel nieder. »Hast du übrigens gefrühstückt, Carli, du siehst mir nicht danach aus.«

Carolus verneinte. Nur bei einem Brunnen an der Uzliger Station habe er Wasser getrunken.

»Ach, natürlich, diese Heroen! An Essen, Schlafen, Schuh und Strümpfe ... an so was Alltägliches denken sie nicht.« Er drückte den Klingelknopf. »Einen Tee und Zwieback!« befahl er der Magd auf der Schwelle.

Carl blickte über die Hosenbeine hinunter. Wahrhaft seine niedrigen Schnallenschuhe waren nicht gewichst, und aus einem Strumpfloch gähnte der nackte Knöchel.

Beschämt strich er die Hosen hinunter. »Meine Peregrina ist alt und noch immer ohne rechte Aushilfe,« entschuldigte Carl. »Wenn ich den Hosenträger lockere, sieht man es nicht.«

»O was macht so ein Loch? Das stopft unser Bischof bald violett zu. Wie könnte er anders? Patriarchenstühle hat er keine zu vergeben, aber doch violette Strümpfe und Kragen, tröste dich! Es sind zwei leere Sitze im Kanonikat!«

Leise brummend ertrug Carl Bischof diese süssen Bosheiten, trank den Tee und ass die gebähten Brötchen. Butter und Honig liess er unberührt.

»Bleib’ mir mit Violett vom Leibe,« schimpfte er endlich. »Aber sorget ihr für ein wetterfestes, klerikales Schwarz, das wenigstens!«

»Da sind,« fiel Klaus Mull, der Kanzler, geschmeidig ein, »eben die Briefe des heiligen Franz von Sales erschienen.« Er zeigte auf einen kaum angeschnittenen dicken, broschierten Band. »Da kann man lernen, ob es keine Rücksichten im Evangelium gibt. Rücksicht, Vorsicht, Nachsicht, um nie die klare Sicht über das Ganze zu verlieren. Deinen Athanasius hat man doch zuletzt noch gerade wegen seinen evangelischen Rücksichten angefeindet, dieser Lucifer von Caglari und andere Luciferi! O die Luciferi! Das sind spassige Lichtbringer!«

»Du kommst mir selber etwas spassig vor, hast du ein Gelübde abgelegt, heute in jedem Satz zwei Witze loszuknallen? Klaus, Klaus, weisst du noch, wie wir im Seminar die Ghibellinen zusammenschlugen?«

»Was hatten wir anderes in unserer Begeisterung zu tun? Wir mussten uns einen Gegner erfinden. Aber jetzt haben wir ihrer so viele, die schon vor uns da waren, dass wir nicht auch noch Gerümpel aus dem Mittelalter hervorzuholen und abzustauben brauchen, gewiss nicht!«

»Gerümpel,« fuhr Carl halb im Zorn, halb wehmütig auf und setzte die Tasse ab. Fast reute ihn, von so einem Zehrung empfangen zu haben. »Gerümpel!« wiederholte er leiser. »Wohin, Freund, ist es mit dir gekommen?«

»Dahin,« versetzte ohne Pause und sehr ernst der Kanzler, »dahin, dass ich zuerst den Ghibellinen in mir selber unterwerfe. Jeder hat ein Stück davon, auch wenn er meint, der gehorsamste Welfe zu sein. Diese Sucht zu kommandieren, diese Freude an der Strenge, dieses Kleben an eigensinnigen Kleinigkeiten, diese Verehrung der Formen und dieses sich immer in die Mitte Stellen und sich mit Gott und der Wahrheit und Gerechtigkeit Verwechseln ... ohne nur einmal zu merken, dass die Selbstliebe in uns grösser ist als alle Gottesliebe und Nächstenliebe in uns zusammen ... o das ist das Ghibellinische in uns allerstrammsten und offiziellsten Welfen. Und da soll ich aus der Rumpelkammer des elften oder zwölften Jahrhunderts alte, rote Lappen holen, wo ich nicht genug Tag’ und Jahre habe, um mich und mein heutiges Leben und Amtieren in Ordnung zu halten!«

»Du bist ein Diplomat und drehst die Sache nach deiner Seite. Ich meine nichts als die Ehre Gottes.«

»Das meinen wir alle und im besten Meinen spinnen wir schon wieder an einem Lumpen eigner Ehre.«

Die Stadt, die nahe Regierung, die gegenseitigen Konzessionen und Komplimente, dachte Carl, und dann die juristischen Spitzfindigkeiten! »Kann ich sogleich zum gnädigen Herrn?« fragte er laut. Es schien ihm unmöglich, bei solcher Sophisterei länger Worte zu verlieren.

»Komm nur, wir spazieren im grossen Klostergang. Dann sehen wir gerade die Herren weggehen.«

»Welche Herren?« fragte Carl ärgerlich. »Tu doch nicht so grossartig bei einem Kartoffelpfarrer! Was weiss ich von Herren? du ... du ...!«

Ganz erstaunt sah Klaus Mull den Pfarrer an und schüttelte den Kahlkopf. »Du, pass auf! Mit solcher Wildheit lass ich dich nicht zum Bischof. Was hast du eigentlich? Bist du krank?«

»Nein, verzeih,« bat Carl sogleich reumütig, »schau, ich habe nicht geschlafen. Das Bett blieb unberührt. Jetzt merk’ ich’s ...«

»Armer du!« bemitleidete ihn der Kanzler und schob herzlich den Arm in den Ellenbogen seines Freundes. »Komm!« Und indem sie durch den geplättelten Hauptgang der ehemaligen Abtei mit den vielen, hohen Fenstern wandelten, an den Statuen der Gallus, Fridolin und Bruderklaus vorbei, die aus ihrem frommem Stein etwas Erhabenes vom Himmel und zugleich etwas Gemütliches von der kleinen Schweiz hervorschauen liessen, erzählte Klaus Mull, dass hochstehende Regierungsmänner beim Bischof seien, um ihn mit Komplimenten oder Drohungen für ihre antikirchlichen Pläne zu gewinnen, wenigstens sein Schweigen zu erkaufen.

»Siehst du!« bemerkte Carl empört.

»Distingue bene!« riet Klaus. »Hier ... aber ... schau, da kommen sie ja ...«

Aus einem engen Korridor, drei Stufen empor, schritten fünf Herren in langen Fräcken und den Zylinder noch in der Hand auf den weiten Flur hinaus, wo die beiden Kameraden spazierten. Sie hatten alle rote Ohren und die Hälse ordentlich in den Kragen gebogen. Einer fuhr mit weissem Nastuch über die Stelle, wo Stirne und Schädel haarlos ineinander fliessen. Sie sprachen keinen zusammenhängenden Satz, stiessen fast aneinander und äugten wie kurzsichtige Hühner über den breiten Gang, wo es wohl treppab gehe. Sie vergassen noch immer, ihre Hüte aufzusetzen. Einer zeigte mit dem Finger: hier! Ein anderer: nein, da geht es ins Münster hinab! Endlich kam der Schweisstrocknende, der Präsident wohl, der in der Audienz am meisten gegeben und empfangen haben mochte, zu den Zweien und fragte mit künstlich gehärteter Lippe: »Meine Herren, geht es da rechts oder links hinaus?«

Bei diesem sonderbar betonten Hinaus mussten beide Priester unwillkürlich lächeln. Sie fühlten es deutlich diesem Wort an, mit was für einer dringenden, wilden Sehnsucht diese Männer aus einer so dunkeln klerikalen Gewalt und Gebäulichkeit in die frische Luft hinaus zu entrinnen suchten.

»Links in der Mitte, Herr Nationalrat, führt die grosse Stiege in den Hof. Dort finden Sie sich dann schon wieder zurecht ...«

Er überhörte den Witz der letzten Worte. Im Nu waren die Fräcke verschwunden.

»Ecclesia titubans, wie?« neckte der Kanzler.

»Ach, Kläusli, hier wird so einem Provinzler, wie ich einer bin, ganz wirr. Bitte, führ’ mich rasch ad Celsissimum, so ist’s vorbei! Vielleicht treff’ ich’s jetzt gerade günstig!«

Der Kanzler pochte sehr laut an ein grünwattiertes Pförtlein im schmalen Seitengang, öffnete sofort und schob den gewaltigen Pfarrer über die Schwelle. In einer Mischung von Ernst und Heiterkeit stellte er vor: »Carolus Bischof, Parochus Allegriorensis, vulgo von Lustigern!«

Aber da stand in der Mitte der freundlichen Stube, zwischen Blumenstöcken, Tischen voll Schriften und alten Prälatenbildern mit Stab und Adelskrönlein, ein noch Gewaltigerer. Carolus geborner Bischof stand vor Gregorius von Gottes Gnaden Bischof. Der Kanzler verneigte sich tief, aber mit höfischer Eleganz und schloss von aussen die Türe.

Carl liess sich ehrerbietig aufs Knie nieder, küsste den Ring am bischöflichen Finger und fühlte sich sogleich von diesem einzigen Finger unwiderstehlich in die Höhe gehoben, so dass er nun Gesicht gegen Gesicht vor seinem Meister stand. Und wieder, wie jedesmal in dieser Lage, schoss der Einfall durch sein raschdenkendes Haupt: er trägt doch dünne violette Pantoffeln und ich stecke in Stiefeln mit Absatz und dicken Sohlen, und doch ist er mir noch um einen guten Zoll voraus ...

Bischof Gregorius blickte ihn mit seinem schönen Charakterkopf voll Majestät an. Aber das weisslichgelbe Elfenbein seines Antlitzes war so gelassen und mild, als hätte er eben in einem totenstillen Erbauungsbuch gelesen, nicht mit fünf heillosen Staatsomnipotenzen gekämpft. Ruhig floss das vornehme Violett seines Kleides zu Füssen nieder, während das seidene Solideo auf dem schneeweissen Haar glänzte wie das letzte zarte Abendrot auf einem Gletscherhaupt. Die Stirne wie ein Fels durchzogen feine Risse von allen Frösten und Blitzen des Amtes. Aber da war dennoch keine Spalte, noch Zerbröckelung. Diese Kerbe und Schnitte schienen das Gesicht eher zu festigen als zu lockern. Ein unbesiegliches Rechtsgefühl sprach sich in jeder Linie und Geste dieser hoheitsvollen Figur aus. Carl hatte sich absichtlich auf keine Rede vorbereitet. Er wusste, dass alles Vorgefasste sich hier in der ersten Sekunde verflüchtigte.

»Hochwürden kommen eine halbe Stunde zu spät!« begann die klare Stimme des Oberhirten.

Rechtfertigend blickte Carl zur Standuhr, die exakt die angezeigte zehnte Ziffer wies und das Pendel schwer, beinahe stöhnend hin und her schob.

Gregorius lächelte über diese Buchstäblichkeit. »Ich meine zu spät für die Ratsherren soeben, diese Kantonskönige!«

»Zaunkönige eher ...« entschlüpfte es Carl.

Verweisend pausierte der Bischof ein Weilchen. »Diesen Kantonskönigen, meine ich, hätten Sie prächtig Gelegenheit gefunden, Kirchenrecht zu dozieren. Hic Rhodus, hic salta!«

ein dumpfer Glaube stieg im Pfarrer auf, seine Sache beginne auf diese Art höchst unvorteilhaft. »Die Herren wollten,« stotterte er ...

»Papst und Kaiser in einer Haut sein!«

»Das möchte auch der Gemeindeammann von Lustigern.«

»Untersuchen wir den Kasus einmal,« entschied Gregorius kühl und lud den Pfarrer mit einer edelmännischen Geste ein, zu ihm an den Tisch zu sitzen. Gleichzeitig schob er sich ein Schock Papiere näher heran, entfaltete einen vergilbten Bogen und sagte mit seinem weichen, melodischen Bündnerdeutsch: »Erzählen Sie!«

Carl hatte einen Wald von Klagen gewusst, wo ein Gipfel über den andern hinausschlug. Jetzt, wo er fällen und Stamm für Stamm hertragen wollte, fand er plötzlich keine rechten Bäume mehr. Beim Zifferblatt hatte Corneli ungern, aber eben doch nachgegeben. Die Versetzung der Beichtstühle hatte der Kirchenrat vertagt und zur Abstimmung auf die Novembergemeinde verwiesen. Mehr war nicht geschehen. Dass Corneli dem Einzug des Pfarrers nur bis zum Egidihaus entgegenkam, erst dem toten Täler und dann dem neuen Pfarrer die Glocke zog, den Kaplan so manchen Donnerstag zum Jassen verlockte, ihm, dem Carl Bischof, auf dem Kirchweg den Arm entzog, das waren keine Klagepunkte. Der Kläger würde unsterblich lächerlich. Es war der Geist des Zuwiderseins, des staatlichen Hochmuts im Corneli, den er anschuldigen müsste. Aber dieser unleugbar pfarrfeindliche Geist hatte noch nichts Angreifbares gegen Carl unternommen.

»Ich habe das Gefühl, dass der Gemeindeammann Corne ...«

»Gefühle zählen hier nicht, Carissime; bringen Sie ein paar Tatsachen!« bat Gregorius und öffnete und überschaute ein zweites, altes Schreiben.

Carl setzte mit merkwürdigen Hemmungen der sonst so beredten Zunge auseinander, wie er nur schon für ein neues, notwendiges Zifferblatt am Turme kämpfen musste. Dann habe er die Beichtstühle, die stil- und rituswidrig im Chore standen, ins Kirchenschiff hinunterschaffen wollen. Apodiktisch ward das abgelehnt. Er, Carl, habe das Gefühl, dass ...

»Herr Pfarrer, ich bitte ...«

Nein, er wisse es geradezu, dass dieser störrische Greis überall, wo der Pfarrer etwas gutes, nützliches Neues vornehmen wolle, ihm das Bein dawider stellen werde. Da habe Carl gedacht, er müsse gleich dem Anfang wehren ... principiis obsta ... und zeigen, dass er diese andauernde, stille oder laute Opposition und Befehdung nicht leise, wenn nötig ihr mit Gewalt die Hörner breche.

»Die Hörner breche,« wiederholte der Bischof beinahe belustigt.

Der Ammann Corneli spalte im übrigen den Rappen drei-, viermal, schnüffle in die hinterste Kirchenlade, bekreuze sich vor jeder noch so geringen Reparatur und möchte am liebsten das ganze Kirchdorf in einem Kamin aufhängen und durch und durch räuchern, damit es so bleibe, wie es einmal ist, alt, dürr, russig, bis in die Enkel und Enkelsenkel hinunter ...

»Aber das sind noch immer keine Tatsachen,« spottete geduldig der Bischof und musterte raschäugig einen dritten Briefbogen. »Wissen Sie nichts andres als diese Beichtstühle und geräucherten Dörfer im Kamin?«

Carl begann zu schwitzen und zugleich unwirsch zu werden.

»Gnädiger Herr, es gibt Sachliches und Persönliches, das man nicht wie einen Stein in die Finger nehmen und als sichtbares Corpus delicti auf dem Tisch werfen und rufen kann: ecce homo! ... Sie Mentalität ...«

»O lassen Sie dieses Wort, ist das auch schon in Lustigern feil?« fiel Gregorius heiter ein. »Wenn Sie wüssten, was für einen Unsinn man hier in der Stadt mit dieser Mentalität treibt ...«

»So sage ich: das oppositionelle Gehabe, diese feindselige Amtsstubengesinnung des Corneli, sein dörflicher Cäsaropapismus, dieses Bevormunden der Kirche durch den Staat« ... jetzt kam Carl in Zug, »das alles sind Tatsachen, aber ich kann sie Euer Gnaden nicht aufs Pult legen. Ich, Sie müssen den Ausdruck erlauben, ich fühle sie nur, aber viel deutlicher und viel lastender als auf einem Pulte drücken sie mir auf Herz.« Ein Seufzer entfloh dem Ankläger, der wahrhaft nicht erkünstelt war.

Bischof Gregorius prüfte lange mit halbgeschlossenen Augen das robuste, saftige, aber nun sichtlich müde Gesicht seines Gegenübers und erfasste dann mit seiner kühlen, starken Hand die Rechte des Pfarrers.

»Was für heisse Hände Sie haben! Sie sind überhitzt. Sie schaffen sich künstliche Fieber und Stürme, wo nichts dergleichen sein müsste. Mein Sohn, das ist für Sie, für mich, für die ganze Herde ein ungutes Ding. Schauen Sie doch einmal die Sache so einfach an, wie sie ist! Sie haben doch so blaue helle Augen!«

Carl fühlte etwas Feuchtes, aber auch Widersprechendes in die Blicke steigen.

»In wie vielen Dörfern geht der Ammann zu Ostern nicht einmal zu den Sakramenten! Wie oft fehlt er sonntags in der Messe! Wie mancher schreibt wie Ihr Herr Hobis in Gons sogar gegen unser Heiliges in die Zeitungen und hetzt das Volk auf. Aber nun zeigen Sie mir den Pfarrer, der deswegen einen Krach im Dorf oder eine Gewalttätigkeit beginnt! Zeigen Sie mir nur einen, der das Gebot des guten Hirten so übel auffassen würde!«

Carl hielt die Pause nur mühsam aus. Die Bischöfe auf den Bildern sahen ihn gleichgültig an. Das Pendel ächzte schwer. Eine weisse Katze schlich vor den Fenstern zwischen den Geranien vorbei.

»Der Corneli – wie gut kenn’ ich ihn – geht sogar täglich zur Messe, kommuniziert monatlich, betet den Abendrosenkranz, hört jede Predigt und all das nicht wie eine Maschine, sondern mit dem Glauben eines Kindes und mit der Überzeugung eines Weisen. Ja, Carole mi, eines echten Weisen! Nur will er die Beichtstühle stehen lassen, wo sie von Anbeginn standen, der Altmodische! Bildet das nun ein grösseres Verbrechen, als wenn er wie ein Heide das ganze Jahr dem religiösen Gemeindeleben fernbliebe oder ein lauer Christ wäre? Ziehen Sie das vor?«

Wieder eine mühsame, wortlose Pause.

»Und wegen dieser so geringen Sache verüben Sie, der Diener der Sanftmut, eine Gewalttätigkeit, worüber jeder besonnene Christ den Kopf schütteln muss, verriegeln die Kirche, als ständen die Hunnen davor, mauern und schreinern drinnen, lassen den zitternden und empörten Greis vor der Schwelle stehen und meinen noch, weiss Gott wie viel Liebe für Gott und seine Kirche Sie mit dieser Heldentat in die Gemeinde gebracht hätten. Was Gegenteil ist wahr: Hass, Zank, Misstrauen, Unwillen und, geben Sie wohl acht, ein zersetzendes, giftiges, trübes Parteiwesen, das im innersten Herzen nichts mit dem Evangelium als ein paar fromme Wörter gemein hat, dringt so in Ihre Herde ... ach, lieber Pfarrer, was haben Sie getan!«

Der Bischof wurde jetzt richterlich ernst. Eine leichte Röte der Erregung überhauchte das Elfenbein seines wahrhaft fürstlichen Antlitzes.

»Sie handelten, wie man gegen einen Nero oder Diokletian, nicht gegen einen musterhaften, wenn auch etwas eigensinnigen katholischen Dorfpräsidenten handeln würde.«

Carl knickte in seinem Stuhle zusammen. Er suchte die Lehnen.

»Übrigens, wie viele meiner Kirchen haben die Beichtstühle noch im Chor und keine Flocke eines Schafes oder Böckleins ging deswegen verloren. Unbequem, ja, das kann der Geistliche sagen; aber Unfriede ist tausendmal unbequemer ... Und wie viele Kirchen sind nicht von Ost gegen West gebaut! Das wäre doch auch Vorschrift. Wie viele Kanzeln in meinem Bistum ... ja, wahrhaft, gerade die von Lustigern auch, ei, ei! ... erheben sich auf der Epistelseite des Schiffes! Haben Sie, scharfer Mann, noch nie an dieses Ungeheuerliche gedacht?« Ein feiner Spott huschte über das bischöfliche Elfenbein.

»Ich weiss nicht,« flüsterte Carl lautlos.

»Und doch wäre es ebenso exakte Weisung, dass die Kanzel auf der Evangelienseite stehe, und aus einem schönen heiligen Grunde!«

Kalt und warm überlief es den Pfarrer. Er sah hartnäckig auf seine zappeligen Finger, mit denen er an den kleinen, grünseidenen Troddeln der Stuhllehne zupfte. Eine hing nur noch lose an zwei, drei Fädchen. Dass man die nicht ganz abreisst! dachte er mitten in seinem grossen Kummer.

»Aber so ist es,« fuhr der Bischof über den schwarzen Pfarrerkopf hinweg, wie zu vielen andern, die weiser als die Weisheit Christi sein wollen, vorwurfsvoll zu reden, »unsere Kirche ist eine gelassene Mutter. In vielem kann sie nicht warten. Wo es heisst: entweder oder, Recht oder Unrecht, Leben oder Tod, da gibt es kein Verweilen. Aber in vielem kann sie wundervoll warten, besser als alle Völker und Regenten und gar als so ein lieber, aber hitziger Pfarrer da warten kann ...« Lächelnd streichelte der Bischof das rauhe, schwarze Kraushaar Carls...»Ihr gefiele wohl auch, wenn sie nicht so oft warten wüsste, wenn gleich alles hübsch korrekt da wäre. Aber so etwas gibt es in unserm unkorrekten Diesseits nicht. Da nimmt die Mutter denn vorab das Wichtigere in die Hände. Das weniger Wichtige später! Und so schadet ein geringes Mängelchen nicht einmal viel, wie es da weiter vegetiert, aber schadete heillos, wenn man’s nun gleich anpacken und ausreissen wollte. Dann sag’ ich: wozu antasten? Warum Unruhe schaffen? Solange noch tausend wichtigere Sachen nicht im Blei sind, ja, mein Sohn, auch bei dir, solange man noch hasst, verleumdet, stiehlt, lügt, Geiz und Unzucht hegt ... o dann lasset es, lasset es, dieses Unbedeutende! Ja, dann hör’ ich immer das Wort des Meisters auf die Frage der kleingläubigen Jünger, ob sie gleich hingehen und alles Unkraut ausreissen sollen: Nein, ... o welch ein Nein! ... Nein, damit ihr nicht mit dem Unkraut auch den Weizen ausreisset. Lasset beides wachsen ... Hörst du, Carole mi, dieses wundervolle, seelenruhige Lasset, Lasset! Gott allein kennt die Zeit des Unkrauts und des Weizens! Lasset! ... Und da sollten wir wegen einem einzigen Pflänzchen, mehr weil es uns, als weil es Gott unbequem ist, den Weizen des Friedens und der Liebe gefährden!«

Carl hörte die letzten Worte kaum mehr. Er hatte sich völlig in seine Niederlage ergeben. Wohl wühlte es noch mächtig und widerstrebend in ihm. Aber was konnte er gegen diese Weisheit vorbringen? Gut, gut, dachte er, ich will alles tun, was der Hochwürdigste befiehlt. Selbst die Beichtstühle will ich vor den Augen des Corneli auf dem eignen Buckel in den Chor zurücktragen. Mein Gewissen hat anders gefühlt, aber ich bin ein einzelner, und hier spricht die oberste Weisheit, das merk’ ich, das Gewissen eines Grössern ... die Kirche selber.

»Seht einmal diese Briefe an,« fuhr Bischof Gregorius nachlässiger fort. »Auf das gestrige Telegramm habe ich mit dem Kanzler die Lustigernlade gemustert, und wir fanden selbander manches hübsche Papier ...«

Der Diplomat! Dieser glatte Kläusi, dachte Carl und ahnte eine neue Schlappe, davon hat er mir wohlweislich nichts gesagt. In Gottes Namen, sag’ ich, wie unsre Bauern im Regen. Bin ich einmal nass, so mag es halt weiterschütten, mehr als nass kann ich nicht werden ...

»Zum Beispiel dies da! Bitte, lesen Sie das! ... Aber lesen Sie es laut! Ich höre Ihre markige Stimme so gerne!«

Es war die fleckige, enge, kleine Cornelischrift, mit geizigem Briefrand und genialem Ausnützen jedes freien, weissen Plätzchens auf dem Bogen.

Carl überflog hastig die ersten Zeilen und wand sich mit Rücken und Schultern vor Unlust.

»Laut, Hochwürden! Ich hör’ das gerne nochmals und am liebsten aus Ihrem Munde.«

»An die Vergrösserung unsers Gottesackers,« las nun Carolus Bischof bitter, »gelobe ich, Cornelius Bölsch, zur Zeit Ammann von Lustigern, zweitausendfünfhundert schwere Schweizerfranken ...«

»Schwere Schweizerfranken,« scherzte der Bischof, »ohne dieses Epitheton zählt er kein Geld auf, das ist wahr! Der Franken drückt ihn schwerer als unsereinen ... Umso schwerer wiegt auch die Gabe! Fahren Sie weiter!«

»Schwere Schweizerfranken, sofern die Diözesankasse uns auch mit einem Mindestbetrag von tausend Franken unter die Arme greift ... Unser Dorf ist arm, der Friedhof viel zu eng, die anstossende Nachbarschaft ...«

»Genug,« fiel Gregorius ein. »Ein Profitler ist er noch, wenn er schenkt ... Nun dieses Blatt ... hier ... Lesen Sie einmal von der Zeile an: da Dekan Rüdli ... hier!«

»Da Dekan Rüdli wegen einer langen, schweren Gelenkentzündung genötigt war, durch viele Monate einen Hilfsgeistlichen zu unterhalten, habe ich, Cornelius Bölsch, im Einverständnis mit dem Rat eine Hauskollekte veranlasst und füge dem Beträgnis zweihundert schwere Schweizerfranken hinzu, die nämlich, welche ich, wie Euer Gnaden wissen, dem Gallusverein pro ersten Dezember 1865 zugedacht hatte, in der Meinung, niemand habe zur Zeit diesen Geldstupf nötiger als ein alternder, verdienstvoller Dorfpfarrer, dem wir Lustiger das froheste Pastorieren noch auf die längste Zukunft wünschen ...«

»Danke,« bemerkte der Bischof und nickte anerkennend zur tapfern Haltung des Vorlesers. »Geldstupf! Ein echter Corneli!«

Carl wischte sich in der kleinen Pause die Schläfen und Stirnhaare trocken. Eine so sauere Lektüre war ihm nicht einmal das Hebräisch im Seminar gewesen.

»Nur noch dieses Scriptum!« gebot der Bischof. »Ich vermute, es stammt von ganz neuerlich! Bitte, welches Datum?«

»16. September 1898 ...« Wie, anni currentis? Da war ich ja längst Pfarrer in Lustigern, dachte Carl. Was kann es noch geben? Mir ist, ich ertrinke im Purpur der Scham ... Purpur der Scham, was sag’ ich da? Das stammt von Massillon ... Gott, wie bin ich verwirrt ... Fort mit französischer Eloquenz, jetzt hab’ ich’s mit mir allein zu tun, dem armen, nackten, vernichteten Carl Bischof von Lustigern ...

»Laut, Herr Pfarrer, bitte, recht laut!«

Trinken wir diesen Essig flink fertig, beschloss Carl und begann rasch und fast mit Galgenhumor: »Da ich und mein ehrsam Weib Cecilie umsonst auf die Gottesgnade eines Kindes gehofft und sonach unser Dorf ein bisschen in Kindeshut genommen haben, schien es uns letztlich doch geziemend, etwas Besonderes, Kinderfreundliches über unser baldiges Grab hinaus für alle Zukunft zu beschliessen. Wir vergaben also jährlich zweihundertvierzig schwere Schweizerfranken, um den Erstkommunikanten von Lustigern, die auswärts wohnen oder die arm oder sonst ohne fröhliche Gelegenheit sind, davon im Schulhaussaal ein gutes Frühstück mit zwei viertellitrigen Ohrlappentassen Milch, einem rechtschaffenen Stück Butter und Käse, zwei Suppenlöffeln Bienenhonig von meinen Waben und einem halbpfündigen Birnenwecken aus der Ilge zu verabfolgen ...«

»Ein Herr Genau und Exakt, das ist er schon,« gab der Violette zu.

»Sodann stifte ich eine kleine, sechszentrige, versilberte Kinderglocke in unsern Turm. Sie soll eine Terz höher als unsere Schutzengelglocke klingen und werde geläutet bei Kindstaufen, Kindsbegräbnissen, am Fest der unschuldigen Kinder und bei allen frommen Gelegenheiten, wo das Kind die Hauptperson ist ... Sie soll Sankt ... Car ... li ... Glocke heissen, zu Ehren des grossen Kardinals, der unzweifelhaft unser Dorf berührt und ein Blöscherkind, wie die Dorftradition behauptet, getauft hat ... Carliglocke auch zur Freude ... unseres neuen Pfarrers und ...«

»Satis!« erlaubte jetzt der Bischof dem schwierigen Leser, der gar nicht mehr aufzublicken wagte und selbst nur noch mit schwacher Kinderstimme gelesen hatte. »Sie sehen, Hochwürden, so ganz von Stein oder Holz oder so ein schnaubender Kirchenverfolger ist Ihr bitterer Gegner doch nicht gewesen.«

»Euer Gnaden,« stammelte Carl, »ich bin ganz ausser Fassung. Mir ist wahrhaft, ich träume. In dieser Art ... weichen Art ... hat sich Corneli mir nie geoffenbart ...«

»Sie suchten es wohl auch nicht, Lieber Parochus!«

»Doch, doch,« wehrte sich Carl wie verzweifelt um diesen setzten Strohhalm von Recht, »doch, einmal wenigstens schon ...« und der Pfarrer erzählte, abgebrochen und wenig geschickt Cornelis sauern Gang zur Messe und den abgewiesenen Arm des Helfers. »Stolz und hart hat er mich weggestossen ... Führen ist besser als geführt werden, versetzte er. Und es war sein Namenstag, wie ich erst in der Sakristei merkte. Aber gratuliert hab’ ich dann nicht mehr ...«

»Aber der Corneli hat dafür gratuliert! Sehen Sie das Datum auf dem Briefe: 16. September. Das ist gerade der Corneliustag.«

Carl betrachtete das Datum. In der Tat, an diesem Tage des weggestossenen Armes hatte er die Sankt-Carl-Glocke gestiftet. Alles Blut fuhr dem Pfarrer unters Haar.

Der Bischof legte einen Augenblick seine Hände um das prachtvolle Brustkreuz, wie er gern tat, wenn ihm etwas unklar wurde, und sann mit gesenkten Augen ein Weilchen vor sich hin. Ist es vielleicht doch nicht der rechte Posten für diesen Riesen, zweifelte er einen Moment. Doch da lässt sich vorläufig nichts ändern, entschied er streng wie ein unerbittlicher Schachspieler. Und wirklich sah er jetzt, wie schon so oft, sein Bistum als ein grosses Schachbrett vor sich, mit heikeln und ruhigen Feldern und einem bunten Gefecht darüber hin. Jeden Zug hatte er erwogen, jeden Geistlichen mit Bedacht auf sein Quadrat gesetzt, und er konnte nun nicht wegen ein bisschen mehr oder weniger Not der einen Figur den ganzen heiligen Operationsplan zerstören, dieser Figur etwa einen andern Posten geben und damit einen allgemeinen, ungünstigen Platzwechsel inszenieren. Es soll jeder Priester wissen, dass er in Gottes Heilsplan nichts bedeutet als so eine Figur, einen Läufer oder Turm oder Springer oder gar nur ein Bäuerlein, und dass er für sich kein andres Recht und Wohlsein heischen darf, als seinen Platz in dieser Gesamtheit zu behaupten und ganz nur im Belieben des göttlichen Schachspielers vom Posten vor- oder rückwärts zu schreiten. Carolus Bischof bleibt einstweilen in Lustigern!

Gebieterisch reckte sich der Violette in die Höhe und bekam etwas von jener Ritterlichkeit der Fürstbischöfe an der Wand, die zeitweise über das blaue Mäntelchen einen Panzer oder ein Lederkoller schnüren mussten. »Was geschehen ist, ist geschehen, lieber Herr Pfarrer,« erklärte er langsam und fest. »Wir können nun nicht in den Chor zurückkrebsen. Aber ich werde dem Ammann, diesem alten, verdienten, beleidigten Manne, persönlich ein paar Zeilen der Hochachtung schreiben und im nächsten Frühling firme ich ja bei Euch. Dann besuch’ ich den Greis. Wir müssen solche erprobte Katholiken in den religiösen Schwindeleien und Heucheleien von heute fest an unsrer Seite behalten ... Das, Herr Pfarrer, nehm’ ich also auf mich.«

Carolus verbeugte sich.

»Eine kleine Busse und Genugtuung darf ich Ihnen freilich nicht ersparen. So befehle ich denn: Silentium! Reden Sie kein Wort mehr über diese Angelegenheit, weder im guten, noch minder guten Sinne, nicht laut, noch leise! Tadelt man Sie oder lobt man oder fragt Sie aus, so antworten Sie nichts als: der Bischof weiss alles. Das genügt. Man wird Sie und den Corneli sofort in Ruhe lassen ...

Aber nun wollen wir beide nie mehr so zusammenkommen wie heute, nie!«

Indem er das sagte, fasste der Siebziger mit beiden strammen Händen den Pfarrer an den Ellbogen und sah dem so viel jüngern Priester sorgenvoll in die blauen Augen. »Nie mehr so!« wiederholte er. »Je älter ich werde, umso mehr seh’ ich, dass Liebe alles kann. Packen Sie den Corneli mit Liebe, an jedem Tag, besonders wo es niemand sieht, mit einer neuen, starken Bruderliebe an, und wenn er brummt und widersetzlich tut, dann mit doppelter und dreifacher Liebe. Erkämpfen Sie das, Sie sind ja so stark! Auch ich muss täglich damit wie neu beginnen. O es lohnt sich! Versprechen Sie das Ihrem Bischof?«

Pfarrer Carl Bischof bog tief das Haupt. Es würgte und schluchzte ein Ja die Kehle herauf, das man eher erriet als verstand. Er hustete, um Atem und Stimme zu gewinnen.

»Einst war ich so kindisch,« erzählte der Bischof nun mehr wie ein Bruder als wie ein Oberer, »mich über meinen Namen zu ärgern, nämlich über das eine überzählige R. Das R kam mir wie ein Hemmschuh, wie ein stetes Hindern und Einschüchtern auf dem Wege durchs Leben vor. Ich hätte Georg heissen mögen, nicht Gregor. Georg, der lanzenschwingende, drachentötende, dem Teufel auf die Gurgel tretende Ritter Georg oder der eherne Michael. Jetzt bin ich klüger und lasse den Speer und das Schildgetöse und Gurgeltreten gerne dem Ritter oder Engel. Mir scheint, ich erreiche mehr mit Gabriel, dem Botschafter der Liebe, dem Lilienträger...«

Er blickte über die Reihe der alten Fürstbischöfe an der Wand, von denen einige weltliche Gesichter und Waffen trugen, und es kam dem zerknirschten Carl vor, als ob in dem Augenblick, wo Gregorius das Wort Lilie aussprach, diese alten Herren ihre Schwerter und Adelskrönlein und sogar die Krummstäbe fallen liessen und die Arme aus den Rahmen herausstreckten nach so einer weissen, friedbringenden Blume.

»Leben Sie wohl,« schloss der Violette, gegen die Türe weisend, wo man schüchtern pochte. »Empfangen Sie meinen Segen! Machen wir es kurz, Kinder warten!« So zeichnete er denn nur ein Kreuz mit dem Daumen auf Carls Stirne und rief: »Pax tecum! ...« Die Türe ging auf. Der errötende Pfarrer geriet im Verneigen und Rückwärtsschreiten in einen Wolkenschwall von weissgekleideten Mädchen, in deren Mitte lächelnd eine kohlschwarze barmherzige Schwester stand.

Es waren die Waisenkinder vom Barmsthaus, einer Stiftung des Bischofs, und wie im Mai um einen alten Holunder es wieder blütenweiss schäumt und von Goldkäfern und Bienen schimmert und flattert und summt, so musizierte es jetzt von einer frühlingsweissen und honigsüssen Kindlichkeit um den bischöflichen Greis, und Carl hörte lachen und deklamieren und singen: wir gratulieren! Viel, viel Glück! Es lebe unser hochwürdigster Vater!

Was feiert er heut? dachte Carl und sah noch zuletzt, wie der weissgelockte herrliche Prälat das kleinste der Kinder, sicher nur ein dreijähriges Höckerchen, auf den Arm nahm und hoch zum Bild des Gekreuzigten hob. Und der Gott am Kreuz und der alte Bischof und das in die Hände klatschende Büblein schienen in der gleichen kindlichen Verklärung von Unschuld und Liebe sozusagen ineinander zu fliessen.

Es muss sein Geburtstag sein, dachte Carl, als er mit müdem Kopf und versagenden Knien die drei Stufen vom Bischofsgängchen in den grossen Fensterkorridor hinausstieg. Sein fünfundsiebzigster! Aber wie jung ist er noch. Und mir scheint heute, ich trage schon hundert Jahre auf dem Buckel. Genau so verwirrt und verzagt wie jene fünf Staatsomnipotenzen vor einer halben Stunde äugte er selber jetzt nach einem Ausgang, und vergass ... oder war es Absicht? ... den Regenschirm, den er in der Kanzlei hatte stehen lassen, abzuholen, und merkte erst auf der Strasse, dass er den Hut wie ein Buch unter dem Arme trug. Als er dann endlich die verkrampfte linke Hand öffnete, fiel ein grünseidenes Tröddelchen heraus. Er betrachtete es nachdenklich und seufzte: »Nun hab’ ich es doch abgerissen.«

Kapitel 12

Pfarrer Bischof begab sich noch bis zur Abfahrt des Zuges in ein Schuhgeschäft. Niemand bediente ihn, bis er ungeduldig mit dem Stock auf den Ladentisch schlug. »Wir haben drei Gehilfinnen krank,« entschuldigte sich der greise Chef und eilte vom Pult herbei. »Die halbe Stadt hat diese Modekrankheit, die spanische Grippe oder wie sie heisst.« – »In der Pfalz habe ich nichts bemerkt,« entgegnete Carl. – »O, dort ist noch gesunde Klosterluft,« verwies der Greis lächelnd. »Aber das Modeding wird auch die schwarzen Herren dort finden und auch Ihre Dörfer, Herr Pfarrer. Das braucht nicht Tür und Schloss. – Also Schuhe wollen Sie, rauhe, knorrige Pastorationsschuhe sagen Sie.« – Er mass die Sohle. »Gott, achtundvierzig! Sie haben einen Riesenfuss. Hier sind nur zwei mit diesem Mass. Probieren Sie dieses Paar.«

Es ging mit Ach und Krach und dem Troste, das Leder dehne sich beim Gebrauch noch erheblich aus. »Gut,« meinte Carl. »Dann schicken Sie mir das alte Paar nach Lustigern, ich übe mich gleich im neuen.« – Der Alte lächelte immer und schüttelte den Kopf. »Was haben Sie?« fragte Carl. – »Nichts, nichts, ich meine nur, Menschen mit einem solchen Schuh und Schritt müssen besser aufpassen als alle andern.« – »Wieso das?« – »Sie haben eine zu grosse Spanne von Fuss zu Fuss. Gesetzt, es kommt ein Abgrund. Wir andern brauchen drei Schritte und können noch beim ersten und zweiten zurückweichen. Sie haben nur einen und sind unrettbar geliefert. Sehen Sie, der grosse Schuh ist gefährlich.«

Von da eilte Carl noch rasch ins katholische Vereinshaus, um Messwein zu bestellen. Er betrachtete die Schuhe. Sie dünkten ihn gross und schleppend und jeder Schritt damit ward ihm schwer. Im Vereinshaus stiess er auf eine Schar Geistlicher, die eben Regiunkelsitzung gehalten hatten und ihn noch ein Weilchen zum Dasitzen zwangen.

Er bestellte Tee, denn ihn plagte nur Durst, obwohl er noch nichts Festes und Solides genossen hatte. Doch bald lebte er auf, sei es vom Getränke, sei es davon, dass ein Pfarrer erzählte, er habe jetzt die Kirche fertig renoviert. Dreissigtausend Franken! Die ganze Pfarrei juble Baron. Ein anderer baute eine Lourdeskapelle, ein dritter war eben Kirchenratspräsident geworden, und ein junger Witzbold erzählte, wie er die alte Maschine seiner Kirchenverwaltung an der Gemeinde in ihrem alten Rost und Geiz öffentlich blamiert habe, so dass er jetzt in allem freie Hand erhalte. Der graue, gemütliche Dekan Bächtig freilich fächelte heillos verschmitzt, klopfte dem Carl auf die Achsel und sagte: »Diese Sieger! Man müsste nur wissen, wie oft sie sich vorher besiegt sahen! Und vielleicht ist das, wovon sie sprechen, ihre grösste Niederlage. Unschuldiger Mittagschwatz!«

Aber Carl verstand ihn nicht, sondern klopfte auf den Tisch und sagte: »Und ich habe einen Turm, niedrig wie ein Baumstumpf, aber darf nicht bauen, auch wenn ich ihn selbst bezahlte.«

»Muss denn gebaut sein?« fragte sanft der Dekan.

Doch jener junge Witzbold fragte: »Wie hoch ist er denn, dein Turm?«

»Fünfundzwanzig Meter bis zum Helm und der ist wie ein zusammengedrückter Filzhut; alles in allem fünfunddreissig Meter!«

»Und fünfunddreissig Meter hohe Dummheit und Schwäche,« rief der Junge. »Verzeihung, es ist nicht auf dich gemünzt. Du lupfst ja den Turm.«

»Jawohl, ich lupfe ihn!«

»Es hängt alles vom Pfarrer ab,« rief jener wieder, obwohl nun mehrere Geistliche den Vorlauten ernster ansahen und fast ein bisschen skeptisch belächelten. »Bist du selbst ein Turm, dann wird es auch dein Kirchturm. Bist du hingegen nur so ein Weidenstumpf, so eine Trauerweide, dann bleibt auch der Turm am Boden. So ist’s!«

Dieser hübsche, gelockte, frische Pfarrer warf Funken in Carls Asche. Es fing da wieder an zu glühen. Er hätte ihm gerne noch länger gelauscht. Aber die Abfahrt rückte heran.

»Pfarrer Anselm, du könntest mir am Ambrositag die Festpredigt halten. Du hast den rechten Stil, merk’ ich.«

»Hand darauf, ich komm’ gerne und streue Gluten, so viel du willst.«

Da sagte der Dekan leise und ernst: »Und Feuersbrünste, kannst du die auch löschen?«

Von all dem hörte Carl nichts. Er sah nur, wie Anselm Spacht auf einmal nicht mehr lachte, aber sich feierlich vor den Dekan stellte und sagte: »Ich bin gekommen, Feuer auf die Erde zu senden, was will ich anders, als dass es brenne!«

»Bravo!« rief Carl; »es gilt also, auf Ambrosi!« und schlüpfte aus der Türe. Er hörte nicht, wie ein Hündlein hinter ihm lief und bellte. Der Dekan hatte nämlich noch viel ernster geantwortet: »Es fragt sich nur, ob es Licht vom Licht oder nur ein Strohfeuer ist, wie man solche für ein paar Batzen oder Leidenschaften gleich ein Dutzend haben kann. Hochwürdige Herren Confratres, auf die nächste Sitzung gebe ich gerade dieses Thema ‘Licht vom Licht im pastoralen Leben.«

Eine dicke, schwere Hitze lag über Stadt und Land. In der Bahn und auf der Lustiger Talstrasse fühlte Carl eine heillose Schläfrigkeit. Schloss er einmal das Auge, so fuhren ihm gleich ein Schwarm zerfetzter Bilder durch den Kopf. Er war so müde und schwer, als wäre sein Schädel mit Steinen gefüllt. Hat man mir die Grippe schon angehängt? fragte er sich. Es wird wohl die Aufregung und Unruhe der letzten achtundvierzig Stunden sein. – Aber im Pfarrhof angelangt, klapperten ihm die Zähne, er musste zu Bette und in der Nacht gingen die Fieber auf 40 Grad zu, und Carl redete schon ein arges Durcheinander.

Zum Glück hatte die ratlose Peregrina das Mili über Nacht behalten. Dieses beherzte Jüngferchen legte nun kalte Umschlägt ins Genick und auf die Stirne, und jedesmal dampfte das Tuch beim Umwechseln. Gegen Mitternacht rief man noch den Kaplan mit Marianne zu Hilfe. Die Frauen flüsterten im Gange an der offenen Kammertüre, während Eusebi umsonst bei Carl ein kluges Wort zu bekommen suchte. »Es ist nichts als ein heftiges Grippefieber,« tröstete er die Weiber. »So ein Temperament packt es gleich massiv an. Ihr könnt euch nicht an sein Gerede halten. Es bricht da Fremdes und Eigenes kunterbunt heraus. Aber vielleicht sollte man doch den Arzt ...«

»Nichts da von Arzt!« rief nun merkwürdigerweise der Patient. Er verstand alles, aber beim Erwidern gelang ihm selten das Rechte. Jetzt aber sass er schroff auf. »In die Kissen, in die Kissen,« bat Mili, sprang herzu und zwang den Gewaltigen mit ihren starken Armen nieder. Die Marianne stupfte die Pfarrköchin. »Seht, alles kann die grüne Hexe! Wer die einmal kriegt, potz!«

Aber Peregrina betete und bebte. »Er stirbt mir, er stirbt mir gewiss. Alles tut er wie ein Gewitter. So geht er mir weg ... Ich weiss es. Das hatte er nie, so ein Fieber und Irrereden.«

»Gans, dumme du!« lärmte Carl wieder. »Geht doch alle ins Bett. Was habt ihr mit mir! Wer geht da zur Türe hinaus? Kein Bein verlass’ das Haus! Das gäb’ ein Geschrei: Der Pfarrer krank! Ich les’ morgen die Messe wie sonst.«

»Niemand weiss etwas,« beruhigte der Kaplan. »Ist dir morgen noch schlecht, so bleibst du eben im Bett wie andere Menschen, punktum!«

Punktum? Fragend sah Carolus auf den Confrater und wollte lächeln: o dein Punktum! Aber gleich verwirrte sich wieder sein Denken.

Eine Weile schien der Fiebernde einzunicken. Dann langte er plötzlich mit den Händen empor wie an einem Stamm und stieg, so hoch er konnte, und reckte noch die Fingerspitzen: »So hoch, so hoch!«

Von da an redete er völlig irre. Immer kehrte der Turm durch alles Phantasieren wieder. »O wie schön, wie ganz schön!« staunte er der Zimmerdecke entgegen. Er sah seinen erträumten hohen Kirchturm.

»Saget nichts davon, ja nichts!« bat Eusebi die Weiber. »Es gäbe einen schönen Lärm im Dorf. Aber wir, die wir wissen, was dem Pfarrer dieser Turm ist, wir wollen ihm die Freude lassen. Ja, wir wollen ihm auch Hoffnung dazu machen.« Und er trat ans Bett und sagte: »Carl, das sind schöne mögliche Sachen, nur pressiert es nicht so.«

»Es pressiert. Ich muss bald fort. Der Corneli jagt mich, oder den Bischof, ja, ja ... Morgen fangen wir an ... Es kostet nichts ... also!«

Ach, wie erbarmungswürdig der gewaltige Mann keuchte, plapperte, sich hin und her wälzte, schrie, bat, zürnte und von Gluten dampfte! Welche Schatten über ihn fielen, wenn er klagte. Aber beim einzigen Worte Turm, o wie hellte sich das Antlitz auf, wie flammten in seliger Kindlichkeit die blauen Augen, welcher Friede zog dann über den ganzen Mann. Gewiss, er hatte täglich vom Turm geredet, mit der Tante und mit Eusebius. Aber dass dieser Plan so tief ins Innerste sich verwurzelt habe, fast auf Leben und Tod, das hatten sie beide nicht geahnt. Waren denn Turmuhr und Beichtstühle nur Proben und Vorwände für dieses Hauptwerk gewesen? Da kommt er vom Bischof, dachte Eusebi, gewiss mit einer scharfen Rüge, und denkt gleich an neue und grössere Wagnisse. Der Unverbesserliche!

Langsam rannen die schwarzen Stunden. Die Fieber stiegen bis auf volle 40 Grad. Es könnte Typhus sein oder Gehirnhautentzündung, mein Gott! besorgte der Kaplan. Sobald es dämmert, muss das Mili nach Uzli zum Arzt.

»Hast du etwas Ungutes gegessen oder getrunken, schlechtes Wasser etwa?« fragte er in eine stille Pause hinein.

»Wasser, ja, am Brunnen, schmutziges ... pfui doch ... und Tee ... und, ach, nicht kalt, nicht heiss, nicht rot, nicht schwarz, nicht violett, o pfui, wie farblos ... nichts als Charakterlosigkeiten muss ich trinken, ja, so ... Charakterlosigkeiten ... aber der Turm, der haut euch zu Boden ... das ist ein Mann ... helft mir! ... o so helfet doch ... Die blasen mit allem Wind drein. Steh fest, du Charakter!«

»Carl! Carl!«

»Was Carl, Carl! Das ist nichts. Willst du oder willst du nicht? Das ist Carl, Carl!« Er schnaufte wild auf, riss die Umschläge von sich, hob sich auf die Ellbogen und schaute im Halbrund umher ... »Dann kann ich ja gehen ... Was soll man da pfuschen? ... Gebt acht, o gebt acht, haltet, haltet ihn ... auf allen vier Seiten ... Wie die blasen! Was für Backen! So ein Wind ... haltet ihn! ... ach, Kartenhaus ...!« Carl fiel schwer zurück, schweissübertropft, und das Mili wickelte ihn wieder treulich in die nassen Tücher.

Eusebius stand am Bettfuss, umkrampfte den Holzknopf und rang mit sich. Nein, hier ist nicht zu schwindeln. Ja oder Nein! Diesem Starken soll man ein starkes Unterfangen gestatten. Schaden tut es keinem, freuen wird es viele, ihn macht es erst zum frohen, schaffensseligen Pfarrer. Das ist mehr wert als Geld und ein bisschen Gemurr. Also denn!

Er trat an den Pfarrer und sagte fest: »Höre, Carl, jetzt, hier in deiner Kammer, bilden wir den Anfang zu einem Turmfonds. Ich gebe zweihundert, meine Marianne zweihundert Franken, verstehst du was? So fängt der Stein an zu wachsen.«

Carl bemühte sich, still aufzuhorchen. Euseb fasste ihn an der Hand.

»Dann sammeln wir in alter Ruhe weitere Gelder, vielleicht machen wir eine Lotterie. Und ist die Summe hübsch im Sack, so fängst du den Bau an. Also der Turm kommt, ich bin dabei.«

Carl lauschte, lauschte, bewegte ohnmächtig die brandige Lippe und schien zu verstehen. Die Augen hielt er zu.

»Der Turm kommt. Aber jetzt ruhig! Geduld! Schweigen! Rom ist auch nicht an einem Tag gebaut worden. Ein Baum wird umso grösser, je stiller er wachsen kann. Verstehst du?«

Er bog sich tiefer zum Erkrankten. Ei, ei, der atmete regelmässig und schien ordentlich eingeschlummert.

Man trat in den Gang hinaus, setzte sich auf die Bank und nun sagte das Mili: »Ich gebe auch jede Woche fünfzig Rappen an den Turm!«

Peregrina, das wusste man, hatte keine Kupfermünze Eigenes. Trotzdem galt sie als Mitglied der Turmfondsgesellschaft, so wie diese eben in unheimlicher Nacht und Fieberphantasie begründet worden war, und alle vier Verschworenen reichten sich wichtig die Hände. Der Turm, sagten sie, rettet dem Pfarrer das Leben, das sieht man; wie er gleich ruhig ward! Aber er rettet ihn nicht bloss heut nacht, nein, von einem Tag zum andern, Turm und Pfarrer sind eins, leben und sterben zusammen.

Am Morgen erwachte Carl erst spät. Er hatte weder das Messgeläute, noch die Hausschelle, noch den Arzt von Uzli gehört. Er erinnerte sich an nichts, wollte nach Gewohnheit aufspringen, aber fühlte sich nun wie ein Bleiklotz so schwer in die Matratze vergraben.

Nun erst dämmerte es in ihm auf, er sei todelend gestern nachmittag bei der grössten Schwüle heimgekehrt, sozusagen ins Bett gefallen, in heillose Hitzen geraten und erst jetzt wie aus einem Rausche ernüchtert. Er wusste gar nichts von den Reden in der Nacht, war fieberfrei, und der Doktor verlangte bloss, dass er sich noch zwei, drei Tage im Bette pflege, da es nichts als die vulkanische Lösung einer Nervenüberreizung gewesen sei und jetzt naturgemäss eine grosse Ermattung auf eine solche Entladung folge.

Ein wenig blass und im Knie bebend trat der Pfarrer nach drei Tagen wieder in der Kirche auf. Er schien magerer und gelassener geworden. Hoch und steif fand er den Corneli an seinem Platz. Auch die Beichtstühle standen an ihrer erzwungenen Stelle, aber trotzdem schien Corneli nicht besiegt, eher fester als je in die Höhe zu ragen und eine gewisse stille Genugtuung auf seinem kalten Gesicht zu tragen.

Es herrschte nun eine sonderbare Ruhe im Dorfe. Es war nicht die Ruhe der am Abend behaglich auf dem Knie gefalteten Hände und nicht die Ruhe eines schönen Amen, so war’s recht, Gott sei Dank! Es war vielmehr die Ruhe des Zweifels, der nicht zu reden wagt, die Ruhe des Argwohns, der wie eine Katze auf die nächste Gelegenheit lauert, die Ruhe der Unentschiedenheit, der schwankenden Achseln, des bedächtigen Zuwartens. Der Corneli war unversöhnlich beleidigt, der Pfarrer hatte einen Verweis geholt, das wusste man. Von da würde es leis oder laut in Gegnerschaft weitergehen, und einmal müsste man Sich für den Weissen oder den Roten entscheiden. Einstweilen war es besser, die Sache von Fall zu Fall zu begleiten. Aber ohne es sich zu gestehen, hatten eigentlich die meisten im Herzen schon entschieden. Die Alten standen heimlich dem Ammann näher. Sie verkörperten mit ihm zusammen das Dorf, seine konservative Tradition und scheuten jeden kleinen oder grossen Wechsel. Selbst im Pfarrer sahen sie etwas Fremdes, sobald er nicht das sakramentale Amt übte. Dann, jawohl, dann war er ihnen der nächste; sonst der Fremdesten einer.

Das jüngere Geschlecht hielt eher zu Carl. Er predigte zwar gegen den Tanz, das tat der Corneli auch. Aber nie hatte der Ammann ein Fässlein Bier ins Lohwäldchen rollen und den Jünglingen zum Trunk Kurzweil mit Gedichten, Musik und Rätseln bieten lassen, wie Carl an seinem Geburtstag. Er war noch jung, fühlte noch mit, heizte noch Aug’ und Wort mit Begeisterung, das gefiel. Er denkt an Verschönerung und Verbesserung. Sie, die junge Generation, langweilt sich vor der Altbackenheit des Dorfes und Dorflebens, vor diesem Einerlei von Kindsbeinen an, vor diesem Wiederkäuen des Daseins von Jahr zu Jahr. Etwas Frisches, Neues! Ein lustiger Blitz, ein fröhlicher Knall, ein Verluften und Ausfegen der Rumpelkammer. Mit den Prachtziffern oben am Turm fing der Pfarrer an. Seine Augen leuchten. Da ist noch viel zu erwarten.

Ohne irgendein neues Ereignis ging diese heimliche Scheidung durchs Dorf und grub sich in solcher fast unbewusster Zweiteiligkeit immer tiefer durch die Stuben und Kammern der Lustiger ein. Aber es geschah so formlos, dass man kaum laut Partei ergriff, den Hut vor beiden Riesen gleich tief zog, auf ihre Fragen gleich rasch mit einem Ja antwortete und, wiewohl man einen Strauss schon aus Langeweile und Leichtsinn herbeiwünschte, dennoch nicht weiter zu grübeln wagte, ob man dann auch tapfer die Folgen rechts oder links auf sich nehmen wolle. Eine gewisse Zweideutigkeit und Falschheit, um es nirgends zu verderben, griff im Völklein hässlich um sich.

Indessen schien jener Anfall des Pfarrers doch mehr als nur ein vulkanisches Fieber gewesen zu sein. Nicht bloss gewann Carl seine kräftige Beweglichkeit nur langsam und mit kleinen Schritten zurück, als hätte er schwerkrank gelegen, sondern in den nächsten Tagen packte es da und dort einen Lustiger mit Kopfweh, Schwindel, Rückenbrennen und hohen Fiebern. Die Grippe war augenscheinlich da, und lose Zungen tuschelten, niemand anders als der Pfarrer habe sie aus der Stadt gebracht. Selber habe er sie nur leicht bekommen und hurtig abgeschüttelt. Aber diese Seuche werde mit jedem Frass wilder und jedes weitere Opfer leide schwerer. In der Tat ging es bei keinem einzigen mit einer Fiebernacht ab; sondern es entwickelte sich eine Halsentzündung oder ein Brustkatarrh oder gar eine merkwürdig leise Lungenentzündung, wobei der arme Patient mit Mühe nach Luft schnappte. Erst waren es nur sechs, sieben Kranke. Aber nach vierzehn Tagen fieberte und hustete das gute Drittel des Dorfes. Und immer noch stieg die Seuche höher und höher wie eine trübe, zornige Flut. Das ganze Toggenburg seufzte in Not.

Pfarrer und Kaplan warfen sich als beherzte Schwimmer in diesen Greuel, Eusebius etwas vorsichtig, etwas leise, aber durchaus furchtlos; Carolus dagegen, je mehr er sich zurückgewann, mit grossen Schwüngen, laut und lustig. Sein Besuch wog den Kranken zehn Kaplane auf. Eusebi amtierte gewiss ganz korrekt. Aber er war trocken, seine Stimme farblos und dürr, er wusste keine Bauernspässe. Der Duft der gelehrten Bücher, dieser unpopuläre Duft, umschwebte und isolierte ihn ein bisschen. Carolus dagegen plauderte saftig, lachte die Leutchen schon halb gesund, erzählte prachtvoll, begeisterte, riss hin und betete mit ungeheurer Wucht; die Kranken behaupteten, sie spürten kein Übel, solange er in der Kammer weilte. Der Dorfschneider Naz, ein gelenkes Phantasiemännchen, erklärte: beim Kaplan sei das Beten und Zusprechen wie ein Wind im Herbstlaub, es rausche dürr wie Papier, aber es rausche. Hingegen beim Pfarrer fahre es ins volle Sommerlaub und rausche wie zehn Orgeln so lebendig und so grossartig. Aber er wolle weiter nichts gesagt haben. Es spiele ja der nämliche Wind so dorten wie hiergegen.

Einige ältere Personen überstanden die Seuche nicht und starben. So der Paul Huber zu unterst im Dorf. Als Carl mit Kreuz und Ministranten den Sarg beim Gehöft abholte und dabei an Cornelis zugeriegelten Stubenfensterchen vorbeischritt, dachte er: wie arg der alte Schelm sich absperrt. Hat er Angst? Ja, wenn die Grippe so recht schwer in seine Achtzig tappte, das streckte ihn ... Ein Grausen überlief Carl, und er eilte rascher, indem er den Riesen gereckt und gestreckt, wie’s nur Gevatter Tod leistet, über den Schragen geworfen sah, nun auch das starke, rechte Auge gebrochen. Es schauderte ihn und doch musste er mit einer gewissen Wollust immer wieder zu dieser Vorstellung zurückkehren. Geradezu etwas wie Enttäuschung erfasste ihn, als er am Huberhaus über alle Leidleute hoch hinaus den gleichen Corneli wie eine stämmige Silberpappel ragen sah und behäbig trocken die Vaterunser mitbeten hörte. O der stirbt nie! entfuhr es Carl. Aber sofort entsetzte er sich vor sich selbst und ward stille.

Vor dem Sarge und den Verwandten des Toten, den weissen Nastüchern, die man zum Schein in der Hand hielt und der schlecht versteckten Ungeduld, zu erben, und vor einem einzigen harmlosen, aber erschreckten Büblein, das noch nie einen Menschen in einer schwarzen Kiste gesehen und nun furchtbar aufschrie: »Lasst ihn heraus, o lasst ihn heraus! Ich hab’ die Maikäfer auch wieder ausgegraben ...« und vor dem Lachgeriesel, das, ähnlich wie die Morgensonne durchs Baumlaub, jetzt durch alle die schwarzen Gewänder und steifen Gesichter spukte, vor all dem und davon unbetroffen nahm Carl die schwarze Stola ab, legte sie dem Kaplan um, reichte ihm das Buch und bat: »Mach’s du, der Tote war ja noch dein Firmpate!« Und er liess den Kaplan die herrlichen Gebete sprechen, da er seine Zunge soeben beschmutzt hatte, und antwortete mit den Knaben dienerhaft bescheiden und unterwürfig die vielen Amen.

Bei jedem Psalm ward er im Herzen froher, und es drängte ihn geradezu, augenblicklich etwas recht Gutes zu tun. Ich will den Corneli nach dem Requiem zum Frühstück einladen und will ihm in aller Herzlichkeit sagen, dass ich aus freiwilligen Beiträgen eine Kasse eröffne für kirchliche Notwendigkeiten, Notwendigkeiten der Pfarrei im weitesten Sinne. Nicht einen Turmfonds! Den hat ja der Eusebi gestiftet, aber der Verschmitzte sagt nichts mehr davon. Es reut ihn. Die Peregrina verriet’s. Nein, in diese namenlose Kasse soll alles wohltätige und wohlgemeinte für die Kirche fliessen. Der Pfarrer weiss am besten, wie’s von da weiter tropft in Aufwendungen für Altäre, Gemeinde, den Friedhof oder ... den Turm. Aber alles freiwillig! Kein Nickel aus der Kirchgemeindskasse. Der Brave da im Sarg hat zweihundertfünfzig Franken gespendet. An seinem Grabe sei’s verkündet und werbe Jünger! – Ich werde dem Corneli zeigen, dass er die Kirchensteuer an der Novembergemeinde hinuntersetzen und die Zinsen der Kirchenkapitalien zum Fonds schlagen kann, dass ich für alles sorge. Aber dass er nun ein Stümpfchen Vertrauen zu mir habe! Er mag immer kommen und mir in die Truhe gucken. Ich will doch nichts verschlechtern, ich will nur verbessern ... Und vom Turm red’ ich nicht zu ihm. Ich kann warten, bis der Corneli so lange schläft wie der Mann hier. Seinen Feierabend will ich ehren. Aber mehr leisten wär’ Sünde und Unehre dazu.

Und in all dem heilig-unheiligen Denken stieg vor der Orgelempore her der gewaltige Choral nieder: De decet hymnus, Deus, in Sion ... dir, o Gott, gebührt Preis! ad te omnis caro veniet ... zu dir kehrt alles Fleisch zurück! ... Und süss sangen zwei hohe Mädchenstimmen immer wieder in alles Totengebrause und Unterweltsdunkel ihre Lichthoffnungen, ihre Frühlingsgedanken hinein und glaubten sie kindlich, indem sie immer wieder vom ewigen Richter klingelhell jubelten: quia pius es! Weil Gott so gut ist, so lieb, so gnädig! Quia pius es!

Ach, was plagten sich andere mit Türmen von Stein und mit Geldkassen voll Sorgen! Lux aeterna! Ewiges Licht, danach tanzten diese Schmetterlingsseelen und sahen das goldene Tor offen und den Engelvater voll Glanz, und Lächeln unterm Diamantenbogen mit winkenden Armen: Quia pius est.

Hätten der Pfarrer oder der Ammann etwas von diesem erdlosen reinen Kindersinn gehabt, es wäre zum Frieden nicht zu spät gewesen. So aber antwortete Corneli auf die freundliche Einladung Carls neben dem frischen Grabe mit einem kalten, höflichen: »Danke, ich kann nicht annehmen!« –

Als sich Carl auch an diesem Tage mit Krankenbesuchen, Beten und Trösten und kleinen Almosen ordentlich abgehetzt und dabei das schroffe Nein Cornelis fast vergessen hatte, sass er endlich gegen neun Uhr abends in einer glücklichen Müdigkeit im Studierstüblein, zog den grünen Schleier über die Lampe, schlug ein Bein über das andere, horchte dem gleichmässigen dunkeln Gesprudel des Wiesenbächleins zu, das zwischen ihm und dem Kaplangarten floss und bis in die Stube hinein klingelte und überschlug nach behaglicher Gewohnheit ein bisschen, was getan sei und was morgen bevorstehe, indem er die Augen halb schloss und mit dem Schlüsselbund spielte, der an der Armlehne des Stuhles hing. Die schwersten Patienten der Grippe hatten die Krisis überstanden, Sponsalien gab es morgen und eine Kindstaufe, die Predigt übermorgen hielt der Kaplan, ach, gelehrt, langweilig, ein bisschen krächzend, er hört sie schon voraus, aber gut gemeint und ängstlich auswendig gelernt. Der gute Eusebi! Da erzählten jüngst zwei Nachbarspfarrer sauer wie Salatköpfe ihre liebe Not mit den jungen Kaplänen. Dem einen, wahrhaftig, graute das Haar vor Verdruss schon ums Ohr. Vor lauter Gutmachenwollen und Bessermachenwollen gibt es da heillose Konflikte und Unkraut über Unkraut schiesst, wo Brot wachsen könnte. Nein, ich bin mit dem Eusebi glücklich. Auf der Kanzel ist er schwach, aber in seiner Bücherkammer, unter seinen Brillengläsern und seinem Tabakduft wird mir der schwerste Schnauf wieder vogelleicht. Jetzt sitzt er sicher über Pastors neuem Band der ...

Klirr-ing-klirrling! schrillte es durch den Gang. Wer zerrt so? Er hört das Mili und die Peregrina zum Gangfenster laufen, den Draht ziehen, rasche Schritte zu seiner Türe kommen und in diesem Moment, er weiss nicht wie, schiesst es ihm durch den Kopf: Da meldet sich der Hausvater vom Altersasyl, ich wette ... Ist er denn noch nicht geheilt? Von Tag zu Tag geh’s besser, sagte man. Wunderbar war’s und wie ein Wunder ist’s ... Herein!

Zwei pochende Fingerknöchel, die Türe aufgesperrt, das fahle, aber frohe Gesicht des Dr. phil., Carl wundert sich gar nicht. Ja, gerade das musste diesen Abend kommen!

»Er schickt nach mir? Er will? Er ...« drängte der Pfarrer und grübelte mit dem Blick fragend in der senkrechten Runzel des jungen Eugen Dott.

»Ist eben gestorben!« versetzte Herr Dott mit bleichem, aber strahlendem Gesicht.

»Gestorben?« Carl setzte sich schwer in den Stuhl zurück und rutschte auch Eugen einen Sessel nahe. Aber dieser stand aufgeregt und leuchtend da und trat hin und her vor Bewegung.

»Gestorben!« wiederholte der Pfarrer; »und war am Gesundwerden.«

»Jetzt ist er’s geworden, Herr Pfarrer, ganz gesund!«

»Erzählt,« bat Carl, indem er das fahle Gesicht musterte und es darinnen seltsam flackern sah. »Aber wisst, es martert mich, dass ich nie mehr herüber kam. Immer nahm ich mir’s vor. Aber da gab es Nöten über Nöten und jetzt diese Epidemie und ... und ...«

»Er hat Sie sehr, sehr erwartet!«

»Aber ja ... eigentlich gehörte er ... ja auch nicht ... zu meinen ... Schäflein,« würgte Carl heraus.

»Oh!«

»Man hat mich schon einmal einen Wilderer auf Seelen geschimpft. Der Bischof gab mir einen Wink. Freilich hier ...«

»Er hat Sie innig gerufen. O er hatte Sie gerne. Wie sollte er nicht Ihr Schäflein gewesen sein. Gibt es denn da ein Zeichen mit Stempel und Schere?«

»Lassen wir das, mir war er wie ein Bruder damals.«

»Er sprach auch nie anders von Ihnen als vom schönen, starken Bruder.«

Bewegt und beschämt senkte Carl ein wenig den Kopf. »Erzählet, ich bitte. Es ging ihm doch viel besser, nicht?«

»Ja, das war wie eine Suggestion. Sobald Sie weggingen, glaubte mein Vater an die Gesundheit und fühlte sich von Stunde zu Stunde besser. Aber das Wasser stieg trotzdem. Da war nichts zu machen ... ah, hört, man läutet.«

»Schon wieder! ‘s ist etwas Unruhiges in der heutigen Welt. Die stillste Hausschelle bekommt den Rappel ... Aber dann stand der Herr Hausvater sogar auf?«

»Das nicht, aber er wurde merkwürdig ruhig und zufrieden im Bett. Er lächelte immer. Mich dünkte, es stecke eine kindliche Schlauheit in diesem Lächeln, wie etwa das Schelmenwort: wenn ihr wüsstet, was ich alles könnte! sofort aufgehen, sofort wie ein Gesunder marschieren und agieren könnt’ ich. Ich hab’s in der Hand. Aber ich will nicht. Ich warte noch. Mein schöner, starker Bruder heisst mich dann schon das Rechte tun. Jetzt ist das Rechte, still in der Mitte des Bettes zu liegen, die Hände gefaltet, gegen das Licht hinaus schauen, denken, wie lieb alles ist, alles, alles, weil ganz warm vom lieben Gott, und wie wir alle ein Fleisch und Bein sind und uns nicht weh tun sollen ...«

»Hat Ihr Vater so Wunderbares gesagt?« fragte Carl.

»Oft im Schweigen sprach er’s aus, ich verstand es nicht anders. Aber er hat auch davon laut geredet. Er fragte nach den letzten Leuten im Hause, bat mich täglich, alle beim Frühstück zu grüssen ...«

Es klopfte. Peregrina flüsterte etwas von Mili und Frau Wirtin Quäler. Der Sigi frage.

»Komm nur herein, Sigismund, du darfst das auch hören. Mittlerweil’ rüstet sich das Mili.«

»Es darf kommen?«

»Es soll sogar!«

»Das ist meiner Mutter der grösste Trost. Doktor Ammann fürchtet Lungenkomplikationen.« Sigi setzte sich und nickte höflich zum Dr. phil. hinüber.

»Alle beim Frühstück grüssen musstet Ihr?« setzte Carl wieder an.

»Und nicht mit meinen Worten. Er schrieb mir alles genau vor: Du neigst dich vor den ehrwürdigen Greisen, vor den ehrwürdigen Greisen, sagte er, und sprichst recht höflich: Der Vater lässt euch herzlich grüssen, nicht wie ein Vater seine Kinder, nein, wie ein Kind seine Eltern grüsst. Er wird halb selber kommen und es nachholen, was er an Gruss und Liebe so viele Jahre hat fehlen lassen. Ihr seid seine Lehrer und Meister. Von euch nimmt er alles an ... Das musste ich sagen. Die Alten verstanden mich nicht. Sie mussten lachen. Ist er kindisch geworden, hiess es. So redet ein Narr. Ich musst’ ihm das erzählen. Und dann lächelte er wie ein Kind und sagte, sie werden es schon erfahren, welch ein Narr ich geworden bin, ein Narr Gottes und ein Narr der Liebe. Ach, was für eine Liebe hat mir dieser Pfarrer in die Brust hineingebrannt! ...«

Sigi horchte. Er war dunkelrot vor Hitze, und eine wilde Erregung wegen dem Mili durchflutete ihn. Er würde es jetzt bei Nacht ganz allein zur Ilge führen. Es sind fünfzig Schritte, wenig. Aber wie unverhofft viel dünkt es ihn. Und dann riegelt er es mit dem mächtigen Schlüssel, an dem er beständig heruntertastet, ins eigene Haus, schläft unter dem gleichen Dach mit ihm, hat es stundenlang nah, kann ihm auflauern, Fallen stellen und sein Jägerglück und Jägergenie an ihm erproben. Aber er will vorsichtig sein. Ein grosser Respekt hält ihn zurück, es wie die Mädchen der Zürcherstrassen zu betrachten. Tag und Nacht muss er an es denken. Sein Bild plagt ihn. Aber es plagt ihn eher zum Niederknien als zum Niederknien lassen. Er denkt viel Unreines, aber kann es nicht fertig denken. Immer bricht durch den Schmutz dieses klare, durchsichtig reine und tapfere Antlitz hervor, lächelt, grüsst und zwingt zu einer sonderbaren Ehrerbietigkeit.

Indem es so drängt und hastet in ihm, fällt das Wort Liebe vom Munde des Eugen Dott so feierlich ins Zimmer, dass er aufschreckt.

»Oft, wenn ich ins Zimmer trat, waren seine Augen feucht. Er hatte geweint. In allen siebzig Jahren sah ihn vordem kein Mensch mit einem nassen Auge. Tut dir etwas weh? fragte ich. Weh und wohl! gab er zurück. Dass ich so ein Holz war, so ein dürrer Stecken, das macht mir schwer. Aber da kam er und sah mich an und das alte Scheit fängt noch an zu knospen ... Ganz wie Frühling ist mir. Er sah mich an und ...«

»Hm, hm, ach ... nicht so,« flehte Carl tiefbedrückt und senkte das Haupt noch tiefer ... »Ich war es nicht, o Gott, ich leider nicht!«

»Und sah mich an und riss mir das Aug’ auf, und das Herz und den Himmel, riss mir alles auf ...«

»Stille, seid stille!«

»Riss mir alles auf, was ich verriegelt hatte, und zeigte mir das eine und alles, die Liebe, o Gott, die Liebe!«

Aufgestört aus seiner Sinnlichkeit horchte Sigi. Immer wieder dröhnte das grosse Wort an sein Ohr. Was meint er damit? Was erzählt er? Aufreissen! Liebe, Liebe! Wie singt und klingt die Luft davon. Kenn’ ich das? Fühl’ ich’s gar? So wie jetzt war’s mir ja auch noch nie!

»Herr Pfarrer, er erstickte fast, er ward blau und purpurn beim Husten, er nahm noch vier Löffel Griessschleim im Tag und wurde doch immer lustiger und lieber dabei. Es geht rasch mit der Besserung, sagte er dankbar. Wenn ich ganz gesund bin, mir ist, ich flieg’ dann vor Glück und bau’ da ein Nest und dort ein Nest; wo nur ein Odemlein lebt, will ich wärmen und lieben. Ich will nicht zu Fuss gehen, das dauerte zu lange, ich will fliegen, der Liebe nachfliegen, schauen, wo sie daheim ist und wie ihr Vater heisst ... Und er lag da, ich sag’ Ihnen, so schwer, als wär’ er tief ins Bett hinunter gewachsen, und konnte keinen Arm mehr heben. Und dennoch hüpften seine Augen wie Sonnenfunken herum, als gehörten sie zu keiner Erd- und Leibesschwere mehr, und er sagte voll Glauben: schau, da sitz’ ich wie ein Vogel auf dem Ast. Ein Lüftchen, ein Ruf, ein heller, früher Morgen und ich schweb’ dir davon und leer ist der Ast und du kannst mich dort suchen, wo die Liebe daheim ist. Sei gut und lass alles, was ich habe, den Alten im Haus. Was brauchst du anderes, als zu lieben und geliebt zu sein? Mehr kannst du nicht geben und nicht nehmen.«

»Es ist ein Wunder!« rief Carl und wischte sich das Auge. »Wir Unwürdige ...« er klopfte an die Brust. So erzählte Eugen Dott. Er kam von der noch warmen Leiche, vom letzten Blick und Vogelsang seines Vaters; er hatte diesen lächelnden Tod wirklich wie einen Lerchenflug von der Erde sonnenwärts soeben miterlebt, und da riss es ihn mit glühenden Worten in ein Schildern voll Pracht und Leuchten. Diesen knorrigen, lieblosen Alten hatte die Gnade berührt. Eugen stellte sich das weder katholisch noch reformiert vor, sondern einfach als eine ausserordentliche Tat der Liebe, die noch Steine lebendig macht und diesmal, statt einen Kiesel, seinen Vater für ihre Wunder erlesen hatte. Während er berichtend im Zimmer hin und her sprang, liess Carl den Kopf immer tiefer sinken und Sigi ihn immer höher heben. Es musizierte so schön in seinem Ohr: Was brauchst du anderes als zu lieben und geliebt zu sein? Mehr kannst du nicht geben und nicht nehmen. – Er bezog es auf sich, aber fühlte zugleich, dass die beiden Männer, deren Gesichter wie dunkle Sonnen glühten, noch einen viel höhern Bezug hierfür kannten und ihn schauderte vor diesem Unbekannten. Denn er war zu tief veranlagt, um nicht das Wehen grösserer Leidenschaften als seiner kleinen selbstsüchtigen ahnen und heimlich verehren zu können.

Plötzlich fasste der stürmische Erzähler den Pfarrer heftig an beiden Achseln, brannte ihm mit den Augen ins Gesicht und rief: »Jetzt sagen Sie mir, was war was, was Sie an meinem Vater taten? War es eine Suggestion? War es eine heilige Priesterschlauheit? Oder war es Ihr wunderbarer Glaube? Sagen Sie mir, ist was Natur oder Gott? Sagen Sie schnell! schnell!«

Es war, als kämpfe er mit Carl und wolle ihn niederzwingen. Draussen sang das Bächlein, schliefen die Zwetschgenbäume und liessen etwa eine überreife Frucht ins Gras fallen, das Dorf ruhte aus, der Kaplan las alte Historien mit der Doppelbrille auf der Nase, einige Kranke stöhnten im Fieber, aber die Giebel ihrer Häuser hoben sich beruhigend in die leise Mondluft, und alle Fenster tranken vom gelben Gestirn, so viel sie nur konnten, in die Kammern hinein. Nur das Pfarrstübchen war heiss und von seelischen Gewittern geladen wie eine Pulverkammer.

»Mässigt Euch,« rief Carl und wehrte den Mann wie einen Baumast von sich, der wieder und wieder auf ihn zurückschnellen wird.

»Ich muss es wissen,« drängte jener. »Darum bin ich noch nachts über den Hügel gelaufen. Mein Vater liegt wie verklärt im Bett. Gibt es mehr als Natur, Herr Pfarrer, gibt es mehr? Habt Ihr’s, saget doch!« Und wieder fasste er ihn an.

Sigi schwitzten die Hände vor Eifer zu schauen und zu hören. Was für eine Welt hatten die da! Welche Augen! Welche Worte! Was Grosses! Nicht wie ordinäre Menschen mehr, etwas wie Erzengel und Ewigkeitshelden ...

»Freund,« keuchte Carl und erhob sich, »ja, es gibt viel mehr. Fraget den, der das Rot erfunden hat. Von ihm kommt alles, das Licht und Leben, das Eisschmelzen und Blühen des Hagsteckens und die Wärme und die Liebe. O hätten wir alle nur mehr Aug’ und Ohr und Lippe, es ... es ... ja, es aufzuküssen, in die Seele hineinzuküssen, dieses viele Herrliche! Aber was macht Ihr? Nein doch ... nein, seid vernünftig!«

Der schöne, freie Mann mit dem Doktorhut und der Philosophenfurche zur Nase hinunter kniete wie ein Kind vor dem Pfarrer ab, hielt sich an seine Knie und bat: »Darf ich wiederkommen, lasset mich wiederkommen! Wie ein Kind bettle ich Euch an, Vater;« und er rutschte mit, da Carl peinlich berührt wegschreiten wollte. Es war äusserlich schier komisch anzusehen und wirkte doch auf alle drei erschütternd. Fast wäre Sigi vom Stuhl geglitten, um mitzuknien und mitzubetteln. Unzweifelhaft ging Gott mit lautem Schritt in diesem Augenblick durch das Stüblein.

Langsam richtete Carl den Mann an sich auf, drückte ihn halb und halb an seine Brust und sagte lächelnd gegen Sigi: »Es gibt eben doch mehr als nur Chemie.«

Sigi sah auf. Seine Blicke glühten. Er bejahte mit einem schönen, mutigen Kopfnicken und zeigte etwa Feuchtes, Glitzriges in den Augen. Er wischte es nicht ab. Er schien stolz darauf.

»Kommt nur, sooft Ihr wollt, wir haben uns über das Rot, über das himmlische Tor noch lange nicht ausgeplaudert. Gott habe euren lieben Vater selig! Ich schick’ ihm meine stillen Grüsse nach und ich bitt’ ihn, uns etwas von seinem letzten Lächeln zu vererben. Ade, lieber Freund!« –

Kurz darauf hatte das Mili seinen kleinen Bündel geschnürt, ein Tag- und ein Nachthemd, eine Bluse, eine warme Nachtjacke, zwei Schürzen, Kamm, Seife und gelbes Kopftuch, sowie ein Paar selbstgeschusterte weiche Tuchpantoffeln zum geräuschlosen Stubenhin-, Stubenhergehen.

Es schlang im Haustor, vorm Dunkel der rabenschwarzen Nacht, die gelbe Seide ums Haar und sagte ernst zu Sigi: »Hat es die Bas’ denn auf einmal so schwer gepackt?« Er nickte stumm. »Pressieren wir,« befahl sie tapfer; »Da, gib mir die Hand, ich sehe rein gar nichts! Da müssen doch die Stufen in die Strasse hinab sein.«

Er fasste sie hart an der Rechten und regierte ihren Schritt. Aber er tat es ehrerbietig, obwohl eine seltsame Süsse von ihrer Hand durch seine Glieder lief, und er fühlte, dass sie sich voll Vertrauen ihm überliess und obwohl er sich hundertmal hätte neigen und ihr jeden Finger küssen mögen. Es war in ihr oder in ihm etwas so Grosses seit dem Erlebnis im Pfarrstüblein, dass alle Begehrlichkeit schweigen musste. Alle Abenteuer, so keck und saftig er sie sich von der Pfarrhaus- zur Gasthoftüre ausgedacht hatte, waren vergessen. Er führte das Mili die Stiege hinauf und schob es mit einem sanften Ruck in das dämmerige, dünstige Krankenzimmer. »Gute Nacht, Mutter,« rief er, »da kommt ein Engel!« Dann zog er die Nase mit den gesperrten Nüstern rasch zurück und lief in seine Dachkammer. Er fürchtete das Kranksein über alles. Und diese Pest war so heillos ansteckend.

»Ei, war ich ein Tölpel,« sagte er plötzlich und schlug sich an die Stirne. »Jetzt kann ich sie ja gar nicht mehr küssen. Den Tod könnt’ ich ja holen. Zwischen Stuhl und Bank fällt man, wenn man zu tugendhaft sein will. Nein doch, ein paar Erdbeeren hätt’ ich ihr von den Lippen pflücken sollen. Ja, Erdbeeren, so muss es von diesem hellen Mund schmecken. O ich braver Esel!«

Kapitel 13

Wie dieser Oktober log! Er schleifte morgens und abends nasse Nebel über die Wiesen und man schauderte den Rücken hinunter. Aber von zehn Uhr an heizte die Sonne die grosse Weltstube so mächtig ein, als wär’s mitten im heftigsten Juli. Das Obst reifte und verschrumpfte am Baum an einem Tag, die Heuschrecken wüteten wie im Hochsommer, und die Schwalben verschoben ihre Winterkur von Woche zu Woche. Das Emd war kurz und karg gewachsen und statt eines dritten Wuchses vergilbte und schwärzte sich der schöne Weidboden wie um eine Brandstätte herum. Das Vieh litt, die Fliegen wollten nicht sterben, und die Grippe, nachdem sie schon halb erloschen war, schwoll bei diesen kalten Nächten und glühenden Tagen zu einer zweiten giftigen Üppigkeit an.

Eine alte, etwas verwirrte Frau, Regine Hutzli, die Tante jenes Holzers Mathias Minz beim Notkersegg, der den Tälersarg so billig hobelte, liess es ungescheut heraus, dass im Dorf keine Gnade werde, eh’ und bevor nicht der Pfarrer und der Ammann sich vor der ganzen Gemeinde den Friedenskuss geben.

Die Ilgenwirtin lag bereits die dritte Woche im Bett. Ihr blödes Lisettli war schon immer in gesunden Tagen, aber nun erst recht ein Hindernis im Haus. Mili arbeitete dafür wie zwei aufrechte Töchter. Sie kochte, wachte und wusch der Kranken und ging, je besser sie die seltsame Verlassenheit der Base erkannte, kaum noch von ihrem Bette weg. In der Tat, Frau Ida hatte niemand. Ihr Mann war ein vertrockneter Weinhändler, reiste gern, trank gern, spasste gern, aber liebkoste eigentlich nur seinen Beutel und seinen Bauch. Schöne, frische Frauen sah er voll stiller, zurückhaltender Begehrlichkeit. Darauf trank er eine Flasche und dabei blieb es. Für seine Frau, nachdem sie bei Sigis Geburt gleichsam alle Schönheit an diesen Prinzen ausgegeben hatte, so dass nachher nur ein kleines Hudli von Mädchen gelang, kurzsichtig, mit schwachem Gehör, unfertiger Sprache und halbem Verstand – für seine nun farblose, magere, matte Frau besass der Ilgenwirt kein stärkeres Gefühl mehr, obwohl sie ein Herz wie Gold hatte. Er rechnete ihren Wert nur noch nach ihrer Arbeit aus, und insoweit schuf die Krankheit endlich einmal über das lautlose, fleissige, verborgene Wirken Frau Idas volle Klarheit. Denn an allen Ecken und Enden fehlte es jetzt und haperte rechts und mangelte links, obwohl noch eine ältere Magd und der Hausknecht im Dienste standen. Vor allem gebrach es an jeder genauen Zeit und an jedem ordentlichen Tagesprogramm. Es zeigte sich jetzt, dass die stille Frau mit den müden, halbgeschlossenen Augen, dem langsamen Schritt und dem vielen Schweigen dennoch der grosse und der kleine Zeiger der Arbeitsuhr, noch mehr, die eigentliche Feder des innern Betriebes gewesen war. Auf einmal stieg ihr Wert ums Dreifache beim Gemahl.

Dass die blöde Lisette der Mutter wenig Seele schenkte, sie, die oft wochenlang hindämmerte und dann meist teilnahmslos im Bette lag und nur ass und schlief wie ein dummes Tierchen, das lässt sich leicht denken; aber minder begreiflich erscheint das frostige Benehmen Sigis gegen seine Mutter. Tat sie zu demütig, zu mägdehaft vor ihm, fütterte sie seine Eitelkeiten und seinen Egoismus zu willig, war zu schweigsam, stellte sich zu geduldig in den Hintergrund? Einerlei, er suchte sie nie, wenn sie nicht da war, und sah sie kaum, wenn sie da war, vertraute ihr nichts an und lebte nahe und fern von ihr wie ein mutterloser Mensch. Gewiss, er gehorchte den strammen Hausregeln. Das gehörte zum Geschäft. Da litt Herr Viktor Quäler keinen Einbruch. Aber dieser Gehorsam war eine Form ohne Seele, eine Ordnung ohne Freudigkeit, er kältete eher, als er wärmte.

Nach einer Woche herzlicher Besorgung fühlte Frau Ida im Mili das ihrem Herzen nächste und wärmste Blut rinnen. Sie überwand die angewöhnte Verschwiegenheit und vertraute der guten Wärterin, von der Schwäche des Bettes und von der Summe bitterer Erfahrungen übernommen, ihr verborgenes freudloses hungriges Seelenleben. Dabei küsste ihre verspätete Lippe dem guten Mädchen die Hände, die Stirne, den Ärmel sogar und bat: »Lass mich, o leid’ es; du Gutes!« – Und sie wünschte zu sterben. »Mach’ mich nicht gesund, Kind!« bat sie. »Lass mich so abschwachen und hinüberschlafen. Geh nur du nicht weg, bis ich ganz sicher tot, bis ich aus diesem elenden Hause ganz sicher entflogen bin.« – »Nein, Base, Ihr werdet wieder gesund, und dann habt ihr neue Lust am Leben.« – »Am alten Leben, Mili? Nicht den kleinen Finger voll Mut hab’ ich dazu. Und nicht einen kleinen Finger voll Kraft.«

Vorher wusste das Mili nur, was das Dorf immer halb recht, halb schlecht weiss, der Quäler vernachlässige seine Frau, aber sie dürfe im Hauswesen regieren und habe einen seligen Stolz auf ihren hübschen Jungen. Er habe ihr jüngst im Garten den Arm gereicht und sie artig zum Friedhof geführt. Alle Mütter, die zusahen, hätten dabei einen stillen Neid gekriegt.

Jetzt sah Mili in dieses Glück hinein. Es verstand die Not der Frau lange nicht recht und schob der Krankheit zu, was dem Leben gehörte. Ihr gesunder Sinn konnte weder diese Verlassenheit verstehen, noch dass man sich so gehen lassen könne, statt immer wieder aufzustehen, so wie ein Vogel noch mit der letzten Feder sich aufzuschwingen probiert. Aber nach und nach spürte auch Mili diese sonderbare Kälte. Der Wirt kam oft hinein, aber seine Stimme blieb die gleiche, mit der er die Weinsorten und Preise aufzählte, und immer waren es Nützlichkeitsfragen, wenn er sagte: »Was meinst, wirst in einer Woche aufstehen? Kann ich die Beth wegschicken? Darf ich dir morgen anfangs das Rechnungsbuch ins Bett geben? Das Mili hilft dir.« – Und der Bub kam nur abends und morgens, bot keine Hand, lächelte nichtssagend, und seine ganze Kinderseele drehte sich zwischen den zwei Phrasen: »Hast gut geschlafen? ... Wünsch eine gute Nacht!« Und eigentlich, kam er wegen der Mutter?

Vielleicht, wenn Ida so grosse Qual ausgestanden, dass es ihr die Glieder verzogen, den Atem zugewürgt und Schreie der Verzweiflung erpresst hätte, vielleicht wäre dann Mitleid oder doch ein menschliches Grausen über diese hölzernen Leute gekommen. Aber nicht einmal die Gnade zu rühren und zu ergreifen ward der Ärmsten vergönnt. Sie lag so lässig im Bett, litt so geringes Fieber, sah so gewöhnlich, so langweilig aus, dass es eher Verdruss erweckte, wenn sie noch immer liegen blieb. Hätte der Arzt nicht sehr drohend geäussert, dass es sich um ein arges Eingreifen der Grippe in die Herzfunktionen handle, sie hätten das Weib mit ihren Ungläubigkeiten sicher aus dem Bette geplagt. So aber stand das Mili mit verschränkten Armen und energischer Miene da und bewies, dass sie alle Gott danken müssten, wenn Frau Ida noch einmal heil aufstehen könne.

Sigi war überall und nirgends. Er wusste jeden Schritt Milis, beobachtete es vorsichtig, aber scharf, wie man einen gefährlichen Vogel im Käfig betrachtet, dem man weder das Türlein zu öffnen oder auch nur den Finger hereinzustrecken wagt, und mit dem man doch so gerne spielte. Den Abend im Pfarrhof hatte er sich wie eine schwere Traumbefangenheit von der Stirne gewischt, doch zuckte ein Schrei, ein Aufblitzen jener Stunde noch manchmal in die Trägheit seiner Tage hinein.

Da kam ein Nachmittag, schwül wie der gestrige und vorgestrige, aber ein Nachmittag von besonderer Wichtigkeit. Es gibt solche Stunden. Man sieht ihnen nichts an. Sie geben sich genau wie andere. Dennoch rinnen sie nicht wie Sand oder ein schläfriges Wasser. Sie rollen Blöcke daher, krachen, ändern; mehr als sonst ein Jahr leistet, bringen sie auf ihrer kurzen Minutenspur zuweg. Erst später merkt man, wie entscheidend diese Stunde war. Hätte man es vorher gewusst, man hätte gezittert und sich vor ihr in alle Löcher verkrochen. So eine Stunde kam nachmittags, am 6. Oktober, am Tage des strengen und düstern Mönches Bruno, des Heiligen. Da zogen zwei Menschen, unwissentlich mit einem grossen Schicksal beladen, von Uzli die staubige Lustigerstrasse herauf; und in der Ilge sagte Ida, nachdem sie dem strickenden Mili lange zugeschaut hatte, plötzlich und klärte ihr abgelebtes Köpflein sonderbar auf: »Mili, Kind Gottes, ich muss mit dir reden.«

Die Jungfer sah befremdet auf.

»Du bist nicht mehr lustig,« klagte die Frau langsam, »machst jetzt oft so ... ja so schwere Augen. Es drückt dich etwas. Du bist viel freier dahergekommen.« Sie lächelte seltsam, fast hinterhältig.

Das Mili ward dunkel und schoss merkwürdig hastig auf: »Ich denk’ eben an daheim, was die ohne mich für eine Ordnung haben! Ihr müsst mich jetzt wirklich am Nachmittag auf ein, zwei Stunden nach Hause lassen, zum Nötigsten.«

Ida lächelte noch schlauer. Ihre farblosen, lichtscheuen Augen bekamen Öl.

»Du weisst doch, dass der Johannes die halbe Zeit im Pfarrhof ist, und der Heli hat zum Fädeln und Kochen das Sandmeitli und kann’s so leicht noch ein Stück aushalten. Da ist doch nichts zum Sorgen, Kind!«

Mili bog sich zur Nadel und überzählte die Maschen ... siebzehn, achtzehn, neun ...

»Neunzehn, zwanzig! Ach, lass das, Mili. Du hast einen Kummer. Lad’ ab!«

»Bas’ Ida, was habt Ihr nur? Plagt uns nicht so!«

»Du, du plagst dich, ich möcht’ dir leicht machen. Aber was kann ich, wenn du so zugeriegelt tust!«

O Gott, dachte Mili, sie hat’s gemerkt, sie weiss alles.

»Gib mir die Hand! So! Jetzt schau’ mir ins Gesicht, du starkes Mili! Nun meinst du, ich merk’ nichts? Meinen Sigi, meinen schönen, bösen Sigi hast im Kopf ... Der hat dir das Herz verdreht. Sag’ nur schnell Ja. Und ist nun das so himmeltraurig? Ja, was ist ... was hast jetzt wieder ... was ...«

Das Mili entriss ihr die Hand, stand zwei Schritte weg, wusste nicht, ob lachen, ob schimpfen, und brachte nur unter stetem hartem Nicken mit dem Kinn das Wort hervor: »Ich? ... den Sigi! ... Aber Bas’ Ida, wo seid Ihr?«

Jetzt staunte die Kranke. Dieser überraschte, abweisende Ton klang zu ehrlich. Eine fahle Blässe überzog die Frau, die Augen füllten sich, alle Helle hatte in Düsterkeit umgeschlagen. Aber etwas wie Beleidigung und Zorn sickerte jetzt aus dieser sanften Frau hervor, als sie klagte: »Ist er denn nicht schön? Ist er etwa nicht deiner wert, Jungfer Habenichts? ... Liebt er dich etwa nicht? Grausam liebt er dich!«

»O Ida, schweiget oder ich lauf’ Euch davon.«

»Wir stille Frauen sehen mehr als ihr tolle Springinsfelde. O ich weiss alles. Ich versteh’ ihn. Er ist nicht schlecht, wie das ganze Dorf sich ins Ohr bläst. Er ist sehr, sehr edel ... Alles weiss ich. Ich hab’ auch meine Augen und Ohren und in Zürich meine Bekannten. Er trieb es wie ein Holderi und Kolderi, Spass und Leichtsinn und Schwachheit durcheinander, wie’s einer treibt, der Plötzlich vom Wasser in den Wein kommt. Aber, Kind, glaub’ mir, das waren alles dumme Räusche. Es lag nichts Ernstes dahinter. Es hat ihn sicher oft angeekelt ...«

»Frau Bas’ ... lasset das, was geht es mich an? Nie hab’ ich auch nur einen Augenblick an Sigi anders gedacht als ... als ... ach, gar nicht einmal an ihn gedacht hab’ ich.«

»Schlechtes, böses Ding,« grollte die Frau und wischte sich stets neue Tränen weg. »Jetzt kam er und jetzt ward es ernst. Er denkt nichts und sieht nichts als dich. Er ist ganz verschossen in dich. Und du tust wie ein Fisch.«

»Ich geh! Das kann ich nicht hören.«

»Geh nur, lass mich und ihn, lass uns nur alle im Stich! Gott wird dir das nicht so leicht hingehen lassen, gar nicht, gar nicht, das glaub’ mir nur!«

»Mutter, Mutter,« flehte die Jungfer nun ganz erschreckt.

»Schön Mutter, Mutter. Ich merk’ nichts Kindliches an dir.«

Mili kniete vor ihr nieder, streichelte ihre Hände. Das Weinen stand dem Mädchen in der Kehle. Ihm war, soeben habe eine grosse, schwere Uhr die Stunde geschlagen. Vorbei alles Mädchentum, die Frau beginnt!

»Ich habe nie etwas bemerkt,« beichtete es ruhiger. »Wir haben gespasst wie Schulkameraden. Er redet ja wohl oft anders als man hier redet ... so studentisch ... es ist wahr. Aber wer denkt da an etwas ... an so etwas, wie Ihr meint. Jetzt, da Ihr mir das gesagt habt, versteh’ ich manches, wenn er so sonderbar tat. Aber denkt doch, was er für ein Herr ist und was er für Herrenlaunen hat! In zwei Wochen reist er wieder zur Schule, und dann ist alles abgeschüttelt. So sind doch die Studenten ...«

»Eben das soll er nicht,« sagte die Frau mühsam.

»Wie meint Ihr?« fragte Mili mit grossen Augen. »Komm näher, gib die Hand! Die andere auch! Jetzt hab’ ich dich! ...«

»Was wollt Ihr von mir,« bat Mili bebend. »Ich lieb’ ihn nicht, ich mag ihn nicht. Er ist mir ... ich fang’ an, ihn im Gegenteil ...«

»Mili, Mili, sei still! Was bist du dumm! Wo fändest du so einen! Alle Mädchen reissen die Augen nach ihm auf. Er ist reich, er ist gescheit, er wird hier einmal Ammann. Frau Ammännin, ist das nichts? Du Tropf ... hast denn kein warmes Blut? Bist ein Fischweiblein? He?«

Das Mili machte ein immer schrofferes, widersetzlicheres Gesicht.

»Schau, ich sag’ dir die Wahrheit, der Junge verdirbt mir in der Stadt, wenn er nichts Solides hat, das ihn hoch hält, so eine rechte, ehrliche Liebe, so ein tüchtiges Ding wie du. Er hat das Blut vom Vater und von mir, heisses, glaub’s nur. Er muss etwas Warmes am Herzen halten können. Ich weiss, wie er dir schon lange nachgestrichen ist, wie er jetzt um die Kammer herum horcht und späht, wie er nicht zum Haus hinausgeht, weil du drin bist, und die Mägde ausfragt, was alles du bei mir machst. Hättest Augen, du merktest ihn hinten im Gang, oben auf der Stiege, hinter alles Türen, so passt er dir auf. Wenn du so ein Fisch bleibst, rennt er mir in die Stadt und wirft sich der ersten besten in die Arme. O er ist frech. Wir haben letzten Winter mehrere Briefe von Zürich bekommen, nicht schöne! von den Mädchen selber, einmal von so einer armen Mutter, einmal nom Advokaten wegen Geldentschädigung. Sag’ keine Silbe davon! Wir schweigen. Aber das wär’ nun das grosse Glück, wenn du ihm lieb tätest, Hoffnung machtest, sogar ein Küsslein oder zwei erlaubtest. Du bist entsetzlich stark. Du hast einen gleich an der Hand. Der Sigi bliebe dir treu. Es wären nur ein paar Katzensprünge, was er in der Stadt etwa noch riskierte. Er hätte dich immer im Rücken und käme immer wieder zu dir. So eine frische, gesunde, kluge Jungfer, wie du bist, gäbe das für unsern Sigi einen Schatz und eine Frau fürs Leben wie keine zweite. Das Haus hier finge wieder an, heiter zu werden. Und wir Alte würden jung ...«

Sie musste unterbrechen für einen längeren Schnauf, so hastig hatte sie das herausgefiebert.

Das Mili hatte ihr braunes Zigeunergesicht mit dem blanken, messingfarbenen Scheitel tief in die Decke vergraben. Jetzt sah sie mit heissen, trockenen Blicken auf und sagte erschüttert: »Ihr übertreibt. Das kann nur ein Spielchen sein, wie er’s mit andern getrieben. Was kann ihm so ein armes unwissendes Dorfmädchen sein. Bin ich hübsch?« Sie heiterte sich ein wenig auf, »und bin ich gar nicht so dumm? Ich glaub’s selber. Aber der Sigi findet noch viel hübschere und gescheitere in der Stadt. Jetzt hat er niemand, da ist ihm jeder Apfel recht. Jawohl,« wehrte sie gegen die Kranke, »jeder Apfel. Er beisst hinein wie letzthin und wirft ihn über den Weg ... Lasst mich ausreden! ... Ich war im Garten, um Euch das zartere Gemüse zu lesen. Er zerrte eine Birne ... ach, ja was tut’s, es war eine Birne ... vom Bäumchen, weil sie rot und gelb glänzte, riss zwei, drei Bissen weg und schmiss sie in die Strasse. Aber Sigi, sagt’ ich, so darf man doch nicht, die isst man fertig ... Da ist eine bessere! sagte er wild und riss wieder eine vom Ast und biss hinein. Ich bin weggegangen. Er hat sicher noch eine dritte und vierte probiert. Es gibt ja immer eine bessere. Und so hat er’s mit den Mädchen. Ihr erzählt es ja selbst ...«

»Aber du bist ein seltener Apfel, glaub’s nur. Er hat dem Vater etwas von Zürich beichten müssen, sonst hätt’ er kein Geld gekriegt. Der Vater war bei Laune, und da hat er ihm auch etwas von dir verraten und gesagt, so was habe er nie gespürt. Er möchte ein Engel werden, brav sein wie ein Kind, wenn er nur ein wenig Freud’ mit dir hätte ... Du, du ganz allein kannst uns den Sigi retten.«

Mili schüttelte sich vor Grauen.

»Mein Mann hat ja nun die Vormundschaft über euch übernommen und wird euer Gut gegen den Onkel Julius gehörig verteidigen. Da kam er und sagte: Euere Sache stehe gar nicht böse. Aber wenn du auch nichts als ein Nastuch und einen Fingerhut hättest, würde er dir den Sigi geben, weil du alles so prächtig bei euch in Ordnung haltest wie in einem Drückli, und weil man dem Sigi einen warmen Fleck geben müsse, wo er sich festwurzeln könne. Wenn er dann mit dem Wipfel ein bisschen hin und her kokettiere – du weisst, wie närrisch er redet ... mit dem Wipfel ... denk! – so mach’ es nicht mehr viel. Früher hat mein Mann immer an eine reiche Heirat gedacht, etwa an die Zellwigtochter. Aber erstlich ist sie protestantisch, und jetzt, nach all dem Geschrei aus Zürich, denke. Und weil du auch meinem Mann etwa Besonderes vorstellst ...«

»Bah!«

»Ja, etwas Besonderes ... Er versteht sich auf dieses Fach,« fügte sie schwermütig lächelnd bei, »auf die zwei F, sagt er.«

»Was?«

»Flaschen und Frauen, verstehst du! Auch der Sigi fängt mir an Wein zu läppeln. Er schlückelt noch wie ein Kind am Lutsch. Grad so wie er’s wohl auch mit den Mädchen noch ein bisschen artig macht ... Ach, Milmili, du musst uns helfen.«

»Ich kann nicht. Wüsstet Ihr nur warum. Ach nein, aus vielen, vielen Gründen.«

»Zähl mir ein paar davon auf,« forderte Ida strenger.

»Ich lieb’ ihn gar nicht, so wenig als den Regenschirm da,« stiess Mili heraus. »Man muss doch lieben fürs Heiraten.«

»O du lieber Kindskopf! Wenn du so glaubst, kommt das schon mit der Zeit. Wer sollte meinen Sigi nicht zuletzt lieb bekommen? Das wär’ mir ein rarer Vogel.«

»Ich werd’ ihn nie lieben.«

»Sag’ solches niemals, sag’s nie, nie!«

»Zweitens glaub’ ich nicht an ihn. Er spielt. Er ist zu schön, zu jung, zu gescheit, zu wild ... zu böse ... zu ...«

»Was noch zu, zu ...?«

»So einer kann nicht Geduld und Treue haben. Seht Ihr nicht, wie ihn alles, gar alles langweilt.«

Frau Ida schwieg diesmal voll Bekümmernis.

»Drittens, Bas’ Ida, passen wir nicht zusammen. So viel merk’ ich. Er will regieren, ich kommandier’ auch gern. Er weiss viel Gescheites, ich nichts als Küche und Waschtrog. Man sagt, er tanze in Zürich zum Staunen gut. Er tanze heillos gern. Ich kann nur den Walzer und der Pfarrer hat mich fast exkommuniziert, als ich’s ihm ausplauderte.«

»Das sind doch Kleinigkeiten.«

»Aber dutzend und dutzend. Und überhaupt, am Sigi ist nichts Sicheres, und an allen Fingern kann er die flottesten Töchter angeln und ... und ... ausserdem, seid nicht böse, Mutter, aber ... ich hab’ ja schon einen Schatz ... o Gott, jetzt ist’s heraus ...«

Sie warf sich in die Flaumdecke und horchte ängstlich, was jetzt komme. Da fühlte sie ein Streicheln und Schmeicheln zarter Finger im Haar, ein Flüstern, ein erregtes Atmen und endlich: »Wen? Wen? Dann geb’ ich Ruh!«

»Den Johannes!« kam es unter Schlucken und Zucken aus den Federn.

Frau Ida liess den Kopf ins Kissen zurückfallen, schloss die Augen und wiederholte: »Den Johannes!«

Nach einiger Sammlung bemerkte sie: »Täuschest du dich nicht, Kind? Ist es Liebe, wirkliche Liebe vom Weib zum Mann? So viel ich höre, ist Johannes wie ein grosses Kind, das an niemand als an sich denkt.«

Das Mili fuhr wie von einem Stachel geritzt in die Höhe.

»Rede, Kind, ist das in Wahrheit die Liebe der Eva zum Adam?«

Und Mili, nun ganz von seiner laut und stark erblühten Frauenhaftigkeit überzeugt, wurde rot und sagte: »Sei er, wie er wolle, aber wie keine Mutter, keine Schwester, kein Schulkamerad liebt, sitzt er mir auf dem Herzen. Ich lieb’ ihn mit meiner ganzen, ganzen ..., ach, wie sag’ ich’s ... allein und einzig als Weib ... Ich glaub’, wie die Eva den Adam verehrt und geliebt hat ... O Bas’ Ida, wie reden wir!« schloss sie mit wunderbarem Schamrot bis in die feuchten Augen hinein.

Sie schwiegen beide. Die Hitze summte und zitterte sozusagen durchs verhängte Zimmer. Vielmal wollten beide wieder mit etwas Gleichgültigem anheben. Aber keins wagte es. Sie fühlten, dass in diesem Augenblick sich etwas zu Wichtiges entschieden habe. Endlich wagte die Frau nochmals: »Prüfe gut, Mili. Im ganzen Dorf heisst es, der Johannes liebe niemand. Er verkrieche sich, soll der Kaplan ihm ins Gesicht gesagt haben, in sich selber hinein wie eine Schnecke in ihr Haus. Er sei kalt bis ins Herz. Kannst du eine solche Schnecke heiraten, so etwas Kühles, Blutloses?«

»Nichts mehr, Ida. Ich bleibe bei ihm, ganz wie er mich will! Er ist mir das erste und letzte auf Erden , . . ich, o ...« Wahrhaft, das geheime, lang verhaltene, hochgeschwollene Gefühl überlief, sie weinte, weinte vor Weh und Seligkeit, umarmte die Base, lachte und tropfte von neuem Tränen und lief zuletzt in die Küche hinaus, um sich das Gesicht abzuwaschen. Aber da kam Sigi vom Fenster ins Halbdunkel zurück, funkelte sie sonderbar an, lächelte ein wenig und sagte sehr weich: »Ich glaube, Milmili, dein Onkel Schül ist gekommen.« –

So war es. In der gleichen Stunde, wo die zwei Frauen im Krankenzimmer sich Klarheit über die nächsten Wege schufen, schuhten langsam ein magerer Mann und eine hübsche, aber matte Frau die brütendheisse Strasse von Uzli nach Lustigern hinauf. Sie gingen so sicher und so froh, als wäre dies ihr letztes Stück Mühsal vor einem ersehnten, glücklichen Ziel.

Der Mann, den Rucksack auf dem Rücken, war ein hübscher Dreissiger mit schwarzem, langzipfligem Schnurrbart, weitgeworfenem, schwarzem Haupthaar und sehr schönen, weissen Händen. Die Augen hatte er weit und lachend offen und auch den roten, feuchten Mund konnte er nicht schliessen. Er hüstelte beständig.

Die Frau zählte kaum dreissig Jahre und war grösser als er. Ihr Gesicht zeigte eine grobe, gutmütige Schönheit, und in den dunkelgrauen, weichen Augen lag etwas unendlich Dienstfertiges, ja geradezu Untertäniges. Keinen Blick liess sie von ihm. Er stützte sie, denn ihr fiel das Gehen bei der Fülle ihres gesegneten Leibes recht schwer.

»Mein Halbteil,« plauderte er schier heiter, »geht gegen den Hügel. Kein Mensch stört uns dort. Man hört die Thur ganz fern aus der Schlucht rauschen und die Finken jodeln von den Tanner herunter. Schade, dass wir durchs Dorf hindurch ans andere Ende müssen. Am liebsten trüg’ ich dich und zeigte: Seht, das ist mein scharmantes, gnädiges Frauchen! – O wie müd’ musst du sein! Dass uns aber auch das Motorrad vor Uzli verunglücken musste!«

»O, so langsam geht es schon. Du hast Ruhe noch nötiger. Was du gelaufen bist! Ja, jetzt wollen wir auf dem Eigenen sitzen und gehörig einander pflegen. Dein Husten ist kein Spass.« Mit schöner Stimme sagte sie das, es tönte wie gesungen.

»Den Durchzug ertrag’ ich halt nicht mehr. Im Heuschober gestern nacht hat’s heillos gezogen. Gottlob, heut strecken wir uns im eigenen Bett. Wir wollen einmal zwanzig Stunden hintereinander schlafen, gelt! Lehn’ dich mehr an, ich ertrag’s gut. Schau, schau, da guckt wahrhaft schon der Kirchturm über den Hügel. Das Kreuz und ein Stück Helm ... ‘s heimelt mich Weltmaikäfer doch wieder an. Die Kinderzeit, Gott, die trübt sich einem durch allen Staub der Vagabundenstrassen nicht. Wie Kristall blitzt sie mir entgegen. O ich zeig’ dir alle meine Spitzbubenplätze, das Wäldchen, wo wir fast einen Weltbrand angezettelt, und den Salzbirnenbaum, von dem aus wir die Kaplanenköchin nachts belauscht haben, wenn sie die falschen Zöpfe losmachte und sieben Heiligenbildchen küsste und dann im langen Hemd durchs ganze Zimmer Weihwasser spritzte und zum Fenster hinaus in der Nachthaube psalmierte: alle guten Geister loben den Herrn! Und wir oben in der Dolde riefen mit tiefem Bass: und seine unbezopfte Maid Marianne Siehstmichnicht! Ach, war das ein Klapf, wie sie die Holzläden dann zuriss!«

»O welch ein Schlingel bist du gewesen!«

»Immer, immer, Allerliebste! und der grösste vor anderthalb Jahren, als ich dich kaperte. Ach, wie anders leb’ ich, seit du bei mir bist.«

Freudig sah sie auf das zierliche, schwarzlockige Männchen nieder und dankte ihm mit einem Kusse auf die Stirne.

»Und zu denken, wie wir uns fanden! Auf der Basler Polizeiwache, ich wegen Radau mit meiner Geige, du, schlafend von einer Bank geholt, ohne Papiere. Und es war elfter November und das Lokal nicht geheizt. Weisst du, warum ich das Datum so gut weiss?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Wie grob waren Nase und Mund, dick, wulstig, breit. Aber wie vergass man alles ob dem hinreissend schönen warmen Grau ihrer grossen, herrlich bewimpelten Augen!

»Es war Martini. Von diesem Heiligen gibt es in unserer Kirche ein uralt Bild, wie er den Mantel halbiert und einem Bettler das eine Stück reicht. Das kam mir in den Sinn, als du so hart an der Mauer kauertest und die Achseln hochzogest.«

»Ja, du guter Martinus hast nicht halbiert. Du hast kurz und gut den Rock ausgezogen und befohlen: schlupf’ hinein! Und du sassest hemdärmlig da und wärmtest dich an mir, bis der eine Wachtmeister sagte: auseinander! O wie haben wir gelacht! Wir wussten genau, dass wir nie mehr auseinander gehen, nein, dass wir immer näher geraten.« »Und als er zum zweiten Mal sagte: Auseinander, das ist unmoralisch! da antwortete ich: Der ungeheizte Ofen ist unmoralisch. Ich bin Zeitungsschreiber und bericht’ es morgen in der Nationalzeitung, dass am Martinitag, am Tag des Gänsebratens in der warmen deutschen Stube, dass da den stubenlosen, armen Menschen auf der Polizei bei Null Grad Reaumur nicht einmal geheizt wird ...«

»O wie staunte ich dich an. Wie herrlich hast du geredet!«

»Ja, da heizten sie, und du sagtest: Zum Danke sing’ ich was ... und sangest:

«Durch einen tiefen Schnee Kam uns der Christ entgegen, Da floh das alte Weh Vor einem jungen Segen ...»

O wie du sangest! ‘s war wie in der Kirche. Die Polizei kraute im Bart, machte gewaltige Trotzaugen und konnt’s nicht hindern, dass ihr die Augen überliefen.«

»Weil du mich mit der Geige so schön begleitet hast. Nach drei Takten dacht’ ich, das geht zusammen wie Bruder und Schwester. Und wieder nach drei Takten, als wir einander anlächelten, dacht’ ich, nein, es geht zusammen wie Mann und Weib; in dieser Musik waren wir schon verheiratet.« Sie stand still, atmete schwer und trocknete den Schweiss von den brandigen Lippen.

»Wie du das sagst, wie ein Dichter!« lobte er. »Aber dir ist elend, nicht wahr. Nur noch drei Minuten, Kind!«

»Durst hab’ ich, bloss Durst. Kommt denn kein Brunnen?«

»Grad’ an der Dorfkreuzung ist einer! Stütz’ dich ganz und gar auf mich! Hei, wirst du mir ein durstiges Teufelchen schenken!« – Er gab ihr voll Schelmerei den Kuss zurück.

»O es soll nicht hungern und dursten wie wir!« sagte sie auflachend. »Ah, jetzt sieht man das ganze Dorf. Potz, wie putzig ist das alles um die Kirche gestellt. Also, das ist ein Milchdorf, sagst du, voll guter, süsser Milch. Was ist gut!«

»Milch zum Überlaufen, Most zum Überlaufen, nein, Durst gibt es nicht. Jetzt, da spaltet es sich; der kleine Weg hüpft dir direkt zum Kirchplatz, zwischen dem Schulhaus und dem Spritzenhüttlein mitten ins grüne Kirchengras. Da ist der bessere Brunnen, aber immer viel gwundriges Pack herum. Hingegen rechts der Landstrasse nach kommen wir ins Unterdorf und könnten hintenum schwenken gegen unser Haus.«

»Und Wasser?«

»Hat’s auch, aber etwas weiter weg.«

»Komm’, was fürchten wir die Leut’! Grad hineingesprungen wie ins Bad und alles Gruseln ist vorbei.«

»Bravissima! So denk’ ich auch. Übrigens an uns kann doch jeder nur Freud’ haben, basta.« – Obwohl er hier jedesmal das Gegenteil erfahren hatte, ging eine leichtsinnige Vertraulichkeit über sein Gesicht. »Also ins Fussweglein!« Er schritt voran, den grossen Rucksack auf der Schulter, eine grüne Tasche mit der Violine über die rechte Achsel, mit Stecken, Schirm und einer Art Mappe unterm Arm.

Todmüde schleppte die Frau sich und ein anderes zehrendes Leben die zweihundert Schritte zum Dorfe vorwärts. Fiebrig stieg ihr die Übelkeit in den Kopf. Sie hörte das Klingen von silbernen Wasserstrahlen ringsum. Noch zehn Schritte über grünen Kirchenrasen empor, und man stände an der Röhre. Aber da war gerade die Schule aus, und der Pfarrer hielt vor dem Schulhause, wo er Katechese gehalten, mit den zwei Schullehrern noch einen gemütlichen Schwatz. Die Kinder jagten sich noch herum und spielten über den Platz.

Als das seltene Paar in den Plan trat, richteten sich alle Köpfe danach. Einige riefen: »Der Schül, der Schül!« Lehrer Peder zupfte den Pfarrer am Ärmel und flüsterte: »Wahrhaft, da ist er wieder, der Vagabund, und bringt noch ein Weib mit!« ... Aber hoch über alle Köpfe sah der Pfarrer mit Stahlaugen, umwölkten Brauen und einer bösen Witterung den Ankömmlingen entgegen. Wie der Leitbock einer gefährdeten Herde pflanzte er sich mächtig im Strässchen auf, horn- und stichbereit, während die Kinder im Gefühl eines Zusammenstosses sich neben und hinter ihren imposanten Pfarrer stellten.

Beim Anblick dieses Gewaltigen erschrak die ermattete Frau und suchte mit beiden Armen sich an ihrem Julius zu halten. Der zog den Hug zeremoniös lebhaft, lächelte gesellig und rief: »Willkommen, Herren und Freunde,« als ob er das Dorf empfinge und nicht das Dorf ihn.

»Was sind das für Spässe? Wer seid Ihr?« fragte der Pfarrer rauh. Tag für Tag hatte man ihm das Ohr vollgeredet von diesem Unband und seinen schlimmen Streichen. Er war längst gerüstet.

»Julius Täler, Musikus und Seilermeister, Bürger von hiesiger Gemeinde. Und hier mein legales Weib Siria ... Sie ist müde und hat Durst. Komm, Schatz, siehst den Brunnen dort oben!«

»Halt!« donnerte der Pfarrer, einen Fuss vorstreckend.

Lächelnd wandte der Musikant sich um. Aber in diesem Augenblick stutzte Carolus. Wieso durfte er Halt! rufen und zwei friedliche Fussgänger mitten im Wege behelligen?

»Haben Sie mich nicht verstanden?« fragte mutwillig der Schwarze. »Also: Bürger hiesiger Gemeinde ... und mein legales Weib Siria, ehemals Konzertsängerin. Was gibt es noch? Ist hier das Gemeindebüro auf offenem Platz?«

Konzertsängerin, legales Weib, Siria, Musikus, das schwirrte so böse um die roten Schnecken des Pfarrers und verband sich so unheimlich mit allem Bisherigen, was man von Julius wusste, dass Carolus sich nicht recht sammeln konnte. Mehr oder weniger hatte er an Klatsch geglaubt, und jetzt, ehe man sich vorgesehen, stand einem die Geschichte viel schlimmer, als man je geträumt hatte, schon vor der Nase und stank gehörig.

Wieder wollte Schül weiter. Seine Frau war völlig an seiner Brust eingesunken. Und wieder kommandierte der Pfarrer: Halt! Hier war der Feind, hier musste sogleich zum tödlichen Schlag ausgeholt werden.

Ringsum öffnete man die Fenster. Auf der Schwelle zur Ilge setzte sich das blöde Lisettli nieder, hielt die grosse Tasse voll Milch an beiden Ohren und staunte in den Vorgang.

»Halt oder nicht Halt,« rief Julius, »meine Frau wird ohnmächtig. Bringt ihr ein Glas frisches Wasser, Kinder!« Er hielt ihren Kopf so zart und feierlich an seiner Brust, als wär’s ein Heiligtum. »’s ist nur die Hitze und Müdigkeit, Schatz,« lispelte er.

Der Pfarrer hörte und sah nichts als diesen schwarzhaarigen, lachenden, gewissenlosen Feind. Er sah ihn wie ein Gewölke voll Fluch und Fäulnis übers Dorf kommen, und in tausend giftigen Schwefelstrahlen zuckte daraus eine Ansteckung von Unglauben, Spott, Unsittlichkeit, wogegen die Grippeseuche ein harmloses blaues Flöcklein war. Da drohte die Gefahr schon an der Schwelle der Pfarrei und wollte sich sündengrau in die stillen, braven Hütten ergiessen. Und er sollte dastehen und warten und schweigen, ein Mietling, kein echter Hirte seiner wolfumbellten Herde! Niemals!

Wie konnte er da noch eine Frau sehen, die vor Durst hinsank, einen Mann sehen, der nur noch für diese Frau und ein unsichtbares Drittes Aug’ und Ohr hatte, eine Liebe sehen, die aus diesem Staube von Armut und Schmutz noch einen göttlichen Widerschein schlug?

Er regte sich in seiner ganzen stattlichen Majestät, der Panzer knirschte, die Augen loderten und die Stimme flog wie ein Gewaltsvogel über den weiten Kirchhügel: »Julius Täler, was kommt Ihr, unsern Dorffrieden zu stören?«

Frauen stürzten nach Wasser, der Angedonnerte verzog das blasse Gesicht zur Grimasse und blickte mit fieberhafter Spannung bald zur Frau, bald zum Pfarrer.

»Gerade den Frieden will ich hier holen,« versetzte er.

»Und den Unfrieden bringen!« wetterte der Pfarrer, gestochen von allen Gerüchten über das ganz gewissenlose, heidnische Leben dieses entfremdeten Dorfkindes. »Habt Ihr einen Beruf? Den Beruf zu betteln, zu strolchen, zu schwindeln. Aber hier sind alle fleissige, brave Menschen. – Habt Ihr ein christlich Weib? Eine Aufgelesene, ohne Segen und Sakrament! Aber hier weiss man nur von der Ehe am Altar! ... Habt Ihr Ehre? In Schuldbetreibungen und Arresten liegt Ihr, entlehnt und gebt nicht zurück, faulenzt, sauft und habt geholfen, euern braven Bruder Jeremi in Armut und Tod zu stürzen ...«

»Herr Pfarrer,« plapperte der Mann, endlich doch niedergedonnert, vom zusammenlaufenden Volk umgafft, das stöhnende Weib immer noch ohne einen Schluck Wasser im Arm, »Herr Pfarrer, wo habt Ihr ihn beerdigt, meinen guten, gutesten Marx?«

Das war der Moment, wo Sigi das Mili rief. Es sah zum Fenster hinaus, begriff sofort, stürzte die Treppe hinunter, sagte dem Lisettli: »Komm schnell mit der Milch! Schütt’ nicht aus!« – und lief den Rasen hinunter zu den ärmsten Zwei.

»Kehret um, in dieser Minute kehret um!« scholl es vom aufgeblähten Munde des Carolus Bischof. »Tut keinen Schritt vorwärts! Kennet Ihr das furchtbare Wort vom Ärgernis? Vom Mühlstein am Hals und Versenken, wo das Meer am tiefsten ist? Ihr bringt den Skandal. Gehet, gehet!«

»Und meine Frau lasst Ihr sterben, grosser Christ Ihr!« brüllte es jetzt aus dem schwarzen Zipfelschnauz hervor. Denn auf einmal reckten sich ein Dutzend Arme mit Gläsern und Tassen, Wasser, Wein, Most ... Sie schläft ... sie stirbt ... tot ist sie, klatschte man durcheinander. Aber über alle scharf und hell drang Milis Stimme: »Lisettli, flink!« Und widerspruchslos nahm sie das ohnmächtige Weib an sich.

Und das blöde Ilgenmädchen mit den stieren, aber für das Mili so begeisterten Augen trat herzu, lallte etwas vor Freude, wie: »Kein Tropf’ verschütt’, Milmili!« hob hoch seine Ohrlappentasse mit der dampfenden Milch und lachte und kicherte wunderlich froh, als Mili die Frau Siria mit einem kühlen Essiglappen an den Schläfen netzte, die Tasse an die Lippen zwang, und rief: »Lisettli, gutes, deinen Löffel noch!«

Langsam setzte sich das Mili mit der Frau auf den Rasen, der schon viele Blumen, aber noch nie eine solche Wunderblume erlebt hatte, legte ihr Haupt an die Brust, streichelte und blies ihr sanft ins Gesicht und löffelte ununterbrochen von der Milch ein. Da öffnete das fremde Weib seine grauen, wunderbaren Augen, staunte, lächelte, trank weiter und schloss dann wieder die lang bewimperten Lider.

Der Pfarrer zwischen den Lehrern und furchtsamen Kindern stand da wie erstarrt. Erst jetzt sah er das Persönliche und menschlich Erbarmungswürdige der Szene. Der Richtermantel, mit dem er dahergerauscht war, schien ihm auf einmal, sowie er das lächelnde Närrlein mit der Ohrlappentasse bemerkte und »kein Tropf’ verschütt’!« hörte, völlig unangepasst; er rollte ihn leise und beschämt zusammen, schlüpfte in den gewöhnlichen Bruderkittel und sagte dann nicht mehr so laut, noch erhaben: »In Gottes Namen, geht in Eure Stuben und ruhet Euch fürs erste aus! Ich will Euch wahrlich nicht böse. Der Friede des Herrn mit Euch! Reden wir später miteinander! Aber weh’ Euch, wenn Ihr unser sauberes Taubennest besudelt!« ... Mit grossen Schritten, die Arme von sich gestreckt, ging er eilig dem Pfarrhof zu.

Kapitel 14

Zwei Tage darauf zitierte Cornelius den Schül in die Amtsstube, blieb kalt und aufrecht im Stuhl sitzen, als der Geiger hereintänzelte, sah von einem alten Buche auf, musterte ihn eine gute Weile, ohne den Gruss zu erwidern, und sagte endlich mit geringschätzigem Ton: »Immer noch der gleiche Laffe!«

»Ihr beleidigt mich!« versetzte Julius Täler theatralisch. »Lustigsein ist das Gescheiteste. Glaubt nur, mit leeren Hosensäcken hab’ ich schon mehr Spass vom Leben gehabt als Ihr in allen achtzig Jahren auf Euren Truhen.«

Corneli wischte etwas Sonderbares, das ihn öfters wie ein spätes, buntes, schmerzliches Baumblatt anwehte, von der Stirne, ward sofort wieder der Altgestrenge und sagte: »Wohl bekomm’s! Aber die andern? Was Spass hatten die von dir, Lumpazi? Bist schon am Grab vom armen Marx gewesen? Fünftausend Franken, alles Ersparte, das waren Nägel in seinen Sarg!«

Das genügte. Dem weichherzigen Leichtfuss schwollen sogleich die Augen rot an.

»Na lassen wir das, er kommt nicht zurück, dich am Ohr zu packen. – Aber was gibt uns die Ehre deines Besuches? Hast kein Loch mehr zum Unterschlupf? Sind dir die Hunde auf der Spur? Meinst, wir wüssten nicht, dass ein Vogel nur hereinfliegt, wenn er gar kein anderes Nest mehr auftreibt ... Und du brauchst gerade jetzt eins ... Wenn man Eier legen will!« ...

Bei diesem Worte ging eine leichte Röte über das Leichenfeld seines mächtigen Antlitzes. Er schämte sich solcher Ausdrücke, sie dünkten ihn unkeusch. Aber die Empörung über »diesen Schandkerl« riss ihn über alle Bedächtigkeit hinweg.

»Es ist mein gute Recht, mit Frau und Kind in meiner Stube zu sitzen, und alle Ammänner der Welt können mir hinten und vorne dazu pfeifen.«

»Sachte, sachte, Bürschchen. Deine Stube! Die ist längst gegen die fünftausend Franken Bürgschaft drauf gegangen. Du hast keinen Hobelspan Eigenes mehr am Heimwesen.«

»Das wäre,« schrie Julius, an beiden Schnauzzipfeln reissend. »Hübsche Neuigkeiten!«

»Nein, ganz alte Geschichten und ganz trockene Zahlen! Die Steuerbehörde hat das Gut auf elftausend Franken gewertet. Davon zieh’ ich die Grundschulden und Hypotheken Eures Vaters selig ab, also gemeinsame, ererbte Schulden: sechstausenddreihundert Franken. Bleibt ein Bestand von viertausendsiebenhundert Franken. Halbiert gibt das für dich zweitausenddreihundertfünfzig Franken. Nun schuldest du dem Jeremi und seinen Erben neben allen Zinsen seit zwölf Jahren, die er für beide allein zahlte, fünftausend, also bist du noch mit zweitausendsiebenhundert Franken beim Johannes, Mili und Heli tief genug angekreidet. Die Jungen könnten dich jeden Augenblick zur Türe hinauswerfen. Verstanden?«

Ob er verstand? er, der nie rechnete? dem diese Tausender des Ammanns wie Schneeflocken um den Kopf flogen und sogleich zerflossen? Hopla, stand es so? Keinen Span Eigenes! Zur Türe hinauswerfen!

Er blickte frech-verlegen um sich, griff, da ihn niemand einlud, selbst nach dem nächsten Stuhl und fühlte sich auf dem Sitz etwas stärker. Das scheine ihm, bemerkte er leichthin, eine Gesetzesverdrehung. Bürgschaft sei Bürgschaft und Erbe sei Erbe. Das gehe nicht ineinander.

Freilich gehe es, erklärte Corneli kalt. Der Julius schulde einfach die Fünftausend, gleichviel woher, und der Bruderteil dürfe sich nach dem kantonalen Zivilrecht an der Habe des Schuldners bezahlt machen. Er pochte aufs offene Blatt des Gesetzbuches mit dem zutreffenden Paragraphen.

»Aber nicht an dem, was zum Leben unbedingt nötig ist,« fuhr Julius rasch dazwischen. »Wie sagt ihr Gesetzesdreher und –Verdreher nur auf Latein? die Competentia, nicht! Die kann kein Gläubiger antasten. Und dazu gehört Bett und Dach und Feuerstatt!«

Er irre, das stehe nicht buchstäblich da. Das gelte für so ausgesprochene Schuldfälle nicht; überdies habe Julius, als die fünftausend verloren gingen, und der Marx sofort den Bruderteil in Besitz nahm und er, Julius, durch acht Jahre weder heimkam, noch protestierte, stillschweigend diese Schadloshaltung – diese ganz ungenügende! – gebilligt. Das ganze Dorf habe es so verstanden.

Er verstehe das nicht so, erklärte Julius und erhob sich.

»Ich rate dir so,« bestimmte nun Cornelius, »du bleibst, bis deine Frau oder Kebse geboren hat und leidlich abreisen kan. Inzwischen arbeitest du. Das Okulieren verstehst du ja ordentlich. Ich sorge dir für Stoff. Kannst morgen in meiner Oberwiese anfangen.«

»Ich bleibe, solange mir behagt, und was das Oku ...«

»Du weisst, wir sind hier stramm katholisch. Uns ist dir Ehe nur eine Ehe, wenn sie am Altar mit sakramentaler Weihe vollzogen wird. Alles andere dünkt uns ein Konkubinat, die Kinder gelten uns als unehelich, die Mütter als Konkubinen. Solche Dinge können wir nicht dulden in einem ehrsamen Dorf. Ja, wenn du dich bessern könntest! Wenn du diese Verletzung gutmachen und dich kirchlich trauen liessest! Aber du glaubst ja nichts. Wie kannst du ein Sakrament empfangen, wenn du nichts glaubst. ‘s wär’ ein Spott.«

»Vielleicht glaub’ ich mehr und bin ein besserer Christ als ihr alle, Pfarrer und Ammann mitgerechnet,« sagte Julius gespreizt und wichtig. »Habt Ihr mir weiter nichts zu sagen?«

»Keine Silbe.«

»Und von der Armenkasse, bekomm’ ich was?«

»Ich glaub’ kaum, du bist ja hier nicht ansässig.«

»Dann reklamier’ ich in St. Gallen.«

»Probier’!«

»Letztes Wort?«

»Letztes Wort!«

»Guten Abend!«

»Guten Abend!«

Aber an diesem Abend war es dem Corneli nicht gut zumute. Ihm schien, er habe etwas, am Ende gar das Wichtigste, vergessen. Doch konnte er sich auf gar keine Vergesslichkeit besinnen. Wie er auch die Unterredung im Gedächtnis überprüfte, alles klappte. Es machte ihm trotzdem keine Freude wie sonst, die Kassenbücher vor dem Schlafengehen zu beschauen und die Schlüssel behaglich zweimal im eisernen Mauerschrank zu drehen. Etwas mangelte. Aber das Mitleid ist eine do bescheidene Person, dass sie sich nicht selbst anmeldet.

Julius jedoch sass zur selben Abendstunde im Rücken des Hauses, gegen den stillen Hügel zu, und strich die Geige. Wild und ordnungslos phantasierte er zuerst, kam dann in eine besinnliche, schwere Melodie hinein, zog sie immer tiefer ins Dunkel von Sehnsucht und Schwärmerei hinab und ertrank sozusagen darin. Über allen Himmeln leuchtete es, als würden ununterbrochen Sterne gesäet, ein silberner Nebel rauchte aus dem Gras und blieb in halber Manneshöhe schwankend stehen, die Bäume tropften von süsser Feuchtigkeit, vom Dorf gelangte kein Geräusch daher als ein halber Stundenschlag.

Siria lehnte sich an die Holzwand, schloss die Augen, lauschte selig und summte hie und da ein paar Noten mit. »Jetzt kommt das Weisse,« flüsterte sie und stupfte Schül. Er nickte und ging mit bald flehenden, bald lockenden, bald frechen Tönen etwas Grossem, Hellem nach. Das Spiel wuchs und wurde wie Kampf. Signale des Sieges jauchzten in die Luft. »Der Hirsch!« rief die Frau leise. Wieder nickte er. »Du hast ihn, ja, das ist der Hirsch,« sang sie melodisch in seinen Strich, »mit goldenen Flammen an jedem Zacken des Geweihs, den Glückshirsch. Mir ist, mein Kleines rege sich vor Freude. Spiel, spiel, es soll ein grosser Musikant werden ...«

Vom Küchenfenster hörte das Mili am Gesimse zu. Es ging nun abends oft heim, redete wenig, lachte selten, schien ein anderes Geschöpf geworden. Neben ihm sass Bruder Heli, trunken von der Violine, und sah die wunderbarsten Ornamente darin. Johannes strich irgendwo mit Sigi herum, ihr kalter, geliebter Götze Johannes, um dessentwillen allein sie sich vom Krankenbett der Bas’ Ida gerissen hatte.

Inzwischen brach der Mond über den Wildbergtannen hervor. »Schau, schau,« sagte Schül zum Weibe, »da wirft uns der Herrgott sein schönstes Spielzeug ins Gesicht! Und die Sterne gelten nichts mehr und verstecken sich ...« Der auf und nieder wallende Nebel ward nun wie eine schimmernde See, in der die Bäume und Hügel bis ans Knie badeten und lüstern nach noch mehr Licht ihre Häupter gegen den Mond reckten. Eine allgemeine, unaussprechliche Sehnsucht schwärmte durch diese Oktobernacht. Das Paar vergass seine vielen Schuldzettel und gerichtlichen Vorladungen, die zerrissenen Hemden und durchlöcherten Schuhe, seine Amt- und Verdienstlosigkeit und Bettelarmut vom Scheitel bis zur Sohle. Es dachte an keine Sorgen und Plagen. Alles wird sich von selbst geben. Es sah nur jenen weissen leuchtenden Glückshirsch, von dem Julius von Kindsbeinen auf träumte, an den er fest glaubte und von dem er seinem Weibe hundertmal erzählte, wie sie ihn einmal ohne Schweiss und Schwindel in die Arme auffangen und dann die üppigsten und vergnüglichsten Herrschaften würden.

»Was hast, Mili?« fragte Heli in der Küche zutraulich. »Bist wohl furchtbar müd’?«

»Ja, schon.«

»Schier gar krank bist! Sag’ mir, wo’s fehlt!«

»Vielleicht hab’ ich etwas von der Grippe in mir.«

Eine Weile schwiegen sie im Küchendunkel. Von draussen klang die Geige mit betörender Zudringlichkeit zum Fenster herein. Man konnte nicht stille bleiben. Diese Geige quälte, suchte, schlüpfte in die Seele und fragte sie noch viel heftiger aus als der gute, plumpe und doch so gescheite Heli. Mili hatte noch nie solche Musik und solche süsse Marter gefühlt.

»Ich weiss alles,« kam es nun geduldig aus der Ecke, wo Heli bei einem Glas Most sass. »Du musst mir nichts sagen.«

Nun schoss die Jungfer auf. »Was alles? wo nichts ist! Mach nicht den Superklugen!«

»Aber Mili!«

Diese zwei Worte wurden so weich, so rührend lieb und so überzeugt gesagt, dass die Schwester aufstand, die Ecke suchte, wo Heli sass und sich im Dunkel an ihn wie an einen Helfer schmiegte. Aber da sagte der Bruder ebenso ehrlich: »Ich kann dir nicht helfen, du Gutes!«

Wieder wollte sie trotzen. Aber sofort ward sie schwach. Diese Wochen in der Krankenstube mit allem Drum und Dran wegen Sigi, die wachsende Sehnsucht nach Johannes und die Qual, dass er selbst sie gar nicht vermisse, am meisten aber die Siria, die so wunderbar liebt, dass sie sich völlig vergisst und ganz für den leichtsinnigen, wetterwendischen Julius opfert, obwohl er im Grunde ganz wie Johannes nur sich liebt und schon in den ersten Tagen bald diesem, bald jenem Mädchen schön getan hatte, das alles war für diese starke Jungfer denn doch zu stark. Zu rasch war alles gekommen. Sie hatte sich nicht vorbereiten können, es erdrückte sie.

Mit Unwillen hatte sie das Vagabundenpaar aufgenommen und fast einen Ekel vor dem nahenden Kindlein verspürt. Das konnte nicht lange so dauern. Pfarrer und Ammann verlangten Aufschluss über den zivilehelichen Akt, und Schül gab keine Papiere. War es gar eine wilde Ehe? Die wäre auch von Staats wegen nicht geduldet, und hier suchte Carolus nun eine rasche Handhabe, um das Paar auszuweisen.

Wie gewissenlos von dieser grossen, starken Siria, sich einem solchen Fant ohne Gesetz und Sakrament zu ergeben! Dennoch, so sündhaft Mili sich dabei vorkam, wie musste sie dieses Weib bewundern! Jeden Augenblick konnte die allerschwerste Stunde ihres Lebens schlagen. Andere Mütter werden hässlich, seufzen, tun grämlich vor der Geburt oder ängstigen sich über alles Mass. Diese blühte wie eine Kornblume so licht, lächelte, schwankte dienstfertig mit ihrer lebendigen Last hin und her, statt bedient zu werden, war folgsam wie ein Hund auf Schüls Winke, schmiegte sich an ihn, wenn er’s liebte, hielt sich fern, wenn er’s vorzog, lebte und webte nur in ihm und sah nichts und hörte nichts, als was er sah und hörte. Tansendmal besser ist sie als ich, dachte das Mili und verglich in aller geschämigen Heimlichkeit, ob sie dem Johannes auch bis auf diesen Tupf und Punkt so zu Willen sein könnte. Und doch war Johannes hundertmal wertvoller als der Onkel Schül, schöner, besser, klüger, freilich auch kälter, ein Eiszapfen, der nur sich selber Wärme gab.

Ach wohl, ich glaub’, ich lieb’ ihn um so mehr, weil er so kalt ist. Auch Siria ist um so verliebter, je herrischer Julius sich benimmt. Wenn sie uns befehlen, diese Besonderen, Herrlichen, möchte man sie küssen; wenn sie aber uns anbetteln, möchte man ausspucken. Das waren nicht ihre Worte. Wie könnte sie solches erfinden! Das hatte die Bas’ in der Ilge gesagt, und so ist es. Ich kann ohne Johannes fast nicht mehr leben. Welch ein Winter, wenn er nach Zürich an die Zeichenschule geht. Ins gleiche Babel wie dieser Sigi!

Vorher war sie und war alles um sie klar gewesen. Und jetzt auf einmal diese Verirrung und Verwirrung.

Sie hatte Siria bald mächtig lieb gewonnen, tat ihr hundert kleine Gefälligkeiten, rüstete ihr vor Tag die Mahlzeiten zurecht, dass die Schwangere zur Essenszeit nur noch kleine Mühe hatte. Sogar die Späne schnitt sie ihr, dann das Knieholz und legte alles mit den Klötzen, die lange brennen, auf eine Bank, dass Siria sich nicht bücken müsse. Dem Sandmeitli schob sie manchen Batzen zu, dass es von Zeit zu Zeit hinübergehe, nachsehe, aushelfe. Obwohl Mili fürchtete, es sei ein Unrecht, mit einer Kebse so vertraut zu tun, sass sie doch, so oft sie konnte, ganz nahe zu ihr, hörte ihren Gesprächen zu, wie sie eine flatterhafte Waise gewesen, den Pflegeeltern entsprungen, als Sängerin und Tänzerin in Spelunken gesessen sei, viel genascht und liebkost und auch in mancher Nacht obdachlos herumgebummelt habe, bis die Jacke Schüls, so eine liebe, süsse Zwangsjacke, sie zum rechten Verstand und Lieben gebracht habe. Aber sie habe jetzt genug von der Strasse. Hier möchte sie immer bleiben. Nirgends hätte sie so eine Ruhe gesehen. Wenn nur der fürchterliche Pfarrer ...! Sie glaube doch auch an den Herrgott! Im andern müsse man doch Geduld mit ihr haben. – Sobald sie sich von der Geburt erholt habe, wolle sie das Hauswesen reinlich besorgen, damit das Mili in der Ilge und im Pfarrhof schalten und verdienen könne. Dann wolle sie nebenbei Arbeit suchen, etwa Hüte neu aufrichten und schmücken, dazu habe sie Geschick. Ob man das hier brauche? und Kranke pflegen. Das täte sie besonders gerne. Ihre grauen, weiten Augen leuchteten wie ein ganzes Spital voll Hilfe und Mitleid.

»Wenn das so ist, gibt dir Gott Gnade und du kannst noch in unsern Glauben kommen,« versicherte das Mili.

»O Mili, mir ist Gott genug. Was kann ich mehr bekommen?«

»Ihn näher bekommen, deutlicher, dass du ihn spürst ... Andere brave Leute sind ihm, glaub’ ich, am Knie und noch näher, und die können uns mitnehmen und ...«

»Mili, Mili, ich spür’ ihn beim Kindlein da, ich spür’ ihn, wenn Schül so herrlich geigt, dass man dabei weinen muss. Ich spürt’ ihn deutlich, als du mich auf den Rasen zu dir legtest und jenes Stotterkind sagte: da, hab’ nichts verschütt’ ... Ich spürt’ ihn näher als Luft und Atem ... o Gott ist schön und tut wohl!«

Mili konnte nichts als den Kopf schütteln und die Frau auf den Mund küssen. Dann erschrak sie. War das nicht Sünde?

»Aber das Kindlein lasset ihr taufen.«

»Warum nicht, der Vater ist doch katholisch.«

Katholisch! Sollte Mili dieser seligen Unwissenheit widersprechen? Sie schwieg.

»Hat er dich denn auch gern?« fragte Mili wieder. »Ganz, und gar gern? lieb wie Himmel und Erde? Bist du ihm das Liebste gleich nach unserm Herrgott?« ... Das stürzte wie ein Bach vom Munde. Sie redete ja halb für sich. »Sag’, sag’,« drängte Mili.

»Ich weiss nicht!«

»Siria, du weisst nicht? Verstehst du mich?«

»Als er mir die Jacke gab und sich für mich auslachen liess, und wo er mir geigte und mich zu sich nahm, da schien es so. Nein, er hat mich gern, jetzt noch. Aber nicht mich allein! nicht mich immer zuerst und am meisten. Aber darf ich so was von ihm verlangen? Wäre es nicht schlecht? hochmütig? Nein, Mili, ich frage nie, wie stark er mich liebe, und liebe alle, die er liebt. Zuletzt, ja, kam er immer wieder zu mir. Aber wenn er nicht käme, ich liebte ihn kein Zipfelchen weniger ... glaub’s nur!«

Mili fuhr sich übers Gesicht, so heiss und wirr wurde ihr. »Das ist, das ist,« stotterte sie, »doch sicher nicht ... eine rechte Liebe.«

»Ich denke immer,« antwortete Siria ruhig, »dass unser Herrgott auch so liebt. Und besser als er können wir es nicht machen.«

»Nein, nein, das darfst du nicht sagen,« fuhr das Mili auf. »Das ist sündig. Ganz anders liebt uns Gott, schöner, freier, wie ein Vater, wie ... ach, ich kann es dir nicht erklären, aber ganz anders.«

»Behalt’ du deines, ich meines!« meinte Siria freundlich. – Das konnte Mili nie vergessen.

Wie ein Psalm betete jetz die Geige vor dem Hause. Der Mond fiel durch die Mitte der Küche. Das Mili schmiegte sich an Heli und fragte: »Was sagtest du noch eben?«

»Ich kann dir nicht helfen. Du bist verliebt, exakt wie die Frau drüben. Du musst dir selber helfen können. Du bist ja unser gescheites, kluges Mili!«

»Wie kann ich mir helfen, Heli!«

»Wir haben den Johannes immer verwöhnt und vergötzt. Weil er so ein herrlicher Bursch’ ist. Und so ein geschickter ...! Da ...«

»Du bist viel geschickter,« trotzte Mili.

»Ich?« Heli schnaufte auf vor ehrlichem Staunen.

»Du, du, du!«

»Ich, der keine Nase, keine Blume, nicht einmal einen Stern zeichnen kann!«

»Aber du hast die guten Gedanken. Ihm kommt nichts in den Sinn. Er hat nur Hand. Du hast den Kopf oder das Herz oder was weiss ich. Du hast alles erfunden. Er kann nur abhorchen und abmalen. Inwendig, ach, Heli, inwendig hat er nicht viel.« Es schien ihr eine Erleichterung, ihren Liebsten recht herunterzumachen.

»Jetzt redest du ganz dumm! Viele merken das Schöne; o, viele haben da drin einen Himmel voll Bilder. Aber wenn keine Hand käme, Mili, wenn kein Johannes es aufzeichnete, wär’s vergraben. Er macht’s erst lebendig. Ich muss immer staunen, wie er mich errät und dann mit dem Bleistift anfängt, rund; wenn ich sag’ rund, und weich, wenn ich sag’ weich, und leis, wenn ich’s leis seh’, fast nur gehaucht, ach, Mili, was der Johannes kann!«

Da merkte Mili, dass der Heli auf seine Art so verliebt war in den blassen Jüngling wie sie. Noch mehr, der Heli war blind. Er unterschätzte seine Kraft recht wie eine Knechteseele und überschätzte die des Johannes wie eines Herrn.

»Aber auswendig kann er keine Katze zeichnen und kein Schaf. Alles muss er vor dem Aug’ haben. Der ... ach ja ... wer nur? sagte: er sei kein Zeichner, nur ein Abzeichner ... Das sei viel weniger. Und dann kommst du und zeigst noch, wie er’s besser zusammenricht’ ... Ach Gott, und doch, wie lieb’ ich ihn!«

Sie bog sich gegen Heli, hielt das Gesicht an seinen groben Kittel, und zum ersten Mal in ihrem jungen Leben rieselten zwei Bächlein aus ihren Augen, die gleichzeitig unendlich süss und bitter schmeckten.

Draussen zog die Geige ganze Ketten von kleinen, glänzenden Trillern auf und nieder. Es war aus der Trauer ein Lachen geworden.

Heli, der viel zu wenig von sich selbst und viel zu viel von den andern hielt, aber dabei doch eine grosse Selbständigkeit des Herzens behauptete, Heli bedauerte seine Schwester aus ganzer Seele, konnte aber einen gewissen Ärger nicht recht hinunterschlucken. Das Mili, das im ganzen Dorf gepriesene, untadelige Mili, fällt in eine solche verzagte, ja, sag’ ich’s nur, unwürdige Verliebtheit! Wo man eine gute, solide Schwester sein sollte, spukt nun so was! Warte sie doch, bis Johannes aus der Kinderei geschlüpft ist. Das bare Kind ist er ja noch. Und halte sie sich doch auch ein wenig hoch und wert. Sie kommen dann schon, die hübschen Buben, da ist kein Zweifel, und der Johannes nicht zuletzt. Sie wird dann wohl sieben bessere finden ...

Laut sagte er mit einem fast groben und harten Ton im Wort: »Mili, nur du allein kannst mit dir fertig werden. Ich sag’ nur: sei keine Magd zum Auslachen, zum Lecken und Schlecken wie das Siriaweib da drüben! Warum flennen, wenn du liebst? Lieb’ doch nur! Aber liebe wie ... wie ein gerader Mensch, nicht wie ... ein Hund!«

Das traf wie eine Peitsche. Dir Jungfer riss sich von Heli los. Eine kurze Pause entstand. Die Geige drüben kicherte und schäkerte und riss mit einem komischen Zickzack von Tönen wie mit einem Witz plötzlich ab. Sogleich ward es sehr still. Da sagte das Mili und suchte den Arm Helis aufs neue: »Du hast ganz recht. Das war ein Wort. Ganz anders soll mich der Hannes nun kennen und lieben lernen. Nicht wahr, Heli, du ...« Sie malte ein Kreuz über den Mund. Mitten im Mondstrahl stand sie jetzt, schlank, hoch, das Haar wie gegossenes Gold.

Es glitzerte noch etwa ein Pfannendeckel oder ein Zinnteller verstohlen aus dem Dunkel, und in der Herdasche glommen noch einige Glütlein. Aber das war alles nichts gegen dieses junge, frische, tapfere Mädchen, das sich im vollen Monde reckte, höher und höher, so dass Heli meinte, im nächsten Augenblicke wandle es auf den gelben Strahlen empor, himmelwärts, ein Engel, eine weisse Wolke oder die schöne heilige Liebe selber.

Zwei Tage später genas Siria eines schmalen, dunkeln Bübleins, das man gerade noch zum Taufstein tragen und mit dem Christennamen Christoph schmücken konnte, ehe es das letzte Schnäufchen tat. Auf dem Heimweg sagte Patin Mili zur Hebamme: »Dass es auch gar nicht schreit! Gebt es mir ein bisschen in die Arme!« ... Das war recht schlau. Denn Pate und Patin geben sich den Arm und gehen mit Kranz und Blumenstrauss hinter der Hebamme zum Wirtshaus, wo der »Göttiwein« getrunken wird. Nun hatte sich Sigi zum Götti anerboten und damit war dem Mili der ohnehin missdeutete Weg noch viel mühseliger gemacht. So löste es sich denn gleich an der Kirchentüre vom Paten los und nahm den jungen, stillen Christ in die Arme. Da sah man, dass er eine eiskalte Stirne und steife Händchen hatte. Man trug eine Leiche.

Zornig bleckte Sigi seine Raucherzähne. Denn wer wollte jetzt mit dem Toten in die Gaststube zum Göttiwein kommen. Er wäre neben der hübschen Gotte gesessen, hätte ihr den Göttikuss geben dürfen, hätte ihr zugetrunken vom allerstärksten Wein, wäre näher und näher gerückt und hatte sich schon die ganze Zweisprache mit ihr schlau zurechtgelegt. Der glühe Wein, die warme Stube und Festlichkeit und seine Wörtlein, so wie er sie brav und innig gemodelt hatte, das müsste ihn endlich ihr nahe bringen. Aus dem offiziellen Kusse wäre vielleicht ein unoffizieller heisser Privatkuss geworden. Wenn er sie nur einmal küssen konnte! Wie manche hatte spröde und stolz getan, bevor sie seine Lippe fühlte. Dann war sie verzaubert. Diesem Wein halten wenige stand. Und er hat ihn seit Wochen stark und wild gekocht. Zum Teufel, wenn er nicht so viel Macht hat. Dieses Mädchen quält ihn nachgerade mit blutsaugender Bosheit. Es ist nicht länger zu ertragen.

Wie ein Engel so unschuldig, aber viel verschmitzter, als er sich die Engel vorstellt, stand sie am Becken, antwortete dem Kaplan, der für den Pfarrer amtierte, flink und tapfer, muffte das Würmchen nach der Salbung wieder wundervoll warm in die Tücher und Kissen ein und blies ihm von ihrem Munde Wärme ans Näschen. Ach, welch ein unbeschreiblich Wunder ist doch so ein unbesiegt schönes Mädchen. Und welch ein Wunderwunder, es zu besiegen.

Aber an der Ilgentüre, wo der Vater des Kindes schon mit einem gehörigen Weingeruch auf die Gäste wartete, sagte Mili schroff: »Onkel, der Christoph ist tot. Wir tragen ihn sogleich heim. Ich brächte keinen Schluck hinunter. Kommt, Hebamme! Ade, schöner Vetter Götti.« Damit schwenkte sie um und eilte hurtig weg. Julius verfiel in einen Krampf von Weinen, schlotterte die Stiege hinauf und ertränkte den Schmerz mit zwei Flaschen vom besten Bernanger. Sigi jedoch rief den Hausknecht in sein Stüblein hinauf und befahl, er solle ihm sogleich den Koffer für Zürich packen, die Bücher und Schuhe zu unterst und die Röcke und Beinkleider mit den Spannern, Klammern, Schulterhaltern und Zubehör in die obere Lage. Rasch!

Es ging ein Gemunkel durchs Dorf, warum nicht Carolus selbst getauft habe. Dieses fröhliche Sakrament liess er sich sonst nicht nehmen. Offenbar wollte er damit das Missfallen der Kirche über solche wilde Ehen und ihre wilden Sprösslinge ausdrücken. Man musste zeigen, dass Ordnung und Unordnung, Gesetz und Willkür nicht das gleiche sei. Dennoch fragten sich viele: aber der kleine Christoph, was kann er dafür? Verdient er nicht doppeltes Mitleid, doppelte Liebe, doppelte Ehre, weil ihn, den Schuldlosen, die Eltern zum vornherein so arg verunehren? Wenn Gott an ihm trotz der Elternsünde das grosse Mirakel tut, an ihm das Leben anzündet, das nur er, der Schöpfer alles Atems, anzünden kann – sonst gäb’ es weit und breit nur Asche – sollen die Menschen dann sozusagen göttlicher als Gott tun, erhabener als der Erhabenste und sich für das kleine Drecklein zu gut halten wollen, ei, ei! – Bei seiner zweiten Flasche erklärte Schül den paar Mittrinkern, dass mit diesem schwarzen Bürschchen der Welt ein grosser Musikant Gottes verloren gegangen sei, ein Genie voll Melodie, ein Mozart oder Beethoven, und dass nicht bloss so ein enger Dorfpfarrer, sondern selbst ein weiser, erlauchter Bischof, wie der regierende in St. Gallen, es sich hätte zur Ehre anrechnen müssen, das Taufwasser über eine solche begnadete Kindesstirne zu schütten.

Siria war untröstlich. Das Kind hatte ihr als Unterpfand einer besseren Zukunft gegolten. Es würde dem herumschweifenden Vater ein Punkt der Ruhe werden. Nam hätte sich an die Lustigernstube gewöhnt und endlich ein stilles Familienglück genossen. Wo das Büblein lachte und weinte, hätte man sich immer fester angebaut. Nun sind sie wieder die zwei Zigeuner von vordem, vom Wind herumgeschlagen, verloren auf fernen, müden Strassen, und nur ihre grenzenlose Liebe hilft ihr auch darüber hinweg. Aber wie lange noch? Sie fühlt eine Müdigkeit in sich, die um so schwerer drückt, je stiller und friedlicher es sich auf dem Bänklein hinterm Dorfe sitzt, gegen den Hügel und die schönen, kühlen Tannen in der Höhe, im leisen, fernen Tosen des Flusses, wobei man an die stürmischen Gänge der Vergangenheit denkt, die nun weit zurückliegen, so dass kaum noch ein laues Erinnern übrig bleibt.

Als Siria vom Bette aufstand, begann sie durchs ganze Haus zu putzen und zu Ordnen, die Küche zu führen, dem Heli zu fädeln und sich überall nützlich zu machen. Sie sang nicht mehr. Aber als eines Abends das Mili auf dem Küchenstuhl fast zusammenbrach, sagte Siria, als wären die Rollen getauscht: »Der Pfarrer sag’, was er will, morgen geh’ ich zu den Kranken, wenigstens in die Ilge und zu Spätzlis und zu den Kindern des Lehrers Peder. Du reibst dich so auf. Jetzt kommandier’ ich.«

»O wie langweilig bist du geworden, Siria,« jammerte der Gemahl, »aus einer Lerche ein Hausspatz! Es tät uns bald gut, wieder die Flügel zu spannen und aus diesem Nest zu fliehen.«

Aber er selbst machte hierzu keine Anstalten, sei es aus Tälereigensinn, den Behörden zu trotzen, ihnen, die ihn mit irgendeinem Gesetzt von der Nase scheuchen wollten, mit einem noch stärkern Gesetzt gerade vor diese Nase sich hinzupflanzen und zu sagen: ich bleibe! – sei es aus Mangel an Geld und aus Faulenzerei. Denn man lebte hier einstweilen auch als Habenichtse bequem. Alle Zwetschgenbäume hingen übervoll von reifen Früchten, man brauchte nur ins Laub zu langen. Alle Dörröfen rösteten Birnen- und Äpfelschnitze und brannten freilich auch famose Winterschnäpse. Zwei, drei solche Schnäpse, wenn es keinen Wein gab, einen Krug Most über Tag, Brot und eine dicke Milchsuppe, mehr brauchte Schül nicht, um zu leben und zu geigen. Abends sass er gern in den fünf Pinten des Dorfes, las die Zeitungen, liess sich mit einem Schoppen Wein beschenken und gab dafür Tänze zum besten. An Samstagabenden, bei verhängten Fenstern und einem Spion am Strässlein, wurde in der Wirtschaft zum Kranz, etwas abseits vom Weichbild, geradezu getanzt. Das war seit gut zwanzig Jahren in Lustigern nicht mehr vorgekommen. Der Corneli sah es ungern, und der Pfarrer Zelblein, Carls Vorgänger, hatte mit List und Liebe, indem er immer andere neue Kurzweil auf den Plan rückte, das letzte Tanzbein zum Stillstand verurteilt. Die jungen Leute konnten wirklich nicht tanzen, nur die Fünfziger und Sechziger pfiffen etwa noch einen Schottisch oder Galopp.

Als Carolus trotz aller Vorsicht der Übeltäter dem Ding auf die Spur kam, färbten sich seine runden Ohrschnecken purpurn. Da war höchste Gefahr. Der blödeste Tingeltangel in seinem stillen Dorf, die kreisenden, schwitzenden, ihrer Sinne nicht mehr mächtigen Paare, der strömende Wein, die roten Augen, die erwachenden, tierischen Gelüste, der Lärm und die Frechheit der sonst so geordneten Seelen, das Küssen und Drücken und Heimgehen unter dem Schutz der Hehlerin Nacht, nein, das muss im ersten Versuch, wie ein junges Schlangennest, vertilgt werden.

Carl wusste sehr gut, dass der Corneli aus Gründen der Sparsamkeit und Ordnung schon vor vierzig und fünfzig Jahren, als an der Kirchweih und Fastnacht in Lustigern noch munter getanzt und sogar vor dem Betläuten um sechs Uhr den Kindern ein Ringelreihen unter elterlicher Aufsicht gestattet wurde, gegen diese hopsenden Festlichkeiten heftig geeifert hatte. Und doch, wie viel ehrbarer war es dazumal auf dem Tanzboden zugegangen als heutzutage! Der Ammann wäre also sein mächtigster Mitkämpe. Aber seit dem Klopfen an der verriegelten Kirchentüre zeigte Corneli dem Pfarrer ein ebenso zugeriegeltes Wesen. Umsonst stand Carl davor und klopfte. Er hatte ihm ein Brieflein geschrieben wegen dem unehelichen, liederlichen Paar und seinen Rat verlangt. Die Antwort war: »Der Gemeinderat wird die bürgerliche Seite dieser Sache (bürgerlich unterstrichen!) nach Gesetz regeln.« Ein zweites Brieflein des Pfarrers bat, der Ammann möchte bei seinem unbestrittenen Ansehen dem Julius Täler eine Unterhaltungssumme aus der Armenkasse ausrichten, mit nicht zu kargem Schäufelchen, hatte er spassig beigefügt, unter der Bedingung, dass Siria sich in die kantonale Frauenklinik und Julius ausser Landes begebe. – Darauf ward ihm nicht einmal geantwortet. So rostig und grausam kann ein Riegel vor der wichtigsten Türe sein! War das nicht die Rache des Herrn?

Nein, sie mussten einzeln gehen, jeder in seinem Schritt. Aber freilich, wie viel weniger richtete so jeder aus, ja, wie nur zu leicht setzten sie sich beide mit ihren gesonderten Schachzügen matt!

Die Spaltung wurde noch grösser wegen Johannes. Der Corneli mit seinem gesunden, nüchternen Sinn hatte sofort das Starke und Schwache am Buben herausgefunden und wollte ihn mit Recht zum Musterzeichnen bestimmen. Aber er tat es unpädagogisch. Er stritt ihm alles andere, sogar das tatsächliche Kopiervermögen von Köpfen und Figuren ab, wurde barsch, kommandierte und verdarb es mit dem eiteln, selbstsüchtigen, naiven Jüngling total. Carl hingegen besass kein Auge für Zeichnung und Malerei. Wenn es nur in starken Farben und in grossen Gestalten von der Leinwand schrie. Zwischen Malen und Nachmalen, zwischen schöpferisch einwerfen und bettelhaft Auflesen einer Idee, zwischen lebendig Machen und tot Nachahmen sah er den Unterschied nicht. Er bat Johannes, ihm einen Ambrosius übers Pfarrhoftor zu malen. Heli und Johannes durchstöberten nun die illustrierten Heiligenlegenden und akkurat wie Paul Rubens einen Ambrosius entworfen hatte, mit Bischofstab, Taube und einem Bienenschwarm um den Kopf, so malte ihn Johannes übers Tor, wobei er die Sakristeigewänder für die Farben beriet. Vielen gefiel das saftige Bild, am meisten dem Besteller. Er mit seinen grossen, lebensvollen, blauen Augen merkte nicht, wie der Blick des Kirchenlehrers so leblos, oder wenn es doch Leben war, ein so entlehntes, unechtes, unwirksames Leben war. Die grosse Gestalt, der majestätische Mantel, der weisse Bart, der silberne Stab, das wallende solomonische Greisenhaar und die rosige Gesichtsfarbe, war das nicht prächtig? Konnte man sich einen frömmern und stattlichern Ambrosius vorstellen?

Darauf erwirkte Carl vom Kanton ein mässiges Stipendium für den hübschen Künstler und von der Diözesankasse auch noch zwei blaue Scheine, so dass die Börse des Jünglings für ein volles Züricher Studienjahr schwer genug wog.

Das traf Corneli mehr, als er sehen liess. Er verdirbt den Burschen, er macht einen zweiten Julius aus ihm, schalt der Ammann bitter auf die Gasse hinaus. Wir hätten eine famose Kraft für die Stickerei bekommen; nun werdet ihr sehen, was für ein Schwindler aus ihm wird. Gleicht er doch sonst schon in gar zu vielen Stücken dem saubern Onkel!

Die Stickerei ging flau. Sie schwamm mühsam über Wasser, wie ein windloses Segel. Warum wohl? Man suchte überall Gründe, in Amerika, in England, in den Fabriken, in der Weltpolitik, nur nicht am nächsten Ort, im eigenen Kopfe. Diese Industrie altertümelte, ward grau und schlaff. Es fehlte einer, der ihr neue Ideen und Windstösse in die Segel blies. Vor allem neue Bilder, neue Ornamente, neue Einfälle. Das Leben hinein! Und mehr als er’s beweisen könnte, ahnte Corneli, dass Johannes hierfür der neue meisterliche Segler wäre. Seine drei, vier Muster hatten Aufsehen und Nachahmung erweckt, wie nur etwas Überraschendes, noch nicht Dagewesenes. Von Lustigern, seiner Gemeinde, noch mehr von seinem Patenkind wäre Hilfe gekommen, die Industrie der Maschen und Stiche hätte ganz gewiss einen flotten Stupf bekommen; wer weiss, es hätte eine Lustigern Stickerschule, eine Lustigern Richtung und eine besondere Schätzung der Lustigern Erzeugnisse gegeben. Geld wäre ins dürftige Dorf geflossen und man hätte sich damit Anlagen und Sicherungen für Zeiten des Niederganges oder einer neuen, lohnenden Industrie verschafft.

Da kommt diese Appenzeller Kilbi, diese Appenzeller Phantasie, dieser Appenzeller Eigensinn und macht gottsträflich die klügsten Pläne zunichte!

Und nun will dieser Mann an der Novembergemeinde auch noch in die Kirchenverwaltung gewählt werden, will gar auf Cornelis angestammten Präsidentenstuhl sitzen! Er hat die jungen Leute für sich. Es wird einen harten, wüsten Strauss geben.

In den meisten Häusern wurde der Pfarrer seit der Grippe Gutfreund. Denn es ist unerhört, wie er sich mit Leib und Seele schonungslos hingab. Das bewundert auch der Corneli. Aber mit dem gleichen Feuer wirft sich Carl leider auch ins weltliche Geschäft. Er riebe sich die Hände und Füsse ab, um noch mit dem Stummel zu regieren. Nein, solchem Ausgreifen muss man zeitig Schloss und Riegel setzen.

Corneli fühlt, dass ein erkältender, feindlicher Wind weht, und dass es ihm, dem Kirchenpräsidenten, gilt. Noch mehr, einer von den fünf Räten muss doch dem Pfarrer Platz machen. Wer soll nun weg? etwa der Jüngste, eine Hoffnung? der Älteste sicher, ein Hindernis, eine Ruine. Wir gönnen Ihnen einen stillen Feierabend! Ja, so tönt es. Er, der ehrwürdige Greis, der siebenundfünfzig Jahre lang die Gemeinde durch die Gewitter der Kantonspolitik und durch die Krisen der Weltwirtschaft führte, er, der lange vor Bismarck und dem dritten Napoleon schon der oberste Mann in seinem Dorfreich war, er, der den Krimkrieg noch erlebte und sieben Päpsten die Krone aufsetzen und wieder nehmen sah, er soll von einem Heisssporn, der sein Enkel sein könnte und grün und wild wie junges Unkraut aufschiesst, entsetzt und entwurzelt werden. Das nicht! Alles ginge drunter und drüber mit diesem dunkelblütigen Präsidium. Das Geld rollte nur so aus den Sparkassen. Da würde gemalt, geschnitzt, gebaut und unser lieber Herrgott in eine vergoldete Eitelkeit hineingezerrt, dass er sich nach dem Stall zu Bethlehem und nach der Hobelwerkstatt zu Nazareth inniglich zurücksehnte. –

- So begann der sozusagen unterirdische Kampf zwischen den zwei grossen C, die das Alphabet regieren wollen, wie der Ilgenwirt scherzte, zwischen Corneli und Carolus. Man sah keine Fäuste, und es flogen keine Fehdebriefe herum. Die zwei Majestäten hätten es unter ihrer Würde gehalten, in den Staub eines rohen Kampfes hinunterzusteigen. Sie liessen ihre Anhänger schalten und taten, als duldeten sie nur ungern, dass ihr Name in einen Wahlstreit getragen würde. Sie redeten nie davon. Aber es gab Zeichen und Winke, ein Lächeln, eine gerunzelte Stirne, ein abgestuftes Grüssen und Kopfnicken, womit deutlicher als mit Bitten oder Befehlen gesprochen und korrespondiert wurde. Und die Leute machten sich ja so gerne zutunlich und wichtig. Wer sich mehr Vorteil vom Pfarrer versprach, nickte dorthin; wer vom Ammann abhing, hielt sich da fest. Höhere, edlere Gründe, um sich für den einen oder andern aus schwerer Seele zu entscheiden, gab es nicht. Der Corneli war vielleicht ein bisschen geizig, aber gegenüber der Kirche immer ein frommer, treuer Freund, der beste Kamerad der frühern Pfarrherren gewesen. Und doch wollte ihn der Pfarrer wegräumen! – Und der Pfarrer war doch wahrhaft auch ein Muster von Eifer, Frömmigkeit und unermüdlicher Seelsorge; etwas Böses war ihm nicht zuzutrauen. Es handelte sich da also nicht um Himmel und Hölle, und gerade das verwirrte das Lustiger Völklein. Um was handelte es sich nun? Man kratzte hinter den ihren, man schielte auf die Seite und flüsterte: »’s ist halt der Beste ein schwacher Mensch und kann nicht aus der Adamshaut heraus. Nach einem Apfel gelüstet den Frömmsten.« – »Reichsapfel«, witzelte der Ilgenwirt. »Jawohl, zwei so Grosse sind sich leicht im Wege. Regieren ist so hässlich zu zweit wie herrlich als einziger!«

Von den heissen Idealen, um die es Carl zu tun war, von der bittern Einsicht, dass ihm hinten und vorne aller Schwung genommen sei, wenn dieser Alte immer und überall hineinmeistere, von den Seelenkämpfen mit sich selbst und von den dutzendfachen Versuchen, sich friedlich schiedlich mit dem Widerpart zu einigen, davon wusste niemand etwas. Man dachte einfach an eine fröhliche, fromme Schwäche der beiden Herren und hatte nun erst recht kein Gewissen, seine eigenen Schwachheiten recht profitabel als Parteimann des einen oder andern Rivalen in den Dienst zu stellen.

Kapitel 15

»Zu Weihnachten komme ich auf ein paar Tage,« sagte Johannes, »und zeig’ euch, was ich studiert habe. In zwei Monaten schon, das geht ja wie der Wind.«

Reisefertig, in einem schmucken Überzieher und einem weichen, dunkelbraunen Filzhut stand er da. Die weissen, feinen Hände hingen lässig aus den weiten Ärmeln. Ein schwerer Mantelkragen umpolsterte seinen schlanken Mädchenhals. Die harten, grauen Augen schimmerten mit ein bisschen leichter Rührung.

Das Mili bebte den ganzen dunklen Wintermorgen vor dem Abschied. Eine sonderbar müde Starrheit lag über ihr. Aber darunter zuckte es mit tausend Flämmchen von Leidenschaft. Erst jetzt, wo die grosse Stadt ihn für lange raubte, fühlte sie, wie begünstigt sie bisher gewesen, diesen wunderlich Lieben stets um sich, unter dem gleichen Dache, am gleichen Tische gehabt zu haben. Wie wenig hab’ ich das geschätzt, ach, und sicher wie gar nicht hab’ ich’s ausgenützt! Nun sollen ihn die andern, die fremden, die fernen Menschen haben! Mir aber ist, das Haus sei ohne Glanz und Seele ohne ihn.

Ja, sie zitterte vor Schwäche und Kraft der Liebe. Wird er, der ewig Gleichgültige, jetzt, im letzten Augenblick, endlich ein Fünklein Gefühl offenbaren. Oder ist er wirklich ein Stein?

Mit welchem Fleiss hatte sie seine Hemden genäht, in seine weissen Nastücher seine J und T gestickt, seine Strümpfe gestrickt und eine Schärpe in prachtvollen Maschinenbildern für ihn vollendet. Wie einen Prinzen hatte sie ihn ausstaffiert. Jeder Stich war eine Lust, jeder ein Leid gewesen. Ach, wie wollte sie ihn so fürs ganze Leben ausrüsten, immer um ihn sein, ihn hegen und wärmen mit ihrer ganzen halb mütterlichen, halb mädchenhaften, aber immer so sehnsüchtigen Zärtlichkeit, diesen Menschen wie eine Sonne so hell und frisch, aber so kalt wie der Mond.

Allen gab Johannes leicht die Handspitze, allen lächelte er ein fröhliches Ade ins Gesicht; dann aber fuhr er mit dem kleinen Finger die schmale Nase hinunter und sagte: »Mili, begleite mich bis zur Ilge, sei so gut!«

Sei so gut! Das war ein neues Wort. Sie staunte. Fast fiel ihr das Laternchen aus der Hand. Er nahm den Handkoffer und Schirm in die linke, sie an die rechte Hand und zog das Mili so sanft regiererisch in den dunkeln Morgen hinaus. Leichte Schneekörnlein flogen herum. Es war fünf Uhr morgens und noch schwere neblige Finsternis. Mehrmals hielt sie das Blechlaternchen vor zum überweg Sehen. Aus wenigen Scheiben glomm eine Lampe. Man stand etwa zum Melken auf.

Das Mili ging widerstandslos an seiner Hand und dachte: Geschehe, was wolle, ich will nichts als Treue und Ergebenheit sein.

»Schau, dort unten tränkt der Baschi schon seine Braune!« sagte Johannes. Man hörte das Klatschen der Kuhschnauze im Brunnenwasser durch den Nebel und fror dabei.

Sie dachte: Du willst etwas anderes sagen, beeile dich! Es sind nur noch hundert Schritte bis zur Ilge. Sie schwieg und verging beinahe vor Kummer.

Ein leichter Windstoss kam, und einige dürre Blätter raschelten auf den gefrorenen Weg. »Das wird gehörig über die Uzlistrasse blasen, weisst beim Bettener Rank!«

Das Mili fühlte seinen Händedruck stärker werden. Es schwieg und dachte wieder: Etwas ganz anderes hast auf der Zunge. Heraus damit! Dabei wuchs ihr Selbstbewusstsein plötzlich empor wie ein Kamm überm Kopf. Sie streckte sich.

Er wartete. Sie sah sie grauen Atemwölklein aus seiner feinen Nase flocken. Noch fünfzig Schritte, und sicher wartet der Sigi schon an der Haustüre.

Da tauchte die hochgieblige Kaplanei auf, und oben erglomm eine Kerze. Eusebius richtete sich zur Frühmesse. Jetzt stand Johannes still, kehrte sich scharf gegen Mili und fragte: »Was ist mit dir? Du redest nicht. Schon lange bist du so still. Und man sah dich nirgends. Oft sucht’ ich dich, um ein wenig zu plaudern, aber du hattest nie Zeit. Was ist los?«

Sie hielt das Laternchen hinter sich, dass er ihr nicht ins Gesicht sehe. »Nicht einmal heute sagst du ein Wort, Mili. Meinst etwa, das sei mir egal?«

Mili hüstelte und würgte, aber brachte keine Silbe heraus.

Sie waren wieder ein Stück gelaufen. Jetzt klapperten genagelte Schuhe die untere Turmstiege zu den Glockenseilen hinauf. Das Mettglöcklein, das misstönige, fing an, durch die frostige Finsternis zu scherbeln. Aber der Ton war vertraut. Er klang wie Einladung und Gruss aus all dem Grauen in eine gastliche warme Stube hinein. Beide fühlten etwas davon. Es fehlten noch zwanzig Schritte. Man nahte der grossen Ilgenlaterne, die weit über den Platz leuchtete. Was sag’ ich nur?

O jetzt ist es zu spät! Jetzt ist alles, das ganze Leben verpasst! ... Ein ungeheurer Jammer packte sie. Das schöne, gerade, junge Weib erbebte wie eine schlanke, melancholische Birke im Föhn.

»Heb’ die Laterne hoch!« befahl Johannes weich.

Sie konnte nicht anders, sie musste das Licht heben und in sein blasses Gesicht mit den dünnen, schwarzen Sicheln von Brauen und dem Mund voll weisser, strenger Zähne sehen. Seine kleinen Augen waren voll Munterkeit. Ein Lächeln wie leiser Triumph spielte um die farblosen Lippen.

»Da hab’ ich dich!« sagte er stolz und froh zugleich. »Du hochmütiges Ding – hast es halt nun doch sagen müssen, wie du zu mir stehst ...« Schonungslos musterten und peinigten sie seine lachenden, kieselgrauen Blicke, und sie musste ihm noch die Laterne dazu halten.

»Schau, Mili, ich bin ein Fisch. Mich plagte das Blut bisher wenig. Kein Mädchen bedeutet mir viel. Ich versteh’ den Sigi nicht. Er sagt, ich sei der Nordpol und er der Äquator. Und vielleicht denkst du’s auch, ich hätte dir nie so eine rote Hitze gezeigt, wie der Sigi verspritzt, sondern nur Schnee, Schnee. Aber, Mili, horch’, wenn ich ein Mädchen lieb hab’, bist du’s. Und ich glaub’, ich pass’ zu keinem; aber wenn ich zu einem passe, bist du es allein. Ist dir das genug? Mehr kann ich nicht sagen, ‘s wär’ gelogen. Bist zufrieden?«

»Ja, ja, ja,« jubelte es aus dem schönen Mädchen.

»Dann her!« sagte er fröhlich und küsste sie auf die rechte und linke Wange und dann auf den Mund. Sie fühlte seine harten Zähne und seine frischkühle Lippe nicht, sie hatte noch keine Erfahrung, man küsste sich ja fast nie in diesem Bauerndorf. Ihr gingen alle sieben Himmel durch Leib und Seele. Sie trocknete die Augen, blies die Laterne aus und sagte fest: »Mach’, was du willst; aber ich bin nur für dich, nur für dich!«

»Schreiben werd’ ich nicht,« bemerkte Johannes. »Du weisst, wie mir das Gekritzel zuwider ist. Aber du sollst mir alle Wochen einen Brief schicken und vom Corneli und vom Pfarrer und von der Kirchgemeinde und von den Mustern und vom Heli und allem, auch vom Onkel Lustig erzählen.«

Sie nickte und zögerte und sagte plötzlich: »Aber du, Johannes, pass auf! Geh’ dem Sigi nicht nach! Du hast gestern noch gebeichtet und kommuniziert. Bleib’ gut! Geh’ in die Messe und Predigt. Hannes, um Gotteswillen, werd’ nicht wie der Sigi!«

Johannes lächelte erhaben.

»Wie könntest du die lieben Heiligen und gar den Heiland malen, wenn du ein ganz Unheiliger, Schlechter, ein Unchrist würdest!«

»Mili, hab’ keine Angst. Ich ginge schon in die Kirchen wegen den schönen Bildern und den prächtigen Szenen. Wo findet ein Maler Besseres?«

»Schon, schon, Johannes; aber doch mehr noch wegen ...«

»Ja, ja, ich bin kein Heiliger, aber noch weniger ein Heide ... Ich glaub alles leicht und gern, was ...«

»Ho, endlich!,« schrie es von der Ilgentüre her. »Sieh, auch das Milmili will mir Ade sagen. So viel Herz hätt’ ich dir gar nicht zugetraut.«

Er stülpte den köstlichen Astrachankragen über Hals und Kinn auf, knüpfte den Mantel oben fest und sagte zum Hausknecht: »Nimm auch die Tasche des Johannes und geh’ uns voraus, hop, hop! ... Mein Geizkragen von Vater will mir nicht einmal den Einspänner geben. Abhärten, sagt er, abhärten! Und derweil schnarcht er noch dort oben!«

Mili hatte schweigen wollen. Aber der letzte Satz empörte sie zu sehr, und auch die grünen frechen Blicke, womit er sie im leichten Küchenkleid, nur mit dem Schultertuch überschlagen, musterte, ärgerten sie heillos.

»Du hast recht, so viel Herz hab’ ich nicht. Den Johannes hab’ ich begleitet.«

Sigi knickte die Nase ein. Fast spöttisch sah er auf Johannes. Das chinesische Pagodendach schwoll auf, indem er mit seinen nassen, gelben Zähnen langsam buchstabierte: »Ja, ja, Schwesterliebe! Fein, ich ziehe den Hut.«

Johannes lächelte sein gefrorenes Lächeln auch über den Sigi herunter. Aber dann tat er etwas Tapferes, ja, Entscheidendes. Er umfing mit beiden Armen genau unter der grossen Ilgenplatzlaterne seine schlanke Jungfer, presste sie an sich und küsste sie nochmals herzhaft auf den Mund. Und im gleichen Augenblick hörte man in der ganz nahen Kirche das Schellchen zur Opferung bei der Frühmesse klingeln.

»Jetzt lauf’ und wärm’ dich nochmals im Bett, Schätzchen!« sagte er kurz. »Lebwohl!«

Sigi, wie ein junger Tantalus, wand sich hin und her und zog Blut aus den Zähnen. Mili verschwand im Dunkel.

»War das der Bruder oder der Bräutigam?« fragte er wie im Spass und spuckte aus.

»Ich weiss es nicht,« versetzte Johannes sorglos. »Aber schau, du spuckst Blut.«

»Komm, komm!« drängte Sigi. »Und was machte es, wenn ich das Herz ausspuckte!«

Kaum waren die Jünglinge ums Strasseneck gebogen, so tauchte das Mili mit der verlöschten Laterne, aber einer frisch lodernden Seele aus dem Hintergässchen hervor und wollte in die Kirche. Aber ihm schien, es flüstere und rufe etwas seinen Namen durch den Nebel. Wahrhaft, aus einer kleinen Scheibe guckte Bas’ Ida hervor. Sie hatte ihren Liebling bis zur letzten Sekunde von ihrem Fenster aus verfolgt.

»Bet’ für beide, Kind! Bet’ für meinen Sigi auch! Wenigstens das tu’ ihm zu lieb!«

Mili nickte. – Es trat in die finstere Kirche. Weit vorne war eine kleine Helligkeit von zwei Kerzen. Dort, nahe dem Altar, knieten acht bis zehn Gestalten, darunter die Marianne und die Peregrina. Der Kaplan in weissen Gewändern wandte sich eben zur Epistelseite, und der Ministrant begoss ihm die Finger aus der Kanne. Lavabo inter innocentes manus meas! hörte man ihn beten.

O diese heilige Stille, diese fromme, tiefe Schattigkeit, dieser Duft von Wachs und Weihrauch und hundertjähriger Andacht. Auf einmal versank vor Milis Seele alles, was draussen ist, es fühlte nur Friede und Frische über sich kommen, dünkte sich unglaublich stark und frei und hörte nur immer: Lavabo ... ich will meine Hände unter den Unschuldigen waschen.

Und sie sah wie ein Kind ihre Hände an, und sie schienen ihr weiss, und die Hände des Johannes waren weiss und die der Siria und ... und ... o Freude! ... Sie sah nur weisse Hände, nur Unschuld und nichts anderes, wo weit sie blickte. O wie gut ist Gott, dachte sie, und wie macht er alle und alles gut!

Es flockte und rieselte vom grauen Himmel, als wollte es mahnen: passt doch auf, ihr Schelme, es wird nun wirklich ohne Spass Winter. Wohl glich es eher einem starken Reif und übersäete nur leichthin den Boden. Aber es war genug, um allen Herbstleichtsinn fahren zu lassen und schwere Bündel Reisig in die mächtigen Kachelöfen zu stossen.

An einem solchen Tag besuchte Carl das Marei des Sigrist Spätzli, dem die Grippe eine langwierige Kopfkrankheit angeworfen hatte. Da stiess er auf Siria. Sie wusch gerade dem achtjährigen Kind Hals und Kopf mit Essigwasser ab und sang dazu in welschen, und wie Carl dünkte, liederlichen Weisen. Aber Marei, das sonst schrie und ausschlug, hielt beim süssen Alt dieser Frau ohne Mucks her. Die Sigristenleute waren im Tenn beschäftigt.

Als die ungeheure Figur des Pfarrers so plötzlich das halbe Stüblein füllte, stiess Siria unbewusst einen leisen Schrei aus und schlug die Augen nieder.

Sie schleicht sich mit Lumpenliedern in die Familien und er spielt zum Tanz auf und beide ärgern mir das Dorf tödlich, dachte er. Sieh, sieh, wie die Sünderin zusammenknickt!

»Ihr fürchtet mich! Habt Ihr so ein böses Gewissen?«

»Ja, ich fürchte Sie!« sagte das Weib leise und hob den Kopf. Das Kind fing an zu strampeln. Sogleich wusch Siria sanft mit dem lauen Schwamm über den kahlen Kopf der Kleinen und diese ward getröstet.

»Darf ich wissen warum?«

Das grobe und doch so weiche Gesicht Sirias wurde feierlich. Langsam, das Kind immer mild streichelnd, sagte sie fast singend: »Ich kam ins Dorf, eine müde Bettlerin, schwanger und elend zum Sterben. Und Sie vergassen, dass Einer sagte: kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken! Sie vergassen, dass er sagte: alle, – und Sie donnerten mich zu Boden. Um Ihretwillen läg’ ich vielleicht dort tot im Gras. So einen Priester fürchte ich!«

Carl riss am Kragen und fuhr durchs starre Haar. Ein Schwindel überlief ihn. Er öffnete das Fensterchen und setzte sich davor auf einen Schnitztrog.

»Sing, sing,« lallte das Kind und wollte wieder heftig werden.

»So singt doch Euer Gewelsch,« murrte der Pfarrer, nur um sich zu regen. Das Wort der Frau hatte ihn wie eine Keule getroffen.

Sie sang wieder. Überaus eitel und lustig. So mag sie im Varietee geknickst und halbnackt herumgewirbelt und geträllert haben, vor Buben wie der Schül und der Sigi. Carl wollte antworten, er sei damals in einer heiligen Empörung gewesen, habe nur an den Skandal gedacht und so ihr grosses Weh nicht bemerkt. Das tue ihm leid, alle Not sei ihm heilig. Aber als ihr Lied nun Hihihi und Hehehe machte und sie dazu einen Takt mit dem Absatz klopfte, entschlug er sich aller Entschuldigung und fragte nur: »Und die Sünde fürchtet Ihr nicht? wie? die Sünde?«

Siria sah ihn an, besann sich und sagte ernst: »Wenn Sie mir die Sünde zeigen und wenn sie so etwas Hartes und Schwarzes ist, wie Sie da, Herr Pfarrer, dann fürcht’ ich sie.«

»Habt Ihr denn noch keine Sünde gesehen?«

»Ich glaube nicht. Aber ja, als Sie auf uns Arme damals loszogen, das muss eine bittere Sünde gewesen sein.«

Das Marei schrie wild auf, verzog greulich den Mund und schäumte ... Ganz blau wurde sein Gesichtlein. Es hielt den Atem zum Ersticken an. »Da kommt der Krampf, wenn man nicht singt,« sagte Siria.

»Aber nicht solche Hudelei. Ich will singen,« sagte Carl und rief zum Kind: »Pass auf, Marei, jetzt sing’ ich dir etwas anderes, Marei, hör’!«

Er begann, so leise er konnte, seinen Liebling, den Choral des dreimaligen Sanctus zu singen. Aber seine grosse Stimme und diese kleine Kammer! Und seine stürmische Begeisterung, sobald er die heiligen Sänge anhob! Er sah Altar, Kirche, Orgel, die Scharen der Engel und Erzengel, die das Lob des Lammes in auf- und niedersteigenden Chören zu Harfe und Zimbel sangen, und seine Stimme schwoll an für einen Dom und überfüllte das Kämmerlein und sprengte fast die Wände, und erschreckt und entsetzt focht das Marei mit den Armen, rieb die Zähne aufeinander, sträusste die kleinen Ohren und überschrie zuletzt noch den ungeheuren Bass in wahnsinnig schrillen Tönen.

Sofort brach der Pfarrer ab. Unwillig blickte er auf das irre Kind. Aber da war nichts zu machen. Es krümmte sich schauerlich in Delirien.

»So singt doch, singt, sonst gibt der Wurm nicht Ruh’!« gebot er hastig.

Wieder begann der süsse Alt. So singt tiefes, klares Wasser im Fels. Ach, wie das Kind sogleich stumm wurde und lächelte. Das kann doch kein Lumpenlied sein. Schade um diese Stimme! Welch ein Ave Maria oder Agnus Dei würde das!

Nach einer Strophe wollte Siria abbrechen.

»Singt nur fertig!« brummte Carolus.

»Aber Sie hören es nicht gern,« wandte Siria ein.

»Ist’s ein gemeines Schangson?« fragte Carl. »Ich verstehe dieses sonderbare Gassenhauer-Französisch nicht.«

»‘s ist ein Liebeslied, glaub’ ich; aber ich merk’ so wenig davon als das Kind da. Mir ist der Klang alles.« Und voller und lauter hob sie eine neue Strophe an, dass es wundervoll durch diese Enge wogte, und die novembergraue Stube schien davon lenzlich aufzuhellen.

So sang die Frau das Mädchen in Schlaf und legte es mit dem kranken Haupt auf ein Kissen voll kühler Huflattichblätter. Der Pfarrer war ganz in Gedanken versunken. Endlich richtete er sich auf und fragte viel ruhiger: »Was habt Ihr eigentlich für ein Bekenntnis?«

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, in was für einer Konfession seid Ihr erzogen?«

»Meine Eltern waren Protestanten, aber ich ward bald Waise und kam zu Leuten, die sagten, es gebe vielleicht weit, weit weg einen Gott, aber jedenfalls keine Kirchen Gottes. Die seien von Menschen fabriziert. Vielleicht auch der Herrgott selbst sei von Menschen fabriziert. Die Menschheit sei schon gar alt und immer schlau gewesen.«

Carl hätte am liebsten vor solcher Lästerung die Ohren verhalten. Aber darf man das? Wie gerne tät man’s oft im Beichtstuhl auch. Man darf nicht. Man muss klar sehen, sogar um den grössten Dreck herum.

»Und Ihr?«

»An einen Gott hab’ ich immer geglaubt. Den hat mir niemand nehmen können. Und er hat mir oft geholfen; zuletzt, als der Schül mich mit seiner Jacke wärmte und vor den Grobianen schützte. Damals war ich am Verzweifeln.«

»Und der Julius? Glaubt der noch an Gott?«

»Nicht immer, aber doch oft.«

»Was heisst nun wieder das?«

»Für gewöhnlich denkt er an keinen Herrgott und lacht mich aus, wenn ich davon spreche. Aber manchmal tut er etwas sehr Gutes; dann ist er wie ein reines Kind und sagt selbst: Das hat mir Gott eingegeben. – Sehen Sie! Und besonders wenn er einmal lieb ist und abends daheim bleibt und die Geige im Dunkel spielt. Ich sage Ihnen, dann glaubt er an Gott. Ich denke, niemand betet schöner als er dann mit dem Bogen. Und an solchen Abenden ist er ein gang anderer, macht Pläne zum Arbeiten und rührt kein Glas an. Dann sag’ ich immer: Der Finger Gottes hat dich angerührt. Und er: Gut fühl’ ich’s; dass er nur nicht mehr von mir lasse! – So ist es mit Schül.«

»Ihr helft da unsern Kranken, und Kopfwaschen und Salben und Verbinden könnt Ihr gewiss gut. Aber das ist nicht alles. Könnt Ihr auch beten? Das hilft über alle Arznei.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht einmal das Vaterunser?«

»Nein.«

Carolus wurde nicht mehr zornig. Ratlos irrten seine blauen, grossen Augen über dieses rätselhafte Weib. Nicht einmal das ABG des Christentums kann es auswendig. Und doch und doch hat es den Glauben an Gott und viel Gnade bewahrt.

»Wenn Ihr nicht betet, nützt Ihr wenig bei den Kranken. Was nützt es, einen Gott zu haben, wenn ich nie zu ihm komme? Im Beten bin ich bei ihm, ganz warm und eng an seinem Knie. Habt Ihr Papier ... Da liegt auch nirgends ein Fetzen.« Er nahm das Brevier aus der Tasche. »Auch da nicht. Aber ich muss Euch das Vaterunser aufschreiben. Ihr werdet sehen, wie herrliche Musik das hat.« Damit riss er in der Hast ein Blattbild aus dem Buch und schrieb unter lautem Nachsprechen: »Vater unser ... sehet, es gibt keine Waisen! – der du bist im Himmel – passet auf, Frau Siria! – geheiliget werde dein Name. Zu uns komme dein Reich ... dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden – Passet auf! – Gib uns heute unser täglich Brot ... und vergib uns unsere Schulden ...«

»Hören Sie das, hören Sie es!« rief jetzt ihrerseits die aufmerksame Horcherin.

»wie auch wir vergeben unsern Schuldnern ... und führe uns nicht in Versuchung – seht, das habt Ihr nicht beachtet! – sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.«

Siria hatte die Hände gefaltet im Lauschen. »O ja, das ist gross und viel und schön,« gestand sie tief aufatmend. »Aber schwer! Geben Sie mir das Blatt! Schon morgen kann ich’s auswendig.« Sie nahm das Papier und küsste es dankbar.

»Auswendig, ja. Aber später müssen wir es inwendig können. Und das ist viel schwerer. Denkt einmal: unser Will und Gottes Wille, fast immer stehen sie ein bisschen quer; bis wir das Nachgeben recht verstehen, das Nachgeben!« – Er schlug an seine Brust.

Siria begann den Pfarrer schon mit einer gewissen Vertraulichkeit zu betrachten.

»Im Vaterunser werden wir uns vielleicht finden und verstehen, Frau Siria,« begann Carolus wieder. »Aber es hat noch viele Haken. Um eines bitt’ ich heut, wenn Ihr wirklich brav sein wollt: helft mir gegen den Julius und seine Tanzmusik.«

Als Siria verblüfft aufblickte, erklärte Carl, wie viel Unruhe und Unordnung dieses Tanzen in den bisherigen Dorffrieden bringe; wie es dabei zu Trinkereien, Eifersucht und Schlägereien und zu masslosen Eitelkeiten und Leidenschaften komme. Es sei wie mit dem Rauchen, solange es niemand versuche, entbehre er es nicht. Siria müsse am besten wissen, ob das Tanzen eigentlich froh mache. Und dabei sei es in der Stadt vielleicht noch eher eine gesellschaftliche Notwendigkeit; aber im braven, stillen, sonntagsfrohen Dorf! Und von einer Kunst, einer Anmut und klassischen Bildung des Tanzes wäre hier ohnedies keine Rede. Es sei kein Tanzen, es sei ein holperiges, brutales, nervenaufpeitschendes Holdrio, ein wildes Getrampel und Gedränge in Staub und Schweiss und Alkohol und ein tolles Geldvertun und sich den süssen Geschmack und die Heimeligkeit der Stube Verderben. Das! Darum bitt’ ...

Carl brauchte nicht weiter zu reden. Seine Gründe wogen ihr schwer genug, ganz abgesehen von den persönlichen, die sie als Frau ihres lieben Julius haben musste. Die Gewöhnung an ein Heim ward so unmöglich, betrunken kam er immer heim und hüstelte dann viele Tage trocken und heiser von der Lunge herauf.

Sie wolle dem Pfarrer einen Beweis geben, wie ehrlich sie es meine. Morgen, am Samstag abend, solle im Löwen von Schwarzenboden, das zu Lustigern gehört, grossartig gehopst werden. Schül gehe schon nachmittags hinunter. Abends um die Acht beginne man. Da solle er, der Gewaltige, der Furchtbare, so eine, zwei Stunden nach Beginn hinten, von den Thurwiesen her, ins Haus und Getümmel brechen, und mit der ganzen Wucht seines Amtes und seiner Gründe das wüste Fest auseinandertreiben. Und wenn er dem lieben, aber, ach, so schwachen Schül einen besonders starken Klaps versetze, so sei sie für sich und für ihn und für die ganze Zukunft dankbar und wolle nicht bloss das Vaterunser, sondern auch das Ave Maria und noch viele schöne Gebete lernen und sich und andern gelehrigen Ohren vortragen.

Da sind Ansätze zum Guten, dachte Carl. Diese verirrte Seele werde ich gewiss gewinnen. Er segnete das Kind, reichte Siria die Hand und sagte: »Nicht wahr, wir verstehen uns schon viel besser? Ihr fürchtet mich nicht mehr!«

»Noch ein wenig!«

Carl lächelte. »Wir sehen uns bald wieder. Ich will für Euch beten. Das hat bisher gefehlt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Niemand hat für Euch gebetet und Ihr selbst auch nicht.«

»Was sagen Sie, niemand?« fuhr die Frau stolz auf. »Haben wir denn nicht ein Engelchen da oben? Der Christofli? der geradeswegs von der Taufe in den Himmel geflogen ist. O für mich und für den Schül wird stark gebetet. Vielleicht, o ja gewiss, betet das Kind auch für Sie, wenn Sie es schon nicht getauft haben. Engel verzeihen alles.«

Der Pfarrer wusste darauf nichts zu erwidern. Langsam schritt er dem Pfarrhof zu. Aber an jenem Abend trug das Mili der Siria einen Korb voll Äpfel und Kartoffeln, einen Butterballen, zwei dicke Speckflanken und eine geblumte Schachtel voll Schwarztee nebst Zucker und Zitronen vor den Stuhl und die besten Grüsse vom Pfarrer und – langsam zog sie es aus der Bluse hervor – ein kleines, ledergebundenes Gebetbüchlein, mit farbigen Stichen und den üblichen Andachten. Sie möge, habe der Pfarrer gesagt, darin ein bisschen buchstabieren.

»Buchstabieren,« wiederholten die zwei Frauen und sahen sich fragend an und mussten sich hell und heilig ins Gesicht lachen. – Was kann der düsterste November noch für heitere Abende hervorbringen!

Kapitel 16

Die Wirtschaft zum Löwen stand an der einsamsten Grenze der Pfarrei, unter Tannen, in einem Hohlweg, der zur Thurbrücke hinunterführte. In alten Zeiten war da sicher manches Abenteuer geschehen, der Ort passte wunderbar dazu. Dieser Löwe hatte manchen mit leisem Knurren, manchen mit Gebrüll zwischen die Pratzen genommen. Aber das grösste Abenteuer erlebte das Raubtier an jenem nebelnassen Sonntagabend im November, da Pfarrer Carolus, den Haselstock in der Faust, durch die gefrorenen Wiesen, am Ranft des Tobels entlang, in den Rücken des Gasthauses schritt, von tiefem Dunkel und den alten Tannen fast bis zur Hintertüre geborgen.

Schon blinzelten die Küchen- und Treppenhauslichter durch den Nebel, und Carl meinte einen Duft von Bratwürsten und frischem Most bis hierher zu spüren. Ein dumpfes Getöse, ähnlich dem der Wasser in der Schlucht, aber nicht so kühl und ruhesam, hatte er längst wahrgenommen. Dazwischen etwa einen Jauchzer oder Pfiff, einen Geigenton zum rasch geöffneten und wieder zugeschmissenen Fenster hinaus, ein Gekrach von Fäusten auf tannene Tische, das Klirren fallender Gläser und vor allem ein Stampfen von Stiefeln, ein taktmässiges, unermessliches Stampfen, wie von einem tausendfüssigen Ungeheuer. Carolus fasste den Knotenstock fester und grub die Schaufeln in die Unterlippe. Seine Locken sträubten sich lustig. Er blühte förmlich auf. Da gab es einmal einen gesunden, starken Männerkampf, Stirne gegen Stirne, Gewalt gegen Gewalt. Wie er das von Gons her kannte! Und wie das alte, ferne, schattige Trotzdorf am Bergsee ihn mit allen seinen Grobheiten in diesem Augenblick anheimelte! Von wo man gerne fortgeht, schrieb ihm einer damals, dorthin ginge man am liebsten wieder zurück.

Jetzt, dreissig Schritte vom Löwen, löst sich etwas Kleines von der ungewissen Masse des Gehöftes, kommt geräuschlos näher, wird gross, ein Tier, jawohl, ein zottiger Bernhardiner, hoch wie ein Kalb. Er bellt nicht, er springt nicht, er kommt nur, kommt, immer etwas eiliger, aber Pfote auf Pfote, bis auf sechs Schritt. Er ist der einzige Getreue des Hauses. Ein unerbittlicher! Das merkt Carolus sofort. Hier gibt es keinen Ausweg, hier muss ein erster Strauss auf Tod und Leben ausgefochten werden. Denn es ist Nacht, er selbst kommt von hinten, wie ein Dieb. Der Hund ist gescheit, er merkt vielleicht noch viel mehr: dass ein Stürmer kommt, der das Haus erobern und unterjochen will.

Sechs Schritt, jetzt steht das Ungetüm still. Es hat einen dicken bemähnten Hals und zottiges Winterhaar um die Ohren. Wie ein Löwe. Nun knurrt es leise, tut noch zwei Schritte, Carl sieht, wie es die Lefzen auseinanderreisst und die Zähne fletscht. Wie Glaskugeln rollen die Augen hervor. Jetzt, Carl!

Wie ein Blitz schnellt der Riese vor und lässt den steinharten Knopf seines Steckens dem Hund auf die Nase quetschen. So machen es die Gonser, wenn die Stiere drohen. Der Schmerz ist furchtbar, die Augen überlaufen, das Gesicht schwindet, es schwindelt den Getroffenen, und der Angreifer gewinnt Zeit zu fliehen, oder den Kampf mit Vorteil zu beenden.

Einen Moment schien die Dogge starr, wieder sauste der Knauf nieder, aber jetzt bog der Hund doch den Kopf, der kolossale Hieb traf ins Leere und schlug den Ausholenden so ins Übergewicht, dass er in die Knie sank. Im gleichen Augenblick fiel es warm und wild über Carl und überschlug ihn beinahe. Bis jetzt war es Notwehr gewesen, nun aber wurde Carl grimmig. Rauflust überkam ihn, und bevor die Hundezähne einhacken konnten, hatte Carl mit beiden Händen furchtbar in die Gurgel des wütenden Tieres gegriffen und würgte und klemmte und schraubte so eisern zu, dass der Bestie die Füsse schlaff zusammenklappten und die Zunge weit zum Rachen heraushing. Blut trat ihr in die totbittern, schönen, treuen Augen, sie keuchte unendlich, suchte mit den Vordertatzen die harten Hände von der Kehle wegzukratzen und die ganze mächtige Figur wurde so schlapp und locker, dass Carl aufstehen, den Hals mit einer Hand loslassen und einen flinken Fausthieb auf die Stirne des Opfers zielen konnte. Geifer und Blut floss aus dem Maul, die Augen fielen auseinander, der Gewaltshund war niedergestreckt.

Das war kein übles Vorspiel, dachte Carl, schnaufte sich ein bisschen aus und sah nach, ob die Dogge wirklich tot sei. O ja, die Beine wurden schon steif. Schad’ um das edle Tier; es starb unschuldig für die Schuldigen dort. Wartet nur! Er putzte sich den Schmutz, so gut es ging, von Gesicht und Rock, glättete den verrümpften Kragen und schritt noch mutiger als vorher zur Hintertüre hinein. Es summte da wie in einem Bienenkorb.

»Peterli!« schrie eine Kellnerin von oben. »Kommt das Fässchen bald? Hüp, hüp!«

Du wirst schon Augen machen, lachte der Pfarrer treppauf, was da für ein Peterli kommt und was für ein Fass er euch vor die Füsse rollt. Mit unwiderstehlicher Kraft und Schnelligkeit gewann er die Vorlaube, achtete nicht auf die versteinerten Gesichter des Gesindes, schon zwei, drei verblüffte Jünglinge einfach mit dem Ellbogen von der offenen Saaltüre und sah nun, die Arme an die Pfosten gesperrt und die ganze Schwelle füllend, wie ein Goliath in den wolkigen, wilden Tumult.

Er hatte gedacht, es würde ihn eine Art Wut erfassen und er würde beinahe, wie Christus einst im Tempel, mit dem Stecken dreinschlagen. Aber nachdem er sein Auge an diesen tabakumnebelten Knäuel von Menschen gewöhnt und einzelne Personen daraus erkannt hatte, wie sie sich maschinenhaft, von einem törichten Trieb bewegt, plump und linkisch, mit leeren Augen uns tropfenden Gesichtern, in einer komischen, blödsinnigen Feierlichkeit, so ganz gegen die Elemente ihres Leibes und gewohnten Gehabens, im Saale herumwälzten, da dünkte ihn das Ganze so komisch, dass er laut aufgelacht hätte, wenn es nicht zugleich so erschreckend bemitleidenswert aussähe. Sieh, sieh, da ist auch die Lehrersfrau von Schwarzenboden, dort am Wandtisch schaut der Ilgenwirt zu, da streift der älteste Spätzlibub mit einer Unbekannten an ihm vorbei. Sie sind alle blind und erkennen ihn nicht. Der Dorfschreiber ist da, die Frau vom Spezereigeschäft, der er vor vier Wochen bei der Grippe die Sterbesakramente gespendet und die zehnmal im kranken Tag gelobt hatte, sie möchte, falls sie noch gesund würde, am liebsten stehenden Fusses ins Kloster gehen ... stehenden Fusses! Sticker Körnli, die Burliese, der alte Schmied und seine Tochter Karolina wackeln herum, der flotte Hugo Zellwig mit dem Goldflaum auf der Oberlippe und den kleinen, lustigen »protestantischen« Augen. Ist’s möglich, jetzt walzt der Kassierer des Kirchenrats an ihm vorbei, eine Kellnerin im Arme, und die gleiche fade feierliche Wichtigkeit auf der Nase, als wäre man auf dem Wege zum Heldentod oder zu einer Thronbesteigung. So ein alter Narr! Und der Bub da? Wahrhaft ein Unterrichtskind von der Bettener Mühle! Und sie kleben in Schweiss und Dummheit zusammen, ihre Lippen rauchen, ihre Nerven brennen, und ist doch alles kein Ernst, und der grobe sinnliche Fleischklumpen dreht sich, dreht sich und weiss weder warum, noch wie lächerlich er aussieht.

Und das soll eine so himmlischhöllische Versuchung sein! Dieses läppische, ewig gleiche, übelriechende Rundum und immer Rundum!

Nein, da konnte man nicht ergrimmen, da konnte man nur Mitleid und fast ein wenig Spott empfinden.

Die Geige, die über dem Haufen kommandierte, schien etwas Edleres als die Tänzer im Sinne zu haben. Es gab da hübsche Notenläufe und fröhliche Melodien. Das musikalische Ohr Carls fühlte das sofort. Es war, als wollte sie den Menschenklüngel da behender und geschmeidiger machen, zu feinern Schritten und vornehmeren Schwüngen erziehen, von Wucht und Schwere lösen, ihnen etwas Beflügeltes, fast Körperloses geben. Fürwahr, der Geiger dachte nicht so gemein, wie die Leute hier es verstanden. Aber was will er? Sie trugen grobe Schuhe und schwere Röcke, hatten dicke Knie und vom Sticken ein steifes Sitzleder, sie waren ein Volk, rauhknochig, von breiten Hüften und langsamen Hälsen.

Nichts als Gewichte vom Werktag und Müdigkeiten und Zinsschulden und mancher Hausverdruss hingen an ihnen. Die Kniebeugungen in der Kirche und das Falten der Hände und das Handgelenk beim Sticken und den Unterschenkel beim Pedaltreten, das verstanden sie gut, übten sie flott, ja, man kann sagen elegant. Aber beim Tanzen kam das nicht in Frage, hier tappten sie wie ratlose Säcke herum und die lockendste Geige konnte ihnen keinen Muskel elastischer machen. Merkten sie das denn nicht selbst auch? Klang ihnen das Geigen nicht wie Spotten und Auslachen ins Ohr? Es müsste doch! Die Hansnarren!

Aus dem Dampf und Geschrei hörte man nun ab und zu einen schwachen Ruf: Der Pfarrer! ... Wo? ... Wer spasst da? ... Aufgepasst, der Pfarrer! ... Ein, zwei Paare hielten an, aber der Hauptwirbel tummelte sich immer noch blind und wild am schwarzen Riesen im Türrahmen vorbei und merkte nichts.

Doch nun hob der Pfarrer den Stock hoch, mit dem er den Hund gebändigt hatte, und schlug damit laut den Takt. Eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei! rollte seine Stimme wie Donner in den Lärm. Eins, zwei, drei! ... eins, zwei, drei! kommandierte er und beschleunigte das Tempo von Ziffer zu Ziffer ... Schneller! Das ist nichts! Noch schneller! ... grollte es. Und diese Fleischmaschine gehorchte blindlings, wahrhaft, drehte sich, drehte sich wie eine Spule immer flinker gegen das Ende zu. Die Geige wurde jetzt von der Masse mitgerissen, sie wusste selbst nicht wie. Alle gehorchten sie wie willenlose Hunde dem Stecken an der Türe. Da lag denn doch in der Wiese ein anderer charaktervoller Hund! ...

»Eins, zwei, drei ... eilends, eilends, Leute!« donnerte der Pfarrer. »Es pressiert! Die Zeit ist kurz ... eins, zwei, drei ... eins, zwei, drei ... so laufet doch ... sonst sind der Tod und unser Herrgott doch noch schneller und nehmen euch am Wisch, verstanden.«

Jetzt brach die Geige ab, die Masse zitterte in halbem Drehschwindel noch ein wenig hin und her, bröckelte auseinander, stand blöde da, riss die Augen auf und fühlte es kalt bis in die Haare steigen.

»Verstanden, ihr tanzt ganz schlecht, ihr habt keine leichten Sohlen, es geht nicht schnell genug, der Tod ist schneller und der Herrgott schon gar, und sie überholen euch lachend, ihr armen, dummen ABC-Tänzer!« Und er schaute sie mit vollen Augen an und weidete sich an ihrer grenzenlosen Haltlosigkeit.

»Ich sagt’ es ja längst,« rief es jetzt aus der Saalecke, wo der Schül mit glänzenden Schnauzzipfeln auf einem Tischchen stand und mit der Geige fuchtelte, »das heisst nicht Tanzen, das ist kein Fluss der Glieder; wie Öl soll’s rinnen! Hier karrt es wie Steine über das Kies. Man muss sie erst dazu erziehen. Aber Geduld, Herr Pfarrer, ich und meine Geige zusammen bringen es schon fertig.« Er küsste das braune Instrument auf den Bauch und dann den Bogen und sah dabei aus wie ein Harlekin.

Er war der einzige, der die Situation nicht begriff. Alle andern verstanden den blutigen Scherz ihres Pfarrers nun sehr wohl. Sogar die ältern Männer an den Wandtischen, die nur bei ihrem Bier oder Most zugeschaut hatten, selbst der witzige Ilgenwirt und der Jasser Allenspach, der Hinker, wussten nicht, wo mit ihren Augen absitzen. Sie flatterten wie ruhelose Vögel herum.

Die Tanzleute jedoch standen da wie bei einem Verbrechen ertappt, das zugleich lächerlich war. Sie standen da wie genagelt und gewannen einfach keine Haltung. Der ritterliche Hugo Zellwig, dieser kecke, junge Protestant, den der Tadel am wenigsten traf, da er ja kein Schäflein Carolus’ war, sagte laut: »Ja, das war eine grosse Dummheit von uns allen!« und schob sich hinaus.

»Schweigt Ihr da hinten!« gebot indessen Carolus herrisch zum Schül. »Ihr seid mir der rechte Erzieher, mit Euern Räuschen, Schuldboten, Betteleien und anderem Sudel. Das Beste wäre, Ihr schlüget Euere Geige tot und würfet sie neben den andern Kadaver, der hinter dem Hause liegt!«

Totenstille ward. Nur klopfte allen das Herz überlaut. Ein Kadaver? hinterm Haus? Was gibt es noch?

»Und ihr alle, schämt euch vor eurer armen, nackten Seele, dass ihr da bei Nacht und Nebel wie Schelme zusammenkommt und euch von einem solchen Erzieher an der Nase herumführen lasset! Das ist eine Schule fürwahr, und ein Schulmeister!«

Man starrte Löcher in den Boden, trat von einem Bein aufs andere und hüstelte ein bisschen. Eine Jungfer fing an zu schluchzen.

»Lasset doch, liebe Kinder,« fuhr Carl schonlicher fort, »die Stadtleute tanzen, die Luftibusse, die Eleganten, und lasset sie dann auch einst recht elegant sterben! Ich glaube, wir verstehen lieber nicht dieses dumme Biegen und Beugen, aber liegen dann recht ungebogen in den Sarg und marschieren solid in die Ewigkeit hinüber. Der Schül dort mag sorgen, wie er hinübertänzelt. Wir sind Soldaten des Herrn und marschieren! In eine ernste Sache tänzelt man nicht, man marschiert!«

»Zum Zeitvertreib!« brockte nun der Ilgenwirt spassig ein, um seine Unabhängigkeit doch irgendwie zu markieren.

»Auch durchs Leben können wir nicht tänzeln,« fuhr Carl fort; »ein Narr, wer’s probiert! Als Kinder ja, aber jetzt tragt Ihr doch keine Kinderschuhe mehr, Herr Gemeinderat und Wirt zur Ilge!«

Alles dachte an die Plattfüsse des Quälers, und ein Sönnlein von Erleichterung wollte über der dumpfen Gesellschaft aufgehen, das zarte, leichte, rasche Toggenburger Sönnchen, noch genauer: Untertoggenburgersönnchen voll Helle und Humor.

»Meine Schuhe haben damit nichts zu schaffen,« trotzte der Simon Quäler ungeschickt und schob die Füsse unter die Bank; und nun wurden die Augen der Leute schon lustiger.

»Freilich, Eure Schuhe und alle unsere Schuhe! Unsere Stuben sind zu eng, unsere Bohlenböden zu knorrig zum Tanzen. Und unsere Toggenburgererde erst! Dura terra hat schon der alte Klosterchronist gesagt. Die ist so recht für grobe Schuhe, für Schaufel und Hacke, Pflug und Egge, aber nicht für Tanzsohlen gemacht. Und unser Leben ist streng, der Werktag schwer. Mit Zentnern geht man in den Sonntag. Da heisst es ruhen, nicht bis über Mitternacht mit Händen und Füssen für nichts als die Sünde und die Müdigkeit arbeiten und nachher blauen Montag machen. Zeitvertreib, sagt einer und merkt nicht, dass man damit nicht bloss die Zeit, sondern auch das Geld, die Gesundheit und Ruhe und Frieden vertreibt. Und wohlgemerkt: diese Zeit ist nicht vertrieben! Sie kommt einmal zurück wie eine Klägerin, steht böse vor euch, lässt sich nicht wegdrängen und vergiftet euch Leben und Sterben und Seligkeit.«

»Aber die Alten, die Frommen, haben doch auch getanzt,« rief eine kecke Frau, der das halbe Scherzen schon wieder den Leichtsinn zurückgab.

»Jawohl, unsere Alten, die Grossväter und Grossmütter,« brummelte man bescheiden. »Weiss der Gestrenge das nicht?«

»Wisst ihr, wie die getanzt haben? O damals war man noch klar im Schädel und man hätte über eine solche Wursterei ...«

»Hoho ... He! ... Herr Pfarrer!«

»Wursterei, ich wiederhole es, denn nichts anderes sah ich, als ich herzutrat, als alles zusammengeballt in einen Klumpen, und der drehte sich, rot und dick und wurstig ...«

»So wüst?« fragte eine weibliche Lippe beinahe schelmisch.

»Wie ich’s gar nicht sagen kann. Aber die Alten wussten noch, was artig ist. Ich will’s euch einmal auf Bildern zeigen, wie die tanzten. Es war eine Kunst, ein Spiel, ein Gemälde sozusagen und nichts als Würde und niedlicher Humor darin. Wir können es einmal in der Fastnacht spielen, es geht für ein Theater.«

Alles horchte. In der Tat, wie arg hatte man es vorhin getrieben. Die Weiblichkeit vor allem schämte sich. Sie erinnerte sich an die alten Trachten, die feierlich-steifen Figuren und wie der Jüngling vor der Jungfrau wie der Mond vor der Sonne geknickst, sie schüchtern umkreist und demütig an den Fingerspitzen zuletzt in der Runde geführt habe.

»Seit drei Monaten haben wir die wütende Epidemie im Dorf. Statt vier, fünf Personen, wie’s der Natur entspräche, musste ich sechzehn liebe Menschen in den Friedhof schaufeln. Glaubt ihr, die würden diesen Tingeltangel begreifen. Sie schüttelten die Ewigkeit aus den Augen und sagten: ja, aber Bruder, Schwester, Vetter, Base, was treibt ihr da? Wenn ihr gesehen hättet, was wir sahen!

Und wie viele meinten, als es über die vierzig Grad hinausging, es komme zum Sterben. Denen hätte ich nicht vom Tanze reden mögen. Aber heute seh’ ich ein paar solcher Vergesslicher da! Könnt ihr so schnell vergessen? Aber ich weiss einen, der nie vergisst!«

Man duckte sich wieder zusammen. Die Nonne in spe war nirgends zu sehen. Kein Widerwort wurde mehr laut.

»Ich bitt’ als wahrer Freund, tut euch und mir und unserer lieben Heimatwürde das nicht mehr zu leid. Geht jetzt heim! Ich will denken, ihr seiet wie die Kinder von Hameln gewesen. Der Rattenfänger dort habe es euch mit seinem Spiel angetan und ihr seiet wie Kinder ohne Arg und Falsch ihm nachgerannt. So will ich denken und Gott danken, dass ich noch zeitig dazukam, bevor der Verderber euch ganz betört und ins Elend gestossen hat, wie jener von Hameln. Ich gehe und glaube an euch, meine Lieben!«

Und im Gang wandte er sich nochmals um und rief: »Saget dem Löwenwirt, dass ich seine Dogge hinterm Haus erschlagen hab’. Ohne Spass, sie wollt’ mir an die Gurgel. Er soll mir die Rechnung schicken. Ich zahl’ ihm den vollen Schaden. ‘s war ein schönes, treues Tier. Aber saget ihm auch,« Carl wandte sich mehr in den Gang nach den offenen Küchen- und Kammertüren, wohinter der Wirt ja gewiss irgendwo zuhörte, »saget ihm weiter, dass er mir auch den Löwen seines Hausschildes lebendig entgegenschicken kann, ich bin der Hirte und weiche vor keinem Tier und keinem Menschen, wenn es dem Schutz meiner lieben Herde gilt! Das saget ihm. Und, bitte, kommt bald nach! Gute Nacht, liebe Leute!«

Die folgenden Tage herrschte eine ungewöhnliche Stille im Dorf, wennschon man vor den Wahlen stand. Carl legte es als demütige Folge seines Sieges aus, und wirklich blickten die Jungfern eingezogener, die Frauen stiller drein, und am nächsten Samstag war sein Beichtstuhl mehr als sonst von Menschen umlagert, die sich das Gewissen erleichtern wollten. Männer freilich sah er wenige. Sie schienen ihm auch in der Strasse auszuweichen. Sie genierten sich jedenfalls. Die Kirchgemeinde war wegen Unpässlichkeit Cornelis auf acht Tage hinausgeschoben. Carl sah das ungern. Der Eindruck seines glorreichen Streiches im Löwen zu Schwarzenboden würde so immer schwächer. Und gerade von diesem Streich hoffte er das Allergünstigste für die strittigen Wahlen.

Aber Pfarrer Carl Bischof war ein Held, ein Arbeiter, ein Organisator, aber kein Psychologe. Gerade das Gegenteil musste kommen. Als die Mannschaft an jenem Tanzabend nüchtern wurde, schämte sie sich, so widerstandslos geschlagen zu sein. Sie musste dem Pfarrer völlig recht geben, gewiss. Aber unrecht zu haben kränkt. Und wenn man einem das Unrecht noch so meisterlich zeigt, fast wie einem Kinde sein besudeltes Hemd! Sie sind doch Männer, selbständige Leute. Carl ist ihr Pfarrer, aber nicht ihr Herr. Der widerspenstige Geist, den die Toggenburger durch ihre ganze Geschichte gegen herrschaftliches Schalten fröhlich bewiesen, wurde auch in Lustigern munter.

Ja, der Pfarrer hatte leider recht. Aber für seine Kandidatur in den Rat und für das Hinausbugsieren des greisen Corneli konnte man ganz anderer Meinung sein. Da konnte er ebensogut unrecht haben. Jedenfalls lag es in ihrer Macht, Carl ins Unrecht zu versetzen, indem man die alten Räte alle wieder wählte und den Pfarrer so wegstimmte. Ja, das musste man auch. Er durfte nicht zwei Siege feiern, er würde zu mächtig. Eine Niederlage an der Kirchgemeinde würde seiner vollblütigen Herrschaftlichkeit gerade einen heilsamen Aderlass geben. Die Jungen also, auf die sich Carls Hoffnungen am meisten stützten, beschlossen abends von Stube zu Stube untereinander, für die nächste Amtsdauer noch einmal die Stimme den Alten zu geben. Die schlagen wenigstens keine Doggen tot und überrumpeln keine fröhliche Sonntagsgesellschaft und kapiteln sie nicht auf Tod und Leben ab. Sie husten und schnupfen und verbreiten Langeweile, aber sind am Ende doch leichter zu ertragen als ein gar zu kurzweiliger Pfarrer mit seinem famosen Taktstock.

Unter den Männern wiegelten besonders der Schül und der Ilgenwirt gegen den Pfarrer auf. Carolus sei ein Freudenverderber für Jung und Alt. Tanzen dürfe man, aber nur nach seiner Pfeife. Das übrige sei Todsünde. Und doch gebe es kein Kantonsgesetz, das den Tanz am Sonntagabend in geschlossener Gesellschaft verbiete. Der Carl Bischof fabriziere willkürlich solche Gesetze. Jetzt sitze er erst ein halbes Jahr im Dorf und habe schon alles drunter und drüber gebracht. Ein rechter Regierhafen! Den müsse man am nächsten Sonntag stramm an beiden Ohren nehmen und gehörig schütteln, bis sie kupferrot seien und es für ein paar Jährchen bleiben.

Nochmals eine Woche musste die Versammlung verschoben werden, da Corneli an einem starken Husten litt und leichtes Fieber hatte. Den Pfarrer ärgerte es, dass man so viel Rücksicht nahm. Es gab doch einen Vizepräsidenten. Auch die Frauen in den Stuben verdross dieses Hinausschleppen. Es sei kein Friede mehr, bevor die Abstimmung geschehen. Die eigenen Geschwister verzanken und verkratzen sich als Carolinger und Cornelianer. Zumal die gewissenhafte Frau Ida in her Ilge und Mili und Siria im Tälerhause quälten sich sehr. Sie bewunderten den Pfarrer, wünschten seine Wahl und dachten doch in einem hintersten Unterschlupf ihrer Seele, es wäre besser, Carl kümmerte sich um die weltlichen Sorgen und Ämter nicht und liesse den alten Corneli die letzten Tage friedlich in seinen Amtssesseln verbringen.

Es traf sich nun, dass der Ambrosiustag, dieses Glanzstück im kirchlichen und weltlichen Lustigernjahr, auf einen Samstag, gerade dem Wahlsonntag vor die Füsse fiel. Das war schade. Das Fest hatte nun nicht die schöne, fromme Unbefangenheit anderer Jahre. Die Politik entheiligte es ein bisschen. Es kamen auch wenige Nachbarsgeistliche. Man entschuldigte sich mit dem Samstag vor dem Marienfest. Der Festprediger freilich, jener lockige, junge Anselm mit »dem rechten Stil« erschien in einem so frischen, angriffigen Wesen, als wollte er die kühnsten Taten des heiligen Ambrosius übertrumpfen. Als er erfuhr, um was es sich morgen handle, summte er wie eine Hummel um den Studiertisch des Pfarrers herum. Dieser hatte eben ein Postpaket aus Zürich geöffnet. »Sie da, Anselm, was Lustigernkraft kann,« prahlte er; »das wäre ein Gedanke in deine Predigt. Der Johannes ist doch ein Tausendsassa. Wie der Bischof den Kaiser von der Kirchtür zurückweist, schau, da!«

»Prächtig! von Rubens!«

»Nein, von Johannes Täler,« korrigierte Carl stramm.

»Er hat den grossen Rubens studiert,« lenkte Anselm ein; »da tat er recht, es gibt nichts Besseres.«

»Rubens, ein Zürcher? etwa Professor an der Gewerbeschule?«

»Nein, nein, der ist längst tot. Und darum darf man sich ruhig an so einen alten Meister halten ... Aber hast du den Hergenröther? Gib her! Ich will die Szene mal nachlesen. Das könnte durch die Kirche blitzen, wenn ich dieses gewaltige Duo erzählte.«

»Blitze und donnere nur,« ermunterte Carl. »Wir brauchen eine grosse Luftreinigung.«

Aber es blitzte nicht und donnerte nicht.

Anselm predigte gut, freilich mit etwas zu viel Adjektiven und multiplizierten Kraftwörtern. Er sagte nicht Licht, sondern Glanzlicht, Rabenschwarzdunkel, nicht Dunkel, Strahlensonne, nicht Sonne, und so verlor die Sprache von selbst ein bisschen ihre Ursprünglichkeit und ehrliche Kraft, ähnlich wie ein Gipfel an Höhe einbüsst, wenn eine ganze Kette von ebenso hohen Spitzen in ununterbrochener Linie vorwärtsläuft. Aber seine Stimme war feurig, sein Satz hatte etwas quellend Saftiges, man horchte gerne zu.

Er zeichnete die Liebe zur Kirche breit und rauschend wie den Bischofsmantel des Kirchenvaters. Das gefiel. Dann zerrte er den Staat herbei, ein dünnes, knochiges, giftiges Männchen, das mit langen Fingerknochen in diesen Purpurmantel hineinzupft. Das gefiel weniger. Denn man lebte doch in diesem Staat, und war er nicht heilig und oft etwas lax, man konnte doch leben, katholisch leben und sterben und sogar, wie der Corneli, dabei noch ein Geldsack werden. Nun mahnte der Prediger, als stände ein Nero vor der Türe, sich gegen den verfolgungssüchtigen, christuslosen Staat geharnischt zu halten, und er erzählte mit dramatischen Gebärden, wie Theodosius, der gewaltige Kaiser, als er am Sonntag zum Gottesdienst wollte, von Ambrosius mit göttlicher Gewalt am Portal abgewiesen wurde, weil er mit blutigen Händen und unbussfertiger Seele eintreten wolle. Er liess ihn nicht ein. Er stiess ihn zurück. Er verriegelte die Türe.

Bei diesem Satz blickte alles nach Corneli, der im Kirchenpräsidentenstuhl sass und steif und hoch mit seinem Schneegesicht aus allen Sitzenden emporragte. Alles dachte an jene Minute, wo der alte Magistrat umsonst an der Kirchtüre gepocht hatte. Aber niemand dachte an einen gerechten Vergleich. Im Gegenteil, alle fühlten, wie dieser stürmische Redner unrecht tue, wenn er mit jener alten Episode an Cornelius erinnern wolle, an Cornelius, dem man die Türe vor der Nase zugeriegelt, nur um den Eigensinn mit den Beichtstühlen im Innern ungestört zu vollenden. Und diese Kleinigkeit will man mit der Tat des Ambrosius vergleichen! Den Carolus, versteckt hinter der Türe, mit dem Bischof von Mailand, wie er mit offener Stimme, aber voll Erbarmung zugleich dem grossen Kaiser und grossen Sünder sagt: erst reinige dich und tue Busse, dann komme!

Gerade das Gegenteil von dem, was der Prediger in besten Treuen wollte, ward erreicht: Der ungeheure Widerspruch zwischen den beiden verriegelten Kirchenportalen reizte und machte zornig. Alle Köpfe wandten sich nach dem Ammann, der noch um einen Gedanken blasser wurde und sich schwindelnd in die Stuhlwand zurücklehnte. Aber sofort setzte er sich wieder schroff auf. Denn sein gesundes Falkenauge bemerkte sogleich, dass in keinem der hundert Blicke blosse Neugier oder gar Vorwurf und Verurteilung lag, sondern alle schienen ihm gleichsam zu sagen: Mut, Ammann, wir wissen genau, wie es steht. Ambrosius ist unser heiliger Patron und du bist unser etwas karger und zurückhaltender, aber eben doch wohlgelittener und respektabler Gemeinde- und Kirchenpräsident, Amen.

Von diesem Moment an wusste Corneli, dass seine Sache morgen gut stand, und bei den gewaltigen Schlussworten der Predigt, dass doch jeder Zuhörer vor allem ans höhere Gut der Kirche denke, wenn er mit erhobener Rechter oder dem Stimmzettel seine Bürgerpflichten erfülle, wussten die meisten Männer bereits, welches grosse C sie auf ihr Papierchen schreiben würden.

Und doch hatte Anselm es so gut und fromm gemeint und so schön gesagt! Er hatte mit der Unschuld, der fröhlichen, draufgängerischen Unschuld der Tauben, aber nicht zugleich mit der evangelischen Klugheit der Schlangen geredet.

Die Geistlichen freilich hatten die grossäugige Erregung des Volkes und sein Hälsedrehen nach dem Corneli im klerikalsten Sinne aufgefasst, und beim Festessen erhob sich der Dekan Rütener, ein fast blinder und tauber, aber doppelt aufmerksamer Greis, und gratulierte dem neuen Ambrosius, der morgen den Theodosius vom wichtigen Präsidentenposten weisen werde. Er höre nicht gut und sehe nicht gut, aber es läute ihm in den Ohren und summe ihm durch den Kopf: Vivat Carolus, Pfarrer und Kirchenpräsident!

Kapitel 17

Den Sonntag des achten Dezembers, wer vergisst ihn je im braven, schlauen Lustigern! Wer rühmt nicht – und reisst dazu nach Lustigergewohnheit die Ärmel zurück, als gälte es einen Hosenlupf, – wer rühmt nicht, er sei dabei gewesen und habe zwischen dem Eisberg und dem Vulkan gestanden, geschwitzt und gefroren, aber zuletzt doch tapfer den Arm für seinen Mann erhoben! Wer sagt nicht zu den Kindern, sie sollen näher kommen; denn er müsse ihnen noch ganz insgeheim sagen, wie er den Riesenpfarrer weinen sah. Ein weinender Pfarrer, das sei schon seltsam; und ein weinender Riese sei noch sonderbarer. Aber nun beides zusammen, das gehe über alle Vorstellung.

»Wie hat er denn geweint?« fragt wohl ein Bethli. »Sehr laut?« Und der Hans Weber fügt hinzu: »Hat er etwa Blut geweint?«

»Fast gar Blut, so weh hat es ihm getan. Aber wir konnten und konnten nicht anders,« antwortet der Grossvater.

Es war nach langem Nebel ein erster milder Wintertag mit Sonne und lauem Südwind. Der Schnee an den fernen Gebirgen glitzerte mit zerschmelzender Silberfrische. Und man beging dazu das Fest der reinen Muttergottes im weissen Gewand und blauen Mantel und mit der Lilie in der Hand und der ganzen Liebfrauengüte des Himmels in den Blicken; der Mutter, die so viel durch ihren grossen Sohn vermag. Man hätte keinen bessern Tag zu einem Lippenkuss der ganzen Menschheit finden können.

Nach dem Hochamt wurde das Allerheiligste aus der Kirche in die Sakristei getragen und im hintern Schiff ein Tischchen mit dem grünen Armstuhl aus der Ilge für den Präsidenten hingestellt. Cornelius setzte sich gravitätisch hinein und eröffnete mit seiner trockenen, zerhackten, schwachen Stimme die Kirchgemeinde. Der Jahresbericht solle verlesen werden.

Da war nun kurz zu hören, was im Lauf des Jahres vorgegangen war. Besonders wurde die Anschaffung zweier Kirchenfahnen und das Tünchen der Sakristei, alsdann der Tod des vielgeliebten Zyrill Zelblein und sein stattliches Begräbnis erwähnt. Achtzehn Jahre habe er im tiefsten Frieden die Pfarrei geführt. Hier husteten zwei, drei mutwillige Jünglinge, senkten aber vor dem verweisenden Blicke des Ammanns sogleich die Stirnen. Dann habe der Bischof der Gemeinde den Gonser Pfarrer anempfohlen. – Carolus stand im Hintergrunde, neben dem Mesmer und dem Organisten, und spürte ungern genug, wie ihm bereits das Blut zu Kopfe stieg, und doch war noch nichts geschehen. Ein schwaches Ohrensausen kehrte immer wieder, so oft er auch mit dem kleinen Finger im Ohr grübelte.

Der Protokollführer, einen dicken Bleistift hinterm Ohr, las weiter den feierlichen Empfang und Gruss des neuen Pfarrers und kam dann auf die verschiedenen Sitzungen zu sprechen, wobei gesagt wurde, dass der Kirchenrat die Renovation des Zifferblattes am Turm gerne vornahm, dagegen die Versetzung der alten und die Anschaffung der neuen Beichtstühle an die heutige Tagung verwies. Durch bekannte Ereignisse sei dieses Traktandum nun hinfällig geworden und der Rat wünsche jede weitere Diskussion über diesen Fall ausgeschlossen. Ein Brief des Bischofs an das Präsidium sei Genugtuung genug.

Carl ward durch diese Bemerkungen, so würdig und kurz sie klangen, dennoch schwer gereizt. Es war ihm gar nicht eingefallen, dass ein Jahresbericht die alten Sachen aufwärmen werde, ja, ordnungsgemäss aufwärmen müsse. Es wurde Pfarrer und Kaplan noch ein warmer Dank abgestattet für die aufopfernde Seelsorge während der tückischen »spanischen Epidemie« und dann Umfrage gehalten, wer sich zum Bericht äussern wolle. Sogleich erhob sich der Pfarrer und sprach: »Den Dank konnte man füglich weglassen, wir taten einfach unsere Pflicht. Aber als ich die Beichtstühle ins Kirchenschiff setzte, auch da leitete mich einzig der kirchliche Sinn fürs Gute und Rechte, dixi!«

Eiskalte Stille folgte. Dann wurde die Rechnung genehmigt und Carl musste zum ersten Mal hören, dass das Pfarrgehalt um sechshundert Franken erhöht worden war, sowie er hierher gewählt wurde. Das würgte ihn ein bisschen.

Nun erhob sich Cornelius und erklärte, statutengemäss sei mit heute die Amtsperiode der fünf Räte abgelaufen. Es müsse der Rat neu bestellt werden und er gewärtige Vorschläge. – Der Sekretär mit dem Bleistift und einem Zettel machte sich unverweilt fertig, die Namen, die gleich Schwalben sofort in die Höhe schwirren werden, auf sein Protokoll herunterzuholen.

Aber eine Zeitlang blieb es noch still. Das übliche Gezwitscher liess warten. Endlich piepste eine schüchterne Stimme, fast wie ein unflügges Zeisiglein: »Thadee Spicht!«

Das war wohl abgekartet, dass man den harmlosesten der fünf alten Räte zuerst aufrief. »Thadee Spicht,« wiederholte der Sekretär und notierte gewaltig.

Aber jetzt rauschte es wie ein Adler empor: »Cornelius Bölsch, unser alter Präsident!«

»Pfarrer Bischof!« flatterte ein anderer Adler auf. – Der Ilgenwirt, Viktor Quäler! – Niklaus Thor! – Der Schmid Eisli! – Emil Weibel von der Säge. Wir wollen auch einen Jungen! – Der Organist Peder! Peder, der Organist!

Der Name dieses Alten war gewiss nur Spass. Aber Peder wurde ernst, drückte die Augen zusammen wie ein Huhn, wenn es gackert, sah in die Höhe und rief unverantwortlich unparlamentarisch: »Ich verzichte zugunsten des hochwürdigen Herrn Pfarrers!«

»Für mich braucht niemand zu verzichten,« kam es sofort dröhnend zurück. »Man stimme der Reihe nach über jeden Namen ab!«

»Aber ich will nicht in dem Ding sein,« schrie mit Lachen ein brauner Jüngling von wenig über zwanzig Jahren mit wundervoll lustigen, lichtverschlingenden, gelben Augen und einem Mund vol blutiger Rosen; »ich nicht! Streicht mich vom Bogen, Schreiber Mathis.« Und indem er mit dem rauhen braunen Finger auf den Organisten zeigte, scherzte er: »Ich verzichte zugunsten des Ammanns Cornelius!«

Dieser gescheite Mensch, ein Anführer der Jungen zu allen Drolligkeiten, war am Tanzsonntag in Wyla gewesen und hatte es seitdem hundertmal beteuert, wenn er dabei gewesen wäre, hätte das Ding einen andern Rank genommen.

Cornelius blickte gütig zum Leichtfuss und ein knappes Lächeln huschte wie Wintersonnenschein über seine kühle Amtsmiene. Alle mussten lächeln. So ein Witz! Einem, der sicher sitzt, noch einen unsichern Sessel anbieten! Der Spassvogel, der liebe!

Indessen Sekretär Mathis die Kandidatenliste ordnete, murmelten die Männer untereinander. Einige Buben guckten zur Haupttüre herein, und ein Naseweis rief: »Wer?« Aber der Mesmer jagte sie rasch hinaus und verriegelte das alte krähende Prunkschloss. Die Kirche, ohnehin ein hellfenstriger Bau, lachte voll Heiligkeit und Mittagslicht auf die schwarze Gruppe nieder. In der Mitte des Chorbogens stand aus grau gewordenem Gips ein Prophet und zeigte mit dem Finger in die Männer hinunter. »Wozu stimmen wir?« fragte Emil Weibel. »Der da oben weiss schon lange, wer in der Herde da der Bock, o pardon, wer Kirchenpräsident ist.«

Dem Pfarrer gefiel die Situation gar nicht. Das war doch die Pfarrkirche, und er war der Pfarrer und regierte hier durch das lange Jahr unumschränkt, sei es vom Altar, von der Kanzel oder vom Beichtstuhl aus. Er war das sichtbare Zentrum. Und jetzt? Im Hintergrund stak er, zwischen Organist, Mesmer, Läutmeister und einigen Kirchensängern, so ganz wie eine Nebensache. Aber in der Mitte stand ein grünes Tischchen und ein Armstuhl; darin sass ein Laie selbstbewusst und nickte und sagte Ja und sagte Nein und tat wie ein Herrgott. Das kann doch nicht das Rechte sein. Schliesslich geht es doch so oder so, im Span oder Block, immer um eine freie heilige Herrgottssache! Und er, er war ihr Verwalter. Mögen andere auf dem Dorfplatz kommandieren, andere auf der Landstrasse, in den Wirtschaften, im Schulhaus! Aber hier wenigstens musste er Meister sein.

»Schreiten wir denn zur Abstimmung!« erklärte Cornelius. »Was für ein Modus beliebt, liebe Kirchgenossen?«

»Was wollen wir da lange hin und her stimmen!« setzte Viktor Quäler ein. »Ich sehe viele, die noch einen weiten Heimweg haben, nach Schwarzenboden, Thurwies, sogar über den Wildberg nach Rindeln. Ihnen wird der Rest vom gestrigen Kirchweihessen kalt und schlecht, wenn sie lange warten müssen. Stimmen wir in Globo ab!«

»Wie in Globo?« fragte Corneli streng.

»Ich schlage einfach das bisherige Kollegium vor, die fünf vom letzten Jahr, in Kumelo, wie man sagt,« forderte nun Allenspach, der Jasskönig.

Sofort flogen viele Hände in die Höhe. »Jawohl! So soll’s sein! Das ist das beste und flinkste!« rief man durcheinander. »In Globo, die Alten!«

Dem Pfarrer wollte das Herz eingefrieren. Wie, so kurzweg wollte man über seine Kandidatur wegschreiten, wie über eine Leiche, die nie etwas Lebendiges war! weg damit!

Hilfesuchend schimmerten seine blauen Augen ins Mannsvolk. Redet denn keiner für ihn? Muss er’s selber tun? Aber wie übel geht einem an, pro domo öffentlich zu reden.

Doch, der Lehrer Flück streckte den Finger und erläuterte, ordnungsgemäss könne man den Antrag Allenspachs nicht mehr gelten lassen. Es seien bereits einzelne Namen, darunter auch neue genannt. Nun müsse man auf dieser Basis weitergehen und Kandidat auf Kandidat ins Treffen stellen, der Reihe nach, wie sie aufgerufen worden.

»Ein Salomon, nur nicht so kurzweilig,« sagte Emil Weibel halblaut. Der Corneli nahm die Kandidatenliste aus der Hand des Sekretärs entgegen und begann: »Gut! Wählen wir einzeln! Aber wie: wollt ihr offenes Handmehr oder Urnenabstimmung mit Stimmzettel?«

»Urne, Zettel!« brummelte es deutlich aus den rasierten Gesichtern. »‘s ist freier so!« Augenscheinlich fürchtete man sich, vor aller Augen gegen Carolus zu fechten.

»Ich persönlich,« bemerkte Corneli, »wäre für die alte offene Wahl. Aber das Kantonsgesetz gibt uns da Freiheit auch für die Urne. Entschliesset euch also.«

»Urnenabstimmung!« schrien jetzt viele Jünglinge.

»Liebe Leute, wozu das?« drängte sich nun der Pfarrer mit dunkelrotem Gesichte ein. »Ihr habt bisher immer offen gemehrt, ohne Furcht und Tadel. Es ist ja auch viel männlicher. Der Stimmzettel dünkt mich eine Feigheit. Er passt für Krämerseelen. Die erhobene Männerhand hingegen beweist Ehrlichkeit und Mut. Warum soll man seine Ansicht nicht zeigen und vor aller Welt vertreten dürfen. Ich schlage das Handmehr vor.«

Jetzt erwiderte Beat Weibel, der Vater jenes hübschen Schlingels, ein belesener, vermöglicher und ganz unabhängiger Mann von leisen liberalen Tendenzen: »Ich könnte nicht sagen, die Urne sei ein Gefäss für die Feigheit. Warum haben denn sogar die Kardinäle, wenn sie den neuen Papst wählen und ihrer kaum siebzig sind, doch lieber die Urnenabstimmung?« Fragend sah er den Pfarrer im Hintergrunde an.

Der streute sozusagen die zehn dicken Finger von sich und rief: »Das ist nicht das gleiche, da spielen höhere Gesetze mit!«

»Hm, höhere Gesetze! Aber das höchste, denk’ ich, heisst Treu’ und Billigkeit. Und das kommt hier in Frage.«

»Auch das Handmehr will nichts anderes!« schlug Carolus scharf ab.

Cornelius klöppelte mit dem Bleistift auf den Tisch: »Bitte, Herr Weibel hat das Wort!«

Schmerzlich verzog Carl seine rosenblättrige Lippe. Hier war ja alles gegen ihn verschworen. Nicht einmal den Mund öffnen soll man.

»Wartet einen Augenblick, Herr Pfarrer. Das Ding geht nämlich so: Ihr seid Priester, und vor dem Priester lupf’ ich tief den Hut. Aber hier geht es um keinen Priester, sondern um den ganz weltlichen Kirchenpräsidenten. Dazu braucht es keine Soutane. Der Ammann Corneli erzählt, dass sein Vorgänger, der Mimeler Franz, sogar im Sennenhemd die Sitzungen präsidiert habe.«

Corneli nickte lächelnd.

»Also ans Gewissen geht es in dieser Frage nicht. Und da sprech’ ich’s frank aus, ich stimme nicht für Euch, Herr Pfarrer, sondern den fünf bisherigen. Denn ich wüsst’ gar nicht, warum einen einzigen von ihnen vom Sessel werfen. Das wär’ nicht Treu’ und Billigkeit.«

Ein zustimmendes Gemurmel lief durch das Volk.

»Ich für mich werd’ fünfmal vor Euern Augen die Hand heben. Das offene Mehren geniert mich nicht. Aber nicht alle hier können das so leicht. Es braucht gar keine Feigheit, schon die Höflichkeit, der Respekt, die freundlichen Beziehungen zum Pfarrhof und dutzend besondere Anschauungen und weiche Gefühle genügen da, dass mancher es nicht überwindet und den Arm für Euch hebt, um Euch nicht weh zu tun oder zu missfallen, obwohl er viel lieber Euerem Gegner stimmen möchte und sollte. Nein, das ist nicht Feigheit, das sind oft die feinsten und im Notfall die kühnsten Menschen. Und darum nimmt die Urne so überhand und darum stelle auch ich sie in diese Abstimmung.«

Das Murmeln der Zustimmung wuchs. Alles schien gewonnen. Da bemerkte Corneli: »Ganz recht, aber ich gebe zu bedenken, dass es schon elf Uhr geschlagen hat, dass die offene Abstimmung in fünf Minuten vollzogen ist, während die geheime uns eine gute Stunde kostet. Ihr müsst siebenmal ... es sind doch sieben Kandidaten, Sekretär?«

»Sieben, Herr Ammann, jawohl, sieben!« erklärte der Schreiber.

»Siebenmal müsst ihr einen Zettel mit Ja oder Nein beschreiben und siebenmal müssen die Stimmenzähler diese Ja und Nein zusammenzählen und dann die Sümmlein miteinander vergleichen, so dass man die fünf Gewählten daraus entnehmen kann. Eine gute Stunde dauert das.«

Stille entstand, ratlose, verlegene Gesichter sahen sich an, bis plötzlich Viktor Quäler bestimmte: »Ich schlage die offene Abstimmung vor. Stimmen wir, bitte, sogleich über diesen Modus ab.«

Sechsundzwanzig Männern ging die Urne über das Mittagessen. Hundertzwanzig stimmten für das Handmehr.

Nicht die Lehren des Pfarrers, sondern der Appetit nach den Schweinswürsten mit Sauerkraut und Kartoffelbrei hatte gesiegt.

Carolus fühlte sich immer unbehaglicher. Da bin ich am falschen Platze. Der schlaue Fridolin dort vorne im Chorstuhl! Wie er den Vogelnestkopf ins mächtige Brevier steckte und gewiss seelenruhig die Lektionen der Genesis von der Schlange im Paradies las. Auf einmal überkam Carl ein ganzer Schwall von Reue, dass er sich in dieses Abenteuer begeben habe. Er sah zu den Engeln und Heiligen in Gips empor, aber nicht einer fing seinen Blick auf. Er dachte an Athanasius im Kampfe mit Konstans, an Basilius gegen Kaiser Valens, an Chrysostomus zu Byzanz, aber es wollte nicht recht stimmen, es flog nicht wie sonst der goldene Strahl des Heroismus aus jenen grossen Zeiten in seinen kleinen Tag und machte ihn froh. Eher überdämmerte ihn etwas wie Trauer. Eine Bangigkeit, es gehe in dieser Stunde etwas Grosses verloren, nicht der Ratsessel, o nein, etwas viel Grösseres, Geistiges, Heiliges, beengte ihm den Atem.

Er liess die Namen der Räte aufrufen, auch den seinigen, ohne selbst zu stimmen oder auch nur aufzublicken.

Aber es tat ihm doch wohl, als Eusebius wie der leibhafte Friede beim dritten Wahlgang vom Chor zu ihm hinunter füsselte, um offen vor der ganzen Gemeinde sein zartes Gelehrtenhändchen für Carl zu erheben. Dann zupfte der Kleine an seiner ungeheuren Nase, nickte ringsum und trippelte wieder von dannen.

Soll ich nicht auch gehen und diesen Leuten das liebe Fell lassen? Doch nein, beschloss Carl, ich habe den Posten bezogen, jetzt bleibe ich.

Er hörte bei jedem Aufruf die Ärmel rauschen und die Söhne von der Bettener Mühle, Hans und Werner, die ständigen Stimmenzähler, trocken rufen: sieben, acht, vierzehn, zweiunddreissig, achtzig, achtundachtzig! Dann raschelte der Bleistift über den Papierbogen, und das Aufrauschen und Abzählen begann ebenso trocken für einen weiteren Namen. Welche Stimmen und Sänge sind das, wo sonst das Gloria und das Credo jubilieren und die Vesper ihre ewigschönen Psalmenweisen spielen lässt. Nein, das Ganze ist nicht schön, gar nicht schön. Ich bin am falschen Platz. Ein Heimweh nach dem Altar und der Sakristei packte Carl wie noch nie. Welt, Welt, Welt! seufzte er für sich, wie bist du eine widrige Alte.

Vom Tischchen verlas der Schreiber:

»Thadee Spicht, hundertzwanzig Ja,

Cornelius Bölsch, hundertzweiundneunzig,

Carl Bischof, siebenundachtzig,

Viktor Quäler, hundertdreiunddreissig,

Ignaz Eisli, hundertsechsundvierzig,

Emil Weibel, hundertdrei,

Niklaus Thor, hundertachtzig ...

Es sind somit gewählt Cornelius Bölsch, Thor, Eisli, Quäler und Spicht, also die bisherigen.«

Diese Zahlen hatte Carl verstanden. Siebenundachtzig! Alle andern erhielten drei Ziffern, der Corneli mehr als das doppelte. Der eigene Pfarrer nur siebenundachtzig!

Eusebius hatte ihm gesagt: Carl, wenn du unterliegst, dann sei klug! Mache aus deiner Niederlage nicht zwei verlorene Schlachten, sondern benimm dich freundlich, ruhig, lächle über solche Gunst und Ungunst, brenne einen deiner guten Witze ab und du machst aus der Schlappe einen Vorteil. – Und Carl hatte sich stramm vorgenommen, genau danach zu handeln, weil es das einzig Weise wäre. Aber nun beim Klange dieser dürren Siebenundachtzig und dieser fetten Hundertneunzig, als nun die übrigen vier Räte sich um den Corneli scharten und kollegial einander die Hände schüttelten, als vier Sessel weiss Gott woher gebracht wurden und sie alle sich bequem hineinhockten, da übernahm es das Temperament Carls. Ohne erst das Wort zu verlangen, mit einer unbedingten, herrschenden Stimme, wandte er sich an die Männer und donnerte: »Ich gratuliere den Wählern und den Gewählten. Den Pfarrer habt ihr nicht gewollt, ihn, der euch am ersten Tag an dieser Kirche empfängt und mit euch den letzten Schritt zum Grabe tut. Der Pfarrer darf nicht Kirchenrat sein, er, der von allen Menschen euch am besten raten kann. Er, der sozusagen in der Kirche daheim ist, soll über diese Kirche nicht raten und taten dürfen, viel lieber ein Ilgenwirt, der so spät hineinspringt und so früh herausrennt, dass niemand dächte, er habe an diesem heiligen Gottesbau das kleinste Interesse. Ich aber habe von euch allen das grösste Interesse daran. Jeder Stein ist mir lieb. Auf jeder Platte möchte ich knien, jede Stufe zum Chor möchte ich küssen, an der Kanzel, am Beichtstuhl, an den Altären klebt meine Seele so innig wie meine Augen und mein Mund an meinem Leibe haften. Von dieser Kirche und von der Sorge für sie könnt ihr mich nicht wegstimmen, und wenn ihr mir hundertmal den Ratssessel weigert. Nicht am Sessel, an der Arbeit und Liebe für unser Gotteshaus zeigt sich, ob einer wirklich Kirchenrat und nicht vielmehr ein Kirchenratlos ist. Jeder, der für das Gotteshaus gerne sein Scherflein tut, ist mir ein echter, rechter Kirchenrat, auch wenn er nicht zu den Fünfen gehört. Und jeder, der für den Glanz und die Ehre des Gotteshauses kargt und geizt und den Rappen dreht, ist mir ein Kirchenratlos, auch wenn er zu den Fünfen gehört. Und nun gesegnete Arbeit!«

Mit vier grossen Schritten erreichte er das Portal. Seine grossen blauen Augen standen voll Tränen. Dienerhaft gebückt riegelte der Mesmer das Schloss auf, die Flügel knarrten auseinander, ein Haufen Buben stob nach allen Seiten davon, majestätisch schritt Carolus auf den Platz hinaus, ohne das übertropfte Gesicht auch nur abzuwischen, schritt hinaus, nicht wie ein Kirchenpräsident, sondern wie der Präsident aller Kirchenpräsidenten. Aus allen Fenstern zurückweichend sahen hundert neugierige Weiberblicke ihm nach, bis er in der Pfarrhaustüre verschwand.

Die Versammlung stand einen Moment da wie vor beide Ohren geschlagen. Es toste und stürzte ein siebenfaches Echo des Gehörten durch ihre Seele. Erst als die kühle, fast heisere Stimme des Corneli bat: »Fahren wir weiter! Wahl des Präsidenten!« besann man sich auf die nüchterne Wirklichkeit. Im Nu ward Cornelius im Vorsitz bestätigt, und man hörte ihn zum neunundvierzigsten Mal das stereotype Sätzlein herunterhacken: »Ich lade die Herren Kollegen, den Sekretär und die Stimmenzähler zu einem einfachen Mittagessen in die Ilge ein.«

Still verzog sich das Volk. Das Schiff stand leer. Aber der bartgewaltige Prophet streckte immer noch unheimlich den Finger durch die Einsamkeit hinunter, nach jener Stelle, wo Corneli oder wo Carolus gestanden, wer weiss es genau? War es vielleicht der Prophet Jonas, den man, um den Sturm zu beschwichtigen, aus dem untergehenden Schiff in die Fluten warf? Und zeigte er nun auch, wie man es ihm einst getan, nach dem Schuldigen, um dessentwillen die steten Gewitter wüteten und Lustigern in Not brachten? »Diesen werfet hinaus!« Welchen aber meinte der Finger? den kalten, verwitterten Corneli? oder den frischen, heissen Carolus? Wer von den beiden muss geopfert werden?

Kapitel 18

Seit den Wahlen dünkte es Carl, als ob die gewöhnlichen Dorfleute, besonders die in Zopf und Rock ihn mit viel liebevollern Mienen begrüssten und ihm mit viel wärmeren Blicken nachschauten, gerade als möchten sie für das Unrecht der schroffen Ehemänner Abbitte leisten. In ganzen Monaten ward ihm nicht so viel Nickel ins Haus geschickt, wie jetzt in wenigen Tagen dickes rundes Silber, immer mit dem hübschen Spruch: »An die Bedürfnisse der Kirche! nach Ihrem Gutdünken, Hochwürden!« Carl sagte sich, der tiefere und bessere Teil des Volkes, die eigentliche Dorfseele, hange doch fest an ihm. Hübsch und schlau erklärte er in der nächsten Predigt, die Kirche sei wie ein grosses Haus, ein Volksheim, das gleich jeder Bürgerwohnung seine vielen Bedürfnisse und Unterhaltskosten habe. Niemand merke sie schneller als der Geistliche, indem er ja immer drin und drum herum sei. Und wie man ein altes Haus etwa wieder aufrüste, befestige, übertünche, ja sogar erweitere und erhöhe, dass es dem gegenwärtigen Tage und der Ehre des Eigentümers besser entspreche, so dürfe ach das Gotteshaus zum mindesten so viel für sich beanspruchen, zur Freude der Hauskinder und zur Glorie des Hausherrn, das ist, des ewigen Gottes. Man wisse, dass er zu diesem edeln Zwecke eine sogenannte »Freiwillige Kasse für die Bedürfnisse der Kirche zur Verfügung des Pfarramts« gestiftet und bereits auf einige tausend Franken geäuffnet habe. Freiwillig heisse die Kasse, weil jede erzwungene Gabe ein Unsegen wäre. Da sei von keiner Steuer die Rede. Man könne geben oder nicht geben. Der Fünfräppler werde so fröhlich wie der Fünffränkler angenommen.

Auch die Bezeichnung »zur Verfügung des Pfarramts« enthalte nichts Verfängliches. Damit wolle dieses heilige Geld – ja, er wiederhole: heilige Geld, denn es diene einzig dem Dienste des Herrn – allen profanen Einflüssen entzogen werden. Politik und Laune des Laientums könnten sich so nicht einmischen. Kontrolle? Sein Gewissen sei Kontrolle genug. Wer ihm nicht traue, von dem möchte er keinen roten Rappen. Übrigens wäre es doch sonderbar, wenn das Dorn ihm sein Kostbarstes, die eigene Seele, aber nicht eine Schachtel voll Münzen anvertraute. Wer es gut und vertraulich meine, dem gebe er auch gern über das Wachsen und Wirken dieser Gelder jeden beliebigen Aufschluss.

Aber er versichere, die ganze Gemeinde werde Freude an diesem stillen, für die Ehre Gottes allein zinstragende Kapital haben.

Sogleich begriff Cornelius, dass ihm und dem Kirchenrat damit auf die Karte vom letzten Sonntag ein gewaltiger Gegentrumpf ausgespielt werde. Allerdings, von nun an wird sie die Kirche nicht mehr viel kosten. Der Pfarrer zahlt alles. Aber schliesslich fliesst es doch aus den Taschen der Kirchgenossen, ganz wie die Steuer, nur reichlicher und leichtsinniger und aller gesetzlichen Aufsicht entzogen. Zuerst wird der Pfarrer Statuen vergolden, Altäre schmücken, Wände bemalen lassen, dann fängt er an zu graben und zu hämmern, zu bauen. Und wir fünf Räte schauen zu, wie das Oberste zu unterst gekehrt wird und am Ende eine neue Kirche entsteht, und haben kein Wörtlein dazu zu sagen.

Er kaute an seiner Brotrinde und überlegte, ob es nicht besser wäre, der gesamte Rat legte im Angesicht einer solchen würdelosen Zukunft das Amt mit einem feierlichen Protest nieder. Aber da stand doch immer als letzte Instanz noch die Kirchgemeinde da. An sie konnte der Rat in jeder Not appellieren. Wenn Carolus zu kühn würde und Dinge unternähme, die gemeiniglich ohne den Kirchenrat unzulässig sind, dann riefe man das Volk zu Hilfe und es würde helfen wie am letzten Sonntag.

Nein, man darf diesem Pfarrer das Feld nicht überlassen. Er risse alles an sich. Man muss klug und still wachen und im rechten Augenblick zum rechten Schlag ausholen. Aber welches ist dieser Augenblick? Soll man schweigen, wenn er den Ambrosius an die Wand malen lässt? wenn er neue Chorstühle einstellt? immer noch schweigen? Wann fängt dann das Brummen, wann das laute Verbot an? Erst wenn er Kapellen errichtet, den Kirchturm höher baut, das ganze heimelige Dorfbild umgestaltet? Wo ist da die Linie zwischen Schweigen und Reden, die juristische Grenze? Keine, gar keine Grenze gibt es. Nichts darf ohne uns geschehen. Aber wir sind gutmütig. Wir verschlucken die Mücken. Aber wenn dann Hornissen kommen, nein, guter Carl Bischof, dann schlucke sie selber!

Ende Advent schrieb der Pfarrer an Johannes in Zürich: »Dein Bild, wie der Bischof dem Kaiser den Weg in die Kirche versperrt, ist ganz nach meinem Geschmack. Man sagt, Du habest den Niederländer Rubens hiezu studiert. Ganz recht! Studiere auch Raphael und den frommen, herrlichen Paul Deschwanden von Stans. Ihre religiöse Malerei kann Dich mächtig fördern. – Und mache Dich bis aufs Kleinste fertig, damit Du das Bild in den Osterferien prompt und in leuchtenden Farben über unser Kirchenportal hinmalen kannst. Ich zahle Dir achthundert Franken für die Arbeit, sobald Du den letzten Pinselstrich getan hast.

Nur um eine kleine Änderung komme ich ein. Ambrosius scheint mir zu gebrechlich aufgefasst. Wie müd ist sein Nacken. Man glaubt, ihn vor Alter zittern zu sehen. Korrigiere hier Deinen Rubens! Richte den Bischof noch einige Zoll auf und drücke den Kaiser noch um eine Idee tiefer! Man soll sehen, dass wir stark genug sind, einer ganzen Welt voll Theodosiusse und Corneliusse zu widerstehen. Nur dieses ändere! Alles andere stimmt prachtvoll.

Lieber Johannes, strebe in Deiner herrlichen Kunst unentwegt vorwärts! Noch viele Kirchen und Altäre warten auf Dich! Du sollst unser Fra Fiesole sein. Das war doch jener fromme, eifrige, seelenreine Malermönch in Florenz, den man heute noch so glühend bewundert. Aber um wo rein und heilig zu malen, muss man auch im tiefsten Wesen lauter sein. Fast möchte ich sagen: Johannes, sei keusch wie ein Mönch in diesem Babelzürich! Vor allem, meide den schlüpfrigen Wandel des jungen Quälers! Da würde Dein Denken und Können sich heillos verdrecken. Sei lustig, verkehre mit heitern Kameraden, aber lass die Mädchen! Mit Deinen achtzehn Jahren bist Du noch viel zu grün dazu. Sind es nur Spielereien, siehe, so ziehen sie Dich von Deinem tüchtigen Schaffensernst ab. Ist es mehr, so reisst es Dich unwiderstehlich ins Elend. Dünkt Dich der Sigi etwa ein glücklicher Junge?

Mir scheint, Du bist ein kühler Bursche, hast gern Deinen Spass, Dein Glas, Deine Zigarre und fertig. Da gratulier’ ich Dir dazu. Hast viel minder Not im Leben.

Das Mili hängt sehr an Dir. Das merkt man fast zu deutlich. Aber ich bitte Dich, übereile auch da nichts. Man sollte nicht meinen, was die Jungfer unter aller Ruhe für eine Wespe ist, hitzig und angriffig. Ich bin sicher, sie steht heimlich auf Cornelis Seite. Der Heli hat bei den Wahlen gegen mich gestimmt. Da steckt das Mili dahinter. Er für sich wäre gar nicht zur Abstimmung gekommen. Ich nehm’ dem guten Kind nichts übel. Es weiss es nicht besser und leidet selbst dabei. Meiner Peregrina ist es unentbehrlich geworden, ihr Dornröschen, Schneewittchen und Rotkäppchen zusammen. Mit solchen Namen schmeichelt sie ihm. Dann für’ ich bei: und eine Hexe dazu, eine ganz famose Hexe! und schaue sie ernst an. Und sie schaut mich ebenso ernst an, und wir kämpfen, wer zuerst das Lid niederschlagen müsse. Wahrhaft, oft bin ich es. Das Alter, Johannes, das Alter! Und wie ich hier ins Klatschen gerate! Noch einmal das Alter. Also Gott mit Dir, halte die Finger und die Lippen rein und bleibe der junge treue Maler Deines Seelsorgers Carl Bischof.«

Es war ein früher, föhniger Winterabend, als Johannes den Brief las. Neben ihm auf dem Sofa ruhte ein wildfremdes Mädchen. In einem Fauteuil gegenüber schmauchte Sigi seine teuren Queenzigaretten. Man sass in seiner Bude; sie sah mit zwei Fenstern und einem Balkon in die graue, rauchende Limmat hinaus. Jenseits tauchten wie Schemen der Peter- und Fraumünsterturm auf und zerflossen im Dunst.

Johannes war schnell heimisch in Zürich geworden. Nicht eine Minute zwickte ihn das Heimweh. Schon beim Erwachen am ersten Morgen wusste er klar, dass die Stadt vor dem Fenster harrte. Er fing auf und fing auf, aber gab nichts von sich. Im Nu hatte er auf Sigis Rat tanzen gelernt, vortrefflich tanzen, ohne daran Gefallen oder Missfallen zu finden. Er hatte Bälle, Theater, Cafees dansants besucht, am Gefärbe und Geräusch des Neuen sich belustigt, mit allerlei zweifelhaften und zweifellosen Mädchen gespasst und ein seltenes Mal getanzt, aber im übrigen alles an sich wie an Wachstuch abrinnen lassen. Das war nicht seine Tugend, sondern seine Natur. Am liebsten wäre er allein, ohne die aufpeitschende Unterhaltung Sigis, an einem Tischchen der grossen Restaurants gesessen, hätte einen Likör und einige Süssigkeiten genossen, die kühnen Reklamebilder an den Wänden und den Goldglanz von Spiegel und gelben Seidentapeten im Gaslicht betrachtet, die Bewegungen der tausendfältigen Gesellschaft studiert, ein scharfes Herrengesicht, ein naives Kindsköpflein, einen steifen, hochfahrenden, engen Oberkellner in seiner glänzenden Bartnacktheit sich eingeprägt und von all dem etwas aufs Konzertprogramm gezeichnet, das man ihm vorlegte. Das äusserlich Vornehme und fast klassisch Hübsche seiner Figur und vor allem seines schmalen, kühlen Marmorgesichtes täuschte alle, auch die erfahrensten Angestellten. Man verneigte sich vor dem lässigen Herrchen, als wäre er nicht der hablose Stickerbub des Tälers, sondern ein feudaler Spross aus uraltem Hause.

Aber auch die Mädchen guckten ihm nach, nicht etwa nur jene erwerbsmässigen, die um jeden Köder herumriechen, sondern auch jene wilden, lustigen, die das Rechte suchen und immer das Unrechte finden, und jene stillen, durstigen Geschöpflein noch ganz besonders, denen die Schüchternheit oder die Vornehmheit oder der Anstand nicht erlaubte, offen in zwei schöne Knabenaugen zu schauen. Johannes merkte das alles, aber es härtete ihn von Tag zu Tag nur immer mehr ab.

An das Mili dachte er kaum anders, als wenn er seine schmutzige Wäsche heimschickte –, sie war übrigens nie schmutzig, sondern nur verbraucht, vertragen – und wenn er die saubere Wäsche mit einem ebenso sauberen Brieflein empfing. Doch diese Briefchen waren kurz. Sie erzählten ganz knapp, wer geboren wurde, heiratete, starb, wie man wählte, an welchem Muster Heli stickte, was jetzt über Stück- und Stundenlohn verhandelt wurde. Dann sah er das Dorf und sein Haus. Aber ohne Mili. Mili war nicht zu sehen. Von sich, von ihrer mächtigen Sehnsucht und Hingabe zu ihm hörte man keinen Ton. Eine anders als Mili schien den Brief geschrieben zu haben. Aber ihm war es so recht. Oft legte er einen Zettel in die Wäsche, mit fünf, sechs lustigen Sätzen und Neckereien, und dann waren diese Zeilen viel wärmer als diejenigen Milis. Oft aber schrieb er nichts dazu. Nur Sigi erinnerte ihn in der Zwischenzeit ans »Schätzchen«. Aber es fiel ihm nicht auf, wenn der Student sagte: »Schau, hat das Fräulein dort nicht einen Gang wie Mili, so, ich weiss selbst nicht wie, über den Boden hüpfend? nur nicht so behend!« ... oder: »Das Mädchen dort rechts an der Mauer, hat es nicht die Augen und Brauen von Milmili? nur etwas zahmer!« ... Und das zauberische Kosewort des Dorfes schwebte über die vornehme, städtische Gesellschaft im Theater mit ihren Fächern, Schminken, Pudern und Geruchwässerlein, mit ihrem gekünstelten Getue und unwahren Lachen und Seufzen, schwebte von den verbrauchten Lippen Sigis zu den Wölbungen des Theaterhimmels empor, und der grosse Schubert, dieses Wunder von Musik und Natürlichkeit, lehnte am oberen Prunkfenster und liess das Milmili mit seinem ganzen ländlichen Zauber in die Freiheit hinausflattern und wäre am liebsten mitgeflattert. – »Da vorne geht eine Demoiselle; die hebt den Kopf mit dem gelben Haar exakt wie das Mili. Nur ist der Hals nicht so weich.« ... »Ach, so lass doch das Mili sein,« schnauzte Johannes oft gelangweilt. »Schau lieber, was das für ein Patriarchenbart ist, da, in der zweiten Reihe hinter uns! oder die grosse Frau dort am Gesimse, welch einen Pelz trägt die, wie eine Kaiserin!«

»Ach was,« schimpfte dann Sigi, »du siehst nur das Überreife.«

»Und du nur das Unreife,« hieb Johannes zurück.

Aber sie waren ausgezeichnete Freunde und bildeten wirklich ein hübsches Paar. Dunkles heisses Gold und helles kühles Silber flossen da ineinander.

Nun hatte Sigi den Kameraden heute auf seine Bude bestellt. Unter der Türe gab der Briefbote dem Johannes das Schreiben des Pfarrers. Doch vor Wind und Schneegestöber öffnete Johannes nicht einmal den Umschlag. Ein Mädchen bei Sigi zu treffen, war ihm nichts Auffallendes. Aber dieses Mädchen und diese Sorte von Mädchen hatte Johannes hier noch nie gesehen.

Es war schmal und samtig im Gesicht, gewiss erst siebzehnjährig, aber zeigte grosse graue, erfahrene Augen. Mit dem schwarzen Haar lag es müde auf dem Sofakissen, atmete flink und vergrösserte und verkleinerte die Löcher seiner hübschen kleinen Nase bei jedem Atemzug auffallend. Mit grosser Neugier, ohne den Kopf zu heben oder zu grüssen, betrachtete es den Besuch. Sein kleiner Mund war entzückend geschwungen, seine Wangen wie Pfirsiche. Aber auf der Stirne zuckte und zwickte es merkwürdig, wie von unsichtbaren Geisselhieben hin und her. Ihr Kleid war von gutem grünem Stoff, aber abgetragen. Ein Ärmel schien soeben aufgerissen.

Es lag in Johannes’ Art, kein Staunen zu zeigen. Aber diesmal staunte er unwillkürlich. Darum zog er den Brief Carls hervor und sagte: »Lass mich schnell lesen, was der Pfarrer von meinem Bilde schreibt. Das wundert mich jetzt heillos.« Und so las er und lächelte nur einmal, bei der Warnung vor den Mädchen, da er nun doch gerade neben irgendeinem von der Strasse aufgelesenen Dirnlein sass und dessen Augen wie vorsichtige dunkle weiche Falter sehr wohl auf seinem Antlitz absitzen fühlte.

Sigi hatte einen geöffneten, fertig gepackten Handkoffer neben sich. Auf dem Tische lagen grosse Bogen Papier, stellenweise von zwei, drei Zeilen kreuz und quer durchschrieben.

Als Johannes vom Briefe aufschaute, ertappte er gerade das Mädchen, wie es ein Lächeln formte und dem Sigi schwach zuwinkte, so etwa, als sagte sie: fast glaub’ ich, der da ist der rechte; ja, den meine ich!

»So,« machte Johannes gedehnt und wollte sich ein wenig strecken, aber unterliess das sofort, da ihn das halbliegende Geschöpf beinahe mit den Knien berührte, »so, der Pfarrer möchte den Ambrosius noch steifer haben. Er soll stehen wie ein Turm.«

»Jetzt lass deinen Ambrosius, da sitzt oder liegt eine Ambrosia, und das ist zur Stunde viel wichtiger.«

Johannes sah wieder neben sich auf das junge Geschöpf mit der merkwürdig durchpeitschten Stirne und zwei wie zu einem steten Kuss zusammengeschwungenen Lippen.

Sobald sie den Mund nur ein wenig verzog, blitzte ein einzelner unregelmässiger, heillos vorlauter Zahn hervor. Sie antwortete auf seinen Blick mit einem schwachen, unwissenden Lächeln und blieb ruhig liegen.

Das ist doch merkwürdig, dass sie nicht einmal aufsitzt. Ist sie denn krank? dachte Johannes. Und warum stellt Sigi sie mir nicht ordentlich vor? ... diese Ambrosia!

»Höre Hans,« fuhr dieser fort, »ich muss nun doch heim, obwohl wir ausgemacht haben, über die Weihnachtsferien hier zu bleiben. Eusebius zeigt mir nämlich auf morgen abend eine ‘kleine historische Zusammenkunft’ in seinem Giebelhaus an. Es handelt sich da um die alten Fragen, zum ersten, ob Carlo Borromeo die Lustigernstrasse nach St. Gallen benützt habe? dann, wo im Toggenburg der langweilige Erzherzog Sigismund übernachtete, als er von Einsiedeln nach St. Gallen fuhr? und drittens und vor allem, ob Notker unumstösslich sicher auf unserem Thurstotz geboren wurde, ob da sein Stammhaus lag? Das ist der wichtigste Punkt, denn mit dem Stammler will ich doktorieren. Nun kommt der famose Hobis zur Sitzung. Der hat das meiste Material über diese Frage beisammen. Dann macht noch mit – öffne das Ohr respektvoll! – ein armer Zimmermann aus Nazareth, ach was, irgendwo vom Bodensee her. Der war sein Lebtag in unsern Notker verliebt und gilt unter den Lustigern als ganz Grosser, obwohl er nie eine Zeile, nicht einmal seinen Schreinernamen gedruckt hat. Schliesslich wird auch Pater Odo von Einsiedeln mit einer Mappe voll Urkunden dabei sein.

Du siehst, eine hochwichtige Zusammenkunft! Ich muss unbedingt mitmachen und die alten Hefte meines Uronkels beisteuern. Und da wir nun übermorgen schon Heiligabend feiern, so wär’ ich doch ein Heide, unserem Christkindlein davonzulaufen in dieses gottlose Zürich hinunter. Ich muss in Bethlehem bleiben und drei, vier Tage schön tun. Verstehst du! Dann aber komm’ ich spornstreichs zurück.«

»Da könnte ich,« bemerkte Johannes kaltblütig, »gerade auf einen Katzensprung mitkommen.«

»Und das hübsche Bettelkind da?«

Die sogenannte Ambrosia hatte hin und her die Gesichter der Jünglinge scharf beobachtet. Johannes wunderte sich nur, wie ungeniert Sigi vor ihr rede. Bettelkind! – Dass die kleine Bleiche nicht entrüstet auffährt!

Sigi bemerkte das aufsteigende Befremden des Johannes und lächelte fast tückisch. »Dieses arme Mädchen kann ich nicht in den Schnee hinausjagen. Schon vier Tage bleibt es abends hier.« Er zeigte auf ein zweites Sofa in der hinteren Ecke, das mit Decken und Kissen wie ein provisorisches Bett zugerüstet war. Johannes verzog die schmalen Lippen und lächelte eisig.

»Das ist kein Flirtstücklein, weiss Gott nicht,« fuhr Sigi fort. »Ich gab ihr ein paar Küsse, das ist alles. Sie beisst hinten und vorn wie ein Skorpion, pass nur auf!«

Das Mädchen lächelte zwar ganz leise. Aber man konnte aus ihren rätselhaften Augen doch nicht erraten, was sie dachte, ob sie eigentlich zuhörte oder nicht. Indessen schien sie sich auf dem Sofa behaglich zu fühlen. Sie zog die Füsse herauf und kauerte sich wohlig zusammen. Wahrhaft, sie trug Sigis weiche rote Samtpantoffeln.

»Ich sah sie früher einigemal. Diese Augen und dieses Mäulchen kann man doch nicht leicht vergessen. Aber sie huschte wie ein grüner Schatten vorbei. Immer trug die dieses grüne Kleid. Und sie war flink, Donner noch einmal! Und man konnte noch so süss pfeifen, noch so verständlich hüsteln und zuletzt noch so hitzig fragen, sie schüttelte diesen schwarzen Flatterkopf da und gab keine Antwort.«

Johannes musterte das Kind nochmals. Warum liess es den Sigi so frech reden? gab kein Ja, kein Nein? Hatte er es so gebändigt? Auch das Mädchen sah ihn sozusagen befriedigt an, und so oft seine dunkelgrauen Augen auf ihn fielen, war ihm, es gingen grosse feuchte, warme Schatten über sein Gesicht. Wäre er nicht ein so nüchterner Bursche gewesen, er hätte bald an ein Märchen glauben müssen.

»Dann wechselte ich die Bude. Andere Budien, andere Studien! Aber jüngst sah ich die Ambrosia wieder und wie? Ich spazierte nach neun Uhr zum Zeitvertreib in jenen Vierteln, wo ihr Künstler sagt, es sei malerisch, und wo unser Carolus die Nase verhielte und schimpfte: es sei unmoralisch. Ich bummle gern dort, studier’ ich doch Sozialökonomie ... Gib mir eine Zigarette aus dem Etui, so, ah, das zieht! ... Ach, was wäre der Student ohne Zigaretten. Wenn selbst die Mädchen nicht mehr anbrennen wollen! ...«

»Du faselst mir da einen Quatsch zusammen, aus dem niemand klug wird. Lass einmal das Fräulein selbst reden!« Einladend wandte sich Johannes gegen die Kleine.

»Es ist taubstumm!«

»Was?« Erschreckt sah Johannes das Jüngferchen an.

Sie merkte genau, wovon die Rede war und jetzt, unter Johannes’ kalten kieselgrauen Blicken, rötete sich ihr Gesicht. Bis zur zierlichen Nasenspitze! Zum ersten Mal schloss sie die Augen. Angestrengt zuckte es über das gewölbte Stirnlein.

»Höre weiter! Irgendwo schlug es halb zehn, da rannte dieses Geschöpf aus der Hauptstrasse in die enge Gasse, wohinein ich geraten war, und stürzte mir geradewegs in die Arme. Da hast mich! Hinter ihr sprang ein langer Bengel, mit wenig Haar, ohne Hut, etwa dreissigjährig, lachte und schwang den Stock und rief: Warte nur, warte nur! Das grüne Kleid war am Halse und Gürtel aufgerissen. Dieser Elende hatte sie also schon halb in den Klauen gehabt. Doch die Eidechse entschlüpfte und hüpfte mir glatt und feucht in die Hände. Das kam mir wie ein Wunder vor. Gerade diese, der ich einmal um Gott weiss wie viele Hausecken umsonst nachgelaufen bin.

Sie redet nicht, sie drückt sich ganz eng an mich, ich höre es nur chchchch! machen, genau wie das Bächlein am Kaplanengarten, das so tief unter dem Gras läuft. Die Gasse ist eng, ich steh’ im Dunkel unter einem Unterbau, der Kerl galoppiert im hellen Laternenlicht mit einem goldenen Zwicker daher. Soll ich ihn ein japanisches Kunststück lehren? Dummheiten! Ich weiss etwas Praktischeres, halte das Kind im linken Arm etwas zurück, spanne die rechte Hand straff wie ein Fallbeil, sperre das Bein an die andere Gassenseite, und nun geht alles exakt wie in einer Rechnung. Der Kurzsichtige rast heran, will vorbei, stolpert über mein Knie, und wie er sich aufhilft, hau’ ich ihm ein Gesalzenes ins Genick. Er plumpst wie ein Sack vor uns hin. Das tut ihm für fünf Minuten gut. Ich nehm’ noch sein Stöcklein mit und geh’ rasch mit dem Bräutchen heim.

Sie zittert und friert und nimmt endlich ein Papier: taubstumm! Wir korrespondieren weiter, lies nur die Blätter! Wohin soll ich dich bringen? – Lass mich hier, aber tu mir nichts! – Traust du mir so gut? – Ja, ich traue. – Und wenn ich doch ...? – Dann kratz’ und beiss’ ich wie eine Katze; aber nein, du tust mir ja nichts.«

Johannes horchte und staunte. Während Sigi mit vielen Gesten das Abenteuer malte, bemerkte Johannes wohl, wie das Mädchen aufpasste, verstand, sich schämte und immer wieder die Augen schloss und öffnete. Und jedesmal dunkelte oder hellte es vor Johannes.

»Nun ist das eben so ein verhudeltes Kind, ein unehlich Italienerkind, ging wie eine wertlose Münze von Hand zu Hand, fand dann eine brave Zürcherfrau, die dem Mädchen etwas Schule beibrachte. Da probierte es anständig zu werden. Es kann lesen, schreiben, hübsch zeichnen und hat ein schnelles, findiges Gehirnchen. So ward es Maschinenschreiberin mit fünfzehn Jahren. Aber da starb vor fünf Monaten die gute Frau. Sie testamentierte dem Kinde ein Zimmer ihrer Wohnung bis zum zwanzigsten Lebensjahr zu zinslosem Genuss; dann sollten ihm von der Eidgenössischen Bank dreitausend Franken mit allen laufenden Zinsen ausbezahlt werden. Dort ward die Summe auf den Titel des Kindes mündelsicher hinterlegt.

Nun musst du wissen, dass die Kleine im Geschäfte des Bruders jener verstorbenen Frau schreibmaschinelt. Der ist ein alter Geizkragen und sein ältester Sohn ein ekliger Wüstling dazu. Jenes Stüblein, gesondert und ausserhalb der übrigen Wohnung, ein sogenanntes Treppenzimmer, war dem Alten ein unerträglicher Stachel. Er kürzte dem Mädchen den Lohn, ja, er reizte den Sohn, das arme Geschöpf zu entehren, und hoffte, damit ein Recht zum Kündigen des Zimmers oder doch zur Versorgung in eine Besserungsanstalt zu erschwindeln. Das Kind sass daheim wie in einer Festung, verriegelt und belagert. Aber im unteren Stock wohnte ein evangelischer Theologe. Der merkte etwas und stand aus purem Mitgefühl dem geilen Nachsteller überall im Wege. So ein starker, grosser Bauernbub aus dem Tösstal, mit breiten Füssen und schweren Ellbogen. Das half ein bisschen. Der ochste abends und morgens auf seiner Bude und focht mit Gott und den Teufeln und hätte es als eine Erholung angesehen, so einem mageren Schweinigel das Fell für einige Wochen blank zu gerben. – Nun jagte der Alte das Jüngferchen kurzweg aus dem Geschäft. Es fand aber bald eine andere Schreibstelle, freilich zu niederträchtig kleinem Taglohn und im hässlichsten Quartier der Stadt. Und es musste weit über die Zeit arbeiten und dann allein den langen, übeln Weg nach Hause gehen. Nun siehst du ja selbst, wie hübsch das Kind ist! Da sind ihm denn diese Nachtfalter nachgeflogen. Darum sah ich es nur so vorbeiblitzen. Es hielt mich auch für so einen Schwärmer.

Nun ist der Theologe in die Ferien gezogen und da fasste der Zwickerkerl Mut und hat sie geradezu unterwegs überrumpelt. Das ist denn auch mir zu viel. Ich mache auch nicht lange Federlesen, aber ...«

»Papapa! Blaguier’ doch nicht immer auf dieser Pfeife!«

»Nein, ich mache nicht viel Federlesens,« wiederholte Sigi und zog die Brauen schräg wie ein Tatar.

»Ach, ihr Studenten,« neckte Johannes. »Als Ritter Blaubärte möchtet ihr verrufen sein und habt noch nicht zehn unschuldige Schnauzhaare. Lass das! Der richtige Don Juan hat nie geredet, er hat gehandelt. Ihr redet nur immer, ihr Studenten!«

Das war der ewige Streit zwischen den beiden Burschen. Johannes blieb ein lustiger, mutwilliger, doch durchaus ehrbarer Bursche; aber gerade darum konnte er das Prahlen der Kameraden mit allen Grausen sexueller Sünden gar nicht hören. Er wusste so gut, dass der echte Sünder schweigt. Diese Sündentrompeter waren im Grunde Feiglinge: sie wagten nicht als ehrbare Jünglinge zu gelten, und wagten nicht, in den vollen Schmutz zu tappen. Und so begnügte sich ihre kranke Eitelkeit mit den Prahlereien der Sünde. Sicher war Sigi kein Feigling und eher links als rechts gegangen. Aber viel zu viel Gesundes und Nobles steckte zu einem Wüstling in ihm. Und daher war es so komisch, das Duett anzuhören, wie Sigi hartnäckig sich mit dem Pech des Lasters überstrich und Johannes ihn ebenso hartnäckig mit dem Schnee der Unschuld wusch und jeder dabei in die gleiche Übertreibung verfiel.

»Ich mag jetzt nicht streiten; im Gegenteil sag’ ich: hilf mir! Wir können die Kleine nicht im Stiche lassen. Hab’ ich eine Dummheit gemacht, nun, so muss ich sie jetzt ausessen. Ich bitte dich nur um eines: schirme mir dieses arme Kind, bis ich zurückkomme. Schlafe hier! Da sind spanische Tapeten für das Sofa und für das Bett. ‘s ist wie zwei Zimmer. Im ganzen Hause war sonst kein Winkel erhältlich. Die Wirtin weiss alles. Sie bringt auch das Frühstück und ein bescheidenes Nachtessen da aufs Zimmer. Aber du musst sie jeden Abend um acht Uhr auf ihrem Arbeitslokal abholen und persönlich hierherbringen. Das schwör’ mir! Sie wartet dort auf dich wie ein verhuschtes Kaninchen. Aber hier im Zimmer ist sie eine Katze. Neck’ sie nicht! Ob sie sich küssen lässt? Ich stahl ihr drei, aber schau’ diesen Kratz!«

Er streifte den weichen Kragen zurück und da ward eine zweispurige rote Zeichnung ihrer Fingernägel zu sehen. Das Mägdlein musste jetzt wirklich lächeln, fröhlich lächeln. Der unregelmässige, zuckerweisse Zahn guckte wieder hervor. Die Augen wurden mild wie Samt.

»Ich sagte ihr, wer du seiest und dass du gegen mich gehalten als ein Engel geltest. Du werdest wie ein guter Kamerad zu ihr stehen. Noch keinem Mädchen habest du einen Kuss gegeben als deiner Milchschwester. – Und nun sehe ich schon voll Eifersucht, dass du ihr behagst. Wo wir zusammen auftreten, zieh’ ich immer den kürzeren. – Na, was soll ich denn dem Milmili überbringen? Treue, Edelweisstreue, Küsse ...?«

»Gar nichts, als dass ich alle daheim vielmal grüsse!«

»Gut!« Sigi nahm den Bleistift und schrieb auf einen leeren Bogen: »Passt dir mein Freund Johannes?« Das Mädchen las, erhob sich und schrieb: »O ja!« – Und Sigi seinerseits: »Aber, wenn ...« Das Mädchen riss ihm den Stift weg und zeichnete schwungvoll: »Ich traue ihm ganz.« – »So geh’ ich also! Auf wiedersehen!« – »Ich danke dir!« – »Nicht einmal einen Kuss zum Abschied?« – »Ach, plag’ nicht nicht!« So ging der Bleistift in den zwei Händen hin und her. Da schrieb Sigi als letztes: »Schau’, auch mein Freund findet das unbarmherzig von dir!« Und sie, um nur erlöst zu sein: »So komm!« – Da kam er und drückte einen leisen Hauch seiner Lippe auf ihre Stirne, nicht mehr! Dann grüsste er mit einem sonderbaren Ernst, nahm den Handkoffer und ging. Johannes, immer noch den Brief des Pfarrers mit den liebevollen Warnungen Adams vor der Eva in der Hand, fühlte sich, allein mit diesem fremden Mädchen, so unerquicklich wie noch nie. Er drehte den Brief zwischen den Fingern, wollte zum Bleistift langen, etwas plaudern. Da warf das Kind auf einmal die Arme auf den Tisch, grub den Kopf darein und fing an, unermesslich zu weinen. Und auch Johannes musste an das Schluchzen und Gurgeln des Kalpaneibächleins tief unten im ausgehöhlten Boden denken.

Kapitel 19

In der Kaplanenstube sassen die Historiker. Vor den kleinen Scheiben glänzte der schönste Weihnachtsschnee. Marianne schlüpfte geräuschlos türaus, türein mit rotem Wein von Unterterzen, der einen Stern wirft, mit dürren Birnen, Nusswecken, Zimtstengeln und schob dann wieder einen Büschel Reisig in den ungeheuren Kachelofen, aus dessen Bratrohr es von Wasserdampf und Apfelhülsen behaglich roch.

Aber die Männer steckten im tiefsten Mittelalter und spürten nicht, was sie assen und tranken. Uraltes ward gesichtet und gerichtet. Wo Erzherzog Sigismund zwischen den zwei Abteien übernachtete, blieb unentschieden. Carlo Borromeos Weg über Lüthun und Rindeln schien ausser Frage. Aber das Notker draussen am Stutz über dem Thurtobel aufwuchs, das wurde ebenso energisch behauptet als bestritten. Pater Odo war aus ethnographischen Gründen dagegen, Hobis schwankte, da dieser Name in unserer Gegend so spurlos verschwunden sei und sogar der heutige Notkersrain früher Burgrain geheissen, also eine schlaue unhistorische Wiedertaufe empfangen habe. Dr. phil. Eugen Dott stimmte fürs Thurgau, aber Eusebius zerrupfte sich fast sein Vogelnest vor Eifer und Überzeugung, dass der stammelnde weltberühmte Mönch nur ob dem Thurtobel und nur an diesem Fleck habe geboren werden können. Ein Professor aus St. Gallen und der evangelische Pfarrer von Uzli neigten aus Politik ihm zu. Sigi machte fleissig Notizen, aber musste sich sagen, dass die Wahrscheinlichkeit für Lustigern nicht wahrscheinlicher als für zehn andere Punkte im Umkreis sei und dass also seine Doktorthese auf sehr schwachen Füssen stehe. Der schwäbische Zimmermann verhielt sich am stillsten. Er trug einen krausen Bart um das ruhigste Gesicht der Welt und hörte fröhlich allem zu. Er allein griff auch zu einem Schluck Wein oder einer Schnitte Käse und sagte der Marianne, wie würzig ihre Zimtstengel geraten seien. Oft blickte er in den mondbeglänzten Schnee vor den Fenstern, und dann wusste man nicht, kam die Helle von draussen auf sein Antlitz oder kam sie von seinem Antlitz auf die Erde hinaus, dass beide so ruhig und mild leuchteten.

Die erlauchte Versammlung hatte in der engen Klause kaum ordentliche Ellenbogenbreite. Sie fand trotzdem gerade in dieser dumpfen, niedrigen Stube statt, um ihren Bewohner zu ehren, Eusebius Nuss, da er zwar keine Bücher geschrieben, aber den Bücherschreibern, die an der Sonne glänzen dürfen, hundert und tausend kleine feine Studien und Entdeckungen für ihr Werk geliefert und dabei bis zum heutigen siebzigsten Geburtstag immer zufrieden im Schatten gestanden hatte. Es sassen Freidenker, Reformer, glühende Orthodoxe und tiefgläubige Katholiken in diesem Trüpplein, aber sie machten dem Sprichwort Ehre, dass der ehrlichste Historiker auch der andächtigste und rücksichtsvollste Mensch ist. Alle liebten den niedlichen, raschen, zwerghaften Greis, der für die alte Zeit einen so grossen Blick und für das alte Geschehen ein so liebevolles Verständnis bewies.

Pfarrer Carolus hätte den Geburtstag seines Kaplans lieber im Pfarrhaus so recht pastoral-familiär begangen. Er dachte: ich verstehe das nicht, aber es ginge mir wider die Seele, mit so feindseligen Weltanschauungen gemütlich zusammenzusitzen und über einen Mann zu disputieren, der doch ein Katholik, ein Mönch, ein Heiliger, also all das war, wogegen ihre religiöse Gesinnung als gegen etwas Unrechtes Sturm laufen müsste. Gottlob, wiederholte sich Carl wohl zehnmal diesen Tag, ich verstehe das nicht.

Er wartete denn auch, bis der Uhrzeiger auf die Sechs zeigte, wo die Sitzung beschlossen und der Abschied nahe wäre. Dann brachte er das Opfer und läutete an der Kaplanei. Er grüsste die Herren, tat allen Bescheid, nur mit Hobis stiess er das Glas nicht an, tat vielmehr, als wäre dort, wo der Glatte sass, ein Loch. Trotzdem brachte der frischblütige, riesenhafte Gegenwartsmensch eine muntere, sozusagen aktivere Stimmung unter diese Vergangenheitsknechte. Und wie er ein Seitenfensterchen öffnete, dass die Winternacht mit ihrem herben Aroma erlösend in die Stubenschwüle schlug, so schufen auch seine fröhlichen Bemerkungen über den heurigen Winter, über sein Lustiger Völklein, über die Weihnachtsvorbereitungen und ein paar Witze, die er jüngst im Unterricht vom Kindermund gepflückt hatte, geradezu einen frischen Puls und Atem in der kleinen Gesellschaft. Inzwischen hörte man Schlitten- und Pferdegeklingel vor dem Hause. Der Pastor von Uzli, der St. Galler Professor und Dr. Emil Hobis stiegen ins Gefährte, während Pfarrer Carolus den Übrigen vorschlug, zusammen in dieser lichten Nacht den viertelstündigen Spaziergang zum Notkersrain zu machen. Himmel und Erde standen mit solchem Winterzauber vor den Gästen, dass auch die drei im Schlitten wieder ausstiegen auf Gefahr, damit noch den letzten Zug in Uzli zu verpassen. Man schlüpfte also in die Mäntel, nahm den Stock und focht sich in einer wunderlich guten Stimmung durch den hohen Schnee des Feldwegleins zum Dorf hinaus gegen die Tobelhöhe hinauf. Der Mond schimmerte scharf und herrisch über die schwarzen Tannen und die weisse, mächtige Landschaft nieder. Er zündete bis in die Schlucht hinunter, wo die Alpengewässer wie eitel Silber langsam und schläfrig zwischen den Felsen sich vorwärtswälzen, dem bleichen, sagenhaften Norden zu. Schon hatte man das Dorf unter sich. Es schien sich im Monde geradezu zu sonnen, so behaglich ruhten die dunkeln Häuser mit ihren weissen Dächern nebeneinander und dehnten sich katzenwohlig gegen die Lichtseite. Die weite, gewellte Ebene feierte die gleiche Nachtstille. Ihre Wälder, ihre sanften Anhöhen, ihre dunkeln Bacheinschnitte, ihre Gehöfte mit einem schwachen Stuben- oder Kammerlicht und ihre dürren Obstbäume, die, wie Gedanken und Sehnsüchte, vereinzelt im weiten Schnee standen, das alles war von der Träumerei des Mondes übergossen und wurde, je ferner es gen Norden hinab ging, um so milder und märchenhafter. Man meinte in einen weiten, reichen, lautlosen Traum zu schauen.

Der kleine Jubilar schritt mit dem Schwaben voraus. Pastor Nietlis von Uzli hatte mehrmals umsonst versucht, mit Carl anzubinden und ging mit Hobis ohne sichtliche Erquickung. Zuhinterst folgte der Pfarrer mit Dr. Dott. Am obersten Wegrank, wo alle Wanderer nicht anders können, als die Schlucht in ihrer schönsten Tiefe und Breite zu betrachten und der blitzenden Welle in die fernen Fluren hinaus zu folgen, bis gegen das Städtchen Wyla, das mit vielen hundert Lichtlein dennoch so matt durch den Mondschein da herauf grüsst, an diesem Wegrank, wo Carolus vor einem halben Jahr ganz allein und mit Schaudern auf die anders waldige Ranftseite gesehen hatte, zwang es ihn mit einer plötzlichen seltsamen Erinnerungsmacht, wieder zum Waldhüttchen des Matthias Minz zu blicken, und beinahe stockte ihm der Atem. Wieder standen dort sechs abgehobelte, ungestrichene Bretter, vier lange und zwei kurze an die Hauswand gelehnt und schnitten im Mond eine entsetzlich grelle Grimasse. Carl fühlte es kalt an seinen Haarwurzeln zerren, er musste einen Moment stille stehen, da sich alles um ihn herum drehte. Das war ein Sarg, offenbar, wie damals. Wo gab es denn zur Stunde eine Leiche? Wem galt das?

»Herr Doktor,« sagte er und kehrte sich mit Gewalt ab, »nie kann ich vergessen, was Sie mir vom Roten erzählt haben. Oft probier’ ich’s nun auch, etwas Rotes ins graue Leben zu bringen, aber viel zu selten. Ach, man wird nie recht rot und warm, bis plötzlich der Tod vor einem steht, Ade!«

Eugen Dott begriff nicht sogleich. Auch Carl selbst nicht. Er hatte nur etwas sagen müssen. Aber jetzt kam der Pfarrer von Uzli herzu und zeigte ins weite Land: »Liegt unser Ländchen hier nicht wie in weihnächtlicher Sehsucht da? Überall Schnee und nichts als Schnee. Aber er liegt so wunderbar da wie ein Garten und mir ist, es müsste jetzt durch die Lüfte ganz leise singen: Es ist ein’ Ros’ entsprungen – Sie singen doch in ihren Kirchen dieses uralte Lied auch? Und aufs Wort, ich meine, aus diesem weissen Schnee müssten jetzt bald, heut nacht oder morgen, so wunderbare Rosen hervorkommen ...«

»Rote, rote, schöne rote Röslein, nicht wahr?« erwiderte Carl mit ungestümer Freundlichkeit. »Rosen der Liebe und Treue ...« Ach, wie ungeschickt redete er. Gar nicht aussprechen konnte er, was ihn so ergriff.

»Ich meine die Liebe zur Wahrheit. Sie war einst in Juda so mächtig und alle unsere germanischen Winter haben sie auch bei uns nicht töten können.« Und indem sich der evangelische Pastor innig an Carl lehnte, sagte er leiser: »Ach, wir sind und bleiben doch Geschwister im Herrn; einmal fallen auch die gesonderten Stuben zusammen und es wird weit und einig. Freund Nachbar, gestern sind zwei katholische Kinder in mein Haus gezogen, Waisen, Verwandte meiner Frau. Ich schicke sie Euch morgen in Eure Weihnachtsmesse; sie freuen sich so sehr darauf. Dürfen sie dann bei Ihnen übernachten? Es geht nicht gut an, dass sie lange bei mir bleiben. Aber solange sie in meinem Hause sind, sollen sie Ihre Seelsorgskinder sein. Entzückend, wie diese zehn- und elfjährigen Geschwister das Ave Maria beten.«

Carl drückte seinem protestantischen Nachbar die Hand. Er wusste keine Antwort. Man brach jetzt durch die Hecke in tiefen Schnee ein. Mit vierzig Schritten langte man auf dem tannenumstandenen Uferkopf an, von wo es schwindelnd ins tiefe Flusstal niederging. Hier, zwischen Brombeer- und Distelgesträuchen und kurzem Wacholder gab es noch breite Klötze von altem Gemäuer, Trümmerhaufen, Spuren von Gräben. Der Luftzug fuhr hier Scharf vom Tobel herauf. Er hatte den Platz fast vom Schnee reingescheuert. Man zog den Kragen hoch, stand nahe zusammen und fühlte das Geheimnis einer zwölfhundertjährigen Vergangenheit reich und schwer aufs Gemüt fallen. Dabei schritt man den Platz ab, suchte die Grundrisse zu entziffern, den Hauptturm vor allem festzustellen und fragte sich, ob der junge Notker wohl auch in solchen Nächten oft in die Weite hinausgeblickt und das Vergangene und Zukünftige so sehnsüchtig in seiner Seele verarbeitet habe.

Einer fehlte in der Gesellschaft. Als man am Tälerhaus vorbeikam, entschuldigte sich Sigi, da er hier Grüsse zu entrichten hätte. Er werde bald nachkommen. In der Stube fand er Mili und Siria allein auf dem Ofenbänklein. Sie hatten kein Licht gemacht. Der Mond schien ihnen besser als die kärgste Lampe ins Gesicht. Siria hatte das alte Lustigern Weihnachtslied gesungen: »Schlaf wohl, du süsser Himmelsknab.« Sie hatte es gegen das Tannenbäumchen gesungen, das auf dem Tisch stand und schon mit Obst und Kerzlein auf morgen behängt war. Unten am Stamm lag im Kripplein ein wächsernes Christkind und streckte den kleinen Arm heraus. Mili schien noch mit auf dem Knie gefalteten Händen dem Gesang zu lauschen, als Sigi bereits eine Weile auf der Schwelle stand. Zauberisch sah die alte Stube aus, mit den Winkeln voll Dunkel und der Mitte voll silbernem Kirchenglanz. Und die zwei hier schienen wie Engel.

Von was hatten sie noch eben geredet? ach, von dem, was alle Herzen in Mondscheinnächten plagt, vom Lieben. Siria überschwoll vom Lob auf Julius. Niemand wisse, was für ein tiefes, liebes Herz er habe. Er zeige es zum Trotz nicht. Er schwadroniere und tue verkehrt, aber wenn er allein sei, weine er über sich. Sein Lebtag sei er ohne Freund gewesen. Immer habe man an ihm genörgelt oder ihn von sich geschüttelt, wenn er noch so kindlich bat: Halte mich! und gesagt: Du passest gar nicht zu uns. So habe man ihn in die Welt hinausgejagt und die Welt habe ihn weiter gejagt, dass er nie mehr recht zur Besinnung kam. Und da sei er denn so geworden, wie er jetzt sei: ein Schwätzer und Lärmer, ein Trinker und dummer Scharmusizierer; aber im Grunde sei er noch so edel wie damals, als er sie aus dem Elend gerissen habe. Der Pfarrer wolle ihn durchaus zum Dorf hinaus haben, weil er sich nicht kirchlich trauen lasse, zu viel in den Häusern musiziere und zu böse Witze mache. Und sie wolle der gleiche Pfarrer heilig machen und irgendwo in eine Anstalt unterbringen, obwohl man doch deutlich sehe, dass Julius dann aus aller Ordnung geriete und sie beide doch mit Leib und Seele zusammengehören. Sie wenigstens lebe und sterbe mit ihrem Schül. Und so schön und tröstlich die Gebete des Pfarrers seien, wenn sie dann wieder an solche Unbarmherzigkeiten denke, werde ihr das süsseste Ave Maria versalzen. Man sage doch, Gott tue nichts als lieben, und sie, Siria, liebe auch und Julius liebe, und da könne es doch nicht so schlimm stehen, wie der Pfarrer meine.

Mili hörte und hörte nicht. »Du bist eben eine ganz gehörige Heidin, liebes Tantchen,« sagte sie und fuhr ihr über die Hände. »Der Pfarrer weiss genau, was er tut. Er denkt auch an das Lieben, aber er möchte es so hoch und schön wie das Morgen- und Abendrot machen zu Gottes Füssen. Das unsere klebt immer noch zu tief am Staub.«

Sie seufzten beide. Das vom Morgenrot zu Gottes Füssen hatte der Pfarrer buchstäblich so gesagt. Er hatte das Mili ins Studierzimmer genommen und es gebeten, von Johannes zu lassen, ihm nichts als Schwester zu sein. Er habe ein heiliges Amt und dürfe sich jetzt nicht mit einer Liebschaft die Kraft zersplittern. All sein Denken und Lieben gehöre jetzt der Kunst. Er sei ja sonst ein lauer Mensch und bei keinem Kameraden und keinem Mädchen heiss geworden wie die andern. Erst die Malerei habe den Funken aus ihm geschlagen. Der gehöre Gott; den dürfe das Mili nicht für sich beanspruchen. Wenn Johannes dann später noch einen zweiten Funken übrig habe, gut! Aber so wie er den Johannes kenne, diesen Fischblütler, könne er es nicht glauben. Eine Braut habe Johannes darum nicht nötig. Er besitze schon eine Frau, die hohe Kunst. Aber eine Schwester und Dienerin könne er gut brauchen. Und das sei nun ihr Beruf, sich dazu recht gerecht und gut zu machen. Warum sie jetzt weine? Ach, sie dummes liebes Gänschen! Sie werde vielleicht später viel bitterer weinen müssen. Jeder Mensch müsse opfern, jeder! auch sie! Sie solle jetzt ein wenig in die Kirche knien, am Altar der schmerzhaften Madonna unter dem Kreuz. O da, vor diesem grossen Schmerz, vergingen einem alle kleinen Schmerzen.

Das Wort des Priesters war ihr Gotteswort. Aber seit Carolus Pfarrer war, hatte dieses taubenweisse Seelchen doch mehrmals zu argwöhnen begonnen; man könne wohl den Priester vor sich sehen, aber nur den Menschen hören: so im Kampfe mit Cornelius, auf dem Schulhausplatz, als Siria in den Rasen fiel, und jetzt in der Sache mit Johannes. Warum soll Johannes ein Künstler Gottes sein? Er ist doch gar nicht fromm, betet gerade, was er muss, tut weder Gutes noch Böses. Wie kann einen solchen das rechte warme Lieben kleiner machen? Im Gegenteil, alles würde schöner, grösser, kräftiger an ihm. Und warum liess man ihn nicht Stickereizeichner werden? Da lag sein Talent; alle, die nüchtern urteilen, misstrauen ihm in der Malerei. Sein Ambrosiusbild soll ja nichts als eine Nachahmung sein. Der Corneli sagt geradezu, er werde ein Pfuscher und sein Leben sei auch schon verpfuscht. Ja, liesse man ihn im Dorfe, bei ihr! Dann käme alles recht! – Aber auch so, ich lass’ ihn nicht los! Ich lass’ ihn nicht los! Dem lieben Gott nehm’ ich ihn nicht weg, aber mir ebenso wenig.

Sie schrieb ihm nur kurz und bat sogar, er möge auf Weihnachten nicht kommen. Es lohne sich nicht wegen ein paar Tagen. Jetzt, da Sigi so unerwartet in die Stube brach, stiess sie einen leichten Schrei aus. Denn sie dachte nichts anderes, als Johannes halte sich hinter ihm versteckt und springe plötzlich lachend herein. Nach der ersten Überraschung wollte sie die Hängelampe anzünden. Siria entwischte plötzlich. Da blies Sigi dem Mili vorweg das Zündhölzchen aus und bettelte: »Sei so gut und lass uns in diesem Mondlicht ein paar Minuten plaudern. Gleich muss ich zur Burg hinauf.«

Er hatte das Halbdunkel so nötig wie sie. Die letzten Tage hindurch, gestern in der Eisenbahn, heute beim Notieren der Notkerdiskussion hatte er eigentlich nichts als vor diesem Augenblick gebebt. Er wünschte ihn wild herbei und verwünschte ihn wieder ebenso wild in die entlegenste Ferne. Er fühlte, dass er dieses Mädchen unwiderstehlich suchen müsse. Vielleicht war es eine verrückte Liebe, eine Liebe zückend und verzückend wie ein Blitz; vielleicht war es ein Irrtum: einerlei, das wusste er, dass er noch nie in dieser bedrückenden Art empfunden habe, solches Fordern und Sehnen, solche Demut und solche Angst. Alles Herrische war zerschmolzen, er fühlte nur Hingabe. Er fragte nicht, was nachher komme. Er dachte wohl, nichts komme nachher mehr. Seine Hand in ihrer Hand, sein Mund an ihrem Mund, sein Leben in ihrem Leben, etwas Weiteres, was noch folgen könnte, gab es nicht. Sie könnten schon zu Ostern heiraten. Warum nicht? Er studiert weiter und kommt alle Samstage heim. Und sie kommt auf Wochen und Monate zu ihm nach Zürich. Warum geht das nicht?

Aber das sind alles Seifenblasen, wenn sie nicht will. Und darum zittert er so, weil er jetzt, in der nächsten Minute schon erfährt, ob sie will oder nicht.

Im Sommer hat sie deutlich genug gezeigt, dass sie nichts von ihm will. Oder war es nur Schein? Aber der Abschied von Johannes unter der Ilgenlampe mit der Bosheit gegen ihn? Vielleicht auch nur Schein? Und dieser Johannes, der nie von ihr redet, sicher fast nie an sie denkt, mit zwei Bleistiftzeilen die Wäsche heimschickt!

Doch das alles heisst nichts. Aber das heisst etwas, dass Frau Ida ihren ersten Gang aus dem Krankenzimmer zum Pfarrer für ihren Sigi tat. Er hat alles aus ihren Briefen erraten. Wie er verloren gehe ohne eine gute Braut, wird sie geklagt haben; wie das Mili allein Macht über den Spitzbuben besitze; wie der Johannes mit seiner Kunst dadurch ganz und gar für den Pfarrer gerettet wäre. Und Carolus wog den Kopf in der Hand und sann und studierte und sagte, er mische sich nicht in solche Dinge. Aber mit dem Mili müsse man freilich reden. Und nun gab die geduldige Frau Ida dem Prinzen ein Zeichen, er solle auf Weihnachten kommen und seine Doktorarbeit zum Vorwand nehmen und es beim Bäsi nochmals versuchen. Bescheiden, nur einen, zwei Schritte! Dann zu Ostern wieder einen Schritt, und so fort; nur keinen Zoll zurückkrebsen!

Als nun Sigi nach allen diesen Intrigen dem Mili gegenüber sass und das artige Gesicht mit den scherzhaften Augen, der geschnäbelten Oberlippe und dem Goldflaum im milchigen Mondschein bald heller hervortreten, bald wieder eher verschwimmen sah, dasselbe Gesicht, das ihn seit Monaten wachend und schlafend überall bedrängte und sich durch keine noch so blendenden Gegenspiele vertreiben liess, dieses stille, einfache, dörfliche und für ihn doch so einzigartige Gesicht, da fühlte er, dass er nicht einen oder zwei geduldige Schritte tun und dann wieder stillestehen könne. Hier galt es Sturm, alles oder nichts!

»Mili,« griff er heftig an. Aber im selben Moment sah er, wie sie ihre Hand abwehrend gegen ihn erhob. Da liess er die Stimme fallen und sagte nur noch leise: »Plage mich nicht so!«

Sie schien weiss wie Schnee zu werden bei diesem rührenden Wort. Es klang doppelt rührend aus dem Munde dieses Menschen.

»Was tu’ ich denn?« fragte sie endlich; »du lässt mir ja keine Ruhe.«

»Was du tust? Das will ich dir sagen. Seit ich dich an jenem Abend im Juli auf dem Bänklein gegrüsst habe und du mir nicht einmal ein Ei wie dem Johannes gabst, seitdem hab’ ich immer Hunger. Ich spasse nicht. Hättest du mir lieber das Ei, zwei, drei Eier gegeben, vielleicht wär’ ich satt geworden. Aber damals bin ich hungrig weggegangen. Verstehst du, was ich meine? Immer, immer, jede Stunde, hab’ ich nun Hunger und Durst nach dir!«

Er rückte im Eifer näher, sie wich nicht zurück, sondern sah ihn energisch an.

»Du willst sagen: Mädchenfresser, he? So einen Spitznamen trage ich ja da herum. Nicht wahr, das willst du sagen?«

Trotzig schüttelte sie ihren Scheitel. Er flimmerte wie Gold im Mondlicht; wie ein goldener Helm, glatt dem Kopfe angegossen und nur hinten bei der Zopfkrone zu einem Schnabel aufgezwungen. Aber dieser enge Guss nach vorne und dieser Schwung nach hinten machte den Eindruck von etwas Hartem und Gewappnetem.

»Was man da herumbietet, ist nichts als Dorfklatsch. Ich bin ein Student wie die andern, vielleicht etwas frecher und bübischer als viele, und habe drum mehr Glück. Ich gefalle den hübschen Mädchen, und ich wär’ ein Esel, wenn die hübschen Mädchen mir nicht auch gefielen ...«

Wieder hob das Mili die Hand.

»Tu mir nicht wie eine Heilige! Ist das etwa ein Schaden? Gefallen heisst nicht lieben. Und das kann ich dir sagen, geliebt habe ich noch keine Rose, wenn ich schon gerne an roten und weissen gerochen habe. Was wahr ist, sollst du auch wissen. Aber dann bist du mir in den Weg gekommen und jetzt weiss ich, was Lieben ist.«

Mili wollte aufstehen. Sigi herrschte es beinahe wütend an: »Bleib, ich geh’ im Augenblick. So lange wirft du mich doch aushalten, oder?« Er merkte wohl, wie das Mili immer trotziger in seinem goldenen Helm dasass und er sich von einem ungeschickten Wort zum andern die Lage nur immer verschlechterte. Aber zum Teufel, der Augenblick war mächtiger als er.

»Ich weiss nicht, was hinter meinem Rücken abgekartet worden ist: der Pfarrer steckt dahinter, aber nicht aus Liebe zu uns. Und meine Mutter macht vor lauter Güte Dummheiten. Das soll Dich nicht genieren, es geniert mich auch nicht. Wir zwei müssen uns verstehen, das ist alles.«

»Hör’ auf,« schrie das Mili endlich, »‘s hat gar keinen Zweck.«

»Auf Ehr’ und Seligkeit, kannst du mich nicht lieben?« schrie auch Sigi auf. »Bin ich dir nicht schön genug? nicht reich genug? lieb’ ich dich etwa noch nicht genug?«

Beide sprangen gleichzeitig auf und massen sich mit den Augen. Das Mili stand so stramm wie er.

Es sagte langsam: »Du weisst ganz gut, dass ich dem Johannes gehöre. Du bist mir als Vetter mehr als recht, aber der Johannes war immer mein Liebster.« Das letzte flüsterte sie beinahe, und sogar der Mondschein tat ihr jetzt weh.

»Der Johannes?« flüsterte nun auch Sigi. »Der nie an dich denkt.«

»Meinetwegen, so denk’ ich an ihn.«

»Der dich grad so viel und so wenig liebt wie diesen Ofen.«

»So will ich ihn dafür zweimal lieber haben.«

»Der lieber andern Mädchen nachläuft.«

»Sigi, jetzt lügst du.« Unangreifbar schön und stolz ging sie zur Türe.

»Der, der,« schrie Sigi, unfähig, sich zu meistern, ihr nach, »der in dieser Stunde mit einem siebzehnjährigen Gof in meiner Stube auf dem Sofa sitzt und Zettelchen hin und her schreibt und seinem Christkind verliebte Augen macht ... der, der!«

»O Jesusmaria!« rief das Mädchen und rannte hinaus.

Eine Weile stand Sigi mitten in der leeren Stube und blickte wie geistesabwesend zum wächsernen Jesulein unter dem Weihnachtsbaum, das so freundlich einladend den Arm nach ihm streckte. Dann schlug er sich vor den Kopf und sprang um Hause hinaus. O ich Elender! Nun hab’ ich alles verdorben! schrie es in ihm, während er, ohne auf Gräben und Häge zu achten, im tiefsten Schnee gegen den Notkersrain watete. Er wusste nicht, was er dort noch suchte. Aber er musste jetzt durchaus in diese halbgefrorenen Massen hineinstampfen, ganze Schollen in das eisige Mondlicht hinaufschleudern und die ungeheure Spannung austoben, in die er sich seit Wochen hineingelebt und die er soeben, statt klug zu lösen, zu einer unerträglichen Höhe gesteigert hatte.

Die Herren standen in einer Gruppe am äussersten Abhang. Aber nur eine Stimme sprach. Sigi kannte diese seltsame Stimme nicht. Sie tönte nicht laut, aber wundervoll sicher und klar und erreichte in dieser reinen Winterluft sein Ohr, als spräche man neben ihm. Er hörte die schwäbisch gedehnten e und das behagliche s am Schluss: habens, sehens ... und das gwest statt gewesen. Nie hatte ihm dieses Schwäbeln gefallen. Aber jetzt klang es so eindringlich warm, schlüpfte so süss ein, musizierte so weich und hell und es lachte ein kleiner lustiger Kobold aus jedem e und s so unbesieglich, dass nicht bloss alle Männer um den redenden Schreiner, sondern er, der unselige, verkrachte Jüngling selbst, auf das Wort acht geben und alles andere hinter den Rücken werfen musste.

Sigi setzte sich auf einen Hagbalken, horchte, die rotgeränderten, fiebrigen Augen weit aufgesperrt, rutschte weg und tat wieder ein paar Schritte näher. Niemand beachtete ihn, niemand beachtete auch nur den Zimmermann. Man hatte genug mit seinem merkwürdigen Wort zu tun. Es war, als steige die fromme Nacht selbst von den Toggenburgerhöhen herab, walle von den nordischen Ebenen herauf und knie sich hier herum nieder, dem Wind, dem Fluss, selbst dem Geflacker der Sterne Schweigen gebietend, damit keine Silbe verloren gehe. Und doch redete bloss ein gewöhnlicher Schreiner!

»Ich habe nie gezweifelt, dass der wunderbare Dichter hier geboren sei. Sechsundzwanzig Jahre alt war ich, als ich mit dem Felleisen diese Strasse hinunterwalzte und hier im Gras bei so schönem Rundblick Zehrung hielt. Aber ich war nicht allein. Ein behender kleiner Geistlicher forschte da im Getrümmer herum und setzte sich endlich zum Gesellen und erzählte, dass auf dem Platz, wo wir sässen, der Meister des ›Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben‹ seine Kindheit verlebt habe. Das rührte mich. Denn kein Sang war mir von stirb an so vertraut. Ich wusste nur, dass einer dieses Lied erfunden hat, da er vom Fenster aus zusah, wie Zimmerleute über ein schwindeliges Tobel Seile und Bretter warfen und eine lebensgefährliche Brücke machten. Auf mich, der auch oft an hohen Gerüsten schafft, machte das Eindruck. Nun aber erzählte mir der liebe Kaplan hier, dass der Sänger Notker heisse, Notker Balbulus, weil er gestottert habe. Himmel, dachte ich, jenes Stottern war mehr wert als tausend glatte Zungen. Er sei ein Ritterssohn gewesen, lustig und beherzt, aber das Stottern habe ihm überall den Weg versperrt, zu den Höfen, zu den schönen Mädchen, zu den singenden Gesellen, zu den Soldaten und Räten. Da sei er dann wohl oft hier gesessen auf der Burgmauer und habe dem Tannenbrausen zugehört und der Thur da unten und der Musik der Winde um den Turm, und dann habe es auch in ihm angefangen zu musizieren. Die Lippen habe er hart verschlossen, weshalb man auch meinte, er sei fürchterlich streng; aber das habe er nur getan, weil er fürchtete, die Melodien, wie sie in seiner Seele auf und ab harften, nicht verhalten zu können und mit seinem Stammeln zu verunglimpfen. Zu diesen Melodien habe er Gedichte gemacht. Da hätten sich die Eltern seiner noch mehr geschämt als vorher über das Stottern und ihn ins Kloster nach St. Gallen geschickt, in die Schule, und gehofft, er komme nie mehr heraus.«

»Nein,« protestierte jetzt Eusebius’ nüchterne Stimme, »nein so ... so ...« er wollte sagen: so unhistorisch, »so schön hab’ ich’s Euch nicht erzählt.« »Still, still! Lasst ihn!« bat man.

»Aber er kam gewaltig heraus. Nicht, wie sie meinten, etwa um zu freien und zu erben, kam er auf diese Burg zurück. O nein! Als Mönch, als Sänger, als Dichter, als Gottestrunkener sprengte sein herrlicher Geist das Kloster und breitete sich über die ganze Welt deutscher Lippe aus. Die Psalmen wurden in allen Kirchen nach seinen Noten gesungen, seine Lieder füllten die Herzen, die Bischöfe und Kaiser knieten vor ihm ab, er war nach und nach nichts als Melodie geworden, Melodie Gottes, und sang damit alle Menschen voll. Sein ›Media Vita‹ hat Hunderttausenden Mut gemacht, über den Tod rechts und links zu lachen und über das Brücklein, das Glauben und Lieben heisst, ganz getrost zu wandeln. Dieses Lied macht bescheiden, weil wir alle klein, und macht stolz, weil wir alle auch wieder gross sind. Ich höre darin weinen und jubeln in einem. Alle Abgründe des Lebens deckt es auf, und zeigt auch auf alle seine Gipfel. O ja, dieser Notker muss hier geboren sein, wo er stets dieses Tobel gähnen, aber sogar die dümmsten Vögel, geschweige denn seine geschickte Seele heil darüber hinfliegen sah. Wenn man nur vertraute!

So erzählte mir euer Eusebius und nahm mich zum Mittagessen in seine Kaplanei und gab mir ein Büchlein über den grossen Heiligen mit. Über zwanzig Jahre sind es seitdem. Inzwischen hörte ich, der Dichter stamme vom Schloss Elgg oder von einem Gehöft bei Goldach oder von Konstanz. Und das wäre ja gleich, woher er kam, wenn er nur kam. Nicht Bethlehem hat das Weihnachtskind, das Weihnachtskind hat Bethlehem gemacht. Viel lieber als das habe ich die Gedichte des gottestrunkenen Mannes studiert und habe seine Weisen aus alten Büchern gelernt. Aber ich kam nie weit. Schon im Media Vita blieb ich hangen. Ach, ihr Freunde, Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, alles, alles ist drin. Es gibt da völlig genug für Leben und Sterben. Und man wird zufrieden dabei. Man bekommt von der grossen seligen Harmonie des Notker etwas ... Aber, ei wohl, ich schwatze da und schwatze und täte besser schweigen. Wischen wir lieber da vom Mauer ein bisschen Schnee und sitzen hin über die heillose Schlucht und denken uns fromm in die Tage Notkers zurück und beten und schweigen!«

»Redet! Redet fertig!« riefen der Pfarrer von Uzli und Dr. Dott. Alle andern nickten und schoben sich noch näher. Sigi war dem Sprecher fast unter den Bart geschlichen. Dieser meinte, der Junge friere und schlang den rechten Arm um ihn und hielt ihn warm und während des Sprechens immer wärmer an sich.

»Glaubet mir, wenn ich das Media Vita vor mich hinbete, sitze ich wie jetzt an einem greulichen Tobel und sehe ein Brücklein schwanken und rechts und links winkt der Tod. Und ich weiss, so ist es vor tausend Jahren gewesen und heute noch exakt so. Aus dem Bodensee haben sie gestern eine Leiche gefischt, als ich ins Dampfboot sprang; zwischen Romanshorn und Frauenfeld ward ein junges Weib überfahren, und heute morgen lasen wir doch die Zeitungsdepesche, dass acht Personen unter einer Lawine erstickt sind. Sie kamen gerade vom Taufessen. Media vita in MORTE sumus. Und immer sah ich den prachtvollen Mönch, die Lippen zusammengebissen, aber das Herz voll Musik, am Ranft sitzen und den Brückenbau beobachten, wie der Geselle auf Brettern über der Schlucht hängt und dazu pfeift und ein Becherlein leert und vielleicht eins zwei drei wie ein Stein hinunterrast und zerschmettert. Aber Notker lächelt. Er sitzt fest am Ufer; und wenn er selbst übers Brücklein muss und die Bretter krachen, lächelt er noch. Denn er hat eine Melodie in sich, die trägt ihn wie Engelsflügel. Dieses Singen und Versinken in Gott trägt über alle Abgründe. Gott müsste stürzen, sollte ich stürzen. Aber Gott kann nicht stürzen.«

Sonderbar, verwegen, allen Mischmasch durcheinander, aber schön, wie er’s sagt! dachte Carolus. Dr. Dott leuchtete in Schwärmerei. Der Uzler Kilchherr schloss die Augen. Sigi blickte zum Gesicht über ihm empor, wie ein Christusgesicht kam es ihm vor. Der Schwung des Redners, an dessen Brust er klebte, begann sich ihm in einer Art von musikalischem Rhythmus mitzuteilen. Ihm war, als löse sich viel Altes, Verhärtetes in ihm auf.

»Das sind, denk’ ich, die grössten Männer, wenn sie uns so an Gott festheften, wie sie selber am Ewigen hafteten. Mehr können sie und wir nicht wollen.

Aber ich habe jetzt geschwatzt und immer geschwatzt und es doch nicht sagen können, was ich fühle. Ach, würden einem doch die Sterne da oben helfen, mit ihren Millionen goldenen Lippen. Was vom Himmel ist, kann nur vom Himmel gesagt werden!

Sofort schweig’ ich, nur eines muss ich noch korrigieren. Ich habe gesagt, es sei einerlei, wo Notker aufgewachsen. Aber auf diesem merkwürdigen Platz zwischen Fluss, Gehügel und Ebene, muss ich doch denken, der grosse Mann könne nur hier geboren und zur Musik gelangt sein. Dieses Thurtobel da geht durch alle seine Lieder und dieser Höhenwind und diese Einsamkeit und dieses Eilen, Eilen aller Wasser dem Frieden Gottes zu. Ja, hier füsselte das Büblein herum, hier träumte der Jüngling, hier begann die Melodie. Mich dünkt, dieser Boden ist mehr als historisch, er ist heilig, und alle harmonielosen Menschen sollten hier die Schuhe lösen und um Harmonie, um Gottverbundenheit beten. Noch mehr, ich möchte die alte Notkersburg aufbauen mit den Mauern und Sälen und Zinnen und dem Schlosskapellchen, genau wie es damals grau ins graue Mittelalter sah und wie der stotternde Notker es bewohnte. Vielleicht war es auch nur ein Turm, ein breiter, strammer, hoher Turm. Wenn nur der stände! Türme, hohe weltausschauende Türme sind etwas Herrliches ...«

»Ah ...« entfuhr es Carl überrascht.

»So ein Turm müsste hier stehen, weit über die Tannen und Felsen sichtbar, mit einer seligen Turmstube und einem Turmglöcklein. Und sicher Notker käme und bewohnte ihn wieder und zöge am Seil und läutete und dichtete und betete zum Fenster hinaus, wir alle sähen und erlebten seinen Genius und würden gut und eins.«

O für diesen Turm will ich schon sorgen, beteuerte Carolus für sich. Ob hier, ob an der Kirche, das ist gleich. Und eine Notkerstatue soll über der Uhr stehen und dem Volk neben der irdischen Zeit die Ewigkeit deuten.

»Türme sollen wieder in die Welt, grosse solide Finger zum Himmel, wie Notker so ein Riesenfinger ist. Und der Glaube und die Liebe sollen daran bauen, sogar verschiedenes Glauben und verschiedenes Lieben soll daran bauen, alles was glaubt, alles was hofft, alles was liebt, bis es beim gleichen Glöcklein und beim gleichen Helm und Spitz zusammenkommt ...«

»Wunderbar!« sagte der Uzler Pfarrer.

»Ich freilich,« sagte der Schreiner plötzlich mit ganz anderer Stimme und aus aller Verzückung in ein demütiges Lächeln verfallend, »Ich wohne in einer zweihalb Meter hohen Butik und schnitzle an einer ganz niedrigen Hobelbank und muss den Kopf tief bücken, um nicht am Türrahmen anzustossen. Aber gerade darum habe ich so eine Sehnsucht nach hohen Türmen. Ach verzeiht, ich hätte wirklich nicht reden sollen.« Er lächelte wieder wunderlich einfältig und sah wie ein Kind vom einen zum andern. Dabei machte er sich von Sigi los und lächelte ihm noch ganz besonders ins Gesicht, als wollte er sagen: Halte dich an einen mächtigen Turm, Knabe. Ich bin selbst noch viel zu wenig Turm.

Gut hast du geredet, dachte Carl wieder, sehr gut. Ich will die Turmbaukasse unter das Patronat des hl. Notker stellen, das ist der rechte Türmer und Wächter.

Sigi jedoch fühlte bei diesen eigentümlichen Worten und Blicken des Zimmermanns und gar, als er von seiner Sehnsucht nach hohen Türmen sprach, jene alte hitzige Erregung wie bei der Erzählung der punischen Kriege oder wie bei einem ehrgeizigen Prämienbewerb oder wie beim kantonalen Schützenfest, als ein ziemlich junger Mann vor das Volk trat, alles unermesslich klatschte, eine Helvetia ihm den Lorbeer ins Haar legte und im selben Moment ein Kanonenschuss donnerte. Damals wurde ihm heiss und kalt, er fühlte Tränen und hätte das Leben geopfert für eine Minute solchen Triumphes. In diesem Augenblicke fühlte er ganz Ähnliches. Mit einem Schlag ekelte ihn das bisherige Leben an, dieses Spielen, Gaffen und Liebeln, diese bittersüsse Knabenhaftigkeit. Nirgends war ein Turm, nicht einmal ein Türmchen zu sehen. So konnte es nicht bleiben. In Kleinlichkeiten, immer unter zweihalb Metern, wollte er nicht leben. O Gott, etwas Grosses! einen Turm, und sollte es ihn das Leben kosten!

Es wurde später behauptet, der Schreiner habe vor der Rede zu tief in den Kaplanenwein geblickt, er sei ein Schwärmer, er höre sich selbst gerne und habe das ganz Gleiche schon oft gepredigt. Sigi wurde wütend, wenn man »solchen Mist« schwatzte. Nie konnte er das vom Mondschein und vom eigenen Seelenfrieden verklärte Gesicht des Schreiners vergessen, wie es bei jedem Satze sich hob und senkte wie unter einer unhörbaren Musik, und wie der krause Bart im Luftzug wehte und, je nach der Stellung des Redners, bald dunkel leuchtete, bald wie Silber rieselte, und wie es warm um die Brust dieses Mannes war, und wie sein Herz gewaltig geklopft hatte. Er hätte nie geglaubt, dass es ein solches Herzklopfen gäbe.

Kapitel 20

»Sie heissen also Ambrosia?« schrieb Johannes auf den Zettel, als das »Schulkind«, wie er das Mädchen fast verächtlich benamste, sich die Augen getrocknet hatte.

Sie lachte auf und schüttelte ein energisches Nein.

»Wie denn?«

Sie nahm den Bleistift und schrieb: »Loreley.«

»Wollen Sie mich naren?«

»Ich lüge nie!«

Gut, warum soll sie nicht Loreley heissen können. Er wusste eine Weile nichts mehr zu sagen. Es wurde ihm unbehaglich. Dabei fühlte er wohl, wie sie ihn unablässig betrachtete. Endlich schrieb sie: »Haben Sie Ihren Freund sehr lieb?«

Sogleich wollte Johannes antworten. Aber da stutzte er, kaute am Stift und legte ihn wieder weg.

Loreley stampfte mit den Füssen.

Lustig und kühl musterte er ihr cholerisches Gesichtlein und hob einen spassigen Drohfinger.

»Bitte, sagen Sie,« schrieb das Mädchen jetzt.

»Er ist furchtbar kurtzweilig und gescheit,« antwortete Johannes, »drum komm’ ich gern zu ihm. Auch sind wir Gespanen vom gleichen Dorf; sonst ...« Er durchstrich das »sonst« wieder.

Aber dieses »sonst« gefiel ihr. Sie wurde aufgeräumt. Auch seine Schreibfehler gefielen ihr. »kurtzweilig«, »naren«. Sie fing an, auf dem Papier sich ordentlich auszuplaudern. Dem Sigi sei sie dankbar, aber sie könnte ihn leichter hassen als lieben. Sie wolle aus dieser Bude fort, ehe er zurückkomme. Sie sei ja nicht arm, mit dreitausend verzinslichen Franken und einem hübschen Zimmer und so flinken Fingern. Sie schreibe »elend« schnell auf der Maschine. Ob er keine Schreiberin brauche? Warum er so weit von ihr wegrücke? Ob er dem Sigi glaube, dass sie beisse? Sie beisse nicht, wenn man sie zuerst nicht beisse. Ob er sie für ein schlechtes Mädchen halte? Er sehe so furchtbar sauber aus, wie Schnee, so weiss und so kalt. Ob er sie also für eine Dirne halte? Dann springe sie auf der Stelle zur Stube hinaus. Ein ehrliches Mädchen wolle sie sein. Aber je mehr sie es wolle, um so mehr mache man es ihr schwer.

Sie erzählte so eifrig, als hätte sie zu viel Wein genossen. In ihrem Zimmer könne sie einstweilen nicht übernachten. Aber sie habe einen hübschen Plan. Ihre grauen Augen funkelten vor schlauer Freude. Sie wollten morgen mittag zusammen hingehen. Sie hole dort das Nötigste und tausche dann mit ihm die Bude, bis ihre Sache in Ordnung sei. Ob er wolle? Es sei eine sehr schöne Kammer, sehr hell, zum Malen und Zeichnen gewiss bequem, und habe einen langen schweren Eichentisch und drei grosse Spiegel. Sie zeichne auch etwa.

Das ist ja ganz lustig, meinte Johannes. Warum sollt’ ich nicht? – Er überhörte das vom Zeichnen.

Die Wirtin brachte das Essen und fragte mit einem verschmitzten Lächeln, ob sie das Sofa zum Schlafen zurichten solle. Sobald aber das »Kind« erzürnt zum Bleistift griff, erinnerte sie sich, dass es ja kein Wort reden und keinen Sterbenslaut hören könne, also eine unglückliche, einsame Seele mitten im lustigen Tag sei, und da schwand sofort das Lächeln, ihre Augen wurden mütterlich weich, und sie legte beruhigend ihre fette Hand auf die Hand des Mädchens. »Ich habe nichts Arges gesagt, liebes Kind, lass, lass die Feder! Man kann doch lachen, ohne etwas Böses zu denken? oder, Herr ... Herr ...«

»Täler,« ergänzte Johannes. »Ja, uns dürft Ihr schon trauen. Das Jüngferchen bleibt vielleicht gar nicht hier über Nacht.«

»Keine Rede, es soll bleiben. Was will der arme Gof jetzt bei solchem Wetter weg? Hat er noch nicht genug? Mich stören Sie gar nicht. O nein, ich traue gut. Ich kann auch noch unterscheiden zwischen jungen Leuten und jungen Leuten. Wozu hat man Augen im Kopf? Und seit dreissig Jahren Pensionäre!«

Das Mädchen hielt ihr den Zettel hin. Sie nahm das Blatt und riss es unbesehen in vier Stücke. Dann ging sie fröhlich brummend davon.

Es war halb Acht, und der Wind rüttelte an den Flügelchen des uralten Bürgerhauses. Sie traten auf den kleinen Balkon hinaus und jauchzten beinahe auf. Der Himmel war gesäubert, der Mond warf ein unruhiges, windbewegtes Licht über die dunkle Limmat, die jenseitigen Häuser und über die zwei Kirchtürme, deren Zifferblätter drüben hell aufbrannten. Gerade unter ihnen flossen die Tramschienen wie eitel Silber und rutschte jetzt ein Wagen daher wie eine goldene Stube. Er war trotz der Nachtessenszeit ganz voll von Leuten. Alle hatten Pakete, Schachteln, Tüten in der Hand, alle wollten schenken und beschenkt werden. Denn übermorgen war Weihnachtsabend. Auch Tännchen wurden herumgetragen. Bis ans Geländer des Flusses wimmelte es von Leuten. Die Limmat selbst schien nichts als ein unzählbares funkelndes Hüpfen zu sein. Das erglomm und verglomm in der Sekunde hunderttausendmal und spritzte und funkte ein paar Sprünge weiter unten aufs neue auf. Durch den heftigen Wind klingelte und läutete es und schellte und schlug die Viertelstunden, dass man festlichen Sinnes werden musste und Johannes die Loreley an der Hand nahm und sagte: »Kommen Sie, Fräulein, wir machen einen Spaziergang in meine Bude. Wir können doch nicht hier vertrocknen.«

Sie verstand ihn sogleich, schlug freudig ihre Blicke zu ihm auf und schlüpfte in seinen Arm.

So war er noch nie mit einem Mädchen gegangen. Denn was man im Tanzkurs tat, geschah aus Höflichkeit und Schule. Dies hier war volle Freiheit. Er spürte den Mann in sich, den Adam, der die vielen Even zu führen und zu stützen hat. Eine gewisse süsse Wichtigkeit hob ihm die Beine und liess ihn überlegen über das Jüngferchen und selbst über viele hohe Damen und Herren hinwegblicken. Man hat diesen Augenblick nur einmal im Leben, warum soll man ihn nicht übertreiben?

Als Loreley die kleine, aber heimelige Bude des Johannes betrat, klatschte sie vor Freude. O die gefiel ihr! Da sah alles so gesichert aus! Sie ging sogleich ans Fenster; es sah steil und unangreifbar in die Strasse hinunter. Dann untersuchte sie die Türe, ob man gut verriegeln könne. Erst jetzt stand sie vor den Spiegel hin und drückte, wie jedesmal, mit dem Zeigefinger ihre Nasenspitze einwärts, da sie bangte, es wolle sich da immer noch ein Gipfelchen herausbilden.

Er ging nun mit der Lampe an den Wänden entlang, wo er seine Zeichnungen und Farbenskizzen aufgeheftet hatte. Da schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und tupfte mit dem Finger gegen ihn: Sie? Sie haben das gemacht? – Er nickte. Und auf einmal gefielen ihm alle diese Köpfe, Landschaften, Blumen wieder, obwohl sie bei seinen Professoren so wenig galten. Ja, die Schule hatte ihn klein gemacht. Da war er nicht mehr das Genie von Lustigern, sondern im Erfinden vielleicht der ärmste Schüler, im Nachgestalten der geistloseste, nur in der mechanischen Genauigkeit trefflich. Aber gerade dieses »Schneiderhandwerk« war verpönt. Der eine Lehrer hatte ihm gleich geraten, sich aufs Formale der Kunst, etwa aufs Ornament zu verlegen. Alles andere sei für ihn wie auf einer Stange reiten wollen.

Aber Johannes war eine jener trockenen, engen, selbstbewussten Naturen, die schwer von aussen etwas annehmen. Es hätte ihm doch zu denken geben müssen, dass der kluge Corneli, dann der Sigi und selbst das Mili verstohlen die gleiche Ansicht über sein Talent hegten wie jetzt die Professoren. Aber kopieren konnte niemand so rasch und sicher wie er, selbst von der Natur. Das war wirklich die Kuh, das war der Apollo, das war der Botticelli-Engel. Nur frass viele Kuh kein Gras mehr, jener Apollo konnte nicht spielen und jener Engel nicht fliegen. Doch gewöhnliche Augen sehen das nicht. Und die gewöhnlichsten Augen waren die des Johannes selber. Er war schnell zufrieden. Wenn es nur stimmte, wie er es sah!

Er liess also die Lehrer nörgeln. Wusste er doch, dass einige der grössten Künstler als geradezu unbrauchbar aus den Schulen gestossen worden waren. Wenn er hier nur die Technik lernte. Den weitern Weg wird er sich dann schon machen.

Immerhin beleidigte und ärgerte ihn die stete Kritik seiner Arbeiten. Er entschädigte sich dann im Herzen dafür, indem er auf seiner Bude die Meisterwerke der Alten durchblätterte und eines davon exakt und sauber auf sein Blatt zeichnete. Er besass schon ein ganze Album davon. Besonders gross hatte er des Paul Rubens Ambrosius auf Karton gezeichnet. Und vor diesem stand die Loreley nun staunend still, den kleinen Mund halb offen und den weissen Zahn weit vorgestellt. Dieser abwehrende bischöfliche Greis, dieser fragend und flehend gebückte Kaiser, diese Höflinge, so nutzlos und hilflos daneben, die stillen, zeremoniösen Priester, der unwissende Ministrant mit seiner gewaltigen Kerze. Da musste etwas Gewaltiges geschehen. Das Mädchen zog Papier und Stift aus dem Täschchen. »Der Bischof Ambrosius lässt den Kaiser nicht in die Kirche treten,« schrieb Johannes ungern, »weil er einen grossen Mord begangen und noch nicht gebüsst hat.« Loreley sann über die Worte nach und nickte ernsthaft. Plötzlich warf sie sich auf Johannes, umfing ihn mit beiden Armen und küsste ihn gewaltig auf den Mund. Ihre grauen Augen schwammen vor Entzücken.

Johannes lächelte verlegen und zeigte ihr hastig andere Bilder. Er war nicht mehr ganz kühl. Besonders gefiel ihr noch Dürers Jesuskind mit Augen voll herrlicher Gescheitheit und mit der Erdkugel in der Hand. Sogleich schrieb sie: »Wann ist Weihnachten?« – »Übermorgen.« – »Hattet Ihr daheim ein Bäumchen?« – »Ja.« Sie lächelte überaus zufrieden.

Sie sassen aufs Sofa, er rauchte eine Zigarette und bot ihr Biskuit aus einer Blechbüchse. Es fiel ihm nicht ein, dass Mili dieses Backwerk eigenhändig bereitet und ihm gestern als Weihnachtsgruss geschickt hatte. Er stopfte dem »Schulkind« Stück um Stück in den Mund, nahm schliesslich den Bleistift und zeichnete es im Profil ab. Das gefiel ihr jetzt am wenigsten. Aber sie sagte nichts. Sie glaubte ihm bereits mehr als sich selbst.

Sie wollte nun schon heute hier schlafen. Gut! Um elf Uhr verliess er sie, ganz erwärmt von ihrem seltsamen, wilden Wesen, und gab ihr auf der Schwelle, da sie darauf zu warten schien, einen raschen Kuss. Dann zügelten sie am nächsten Mittag das Nötigste aus Lorlis Stube und schlossen diese ab. Am Abend holte er sie aus dem Bureau. Aber am Weihnachtsvorabend bekam sie um drei Uhr frei und erwartete ihn um die Fünfe hier in seiner kleinen Bude.

Als er eintrat, funkelte ihm mit vielen roten und gelben Wachskerzlein ein kleiner Christbaum entgegen. Nüsse und Bauernäpfel hingen daran. Auf dem Wipfel schwebte ein Stern. Unten am Stamme sass eine Maria aus Wachs und wiegte das heilige Kind, während Joseph seinem Maultier Futter vorwarf. Neben dem Bäumchen sass Lorli, so hatten sie den kostbaren Namen bereits verbilligt, sass da in einem weissen Kleid, mit einem blauen Band um die Stirne, wie ein Christkind, und hielt ein wollenes Lämmchen auf dem Schoss.

Johannes schwankte zwischen Staunen und leisem Lachen. Er fühlte sein Dorf. Genau so machte man es daheim. Aber dieses seltsame Christkind, wie wichtig es ihn anschaute! Und das gelbwollene Lämmchen. Eine rührende Einfalt; aber er konnte nicht anders, es verzog ihm die Lippen zu einem gutmütigen Spott.

Aber jetzt nahm das »Schulkind« das Schäfchen, schaute Johannes fest und gross an, ob er es auch sehe, und rückte mit dem zottigen Tiere zur Muttergottes unter den Baum, liess es neben der heiligen Frau so stehen, dass sein wolliger Kopf dem Jesuskind an die Füsschen reichte. Das Lämmchen schien die göttlichen Sohlen küssen und wärmen, aber sich zugleich unter ihren Schutz begeben zu wollen. Ja, es wusste sich nicht nahe genug anzuschmiegen. Und immer fragten Lorlis Augen den Johannes: Siehst du? Verstehst du? – Es war kein Spiel, sie meinte etwas furchtbar Ernstes, das merkte nun auch er, und sein Scherz erlosch.

Unbehaglich, aber neugierig blieb er vor ihr stehen. Lorlis Augen fingen an zu bitten Hub gleichsam nach etwas von ihm zu dürsten. Aber nicht nach einem Kusse. Schliesslich wurden ihre Blicke schwer und traurig und ungeduldig, weil er gar nicht begriff. Sie zeigte auf das Lamm und dann auf sich. Sie, sie selbst sei das Jesus suchende Tierchen.

Jetzt auf einmal packte es ihn; genau wie beim Tode des Marx. Wieder einmal stiess ein besseres tieferes Gefühl durch seine Oberflächlichkeit hindurch und rührte an etwas Geheimem, was selbst Menschen, die wie Schaufenster sind, in sich bergen. Ach ja, so ein verschupftes Geschöpf war sie und suchte Schirm und fand ihn nirgends als allendlich unter diesem heiligen Bäumchen.

Er wollte sich zu ihr setzen. Aber sie ergriff ihn rasch am Arm und führte ihn ans Tischchen vor dem Sofa, das seitlings vom Baume stand. Da prunkten eine Flasche Macon, schon entkorkt, und daneben eine Kristallplatte mit vier spitzen Kelchen und die Flasche mit Milis Hörnli. An der Flasche aufgestellt war der Dürersche Jesusknabe. Daneben lag ein dünnes Heftchen mit der Aufschrift: Übungen. In einem Teller lagen Zündhölzchen und englische Zigaretten.

»Welch ein Mütterlein!« spasste er und wollte es aufs Papier schreiben. Aber sie zerrte unwillig an seinem Arm. Sie hatte ihn ungefähr verstanden. Sie konnte vieles von den Lippen und Augen lesen, sobald sie die Sprechenden besser kannte. Nicht so sollte er reden.

Sie füllte die Gläser, stiess mit ihm an, trank einen grossen Schluck und zeigte ihm das Heft. »Das Schäfchen der Christnacht,« hiess der Aufsatz. »Abgeschrieben für mein liebes Ding da, das Lorli Guerazzi, von Bertha Brunner. – Denk daran!« Das war ihre Pflegmutter, die zwei Jahre lang das verwahrloste Kind betreute und auf saubere Wege führte. Guerazzi! Also italienisches Blut! Darum dieses sonderbare Zeug, dachte er, das mir so gegen die Toggenburgernerven geht! Und mich doch so eigen bezaubert, musste er wider Willen zugeben.

Sie schlückelten wieder, assen Hörnli und es rann warm in ihre jungen Leiber. Johannes wollte die Türe riegeln, da man im Gang lärmen hörte, um recht ungestört zu sein. Aber sie zog ihn aufs Sofa zurück. Ab und zu sah Lorli nach dem Schäfchen, ob es noch dort an den Sohlen des Himmelsknaben hafte. Dann blätterte sie im Hefte, und er sah, dass die kurze Legende vom Christnachtschäfchen nun noch zweimal folgte, aber von Lorlis Hand abgeschrieben.

»Wollen wir es lesen?« fragte sie.

»Ich tue, was du willst,« sagte er und lehnte sich brüderlich an sie, genau wie er’s abends daheim beim Mili gewohnt war. Sie strickte dann am äussersten Ende der Fensterbank und er lag halb darüber und lehnte sich an ihre Achsel, so dass sie fast nicht mehr mit dem Garn ausholen konnte und es doch so gerne, ach, so gerne litt.

Auch Lorli duldete es. Aber die Mädchenhafte Sinnlichkeit von gestern und vorgestern, wenn es überhaupt das gewesen war, schien durchaus verflogen. Wie eine ernst Schwester oder eine junge noch ernstere Mutter gebärdete sich dieser Knopf von einem Weibe. Sie überschaute nochmals das funkelnde Zimmerchen mit der Gruppe unter dem Baum. »Ihr freund hat mir erzählt, dass ihr daheim es so macht; und dass man dann etwas Gutes isst und trinkt und dass du den roten französischen Wein gern hast. Aber das ist Nebensache,« schrieb sie. »Jetzt kommt die Hauptsache.« Sie bot ihm das Heft hin, er solle das Geschichtlein laut vorlesen! Mit einem gewissen Takt wählte er nicht die erste, deutlichste, sondern Lorlis letzte, etwas flüchtige Abschrift. Sogleich schrieb sie. »Ich war dumm, die Legende langweilte mich, aber jetzt ...«

Er legte den Arm leicht über sie und neigte sich mit dem Kopfe zu ihr, hielt das Heft nahe und wollte beginnen, als es an die Türe klopfte und fast gleichzeitig geöffnet wurde. Sigi trat ein, hinter ihm unsicher das Mili und zuletzt Schül Täler mit dem grünen Geigensack.

Johannes blieb wie versteinert sitzen. Aber auch die Ankömmlinge standen wie angenagelt still. Nur die Augen Lorlis flatterten gleich zwei grossen grauen Schmetterlingen von Gesicht zu Gesicht und hafteten zuletzt auf der totenbleichen wunderhübschen Jungfer im schwarzen Mantel und schwarzen Spitzentuch um den Kopf, die so steif dastand und ihr mit so düsteren Augen begegnete. Und diese Taubstumme verstand allein sogleich die ganze Lage.

Zuerst fasste sich Schül. Mit lustigen Augen und erhobenem Finger trat er herbei, nahm Johannes’ Hand und sagte: »Ja, ja, Hänsli, wir sind vom gleichen Dreck gemacht.« Und er griff behend nach Lorlis Hand und küsste sie. »Aber ein charmanter Besen, ich gratuliere.«

Im selben Augenblick schoss Johannes auf, es blitzte, klatschte, Schül strauchelte beinahe, glotzte mit tränenden Augen den Johannes an, ob es möglich sei ... und fuhr mit der Hand an die geohrfeigte Wange. Dann kroch er kleinlaut rückwärts zu einem Wandstuhl.

Diese schneidige Tat erlöste die Leutchen. Sigi bot dem Mili einen Stuhl und stand dahinter wie ein Knecht. Johannes bot die Hand. Sie war schlaff und gab keinen Druck. »Ich dachte nie, dass du mich so überfallest,« suchte er zu scherzen. Aber seine Lippen zuckten noch. »Sonst hätte ich dich anders bewillkommt.«

Sie sah ihn nur bitter an und blies ein wenig die Oberlippe auf. Es ging ihr noch alles wild im Kopf herum. Ihr Geliebter in der Umarmung eines Stadtmädchens. Aber dann doch der Christbaum daneben! Diese Dirne, ein so verwildertes fremdes Gesicht. Aber neben ihr das Jesuskindlein, und jetzt hat sie das Lämmlein ergriffen und drückt es eng an die Muttergottes und lächelt so eigen. Da trinken sie Wein und lesen Wange an Wange weiss Gott was Arges. Und doch die Ohrfeige! Und dieser Zorn wie aus Unschuld! Was soll sie glauben?

»Du sagst kein Wort,« fuhr Johannes schwieriger fort. »Es gefällt dir halt nicht, wie ... natürlich! Aber,« raffte er sich auf, »ich habe nichts Schlimmes getan, Mili! Ich stehe zu allem, was Du da siehst.«

»Wie ich dir gesagt habe, exakt!« sprach Sigi laut.

Die Jungfer stützte die Ellbogen auf die Knie und schattete das Gesicht mit beiden Händen. Sie atmete furchtbar schwer.

»Soll ich ein wenig geigen?« kam es schüchtern von der Wand. »‘s tät vielleicht gut! etwa: Es ist ein’ Ros’ entsprungen ... oder: Stille Nacht, heilige Nacht?«

Sigi wehrte mit der Hand ab. »Ich bin,« sagte er mit einer versucht ärgerlichen Stimme, »der Anstifter alles Bösen und Guten hier. Jetzt will ich eine kleine Rede halten. Doch, doch, Milmili, und du, Johannes, notiere der Ambrosia das Nötigste ...«

Und nun erzählte er mit einer kalten, beissenden Selbstverhöhnung, wie er den Zufall mit dem Kind hier ausnutzen wollte. Es dürfen es alle wissen, dass er ins Mili »bis über den Wirbel« verliebt sei. Und Johannes sei ihm darum heillos überquer gekommen. Doch habe er immer geglaubt, es sei nichts Ernstes von solchen, die wie Geschwister beisammen gelebt, für einen richtigen Liebhaber zu befürchten. Schon eine kurze Trennung werde das beweisen, und wenigstens Johannes habe durch sein gleichgültiges Wesen alles eher als einen Verliebten vermuten lassen.

Eine schwache Röte schoss über sein bleiches Gesicht.

»Hör’ auf,« bat Mili gequält.

»Ich muss und wenn ihr es nicht hören wollt, so sag’ ich’s dem Christkind, das heut nacht auf die Welt kam und an das wir alle glauben.«

Er habe gedacht, so einem kalten, vergesslichen Menschen wie Johannes anzuhangen, sei eine Sünde am frischen Leben. Mili verdiene ein ganzes heisses Herz. Mag er sich mit diesem »Schulkind« belustigen, habe er gedacht und sei heimgereist und habe mit Mili reden wollen.

Lorli sah gespannt auf Sigis Mund. Dann bot sie dem Johannes den Stift. Aber was sollte er schreiben?

Das Mili habe sich nicht erschüttern lassen. Da sei er rasend geworden und habe geschwindelt. Ihr Johannes liege in den Armen einer Dirne. Wie im Sturm seien sie da auseinandergefahren.

Aber am gleichen Abend in der bittersten Zerstörung seines Herzens habe er einen Mann wunderbar reden hören. Das heisst, er habe einfältig und nicht geschickt und recht kunterbunt durcheinander geredet. Aber ihn habe es wie eine Stimme aus den Himmeln gedünkt. Er habe sich in seinem Elend an diesen Mann geschmiegt, er sehe noch das Gesicht, viel leuchtender und freudiger als der schönste Stern über ihnen, und fühle noch das warme, gewaltige Herzklopfen unter seinem Kittel. Just, was der sprach und wie er’s sprach, habe ihn bis in die Seele getroffen. Er sei sich furchtbar dumm und klein und schlecht vorgekommen und noch spät nachts zum Pfarrer gelaufen, um ihm offen zu sagen, dass er das Mili dem Johannes nie wegnehmen könnte und nie wegnehmen möchte. Aber wen traf er da? Das Mili selbst.

Eben hatte das Mili dem Pfarrer gelobt, sie wolle jetzt durchaus auf Johannes verzichten; bis jetzt sei das innerlich nicht geschehen. Jetzt tue sie es mit vollem Verstand und Willen. Und der Pfarrer habe eine köstliche Freude gehabt und auf den eintretenden Sigi gezeigt: der wäre der Rechte! Aber wie sei Carolus aus den Wolken gefallen, als Sigi zum Mili sagte: Verzeih mir, ich will dich nie mehr behelligen; das wegen Johannes ist eine elende Lüge. Ich selbst habe ihm jenes Mädchen aufgehalst; aber es ist weder eine Dirne, noch lässt sich Johannes mit ihm in etwas Unsauberes ein. »So sagte ich.«

Mili blickt mit einem beredten Vorwurf auf das Sofa, wo sie die zwei so intim nebeneinander überrascht hatte. Sie schüttelte den Kopf, sie glaubte nicht.

Dann komme selbst und überzeuge dich, so viel ist die Reise schon wert, habe er gesagt. Und schliesslich, da auch der Pfarrer energisch beistimmte und der Schül längst wegen einer Anstellung nach Zürich sollte, so seien sie heute mittag wirklich abgereist, aber sie beide hätten nicht zehn Worte unterwegs gewechselt. Da seine Bude leer war, seien sie hierher geeilt und, obwohl er dem Johannes völlig traue, müsse er doch zugeben, dass der Schein, aber auch nur der Schein, eher für Milis Ansicht spreche. Und doch wiederhole er: sein Freund habe sich in nichts verfehlt, und ihm bleibe nur noch eines zu tun, das Mili und den Johannes recht ehrlich um Verzeihung zu bitten. »Aber du, Johannes, zeige endlich, dass du ein so kostbares Geschöpf verdienst. Sonst, bei Gott, geschähe dir recht, wenn ein Besserer sie gewänne!«

Dem Johannes schien, man kehre sein Inneres nach aussen. Er schämte sich und wusste nicht, wohin blicken. Dem Lorli entging nichts. Es rückte immer mehr von ihm ab und rutschte immer mehr gegen das Krippenspiel hinüber. Eine mächtige Wehrhaftigkeit kam über das Kind.

Ganz gewiss hätte vorhin eine Liebelei auf dem Sofa begonnen, das musste sich Johannes gestehen. Und ganz gewiss hatte er das Mili, sobald es ausser Auge war, auch ausser Sinn und Herz gehabt. Wenigstens für diese Zürcherzeit. Jetzt, wo es so bleich und müd im schlichten Dorfmantel dasass, fühlte er sich wie vernichtet. Doppelt vernichtet zwischen ihren und Lorlis anklägerischen Blicken. Und trotzdem hatte er nichts Böses getan, er sah in Mili nichts als die warmvertraute Schwester und in Lorli nichts als ein herziges Kind. War nun das ein Verbrechen?

»Ich weiss genug,« sagte das Mili tonlos. »Ich hab’ es ja gesehen, Arm in Arm, Wein ... eine ... eine Dirn ... Schon nach ein paar Wochen von daheim ... Und Weihnacht ... und wir dachten, du kommest ... du habest Heimweh ... du ... ach ... Uns kein Wort schreiben, aber da ... da kannst du mit einem ... hergelaufenen Mädchen schreiben und lesen und ... ach ... Onkel komm.« Sie erhob sich, tränennass, und die ganze Bitterkeit der letzten Tage und Nächte übernahm sie.

Ihr Gesicht war so schön und so durch und durch vom Kummer geadelt, dass niemand wagte, diese einfache, unmodisch gekleidete Dörflerin aufzuhalten, niemand als – Lorli.

Denn das war nun für alle unerwartet und erstaunlich, wie die Kleine aufsprang, in ihrem weissen Kleide wie ein Schmetterling der hochgewachsenen dunkeln Jungfrau anflog, sie umarmte und mit so inbrünstigen, guten, treuen Augen anflehte, dass in Mili alle Überlegung stockte. Dieses Mädchen, das dem Mili kaum an die Achsel reichte, aber mit viel reiferen Augen dreinsah, zog und zerrte mit leidenschaftlicher Heftigkeit an der Jungfer und zwang sie neben sich aufs Sofa. Dann öffnete sie das blaue Heft, tupfte mit dem Finger gebieterisch auf den Titel und warf hilfefordernde Blicke auf Johannes.

»Vorlesen sollst du das, Mili,« erklärte Johannes. »Gerade als ihr kamt, wollten wir damit beginnen. Vielleicht geht uns allen dann ein Licht auf.«

»Ach, wozu?« rief Mili. Sie verstand kaum, was man sagte. »Lese sie selber ... das ist ja alles ...«

»Das arme Kind ist taubstumm,« erwiderte Johannes.

»Was ... taub... stumm?« stotterte Mili, seiner kaum mächtig. Eine unermessliche Verwirrung, durch die es hell und dunkel zuckte, ergriff sie. Aber da lächelte die Kleine ihr schon ins Gesicht und nickte, denn das Wort taubstumm verstand sie am besten von der Lippe zu lesen, nickte fröhlich, streichelte die grosse Bäuerinnenhand mit seinen Pfötchen und tupfte wieder energisch auf den Titel.

»Lies denn!« bat Sigi. »Wir sind alle gestraft. Da hinten hat einer sogar eine Ohrfeige. Vielleicht verdienst du auch eine kleine Strafe. Lies!«

Mili schüttelte den Kopf. Unmöglich, unmöglich!

»Du hast ihr Dirne gesagt. Dieses arme Kind ist vielleicht in dieser Stunde besser als wir alle. Folg’ ihm, lies! Es ist gescheit, es will etwas damit!«

Dem Mili schwamm es vor den Augen. Es nahm dennoch das Heft. Wie Lorli das sah, umschloss es innig, innig mit einem Arme die grosse Nachbarin, blickte zu ihr auf, und ein wahrer Himmel entstrahlte seinen Augen. Aber mit dem rechten Arm presste es das Lämmchen zum Jesuskind. Das war unwiderstehlich. Ohne zu wissen, wieso und warum, begann Mili mit seiner hohen, lauten Stimme: »Es war einmal ein Lämmchen ohne Heim ...«

Lorli schlug mächtig, dass alle es sehen mussten, mit der Hand auf seine Brust: Ich, das war ich! ... dann umschlang es Milis kräftige Hüfte wieder und sah ihr sorgsam auf die geschnäbelte Oberlippe.

»Da dachte das arme Tier: Was mach’ ich allein? Alle haben ein Heim und einen lieben Herrn, nur ich nicht. – Und es ging auf die Suche.

Und zuerst kam es einem reichen Herrn in die Hand. Der hatte alles in Fülle, Haus und Herde und Macht und Reichtum. Aber wie es zu ihm trat, blitzte auch schon die Schere in seiner Hand, um ihm die Wolle zu nehmen. Und ein Schlachtmesser steckte grausig in seinem Gurt. Das würde er hernach ziehen und das Lämmchen, nackt und jung, zu seinem Mittagschmaus abschlachten. Da floh das Lämmchen.«

Jetzt zeigte Lorli mit unerbittlichem Finger auf Sigi. Der! der ist es! Ich habe ihn durchschaut. Er wartete, aber zuletzt hätte er Schere und Messer gezogen.

Sigi schluckte und zog die Brauen zickzackig hoch. Aber er sagte nicht nein und niemand half ihm. Mili drückte das Lorli enger an sich und fuhr leiser fort:

»Nun floh es zu einem andern Herrn. Der sass still und kühl da und freute sich am Tierchen und nahm Farbe und Pinsel heraus uns sagte: Sei glücklich! Ich will dich malen!

Aber das stillte dem Lämmchen weder den Hunger, noch gab es ihm Streu zum Warmwerden. Und so floh es wieder.«

Alle blickten auf das Kind. Und wirklich, es streckte den Finger sogleich gegen Johannes: der da; da war keine Wärme und kein Herz ... Jetzt sah auch Mili auf. Und wie ein einziger Blitz zum Erhellen einer ganzen, bisher dunkeln Landschaft genügt, so kam es über Mili: ja, kein Herz, Farben, Zeichnung, Essen, Trinken, Lachen, aber kein Herz. Und noch inniger, als wäre es von jeher sein Schwesterlein gewesen, drängte Mili das Mägdlein an sich, indem es weiter las:

»Da dachte das arme Geschöpf: Ach, jetzt geh’ ich nicht mehr hin, wo reiche oder schöne Herrschaften hausen. Die wollen mich ja nur zum noch reicher und noch schöner Werden verbrauchen; aber nicht zum Hirten und Herzen, wie ich’s doch auch brauche, gleich alles, was lebt, nehmen sie mich zu sich.

Jetzt suche ich keine hohen und breiten Höfe mehr. Da ist keine Liebe. Und es trabte und trabte müde weiter, wo etwa ein recht kleiner niedriger Stall wäre und davor eine ganz elende Stallampe hinge, denn es dunkelte schon.

Vom Hunger, Wind und Unwetter war das Tier so misshandelt, dass es geradezu hässlich anzuschauen war und die Hunde es überall anbellten und die Buben ihm Steine nachwarfen und kein ehrlicher Mensch mit ihm hätte etwas zu schaffen haben wollen. Das ist ein ausgeschämtes, verlumptes, verdorbenes Tier, sagten sie und schüttelten sich vor Anstand und Ekel.« – Wieder zeigte Lorli auf sich.

»So wagte es nun nicht einmal mehr in die kleinen Höfe und geringen Hürden hinein. Es ist zu schön da für mich, jammerte es und suchte noch Geringeres.«

Die kleine Gesellschaft in der Stube verstand nach und nach, wohin die Legende ziele. Alle ergriff der einfältige Ton. Und Mili las auch rührend einfach.

»Endlich, als es fast erfroren und todmatt war, sah es noch einen kleinen Lichtschimmer von einem Stall her kommen. Dieser Stall war eher ein Haufen Steine mit Ästen darüber und einem Loch darinnen. So etwas Armes hatte nicht einmal unser Lämmchen bisher gesehen. Das ist etwas für mich, dachte es; das passt ganz zu mir. – Und im Augenblick fühlte es schon etwas Heimatliches, Stubensüsses über sich kommen. Es trottete herzu, blieb am zerbröckelten Eingang stehen und staunte geblendet. Denn innen war alles voll Licht. Eine königlich schöne Mutter sass da auf einem Strunk Holz, und ein Kind hell wie die Sonne lag in ihrem Schoss, und Lämmchen aller Art drängten sich herum, magere, besudelte, zerfetzte und verkrüppelte, rieben sich an den Knien der Frau, wärmten sich am Sonnenschein des Kindes und blökten so vergnügt, wie man nur im sichern Heim sich so gebärden mag. Und sogleich sah die heilige Frau das zitternde Tier an der Schwelle und winkte es herzu und grüsste: Herein, herein, hier darf niemand draussen stehen. Gerade du nicht! Gerade für euch hab’ ich diesen jungen, schönen, guten Hirten geboren. Ihr hättet ja sonst niemand. Er aber wird nicht bloss euch, sondern die ganze Welt behirten und behüten.

Und da fühlte das Lämmchen, wo es doch eben noch vor Blödigkeit und Elend meinte umzufallen, keinen Hunger und keinen Frost mehr. Maria streichelte sein Fell glatt, und das Jesuskind lächelte es an, und nun kam noch Joseph, schüttete Heu und Streu auf und drohte mit dem Finger, aber nicht böse, dass sie jetzt alle wie Brüder und Schwestern in guter Ordnung ässen und tränken und friedlich nebeneinander von allem Leid der Welt ausruhten, recht wacker schliefen und zu einem neuen besseren Tag erwachten.«

Sogleich nach diesem Schlusssatz zeigte Lorli zum Lämmchen neben der Krippe. Und alle verstanden, es wolle nun auch einen solchen guten und treuen Hirten suchen. Ob man verstehe? Dann stand es stramm auf. Offenbar wollte es sogleich weggehen. Hier hatte es seinen Stall nicht gefunden.

Aber Mili hielt es nun seinerseits mit aller Kraft fest und sagte: »Du Gutes!« Und sie nahm es wie ein Kind zwischen die Arme, dass Lorli halb auf ihren Schoss zu sitzen kam und küsste es zwei-, dreimal auf den Mund und streichelte es über den Wangenflaum und sagte wieder: »Du Gutes!« und: »Verzeih mir, ich war auch so schlecht und traute dir übel und nannte dich sogar Dirne, während du doch so gut bist. Verzeih mir!« Obwohl Lorli die Worte nicht buchstäblich verstand, begriff sie doch den Sinn der Liebkosungen und nickte und wehrte und wollte aufstehen und sich, ach so gerne wieder neben diese gesunde, frische, Reinheit und Stärke atmende, wahrhaft mütterliche Freundin niederlassen. – Die zwei Jünglinge jedoch sahen sich verlegen an: was nun?

Da simmte und summte es plötzlich leise durchs Stüblein wie von süssen frommen Bienen, wenn sie um ihre liebste Blüte schwirren, hineinschlüpfen und selig vom Genuss mit einer noch viel innigeren Musik weiterfliegen. Es war die C-Saite auf Schüls Violine. Dann glitt das Spiel auf die nächsten Saiten, rauschte kräftiger, etwa wie junges Weidenlaub im Morgenwind, noch ehe die Sonne da ist, geheimnisvoll zu flüstern und plaudern beginnt. Dann ward es lauter. Das war schon Buchenlaub, geschüttelt im lauten, streitbaren Tag. O wie schön! Alles lauschte. Schül hatte »seine Gnade«.

Plötzlich eine Stimme von weit, weit hinten, aus einem gewaltigen Dome etwa, von der dunkeln Orgelempore her. Einsam und still klang die Melodie: »Es ist ein’ Ros’ entsprungen.« Alle horchten, sagten die Worte in der Seele nach und falteten unbewusst die Hände.

An diese einsame Stimme der Hoffnung schloss sich nach kurzem ein feierlicher Chor an, sang und hoffte und glaubte mit und sah mit Augen: »Hat sie ein Kind geboren, das uns erlöset hat.« Der Dom füllte sich mit Weihnacht. Tausendköpfig sang das Volk zwischen Bögen und Säulen mit.

Wie wunderbar geigte der Julius! Schwitzte er oder weinte er oder von was glühte sein schönes, weiches Mannsgesicht in solcher Feuersbrunst? Niemand, der nicht gemeint hätte, er wäre in der Kirche, in der Lustigern Weihnachtsmette um Mitternacht.

Lorli schob schüchtern ein Blatt dem Mili zu. Was war das, was dieses Stüblein zu einer Kirche machte? Und Mili schrieb:

»Es ist ein Reis entsprungen Aus einer Wurzel zart, Wie uns die Alten sungen, Von Jesse kam die Art, Und hat ein Blümlein ‘bracht, Mitten im kalten Winter Wohl zu der halben Nacht.«

Lorli sog die Zeilen sozusagen aus dem Stift. Sie, die nicht reden und nicht hören konnte, konnte dafür besser als alle diese scharfen Ohren und Zungen das Unaussprechliche und das Verschwiegene aus Mensch und Natur und hier aus diesem fast übernatürlich schönen Lied erkennen. Sie war jetzt die glücklichste. Sie schmiegte sich an Mili wie das Laub an den Zweig, und es schien ihr, sie höre nun auch aus dem Atem und dem singenden Saft und Blut der Freundin die Musik der Geige dort, ihr Schwingen, Schweben und Ruhen.

»Das Röslein, das ich meine, Davon Jesaias sagt, Hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd; Aus Gottes ew’gem Rat Hat sie ein Kind geboren, Das und erlöset hat.«

Lorli vermochte nichts als zu lesen und die schreibende Hand zu küssen.

»Wir bitten dich von Herzen Gott, Vater aller Gnad’, Durch dieses Kindleins Schmerzen, Die es erlitten hat, Woll uns verhilflich sein, Dass wir ihm mögen machen Ein’ Wohnung hübsch und fein.«

»Wo singt man das?« bat Lorli hingerissen.

»Bei uns auf dem Dorf! Komm mit! Komm zu mir!«

»Ich werde kommen.«

Dieser sonderbare Christnachtabend in der Zürcher Studentenbude hatte eine grosse Bedeutung für alle fünf Personen, ja, man kann sagen für ganz Lustigern.

Schül unterrichtete sich über ein verkrachtes Unternehmen, nämlich eine kleine Vorstadtbühne mit Musik und theatralischen Vorstellungen. Infolge der Grippe war sie eingegangen. Niemand hätte zum Eiter einer solchen Anstalt besser gepasst. Jetzt wollte ein kapitalkräftiger Nachbar neu beginnen, ein Schulkamerad von Herrn Zellwig, und dieser empfahl ihm den Julius Täler in seiner heitern und vielseitigen Zutunlichkeit als Musikus, Verse- und Spässemacher, Schauspieler und Malerdilettant. Alles hätte sich genehm abgewickelt, Schül präsentierte sich ausgezeichnet, gefiel durchaus und hätte einen famosen Vertrag sofort unterzeichnen können, wenn nicht eine Garantiesumme von sechstausend Franken die unerlässliche Bedingung der Anstellung gebildet hätte. Es ward aller Wein der Begeisterung flink zu Wasser und Schül zog ganz verzagt heim. Sigi warf sich mit einer Art von Gier auf das Strafrecht, korrespondierte mit dem schwäbischen Zimmermann und wurde viel in den Bibliotheken Zürichs über seltenen, historischen Papieren angetroffen. Er ging auch noch viel mit Mädchen, besonders mit einer Halbtürkin, deren unheimlich feuriges Haar wie die vergoldete Kuppel einer Moschee über dem melancholischen Gesicht sich in die Höhe wölbte. In der Fastnacht soll er es besonders keck an den grossen Bällen getrieben haben; aber im geschichtlichen Seminar galt er als der schärfste Kopf, dessen skeptische Einwendungen selbst den berühmten Professor manchmal verlegen machten.

Johannes lebte im alten fröhlichen Trab weiter. Manchmal meinte man auf Augenblicke, es habe sich eine Spalte in seinem vergletscherten Wesen geöffnet. Sah man näher zu, so war es glatter, sauberer Firn, dessen schwache Fussspuren von einem munteren Wind und einer kühlen Sonne immer rasch verweht wurden. Neben eifrigem Zeichnen und Farbenmischen – und hier leitete ihn ein prachtvoller Sinn – schuf er ein Dutzend Stickmuster und sandte sie dem Mili zum Geburtstag. Sie hatte gestaunt.

Wie wusste dieser Egoist einen fremden Geburtstag. Da war doch wieder eine kleine Fussspur der Gefühle!

Aber umsonst bemühte er sich, den Ambrosius der Rubens-Gruppe zu steifen oder den Theodosius tiefer zu buckeln. Es kam immer etwas Verzerrtes heraus. So liess er es denn im Alten und schrieb an den Pfarrer: man darf nichts Hauptsächliches an einem alten Meister korrigieren!

Sechs Wochen nach jenem Abend befand sich Lorli im Tälerhause bei der Freundin. Der merkwürdige Toggenburger Hornung hatte eben begonnen und Mili führte sein kleines »Schwarzjüngferli« sogleich recht und schlecht, als wäre es immer so gewesen, am Blasiustag in die Kirche zur Halssegnung und zwei Tage später, an Sankt Agatha, durfte Lorli auch vier Brötchen zum Altar tragen, damit sie geweiht würden. Das Geblüt der italienischen Ahnen regte sich und Lorli glaubte wahrhaft in jenem stillen Dorf ohne Bahn und Postwagen den rechten Stall und Wirt gefunden zu haben. Sehr bald begriff es die Geheimnisse der Stickerei, die Geheimnisse des stillen Heli und das Geheimnislose, aber Fabrik- und Augenfällige der Johannes-Zeichnungen. Es kam nun vor, dass der wortsuchende Heli und das wortlose Lorli über der Vorlage des Johannes sassen und das Gleiche dachten.

Kapitel 21

Frau Ida Quäler lag wieder im Bett. Die Grippe sei ihr in den Kopf gefahren. Es war aber noch etwas andres.

Ihr Mann hatte, wie übrigens auch schon der Schlüsselwirt und der Wirt vom Weissen Lämmli, nach Dreikönigen doch wieder eine »kleine gesunde Belustigung« veranstaltet. Frau Ida war furchtbar zarten Gewissens und hurtig von Skrupeln bedrängt. Sollte sie es dem Pfarrer zeitig mitteilen? Es war ein »geschlossener Tanz«, wie man sagte, im Hinterhaus, und nur etwa zwanzig Personen waren vorgesehen. Die Lampen sollten verhängt und Kissen zwischen die Vorfenster und die eigentlichen Fenster gestopft werden. Dennoch, die Sünde war da, gleichviel ob bei offenen oder verrammelten Türen.

Diese Qual, entweder eine Verräterin des Hauses zu sein und das letzte Fädlein Liebe zwischen Viktor und sich zu zerreissen oder eine grosse Sünde zuzulassen und mit ihrer kindlichen Moral in Streit zu kommen, dieses Auf und Ab und keinen Ausweg finden, stürzten das arme zarte Weib wieder ins Bett. Und wirklich irrte und spukte es nun seltsam durch ihr kleines Gehirn. Sie redete unverständliche Dinge, bekam Angstdelirien und es ward offenbar, dass Reste der Grippe auf jenen haarfeinen roten Strässchen des Blutes ihr in den Kopf geraten waren und dort nun ihr wüstes Unwesen trieben.

Sie rief den Pfarrer zur Beichte. Aber als der Riese gross und machtvoll vor ihr stand, gütig lächelnd, aber doch als Richter, da hatte sie nicht den Mut, ihm die Gefahr zu erzählen. Plötzlich kamen ihr siebenfach die Ausflüchte; was gehe sie der Plan ihres Mannes an? Hindern könne sie ihn doch nicht. Er werde vielleicht gar nie ausgeführt. Sie wolle dagegen beten. Aber kaum war der Geistliche mit Stola und Gebetbuch aus der Türe, so kehrten die Ängste mit doppelter Gewalt zurück und ihre Seele fühlte sich bedrückter als je. Sie hatte etwas Wichtiges in der Beichte verschwiegen. Ihr Bekenntnis war nicht ehrlich genug, das Sakrament wurde entehrt; statt ledig ihrer Schuld war sie noch viel schuldhafter geworden.

An einem Sonntagabend wurde dann wirklich getanzt. Ab und zu hörte die Kranke, je nachdem eine Türe aufging, etwas von Schüls Geige. Aber merkwürdig, statt sich davon noch bedrängter zu fühlen, taten ihr diese Töne wohl. Einmal kam Viktor, weinatmig und weinfröhlich in die Kammer. Er trug ein Gläschen alten Marsala und die Flasche in der Hand, fragte, wie es gehe, diesen Tropfen da solle sie schlucken, das sei Medizin bester Sorte und überhaupt solle sie fröhlich sein. Es gehe ganz artig zu. Der Papst dürfte zuschauen.

Sie trank, fühlte Mut und bat, man solle ihre Tür ein wenig offen lassen. Es klinge so schön. Da küsste er sie sogar und sagte: »Warte nur! In einer Stunde wird das Nachtessen serviert. Dann ...«

Was dann? Er liess Flasche und Gläschen auf dem Nachttisch stehen und lief pfeifend hinaus. Aber nach Kurzem schlüpfte Schül herein, mit einem wahren Bubengesicht, so frisch und lustig, setzte sich in die dämmrige Ecke, stimmte die Geige und fragte: »Was darf es sein?«

»Ein Bild ist mir ins Herz gegraben,« flüsterte sie, und die Violine, die eben noch die ärgsten Gassenhauer geschrien hatte, machte plötzlich einen pilgerfrommen Mund und sang das Lied jenes innigen und sinnigen Mönchs in der Waldstatt, das sie vor zwanzig Jahren auf der Hochzeitsreise mit ihrem noch so stürmisch guten und idealen Viktor zum ersten Mal vernommen und tief in ihre eigene Besinnlichkeit eingeschlossen hatte. O wie es rührte, wie die Magd Gottes in den Höhen zuhörte, freundlich mit dem blauen Mantel rauschte und dem Jesuskind, das einen Büschel Schneeglöcklein in der Hand hielt, die Fingerchen lockerte und zuredete: Lass fallen, Kind! noch mehr! ‘s ist eine gute weisse Schneeglöckleinseele. Man kann ihr nicht genug Weisses geben.

»Und jetzt?« – Dreimal musste Schül fragen, bevor Ida aus ihrem Fieber erwachte und wusste, wo sie sei. »Und jetzt?«

»Der Ustig wot cho,« rief sie lebhafter.

Sogleich jubelte das urchigste Frühlingslied der alten Schweiz zur Decke empor. Ah, sie, die Obertoggenburgerin, lebte selig in ihre Kindheit zurück. Wo sind die Wiesen bis im Oktober so grün? Wo trampelt das Vieh so ungebärdig aus den Ställen? Wo geht’s so lustig zu den Höhen, unter das Gefels des Altmann und Säntis? Wo dudelt die Holzpfeife und simsimelt die Mundorgel so fein und schäkern die Jungfern im prallen Rock mit farbiger Schürze und glühendem Kopftuch so boshaft mit den Sennen? Und die junge Thur rauscht aus den Schluchten hervor, und der Frauenschuh wächst gelbbraunsamtig an den Schattenränften, und die Kuckucke locken sich viertelstundenweit von Wald zu Wald, und der Schnee ist nicht mehr ein Feind, sondern eine vornehme, silberne Hoheit, die das schnellfüssige Talvolk zu sich hinauf lädt, um einmal von da oben das schöne vierkammerige Toggenburg in seiner ganzen Seele, von seinen naivsten Empfindungen bis zur weltmännisch gereiften Erfahrung ausgeschüttet vor sich zu sehen. Und alles im »Ustig«, im »Austagen«, das ist, in der Zauberzeit, wo endlich wieder das verwinterte dunkle Jahr zu tagen beginnt, wo es endlich wieder Morgen, sonnig, zum Leben, ach, zum schönen Legen taghell wird. »Der Ustig wot cho.«

»Und jetzt?« – Schläft die Frau? Schül schleicht näher, sieht entzückt ihr friedliches Gesicht, noch entzückter die golddunkle Marsalaflasche. Aber er überwindet sich. »Frau Ilgenwirtin, und jetzt? Ich muss dann zur Tafel.«

Jetzt? Sie reibt sich die Augen. Jetzt noch ein tolles, ein ganz tolles! Übermütig lächelt ihr verkümmertes Gesicht, und man merkt, dass hinter diesem verblassten, vergrübelten, unlustigen Bild einst eine helle Mädchenschönheit und Mädchenlustigkeit herrschte.

»Wisst Ihr was? Wo e chlis Hüttli steht, ist e chlis Güetli.«

»Da kommt Ihr mir grad recht, Frau Bas’,« und sogleich stürzte er, drei Schritte vom Bett, das übermütige, hopsige Lied herunter, indem er leise die Worte summte: »Wo de vieli Buebe sind, Meitli sind, Buebe sind – da isch halt lustig, da isch halt schön ...« Und weiter: »Meitli, tue nid so harb, du bisch betroge, Meitli, tue nid so stolz, du bisch i Gfohr ... Dass i di nimme mag, gar nid mag, nimme mag, säll isch erloge, säll isch nid wohr.«

Was dachte die Frau in den Kissen? Wie sie einst selbst getanzt und getollt und geliebelt und geschmollt hat? Denn dort oben, im rassigen Obertoggenburg, hätte kein Teufel und kein Engel das Tanzen verwehren können. Jehova mit allen Blitzen müsste selber dreinfahren! Dort sind sie breit und schwer und nackenfest, potztausend, die Männer. – Oder denkt sie an Sigi und seine Mädchensehnsucht? Ist’s Krankheit, ist’s Spass wie zu ihrer Zeit? Aber einer wie ihr Gemahl darf er nicht werden, nie, nie!

»Dass ich di nimme mag, gar nid mag, nimme mag, säll isch erloge, säll isch nid wohr,« repetiert der Spielmann und Frau Ida lächelt und denkt nun wirtlich an Mili und Sigi. Ei, ei, wie nur schon die Namen passen.

Schül will jetzt gehen. Man bankettiert im Saal. Ohne ihn läuft nichts recht. Aber da winkt die Frau, leuchtend in ihren Fiebern und Liedern und bittet: »Vetter, nur noch eines!«

»Gut, aber ein kurzes! Was für eines?«

Sie sinnt, wird ernst, Schatten huschen daher. »Das Stabat Mater!« sagte sie endlich.

»Was?«

»Seht die Mutter voller Schmerzen.«

»Was? Das da? Jetzt nach dem Holdrio?«

Sie nickt: »Ja, gerade das. Bald haben wir Fastenzeit.«

Da kauert Schül in die Ecke, schliesst die Augen, duckt sich zusammen und stimmt den unerfasslich einfachen, wehen Choralton an, von der Mutter, die unter dem Kreuze steht, von allen Müttern, die vom Liebsten am härtesten leiden. Schül, der bewegliche, gefühlsheisse Schül, ist sogleich in diese uralte Bitterkeit versenkt, die Saiten beben, der Bogen weint. Eine Andacht, eine Grösse, eine Herzensinnigkeit steigt auf, etwas Heiliges umschwebt ihn, der spielt, und sie, die mitbetet, als wäre eine sakramentale Stunde. Sie bemerken nicht, wie jemand längst leise die Türe geöffnet hat, wie das Heilige hinausschwebt, bis in den Saal, wo das beinschwingende Völklein Löffel und Gabel sinken lässt, die Hände auf dem Tischtuch faltet und leise, als waren sie drüben in der nahen Kirche, mitsingt. Nachher wollen sie wieder jodeln und bodenstampfen und greulich herumwirbeln. Aber jetzt, pst, Emil Weibel, leg’ das Messer weg. Kannst den Hühnerschenkel nachher fertig schaben, pst!

Als die Violine verklang, betete Frau Ida noch weiter. O schön, schön fürwahr ist auch der Schmerz. Süss ist auch das Leiden für liebe, liebe Menschen. Und süsser sollt’s noch sein für das Liebste, den Gott, der das Lieben und Leiden erfunden hat und allein weiss, wozu.

Sie wollte dem Schül danken. Aber was machte er? Tief über die Geige hängt sein weichlich mildes Gesicht, er weint, er schluchzt, er verbirgt das Gesicht wie ein verschütteltes, reuiges Kind.

»Vetter!«

»Ich muss jetzt gehen, Bas’; ich weiss ... aber noch eine Minute!« Grimmig wischt er sich mit dem Seidentüchlein, das er kokett wie grosse Geiger von der linken Achsel über die Herzseite fallen lässt, das nasse Gesicht ab. »Dieses Lied ist ein Wunder! O wir Sünder! Es ist glaub’ ich vom Himmel gefallen wie eine Sternschnuppe, wer könnte solches erfinden da unten?« sagte er und heiterte sich rasch auf. Ida bot ihm die Hand, und da funkelte ihn das Marsalagold noch zauberischer an. Die letzte Träne vom Auge wischend, bat er dienerlich: »Wie wär’s, gute Bas’, ist’s erlaubt? Ein Spitzchen voll?«

»Nehmt, nehmt!« gewährte die Kranke und kehrte sich gegen die Wand, um nach fauche Erhebung mit sich allein zu sein.

Schül füllte das Gläschen schnell ein zweites und, da die Frau Bas’ nichts zu merken schien, ein drittes Mal. Wie, ich spielte doch vier Lieder! Also noch einen letzten Schluck, cantores amant humores! –

Die Fastnacht dauert in diesen Dörfern sozusagen von Dreikönigen bis Aschermittwoch für den Begehrlichen. Julius Tälers Geige reizte bald da, bald dort zu kleinen heimeligen Karnevalsfreuden. Es war sein Blut, das dann gleichsam gärte und sich Luft schaffen musste. Und so brachte er auch das solidere Blut vieler Dörfler, das ohne ihn keine Wellen geschlagen hätte, in kleine Fastnachtstürme. Tanzabende wie damals im Löwen zu Schwarzenboden gab es natürlich keine mehr. Denen hatte Carls Dazwischenkunft ein für allemal ein Ende gemacht. Aber in engen Zirkeln, unter ganz wenigen, wie in der Ilge, die das Geheimnis gleich Verschworenen wahrten, und dann in Bauernhöfen, wo es eine halbwüchsige Jugend und Knecht und Magd gab, sozusagen am Familienabend, da zündete die Geige, da glühte der Tanzrhythmus, da loderten Walzer, und Schottisch durch die plumpsten Beine, und da schwoll und brauste Schüls Blut im Schwall und Gebrause des Trüppleins, das er mit seiner Musik aufhetzte, gewaltig mit. Ja, er hetzte und ward selbst noch mehr gehetzt. Ein Rausch erfüllte die ganze Stube.

Aber die Böden der Lustigerstuben sind harthölzern, sie hallen so laut wider, und die Schuhe der Lustigerburschen sind zu schwer genagelt, als dass sie nicht zu Verrätern würden. Carolus wusste nach und nach von jedem einzelnen Vorfall. Jedesmal bekam er ein Tosen im Gehirn bis unters Haar, Schwindel und starkes Nasenbluten. Er bat endlich Julius zu sich, suchte ihm das Unheil vorzustellen, das seine Tanzmusik in das ruhige Dorf werfe, flehte, drohte, bot ihm vielerlei kurzweilige Arbeit zum Ersatz an, wollte für ihn eine Blechmusik, eine Lesegesellschaft, ein Theater gründen und suchte ihn jetzt sogleich für die Fastnachtspiele zu dingen, wo dem Dorf die alten Tänze mit der Tracht und Sitte und dem Spiel jener Tage als Gegengift zu der modernen Hopserei vorgeführt werden sollten. Freilich ward strikte gefordert, dass er dem ärgerlichen Zusammenleben mit Siria ein Ende mache, wobei aber Carl seine ganze treue Hilfe versprach. Er wollte für Siria die Unterkunft in einer richtigen Haushaltungsschule besorgen. Dort solle sie in der Lehre der Kirche unterrichtet werden. Inzwischen führe Schül sich in Lustigern ehrbar auf und gewinne das Zutrauen des Dorfes. Dann, wenn alles reif sei –, denn auch er lebe nicht mehr wie ein Christ, geschweige wie ein Katholik! – sollen sie beide mit dem heiligen Band des Ehesakramentes für alle Zeit verbunden werden. Schül würde sich und Siria glücklich machen und das Dorf von einem bisher hier unbekannten Skandal befreien. Aus einem Stein des Anstosses könnte ein Baustein Gottes werden.

Als Schül schwieg, fragte Carl nervös, wie er bei einem solchen Angebot noch stutzen könne. Es sei gerade, als sage der Arzt zu einem Sterbenden, er müsse sofort ins Operationszimmer getragen und dort mit dem Messer gründlich zurechtgeputzt werden, dann sei er im Nu gerettet. Sonst sterbe er noch vor dem Hahnenschrei. Und dieser Patient zaudere noch!

So manches in dieser Rede dem Vagabunden auch einleuchtete, so roch seine gute Nase doch, dass unter dem Stab des energischen Pfarrers seine Ungebundenheit ein trauriges Ende nähme. Und dieses lockere, an keine strengen Pfähle geschmiedete, fröhlich herumlungernde Dasein war ja doch sein eigentliches Element. Und was gäbe das für ein Theater, was für eine Blechmusik in dieser Bauerngemeinde! Ein Ekel! Ohnehin war ihm Lustigern durch den düstern Winter hindurch verleidet. Sobald irgendein helles Loch im Horizont aufginge, wo er ins Weite hinaus schlüpfen könnte, wollte er sprungfertig sein.

»Wie also?« drängte Carl. »Dass Ihr auf diese Art hier mit Siria zusammenlebt, geht absolut nicht länger an. Darum stand ich am Dorfeingang so hart gegen Euch auf, weil ich ahnte, was unser warte und wie eine Abwehr mit jedem Tage schwieriger würde. Ich werde Leib und Seele dransetzen, um dieses Ärgernis aus dem Dorf zu schaffen, das sag’ ich Euch.«

»Ich bin zivilrechtlich verheiratet,« antwortete Schül mit einigem Pathos. »Die ganze schweizerische Eidgenossenschaft schützt mich.«

»Auch ich gehöre zur Eidgenossenschaft und bin stolz darauf und möchte ihr viel Ehre machen,« versetzte Carl. »Aber dabei vergess’ ich nicht, dass es noch eine weitere, höhere, seelenbindende Eidgenossenschaft weit über alle engen Grenzsteine hinaus gibt, die katholische. In ihr seid Ihr getauft. Nur in ihr werdet Ihr Mann und Weib. Die Ehe ist kein herrenloses Gut, sie ist ein Sakrament im Glauben und in der Liebe Christi! Gewiss, ich bin nicht der Staat. Ich kann Euch nicht mit weltlichen Mitteln zur katholischen Pflicht zwingen. Aber ich kann das Dorf vor Euch warnen, den Umgang mit Euch verbieten und die Unfolgsamen so lange mit den geistlichen Strafen züchtigen, bis sie klug werden und von Euch lassen. Zuletzt steht Ihr allein da, machtlos, unbeliebt, entehrt und von vielen verachtet, von allen weit über alle Toggenburgerhügel weggewünscht, unruhig in der eigenen Seele und schuldig am Elend der armen, so gelehrigen, treuen Siria. Und wenn Euch dann nicht Eure eigene Unrast fortjagt, so hat Euch ganz sicher noch eh’ die Not von dannen gejagt.« –

Schül zerrte an den Zipfeln seines Schnurrbartes, halb in Angst, halb in Hochmut.

»Meint Ihr etwa, ich wolle Euch oder Siria nötigen, katholisch zu werden? Gegen Euer Gewissen, wenn so was bei Euch überhaupt noch mitspielt? Oder gegen Euer inneres Denken und Fühlen? Torheit! Wenn Ihr mir sagtet, Ihr wolltet morgen mir zu lieb oder der Nützlichkeit wegen zur Beichte und Kommunion kommen, ich schlösse die Kirche vor Euch. Ihr müsst von Herzen wollen, gerne, gerne wollen. Und darum möcht ich Euch Stunden geben, wie einer italienische oder englische Unterrichtsstunden gibt. Ich möchte Euch katholische Stunden geben. Ihr sässet da und ich da und wir plauderten gemütlich, untersuchten, stritten, bewiesen und Ihr hättet nichts, rein nichts anzunehmen, als was Euch als spiegelklare Wahrheit ins Gesicht schiene; so dass nur ein Trotzkopf, einer, der lieber blind als sehend sein will, immer noch Nein, Nein, Nein riefe. Ich würde hoffen, mit der Hilfe Gottes Euch doch aufzuklären. Gelänge es mir nicht, so würden wir im Frieden auseinandergehen. Ich betete dann unablässig für Euch und ergäbe mich fröhlich darein, dass Gott zu Eurer Erweckung aus dem Tode – und tot oder doch scheintot seid Ihr in Eurem Unglauben, während es an Siria, wiewohl sie nie weder protestantisch noch katholisch unterrichtet wurde, trotzdem überall knospet und blühet, da sie eben den guten heitern Gotteswillen in sich hat – ich sage also,« versuchte sich Carl aus dem ungeheuerlichen Satzgefüge zu retten, »ich fügte mich gerne darein, dass Gott zu Eurer Erweckung aus dem Tode einen würdigeren Knecht als mich Armseligen gebrauchte. Denn wahrhaft, lieber Mann, ich bin in all meinen Schwachheiten wenig würdig, dass mir ein solch freudiges und ehrenvolles Werk gelänge. Aber versuchen muss ich es. Denn Ihr seid in diese Pfarrei gekommen, wo ich wachen, sorgen und alle Schäflein, die verirrten zu allererst, hirten muss.«

Schül reckte seine leichte Figur je länger je mehr bei solchen Worten. Dass man ihn so wichtig nahm, machte ihn fast eitel. Und als Carl anerbot, Schül möchte ihm jede beliebige Zeit zu diesen brüderlichen Zusammenkünften angeben, ob Sonntag oder Werktag, Morgen oder Abend oder Nachmittag, einerlei, und wie oft und wie lange jedesmal, ganz wie es Schül passe, da fühlte dieser bei seiner seelischen Kleinheit und Empfindsamkeit den Kamm noch höher wachsen. Seine Persönlichkeit blähte sich gewaltig auf. Wenn man so untertänig um mich herumstreichelt und herumschwänzelt, muss ich den Leuten hier doch mehr als einen gewöhnlichen Batzen wert sein. – Die Argumente, die einen andern, wenn auch noch so bösen Gegner erschüttert hätten, wenn er nur etwas Tiefe besässe, scheiterten schliesslich völlig an der Seichtheit dieses Menschen. Hätte man ihm ein süsses Lied vorgespielt oder die Grimassen des Todes und den Wind der Ewigkeit ins Gesicht geblasen, der gute, weiche Tropf wäre für einige Zeit aufs Knie gefallen. Aber diese kameradschaftlich feine, höfliche Behandlung verfehlte total ihren Zweck.

»Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit,« antwortete Schül und verbeugte sich posenhaft; »diese Dinge sind des Überlegens wert. Aber ich habe die Gewohnheit, nichts von Belang zu übereilen.«

Carl spürte sein Blut hochwallen. Wie er doch lügt, dieser Stegreifmensch! Er, der nie überlegt und sich jeder Stimmung kindisch überlässt! Bereits hüpften dem Pfarrer ein paar saftige Grobheiten auf die Zunge. Aber er hielt sie zurück und ward sofort belohnt.

»Immerhin, jeder Dienst ist eines Gegendienstes wert,« gab Schül grossartig zu. »Ich verpflichte mich, die Geige zu keinem Tanze, nur noch an Ihrem ›Altmodischen Abend‹ zu spielen. Siria liegt mir darob immer im Ohr. Sind Sie vorläufig damit zufrieden?«

Ein wahrer Glücksschwindel stieg Carl zu Kopfe. Das war doch ein Anfang zum Siege, und ein stolzer dazu. Denn was hatten diese unangreifbaren, tückischen Privattänze ihm die Tage vergällt und den Schlaf vernichtet, obwohl er nun ins hintere Zimmer gegen den Friedhof gezügelt war, das Gesicht beim Einschlafen dem stummen Feierabend da draussen zugekehrt. Was hatte er nicht für Schlachtenpläne entworfen, mit lauten Zusammenstössen und heimlichen Guerillazügen, mit Exkommunikationen und öffentlicher Brandmarkung von der Kanzel, mit Anwerben einer Jugendgarde, einer Anti-Tanzgruppe, mit Bildung von Turnvereinen und ähnlichem. Eines schien gut, einiges zweifelhaft, manches hatte den Beigeschmack von Lächerlichkeit. Und doch musste etwas geschehen. Diese Tänzereien an dutzend stillen Orten unterminierten wie heimlich grabende Ratten die Moral des Dorfes, und er sann umsonst nach wirksamen Gegenminen. Und da kommt der Rattenkönig selbst und überliefert sich. Heil, Heil!

Carl lief zu einer Schublade, knisterte ungeschickt mit seinen Riesenhänden in Papierchen herum, kam mit einem blauen Hundertfrankenschein und sagte: »Nehmt, Herr Täler, bitte nehmt! Ihr macht mir ein grosses Geschenk, ich mache Euch nur ein kleines. Aber es will auch nicht Lohn heissen, es will nur ein Geschenklein sein.«

Ohne Erröten griff Schül zu: »Wenn es Ihnen Freude macht, kann ich’s ja schon nehmen. Brauchen können wir’s bei Gott, Siria und ich!«

Dann empfahl er sich mit einem gezierten Lächeln. Aber der Pfarrer bemerkte das nicht. Indem Julius Täler, der Tanzmusikante, elegant zur Tür hinausschwenkte, Stöcklein und Hut in der Hand schwingend, sah Carolus nicht ein, sondern hundert und tausend Paar Füsse, wie in einem Knieschnapper sich rückwärts in die graue Ferne verlieren, immer zwei Paare nebeneinander, in einem gewissen ersterbenden, totenmarschähnlichen Rhythmus, bis die letzten tanzenden Knöchel im Dunste ewiger Vergangenheit völlig erloschen waren. Das Ende des Greuels! Wie ein Bub sprang er auf, lief in die Küche und sagte zur erschreckten Peregrina: »Aber, so mach’ dir doch noch einen guten Schwarzen; he, ich nehm’ auch einen! Und ein Kirsch drein! Und dann ... ach so, es ist Freitag, na, trotz und trotzdem, beten wir den glorreichen Rosenkranz.«

Aber es wäre besser gewesen, den schmerzhaften Rosenkranz zu beten, der von Jesu Schweiss und Dornenkrone und Gallentrunk erzählt. Denn wenige Tage später vernahm Carolus, dass der elende Luftibus doch wieder Tanzmusik aufgespielt habe. Im Hofe der zwei Niederlifamilien, bloss hundert Schritte ob dem Pfarrhaus, am offenen Rindelersträsschen. Man habe einen siebzigsten Geburtstag gefeiert. Die Haustüre blieb schon von acht Uhr an keusch verriegelt, die paar Hausfreunde stiegen von der Wiese zu den niederen Fenstern herein. Der Lärm sei nicht erheblich gewesen, aber bis zur frühmorgendlichen Kuhmelkstunde habe der sündige Unsinn gedauert.

Das traf wie ein Keulenhieb. Einen Moment sass Carl wie verdonnert im Stuhl. Dann fing es wieder an, dieses zahllosfüssige Kribbeln und Krabbeln im Kopf, als nagten Millionen winzige Mäuschen an den Haarwurzeln; wieder musste Carl vor Blutzudrang und Schwindel die Augen schliessen. Und wieder zwang er sich mühsam zu einem recht schonenden Examen über dieses Tanzen. Gleich nach Lichtanzünden wollte er einmal in den Kirchenvätern darüber nachlesen. Aber, sagte er sich, wäre bisher auch nicht ein Hauch von Sünde dabei gewesen, ein Unsinn wäre es doch, der nach und nach unwiderruflich sich zur Unordnung, zum Fieber, zur Krankheit, ja – man hat Beispiele links und rechts und lese nur die Aufrufe der evangelischen Synoden und selbst der glaubenslosen städtischen Behörden! – zum Zerstörer der guten alten Zucht auswuchern würde. Unbedingt, jetzt musste etwas Kraftvolles geschehen.

Carl sass im dunkelnden Zimmer, ohne die Lampe anzuzünden, und suchte Aug’ und Herz am Fenster, das in den Friedhof sah, etwas zu beruhigen. Aber diese Ruhe da draussen im blassen Vorfrühlingsabend regte ihn nur noch mehr auf. Daher kommt alles Elend, dass ich so ein Friedhofleben führe, schimpfte er mit sich. Die Fridolin-Bazillen stecken mich an. Ich schlafe, ich tue wenigstens die Augen zu und halte mich still, als sähe und hörte ich nichts. Bewegung, Arbeit fehlt mir. Es geht kein rechter Wind durch mein Pastorieren. Alles tut sich in den Pantoffeln ab, in kleinem Schnitzelwerk. Ich habe keine grosse blutschwitzende Aufgabe, kein begeisterndes Werk vor mir. All mein Tun schlürft so im alltäglichen Strumpf dahin, und so kommt es, dass ich keine Kraft, keinen Mut, ja bald keinen gesunden Tropfen Blut mehr in mir habe. Nicht einmal diesen Hasenfratz mit der Geige kann ich bewältigen. So weit bin ich nun schon mit meinen zwei Metern Leibeshöhe gekommen.

Das ist die Sache: ich muss mit dem Turm beginnen. Wie der Turm, so der Pfarrer, und umgekehrt! Vielleicht gibt es Krach dabei. Gut, möge es krachen. Diese Stille wie der Tod da draussen ist viel ungesunder.

Am Turm raffe ich mich auf. Alles Volk wird seine Freude daran haben. Zwei Dutzend Dörfler werden dabei Arbeit und Verdienst finden. Kein Beutel wird angetastet. Fast neuntausend Franken sind beisammen. Baumeister Weder in St. Gallen sagt, mit Fron und etwas Gratismaterial reiche das zum Gerüst und Aufbau von fünfzehn Metern. Bis wir damit fertig sind, ist auch das Geld für einen zwanzigmetrigen Helm da. Ach, dann hat der Turm fünfundfünfzig bis sechzig Meter und triumphiert weit über alle Bäume und Giebel und niedern Köpfe. Und dieses Hohe, Weitschauende, Überragende hilft uns allen, so wie wir einmal träger Lehm sind und solche irdische Stüpfe und Stösse nach oben brauchen, auch ins Hohe, Weite und Überragende zu gehen.

Gleich nach Ostern muss man beginnen. Diese prächtige Arbeit wird das ganze Dorf in Atem halten. Wer wird noch ans Tanzen denken? O Gott, guter Gott, wie schön kann noch alles werden!

Es klopfte. Albert Ammann und Hansli Thalmann traten ein, die zwei geschicktesten Schüler der sechsten Klasse. Carl gab ihnen abends Lateinstunden. Der eine wollte Arzt, der andere Advokat werden. Aber Carl hoffte, zwei junge stramme Kapläne zu erziehen.

»Zündet an!« gebot er. Dann mussten sie das Bücherleiterchen aufstellen und ihm einen Haufen alter Bände herunterholen. Ihn würde der Schwindel packen. Dort rechts oben, der Suarez! Schräg darüber der Liguori. So jetzt das dritte Buch in der vierten Reihe mit dem grünen Rücken; richtig, Bellarmin! So ging es weiter, bis die bedeutendsten Theologen auf dem Tische lagen. Denn Carl wollte es diesmal grünlich zusammenfassen, was die grossen Lehrer vom Tanzen sagen. Inzwischen mussten die beiden Buben das Zeitwort tanzen – saltare – durch alle Tempora und Modi abändern.

Von einem Folianten zum andern sich fechtend, konnte Carl nicht wohl aufpassen, was die zwei Bürschchen hersagten. Aber ihr Latein sass fest.

»Hansli! Das Perfektum jetzt: ich habe getanzt! – Hoffentlich brauchst du das nie zu sagen.«

»Saltavi, saltavisti ...« begann der Schlingel und schoss dem Gespanen einen lachenden Blick zu. Sie rochen das Pulver.

»Summum vitium,« las Carolus mit gefurchter Stirne. »Und hier: pestis morum! und da: deliciae diabolicae! Scharfer Tabak ... He, Albert, das Futurum: ich werde tanzen! Fast gehört solch’ Konjugieren auf den Index! Also hop!«

Aber Albert sprudelte munter, als genösse er Kirschen und spuckte die Steine so flink und weit als möglich heraus: saltabo, saltabis, saltabit ...

»Ach ja, der sanfte Bischof von Genf: Tänze seien wie die Pilze, an sich weder gut noch schlecht ... natürlich, deinen Französlein darfst du nicht zu hart kommen. Aber ich sage dir mit allem Respekt, im Toggenburg bist du nicht gewesen. Von zehn Pilzen sind hier meistens auch zehn giftig ... Was macht ihr, Faulpelze? Wer kommt dran? Du Hans, den Imperativ: tanze, tanzet!«

»Salta, saltate!« deklamierte der Junge.

»Saltato, saltatote!« ergänzte boshaft Albert.

»Wie mir die Spitzbuben tanzen!« schimpfte Carl fröhlich zu den Schülern hinüber. »Merkt euch, konjugieren darf man das Wort, aber praktizieren nie. Wenn ihr einmal über den Ablativus absolutus und den Akkusativus cum Infinitivo hinaus seid und das Gerundiv tüchtig los habt, dann übersetzen wir einmal miteinander, was der grösste der grossen Denker, Augustinus, von der Verderbnis erzählt, die er in den Tanzlokalen von Rom und Karthago am eigenen armen Fleisch erlebt hat. Jetzt packt euch! Auf morgen nehmt ihr das Passivum durch. Weg! – Die Peregrina soll euch ein paar Äpfel in die Taschen stecken!«

Das war eine leichte Lektion, lobten die Buben unterwegs und bissen kräftig in die Äpfel. Was meint der Pfarrer wohl mit »am eigenen armen Fleisch erlebt«? Sie hatten durch die Spalten der Fensterladen dem Tanz in der Niederlistube ein paar Minuten zugesehen, einer sass abwechselnd dem andern auf die Schulter und sog sich mit Leib und Seele in die Stube hinein, so gut gefiel diesen künftigen Kaplänen die walzende Fröhlichkeit da innen. Es prickelte sie und kitzelte sie bis unter die Fingernägel und sie wiegten sich im Takt des Geigenbogens glückselig in den Hüften. Und da sagte der Pfarrer »am eigenen armen Fleisch erlebt«!

Kapitel 22

Der Saal im »Silberfisch« füllte sich. Das Gasthaus stand im Unterdorf, im Augenbereich des Corneli, und dennoch von allen Wirten war dieser der einzige treue Carolinger.

Klein sind die Stuben der Dorfwirtschaften und es bleibt ein ewiges Rätsel, wie elastisch sie dennoch werden können, wenn Hunderte Platz finden, wo man auf Dutzende rechnete. Da wird ein Tisch über den andern gestellt, da eine Wand ausgehoben, da der Vorflur hinzugequacksalbert. Immer noch winden und keilen sich neue Gäste ein, wo vorher gesagt wurde, keine Stecknadel schöbe sich mehr dazwischen.

Längs den Fenstern lief eine Holzterrasse. So wurden denn die Scheiben und die beiden Türen ausgehängt und von der Strasse Holztreppen emporgeführt, damit der »Altmodische Abend« sich dort in reichem Laternenschein, unter dem freien, föhnigen Märzhimmel präsentieren könne. Die ganze Länge des Saales mit den neugierigen Kopfreihen hatte so das Spiel vor sich. Und von der Strasse aus konnte das weitere Volk gratis zusehen.

Man hatte Kostüme von St. Gallen kommen lassen. Johannes und Sigi wurden dringend zur Teilnahme gerufen. Die zwei hübschen Jünglinge durften in dem alten Grossvaterreigen nicht fehlen. Auch Mili und Lorli mussten sich zu den Figuren des Spieles hergeben. Dem Schül ward ausdrücklich gesagt, dass man seine Mitwirkung nicht dulde. Denn eines Tages hatte Siria einen Zettel und Pfarrhaus geschickt: Obacht! Mein lieber armer Tollkopf hat etwas vor!

Auch Carolus hatte etwas vor. Nach dem Spiel wollte er die alte und die neue Zeit in kurzer Rede vergleichen, die Lustigkeit von damals und die Lustigkeit von heut. Und da wollte er die heutige maskierte und tanzende Fastnacht in ihrer ganzen Blödigkeit zeigen. Sowie er nur zu reden begänne, würde ein gewaltiges Lichtbild vorgeführt, Rethels grausige Darstellung der Pest am Karneval, wo die blaugedunsenen Leichengesichter aus den heruntergefallenen Larven grinsen. Das war der Augenblick, um von allen Pfarrkindern das Gelübde abzunehmen, dass sie fürder zu keiner Tänzerei mithelfen wollten. Denn wenn auch keine Leibespest drohe, die viel schlimmere Seelenpest hocke ihnen sofort auf dem Nacken.

Übrigens solle man das Wort Pest nicht zu laut aussprechen. Die Grippe habe man erloschen gewähnt, nun mit dem ersten Föhnlüftchen lebe sie wieder auf. In der Stadt wüte sie bereits ärger als im Sommer. In Uzli notiere man schon doppelt so viele Sterbefälle. Hier kenne Carl nur einen einzigen verdächtigen Fall, aber wer könne für die Zukunft garantieren? Ob man zwischen Totenkerzen nun wirklich noch den Mut zum Tanzen hätte? – Und dann wollte er ihnen vom Turmbau erzählen, ihre Neugier locken, ihre Begeisterung wecken und ihnen sagen, was das auch Geld und schöne Arbeit ins Dorf bringe. Er wollte sagen, wer einen Wagen oder ein Pferd oder einen Stier habe und wer damit helfe, Sand und Steine und Holz zuzuführen, wer aus seinem Wäldchen einen Baum schenke, aus dem Thurtobel Sand heraufhole, kurz, in irgendwas mithelfe, sei dann ein halber Erbauer des Turms, ja, sei ein Tänzer des Herrn, er tanze mit Leib und Seele jenen Höhen entgegen, unde veniet auxilium, woher alles, alles Heil komme. Mit einem brausenden Sursum! wollte er schliessen.

Der Abend kam. Mit ärgerlichen Augen hatten Corneli und Cecili von ihren Scheiben aus verfolgt, wie da auf der nahen Terrasse Lampions aufgesteckt, Tannenkränze um die Stangen gewunden, hellfarbene Teppiche über das Geländer hinuntergehängt wurden und wie dann und wann eine seltsam gekleidete Person in hohen Hauben und buntem Kamisol, von den Gassenkindern umgafft, im Silberfisch verschwand. Torheit! schimpfte die Greisin ein über das andere Mal, aber konnte nicht vom Fenster lassen. Narrenstücke, betonte Corneli sehr ernst. Aber wartet nur, ihr Sorglosen! – Der Pfarrer will den Bock zum Gärtner machen. Den Teufel treibt man nicht mit dem Teufel aus. Das sollte so ein hoher Theologe wissen. Immer wieder sah er nach der Uhr.

Um halb acht ward es dunkel, die verkleideten Paare sammelten sich im Hausgang. Auf dem Balkon fiedelte schon Lehrer Peder und zwei fixe Pfeifer und eine Schlagzither spielten mit ihm zusammen langsame, schrittmässige Weisen. Eine gewisse Feierlichkeit lag in der Luft. Der Saal war drückend voll, unten in der Gasse starrte es schwarz von Köpfen und Mützen.

In bunten Fräcken und weiten Röcken, mit Zöpfen die Männer, mit gebänderten Haarkronen die Frauen, die in Haube, die im Schleiertuch, die in Perücke, einfache Dörflerinnen in der Sonntagtracht und aufgeputzte Bürgersfrauen mit Kettlein und Seiden, so füllte es rauschend den Hausflur und wartete auf die Glocke zur Vorstellung.

Mili stand da als die grösste der weiblichen Rollen, hoch, steif, feierlich, eine Ratsherrin oder Vögtin von 1720. Lorli dagegen hatte als Soldatenfrau zu gelten, deren Gemahl als französischer Hauptmann im Urlaub weilt. Der Pfarrer wollte absolut, dass Johannes diesen Hauptmann, Sigi den gewichtigen Senator darstelle. Selbst im Spiel wollte er den Johannes nicht mit dem Mili vermählt sehen.

Bei den Proben sprachen sie wenig mitsammen. Das stumme Lorli redete sozusagen am meisten.

Sigi machte kleine Spässchen nach rechts und links und wurde von den Jungen über alles bewundert. Aber gegen Mili tat er sehr ernst und was er redete, das merkte sie bald genug, war alles so besonnen und tüchtig, während Johannes nur lachte oder eine Gewöhnlichkeit von den Lippen brach. Die Ratsherrinnen, wie du eine bist, erzählte Sigi etwa, haben eine Stunde nach dieser steifen Toilette daheim wieder im gröbsten Küchengewand Brotteig gewalkt oder den Hühnerstall ausgemietet. Das war eine Rasse! Schreiben konnte keine, aber die Lieslara, die berühmte von Wyla, hat ihrem Manne sogar die alten Urkunden und Gesetzrodel erklärt.

Mili musste zuhören, ob sie wollte oder nicht.

So oft sie nur konnte, versuchte sie sich in ein Gespräch mit Johannes zu retten. Und er lächelte und antwortete lau wie immer. So etwas lieb Verwöhntes, kindlich Selbstsüchtiges guckte stets noch aus ihm. Aber es fiel Mili doch auf, wie schal eigentlich sein Geplauder und wie unaufmerksam er selbst dabei war. Er schimpfte über die Zeichenschule und sagte, auch der Pfarrer finde, er solle sich nicht nach ihrer Schablone abmartern. Und Mili hätte gerne gesagt: aber deine Schablone ist ja noch viel enger. Johannes werde weit! – Er schien ihr weder älter noch reifer zu werden, immer der kühle Knabe von früher zu bleiben, während aus dem beweglichen Sigi etwas duftete wie von einem jungen, reifenden Pflaumenbaum. Johannes war immer der gleiche, hübsche, grüne Busch, etwa ein Haselnussbusch, aber junges Laub und immer nur Laub; von Nüsschen keine Rede. Ach, wie viel hatte sie an ihm und in ihm gesehen, was gar nie dagewesen war. Log denn eine erste, unberechnete Liebe so?

Umgekehrt, wie hatte sie Sigi unterschätzt! Gewiss, seine Lippen brannten noch immer unheimlich dunkel, und es schwefelte und phosphoreszierte aus seinen Augen zeitweise und der Zickzack seiner Brauen sah immer noch abenteuerlich aus. Jedoch, wie viel ruhiger er redete, wie viel gescheite Sammlung lag über seinem Gesicht! Er berichtete ihr fast nur von seiner kranken Mutter. Er habe ihr aus der Heiligenlegende vorgelesen, drei Abende hintereinander. Ihr zulieb! O wie sie nachher flink und froh einschlief. Aber dann tat er es auch sich zulieb. Denn so viel Wunderliches und gewiss auch fromm Erfabeltes darin stecke, trotzdem, was das für Menschen gewesen seien! Wie die denn doch über die Alltäglichkeit den Kopf weit hinausgereckt haben! Und wie gesund sie waren! Welche Nerven! Nein, nein, das sei denn doch, lache wer lachen mag, des reiflichsten Überlegens wert. Da sei eine Nonne von Töss, also eine Schweizerin zwischen Zürich und Lustigern. Die habe das erste deutsche köstliche Büchlein verfasst, als Freundin des Heinrich Seuse, des grossen Mystikers, vor sechshundert Jahren etwa!

Hat Johannes je so geplaudert?

Sie mussten sich dann bei den Proben an den Fingerspitzen fassen, wie zwei Planeten umeinander kreisen, Verbeugungen machen, sogar Arm in Arm sechs Schritte vor, drei Schritte rückwärts stolzieren. Sie war zuerst beklommen dabei. Aber Sigi missbrauchte die Gelegenheit nicht. Seine Hand war fest, ganz anders als der schwächliche Händedruck des Johannes, sein Ellbogen war sicher, Männlichkeit sang aus jedem Schritt. Das imponierte ihr. Er floh nichts, er suchte nichts bei ihr. Sie konnte eine herzliche Hochachtung nicht unterdrücken.

In diesen Tänzen löste sich das Paar immer wieder auf, spielte bald neckisch, bald feierlich allein und verband sich dann wieder, und jedesmal, wenn Sigi dem Mili seine Fingerspitzen reichte und sie sich berührten, schien es der Jungfer, es seien eher brennende Kerzen oder sengende Sonnenstrahlen als gewöhnliche Finger, was da in sie hinüber zuckte und ihre grosse, standhafte Jungfräulichkeit durchwärmte.

Wärme! Danach hatte sie sich den ganzen Winter gesehnt! Erst jetzt, da ihr Idol weg war und sie nicht einmal mehr ihr Feuer an diesem lauen, egoistischen Kauz anzünden konnte, da sie nicht einmal mehr eine Täuschung zum Warmwerden benutzen konnte, erst jetzt fühlte sie wie alle sinnlich gesunden, blutwarmen Menschen den Frost der Einsamkeit und Verlassenheit um sich. Das war Schnee, der frieren machte, gegen den kein Stubenofen, nur eine rechte Liebe helfen konnte. Und da sah sie täglich die Siria, eine Heidenheilige, wie Mili sie heimlich nannte, arm, ehrlos, geplagt und dabei doch so warm, weil in einer tiefen, echten, unzerstörlichen Liebe mit Julius lebend, ihm alle Fehler verzeihend, sein schwächlich Gutes wie ein Kleinod verehrend und nach allen seinen Seitensprüngen von ihm doch immer wieder als seinen Herd und Halt, seinen Glauben und sein Hoffen, als sein Einziges und Bestes auf Erden gesucht.

Ach, wenn doch mich jemand so suchte, dachte sie oft und erschauderte bei der süssen Vorstellung bis ins Innerste ihrer keuschen Weiblichkeit. Sigi? Hat der so gesucht? so? Nein, das glaubte sie nicht. Und jetzt, so gemessen, so munter, so korrekt, nochmals nein, jetzt sucht er sie erst nicht mehr.

Wenn er redete, sah man seine tüchtigen, aber leider ganz gelben Zähne. Diese Raucherzähne hatten sie früher immer widerlich berührt. Jetzt gefiel es ihr im Gegenteil, wie er nach jeder Behauptung die Zähne fest zusammenhackte, als gäbe es da nichts mehr zu sagen, als sei es unumstösslich. Und wie oft hatte sie über sein zischendes T und D gespottet, da er mit der Zunge irgendwie anstiess, und wie hatte sie jene Kameradinnen ausgelacht, die gerade diesen Fehler schön fanden und deren Brüder das T auch so scharf zu schnitzen versuchten. Und jetzt, wenn er sagte: der Tanz da, der geht tadellos! dünkte es sie selber charmant, wie diese zischenden T und D gleich Messerchen aus dem übrigen Wort schnellten.

Hinter seinem linken Ohr bemerkte sie jedesmal nach einer gewissen Drehung eine sonderbare rötliche Schwellung bis unter die weisse Perücke, die er mitsamt dem Zöpflein elegant trug. Fast wie ein rostiger Brandflecken war es. Ob das weh tue, fragte sie. – Schon etwa, gab er zurück. – Woher? – Einmal nach dem Haarschneiden, eine Infektion, ein Pilz. Er habe schon alles mögliche versucht. Es könne ihm das Haar vom halben Kopf wegfressen. – Und Brennesselwasser? – Er lachte. – Alles Haar verlieren, das wäre ja schrecklich! Sein schönes, haselnussbraunes Haar, oh – Dann würdest du mich gar nicht mehr anschauen, he? – Ich? Ich liesse es gar nicht so weit kommen, sagte sie energisch, aber biss sich sofort auf die Lippe. – Was tätest du denn? fragte er und das grüne Gefunkel begann in seinen Augen zu spielen. – Ach, wir schwatzen Dummheiten. Probiere doch Brennesselöl! – Das war das keckste, was sie zusammenplauderten. Aber Mili dachte damals, sie würde dieses Gebresten schon wegbringen, koste es, was es wolle, habe doch die heilige Elisabeth Pestbeulen einfach nur so weggeküsst. Sogleich wurde sie blutrot. Küssen, wegküssen, täte sie’s auch? aus Heiligkeit? O Gott, aus süssester, bösester Weltlichkeit! Weg mit diesen Grillen! Ja, ja, da sieht man, wie das Tanzen unsereinen auf tolle Gedanken bringt. Sogar dieses pfarrherrlich geschützte, altväterische Grossvater- und Grossmuttertanzen!

Johannes plauschte und lachte mit allen Mädchen. Aber Sigi redete wenig. Dem Lorli kam er überaus freundlich entgegen. Immer hatte er Stift und Papier für sie bereit. Dieses Jüngferchen mit den grossen grauen Samtaugen und dem Mund wie eine volle Kirsche war sicher das glücklichste Wesen hier. Von allen geliebt und geschirmt erlebte es hier, was es in der Stadt nie gefunden, Ruhe, Unabhängigkeit und allenthalben Beliebtheit. Es zappelte wie eine junge Katze herum, tanzte mit mehr Melodie als alle, die das Aufspielen hörten, und kümmerte sich weder um Sigi noch um Johannes viel. Es schien, als finge es erst an, eine früher verwehrte hübsche Kindheit nachzuholen.

Unter den Tänzen gab es einen einzigen etwas stürmischen, den Jakoberhops, den der Pfarrer eigens dem Sigi mit dem Mili vorbehalten hatte. Er rührte von einem sagenhaften Toggenburger, Jakob Bolzer von Ebni; der soll Wunder von Reigen und Verschlingungen, Marsch- und Kontretänzen und Galoppaden gewirkt haben. Aber im Gedächtnis war nur der Jakoberhops geblieben. Die Dame blieb dabei erst stehen, drehte sich dann leise, die Hände in die Hüften gesperrt, während der Herr in zierlichen Verneigungen und Kreisen um sie herum gaukelte, wie eine leichte Kolonne um eine Festung. Aber aus dem Geflatter wurde ein festes Schreiten, ein prachtvolles Vorhalten der Arme, ein trotziges Spannen der Knie, endlich ein eigentlicher Sturm um die weibliche Burg. Im gleichen Takt drehte die Dame sich rascher, geschickt jedes Einhaken des Feindes in die Ellbogen durch Wiegen und Schwenken des Oberkörpers verhindernd. Dann musste Sigi in die Ecken zurückfliehen, noch stürmischer nahen, noch heftiger um die Schöne wirbeln, bis seinem Arm endlich doch der Griff gelang und das Paar nun Arm in Arm einen heitern Hopser rundum vollführte. Bei den letzten Akkorden sollte der Herr die Dame an den Ellbogen in die Höhe halten »wie einen schwebenden Engel«. Das unterblieb hier auf Carolus’ Wunsch.

Bei diesem Galopp nun fühlte sich Mili jedesmal wider Willen aufgeregt. Es schien ihr nicht mehr Spiel, sondern gültiges Tun. Jede Bewegung Sigis passte ihr, sie atmete im Takt mit ihm, fühlte sich sozusagen eins mit ihm. Jedesmal nach dieser Probe war sie für den übrigen Abend befangen und blies nicht nur von der Schwüle im Saal den Flaum der Oberlippe unaufhörlich auf.

Unverkennbar, das Weib regte sich jetzt mächtig in ihr. Aber wenn sie dann wieder auf Johannes blickte, wie gerade jetzt beim langen Stehen und Harren im Hausgang, wie er so zart, leichtsinnig, harmlos dastand, unvermögend, etwas anderes ausser sich wirklich zu lieben, so schrecklich arm an Seele, dann überwallte sie das alte Schwestergefühl, nein, vielmehr eine wahrhaft mütterliche Empfindung, sie müsse sich diesem lieben armen Wesen opfern, es womöglich ein bisschen erwärmen und bereichern, ihm ganz Freundin und Dienerin sein, wie der Pfarrer riet. Niemand habe das so nötig wie gerade Johannes. Er freilich wisse es nicht. Umso hilfsbedürftiger sei er.

Endlich schellte die Hausglocke. Die Paare traten aus der Wirtschaft auf die Strasse und stiegen die Leiter zur rot und gelb erleuchteten Terrasse empor. Ein Gemurmel des Staunens ging durch den Saal und über den Strassenplatz. Denn das war wirklich ein schmucker Auftritt, diese alte Zeit in Amt und Militär, in Haus- und Festtracht, im Aufputz von Arm und Reich, Befehlenden und Gehorchenden. Alle stellten mit ihrem Kostüm gesetzte Leute von vierzig, fünfzig Jahren vir, Sigi und Mili sollten sogar Enkelvater und Enkelmutter sein. Aber die weichen, ungefurchten Gesichter spotteten der Verkleidung. Sie taten wie Grosseltern, aber fühlten wie Grosskinder, diese altmodischen Spieler.

Unter atemloser Aufmerksamkeit vollführten die Gruppen ihre würdigen Figuren. Es klappte famos. Tanzblut! lobte Eusebius, aber verbiss sogleich den weiteren Satz. Bald sah das Spiel aus wie eine unterhaltliche Promenade, bald wie ein ernster Marsch, bald wie ein Geflitter und Geflatter von Komplimenten, ein schalkhaftes Versteckensspiel, ein Schmollen, Necken, Verzeihen, eine Koketterie alter Eheleute. Man trippelte, tänzelte, schwang sich herum, doch immer mit leichter Berührung der Fingerspitzen, immer mit Einzelspielen, wo es heftig wurde, und grosser Ruhe, wo man zusammenging. Aber zauberisch war in der Farbenglut der Lampions dieses Auf und Nieder der alten Tage anzuschauen, dieses Schwenken und Neigen und glückselige sich Zerstreuen der Gruppen und wieder sich in heiterer Geschlossenheit Finden. Und etwas von dem Frieden und der poetischen Genügsamkeit jenes Jahrhunderts schien sich über alle Zuschauer zu legen. Auch die schlichte Musik passte dazu. Alles atmete Harmlosigkeit, liebenswürdige Zerstreuung und Unschuld.

Ganz anders als bei den Proben ward es dem Mili hier auf dem offenen Plan zumute. Jetzt ward ihm Wilfried ernst. Es kannte kein Spiel von solcher Bedeutung, es ward ihm Wirklichkeit und Wahrheit. Streng hielt es sich an Sigi fest, innig verbunden fühlte es sich mit ihm und beim Jakoberhopser, wo sie beide allein spielten, zwei so prächtige Menschenbilder, da sträubte es sich nicht lange, klammerte sich warm in den Armgriff des Partners, galoppierte mit entzückten Augen um die Bühne, verneigte sich begeistert und ward gar nicht überrascht, nein, sie hatte es selig geahnt, als Sigi, genau wie Mili vom Spiel in die Wirklichkeit gerissen, gegen alle Vorschrift und Probe, beim Schlussakkord Milis Ellbogen in seine hohlen Hände fasste und ihr ganzes fröhliches irdisches Gewicht hoch über sich hinaus in den funkelnden Sternhimmel hob. Alles klatschte, alles rief bravo, bravissimo, selbst Carolus schluckte das Gesetzwidrige, ja, vielleicht Gefährliche des Vorgangs und schlug seine Riesenhände ein paarmal zusammen. Am Ende, dachte er, glückt es doch noch! Und rasch flog sein Auge zu Johannes und Lorli oder wie er die Stumme taufte, zu Dorli. Aber von allen hundert und hundert Augen ringsum lachten diese vier schönen Augen am vergnügtesten und ehrlichsten dem Jakoberpaar entgegen.

Unten im Ammannhaus befahl Corneli um diese Zeit herum hart: »Cecili, zieh den Vorhang für, man kann vor dieser Appenzellerkilbi nicht einmal mehr die Legende lesen.« Cecili, mit einem Ohr gegen das Fenster lauschend, las weiter die Erzählung von den vierzig Rittern: »Und da die Soldaten dem Götzen nicht wollten Weihrauch spenden, liess der römische Präfekt sie auf den gefrorenen See hinausführen und nackend ins Eis halb vergraben. Aber am Ufer brannten Feuer und wartete man mit gastlicher Tranksame für den, der von der Marter übernommen das Zeichen zum Abfall gäbe. Will’s Gott, sagten die Ritter, sind unser vierzig ins Eis gegangen und harren aus und gehen unser vierzig auch in den ewigen Sommer des Christushimmels ein.«

Vom »Silberfisch« scholl neues Klatschen. Auch Corneli hörte nur noch mit halbem Ohr dem Heldentum jener Miliz von Sebaste am fernen Schwarzen Meer zu. Aber sein Ohr lag nicht am Fenster, sondern an der Türe, wo der Bote des Kreisamtes, so spät es war, mit Ungeduld erwartet wurde. Aber als ein neuer Jubel losbrach, wandte er sich unwillig zur Frau und sagte: »Die hätten eher eine Abkühlung nötig. Will’s Gott schick’ ich ihnen noch den rechten Eisheiligen.«

»Aber ein ganz junger Soldat,« las die Frau weiter, »hielt den Frost nicht aus und wie ihn auch die Kameraden baten, nur noch ein Viertelstündchen sich zu gedulden, das Schlimmste sei ja überstanden, sprang er dennoch aus den eisigen Schollen dem warmen Zelt und dem lebendigen Tod des Heidentums zu. Ach, klagten die übrigen, nun fehlt einer in der runden Zahl, wie beschämend ist das für uns! – Aber sieh, im gleichen Schnauf kam ein heidnischer Wächter hergelaufen und bat: wo ist der Platz des vierzigsten? Ich will mich hineinsetzen und mit euch sterben und selig werden. Denn ich sah vom Ufer her neununddreissig goldene Kronen auf euern Häuptern und die vierzigste schwebte leer in der Luft. Vielleicht, dass ich ihrer gewürdigt werde. Ein Gott, der solche Helden hat und solche Kronen verschenkt, muss der wahre Gott sein. Und so starben die vierzig Ritter und fuhren im Glanz der Unsterblichkeit gen Himmel. Frommer Leser, merke...« Es klopfte. Dampfend vor Schweiss und Kälte rumpelte der Expressbote des Bezirksammanns mit dem versiegelten gelben Brief herein, auf den Corneli so sehnlich gewartet hatte. Eine wahre Sonne von Zufriedenheit ging beim Lesen über dem verärgerten kalkweissen Antlitz auf. Eigenhändig schenkte er dem Boten zweimal ein scharfes wärmendes Nusswasser ins Schnapsbecherchen und steckte ihm noch einen Zweifränkler in den Sack: »Den Frack, Frau, und den Sonntagshut!« befahl er. »Ihr, Simeli Battist, begleitet mich in die Wirtschaft. Ihr könnt dann bei mir übernachten.«

»Was ist denn los?« fragte Cecili wunderlich, reichte Hut und Stock und schlug dem Gemahl eine dicke Schärpe um den Hals. »Nichts sagt er einem; sitzt neben mir und krümelt Brotrinde und nickt in die Legende hinein und zerplatzt mittlerweile schier vor Geheimtuerei. Manndli, Manndli!« drohte sie scherzhaft und guckte in das Schreiben. »O was? Jaso! Und solches darf ich nicht wissen? Nein, jetzt werd’ ich ernstlich bös. Pack’ dich, Schlimmer! – Sagt, Simeli Battist, ist er nicht ein Schlimmer? So schneeweisses Haar und so ein schwarzes Herz beisammen! Geht, geht, das wird eine Tusche geben dort oben! Gäb’ viel, könnt’ ich das mitansehen.«

Langsam und sorglich, das Kuvert am Herzen, stiefelte der Greis am Arm des Simeli in die Nacht hinaus.

Im Gasthaussaal war es indessen merkwürdig still geworden. Die »altmodischen« Spieler drängten sich neugierig an die Fenster, was denn da drinnen geschehe. Sieh da, an der Schmalwand wurde ein gewaltiger Karton entrollt, und den Lippen, die eben noch gejauchzt hatten, entfuhr ein entsetzter Schrei. Rethels Pest mitten in der Fastnacht! Fliehende, sterbende, gestorbene Festleute, Fackeln, verworfene Masken, Kränze, zerschmetterte Becher, das Grinsen der Agonie überall, bleierne Todesluft und inmitten seiner Grausen der musizierende, sieghafte, erbarmungslose Knochenmann selbst.

In die atembeklemmende Pause fiel nun wie schwerer Glockenschlag das wohlerwogene Wort des Pfarrers vom Totentanz, wie er auf alten Bildern steht und wie er in einem andern geistigen Sinne heute durch die Menschheit walze und galoppiere, Sünde vorne, Sünde hinten. Wie anders ehrbar und gesund und augenschön die alte Zeit, die sie eben gesehen, ihre Füsse und Arme bewegt und ihr Herz lustig gemacht habe! Wieder klappere das Gerippe in der Nähe, wieder dräue die Grippe. Das könne einen heitern Totentanz abgeben, einen Walzer zum Friedhof. Hoch die Beine! Wer beginnt als Erster, Zweiter und Dritter in die Gräber zu tanzen?

»Wäre man in der Kirche statt hier im Wirtssaal, ich würde im Antlitz Gottes, im Gehör und Gesicht euerer frommen Ahnen, unter dem Geflacker des ewigen Lichtes vor euch allen niederknien, eure Knie umfassen und euch um euerer Seel’ und Seligkeit willen beschwören, keine Tanzgeige mehr in eure Stuben aufzunehmen, keine Sohle mehr zu einem Hopser zu schwingen, dieser lasterhaften Narrheit zu entsagen und reinere Freuden zu suchen. Ich würde nicht aufstehen, vor keinem einzigen Schäflein aufstehen, bis es seinem Hirten dieses Gelöbnis abgelegt hätte und wenn ich vor Knien und Harren wund würde ...«

Ein Schaudern rieselte allen den Nacken hinauf.

Er wisse alles, wie man Hintertürchen und Fenster diesem faulen Zauber bald da, bald dort öffnete. Er wisse wo, wann, wie oft, wie lange. Aber er wolle nicht mehr davon reden, es über den Rücken werfen und vergessen, wenn mit diesem heutigen Abend, mit diesem würdigen Tanzgruss aus der biederen Väterzeit alles Tanzen in der Pfarrei aufhöre. Er wolle ihnen allen schönere Vergnügen schaffen, und eines vor allem: den Turmbau.

O wie schilderte er jetzt das hohe Werk in hohen Worten, wie malte er die Gerüste und Seile, die prachtvollen Axt- und Hammerschläge, die Fuhren mit schellenbehangenen Rossen, den rauchenden Kalk, das Klettern und Pflastern und wie der Gottesbaum Tag für Tag höher wachse, den herrlichen Stamm immer stolzer gen Himmel recke und Donner und Blitz als Gottes liebe Gesellen grüsse. Wie von solchem Wipfel ihre ganze Heimat überschaut und der Gesang der Stunden von allen Nachbardörfern gehört und bewundert würde. Und was das für ein Arbeiten und bewegliches Leben und Geldverdienen gäbe und wie es keinen Rappen koste und der hohe, feste Turm uns alle zugleich befestige und erhöhe. Wir alle würden dann auch im übrigen Tagwerk frischer, mutiger, himmelnäher sein, der Dorfgeist würde edler, der Blick für Verdienst und Fortkommen und Gedeihen des Dorfes weiter und schärfer. Aus Spatzen würden wir Falken.

Es klang wie ein Märchen, so unwahrscheinlich schön und doch so glaubhaft, und bezauberte alle, und Carolus hätte triumphiert, wenn er mit dem vogelhübschen Vergleich niedergesessen wäre. Aber da sagte er noch, man möchte ihm nun mit erhobenem Arm das Handgelöbnis leisten, weder zu Hause noch in den Wirtschaften fürder zu tanzen. Wären auch alle willens gewesen, und einen Augenblick stand es auch so, so widersprach doch die zeremoniöse Art des Armhebens dem nüchternen Sinn der Dörfler. Den Ältern kam die Feierlichkeit eher kindlich vor. Carl überlegte nicht, dass an einer kleinen Förmlichkeit ein grosses Wesen scheitern kann. Auch fühlte jeder instinktiv, dass die hochherzige Freiwilligkeit damit in eine Art Zwang übergehe; aber Zwang wirkt auf den Schwung der Gefühle erkältend wie Frost, ganz besonders beim raschen, elastischen Untertoggenburger.

Indessen wäre die Gewalt des Pfarrers wohl auch diesem Hindernis gewachsen gewesen. Aber da rief eine helle Stimme von der Strasse herauf durchdringend klar: »Aber Herr Pfarrer, wie wollt Ihr verbieten, was die heilige Schrift hundertmal erlaubt?«

Alles sah totenstill auf den Pfarrer, dem eine purpurne Blutwelle jählings übers Gesicht schoss. Ein paar Akkorde auf der Geige schwellten empor, dann ging es hurtig weiter:

»Ich könnte Euch hundert Stellen zeigen, wo die Kinder Gottes tanzen. Kein Fest, wo man nicht zum Reigen musiziert. Selbst der Heiland erzählt Geschichtlein, wo zu fröhlicher Gasterei die Spielleute gerufen werden. Und David tanzte vor der Bundeslade, und sogar die Priester tanzten im Tempel. Niemand darf den Tanz in Bausch und Bogen verdammen. Er kann gut, er kann vom Übel sein, aber er ist uns in den Leib geschrieben. Seit Adam und Eva haben die Menschen immer getanzt. Es ist Natur.«

Schnell, wie auswendig gelernt, aber auch wie mit eleganten Hammerschlägen folgte sich hart und fest Satz auf Satz und fiedelte immer eine tänzelnde, verräterische Begleitung dazu.

Kein Auge wandte sich vom Pfarrer. Wer hat ihm je so widersprochen, gleichsam Kanzel gegen Kanzel? Was wird er entgegnen? Wie er die Farbe wechselt, der Riese, und sich an die Stuhllehne klammert. Gibt es da viel zu widerlegen. Der Schül redet fürwahr recht gescheit. Seht, seht, jetzt geht Carolus ans Gesimse. Er nimmt den Handschuh auf. Gebt alle acht, das wird grossartig.

»Ihr selbst,« fuhr es unten fort, ohne viel Pause zu schenken, »Ihr selbst, Herr Pfarrer, habt soeben einen Tanz gezeigt. Getanzt muss also werden. Jede Zeit hat ihre eignen Tänze. Aber dass noch anders als nur so zierlich wie eben von unsern Grosseltern getanzt wurde, das kann man in den Chroniken des Landes lesen. Ich habe ein Buch mit vielen Kupfern über das Tanzen daheim. Kommt und schaut einmal an, wie man auch immer gewirbelt und gehopst hat, zwei und zwei. Der Walzer ist uralt. Er hiess nur anders. Solche kann man nicht aus der Welt schaffen. Wenn Euch, Herr Pfarrer unsere jetzigen Tänze nicht gefallen, gut, so gebt uns andere. Aber tanzen muss der Mensch ...«

Einiges Lachen, einige leise Bravos tauchten aus der dunkeln Gasse. Der Geiger spielte wieder, etwas lauter, doch wundersüss und wunderheiss, mit einem unwiderstehlichen Vierviertelstakt. Man konnte nicht anders, man musste Ohr und Sinn öffnen, man musste fröhlich werben, man musste mit den Füssen dazu taktieren oder mit den flachen Händen aufs Knie trommeln. Der Pfarrer schwieg wie vor den Mund geschlagen. Wenn er doch redete! Inzwischen wuchs der Zauber der Geige, er hatte etwas so Bezwingendes, dass selbst im Saale viele mit Schuh und Kopf dem Tanzrhythmus folgten, unsicher mitsummten, ja, dass bereits ein Pfeifer und der Zitherschläger auf der Terrasse leise auf ihren Instrumenten mitzuspielen versuchten.

Immer lauter schwoll der Lärm. Des Pfarrers Schweigen galt als Schuld, der ganze Saal im Blick auf Rethels Schreckensbild schwang mit der Musik mit, das ganze Volk tanzte im Herzen bereits nach Julius Tälers Teufelsgeige. Und wo noch eben dem Carolus die verdammenden Worte so brunnenklar vom Munde geflossen, dünkte ihn jetzt auf einmal eine solide Antwort in diesen wetterwendischen Leichtsinn hinein eine ungeheure Schwierigkeit. Aber er durfte nicht wie ein feiger Hund sich in die Ecke ducken. Er musste wie ein treuer Hund und Wächter des Herrn so laut bellen, dass alle die Gefahr kannten. Wenigstens das. Seine Adern schwollen, seine Kraushaare sträubten sich, seine Lippe blutete und seine blauen Augen lohten auf. Zum Kampf, zum Kampf! Munda cor meum et labia mea! flüsterte er leise das Gebetlein vor dem Evangelium.

»So antwortet mir doch, Hochwürden,« rief es im singenden Takt der Geige. »Ihr habt mich von Eurem Feste ausgeschlossen. Da schaue ich denn von der Gasse zu und von der Gasse, im Namen der lieben treuen Dorfgasse, rufe ich Euch zu: antwortet!«

Wahrhaft, jetzt klatschte die Gasse, rief Bravo, brauste auf wie ein zügelentledigtes Ungeheuer. Carolus, jetzt!

Aber in diesem Augenblick rief eine rauhe Stimme von der Strasse: »Platz da, der Ammann!« – Und sogleich folgten die dünnen, trockenen Worte Cornelis: »Gebet Raum, ihr Lärmbande ihr!« Sofort ward es so still, dass man die langsamen Tritte des Greises von Stufe zu Stufe und das Krachen der Diele hörte. Was bedeutet das? Carl fühlt, dass seine Sache eilt.

»Ihr Leute, höret,« donnert er zum Fenster hinaus. Aber da ist schon alles in die Gänge gestossen, die Treppen heraufgestürmt, füllt alle Ecken und Winkel. Carl wendet sich in den Saal. Auf der Schwelle steht der leichenhaft bleiche Gewaltige. Ehrfurchtsvoll macht man Platz. Corneli winkt nur mit dem Finger. Grabesstille!

Er entfaltet das Papier und liest hart, heiser, anstossend und doch allmächtig: »Infolge neuerlicher heftiger Verbreitung der Grippe mit bösartigen Begleiterscheinungen und zahlreichen Sterbefällen haben vom Moment der Bekanntmachung an alle politischen und geselligen Versammlungen, besonders jedes öffentliche Tanz- und Fastnachtsvergnügen zu unterbleiben, angesagte widerrufen, angehobene abgebrochen zu werden. Zuwiderhandlung wird mit Geld bis zu fünftausend Franken und mit Gefängnis bis zu einem Jahr unnachsichtlich gebüsst. Die Gemeindebehörden sind von Fall zu Fall ermächtigt, die Schulen bis auf Weiteres zu schliessen. Es wird empfohlen, die Gottesdienste am Sonntag auf ein Minimum von Dauer zu reduzieren. Je besser diesen Vorschriften nachgestrebt wird, um so rascher dürften sie wieder aufgehoben werden. Der Bezirksammann Schöll.«

Corneli liess sein heiles Auge über den vollgepfropften Saal schweifen und sagte: »Kraft solcher verkündeter Verordnung löse ich hiermit die Versammlung hier auf und bitte alle, sogleich und möglichst stille nach Hause zu gehen. Gute Nacht, Hochwürden! Gute Nacht, liebe Dorfgenossen!«

Er wandte sich. Alle Macht dieses Hauses und dieses Volkes hing an ihm. Wie ein Schulkind streckte Carl den Finger und bat: »Nur noch ein Wort!«

Aber Corneli stieg streng die Treppe hinunter, und das Volk würgte sich zu allen Türen und Fenstern hinaus ihm nach.

»Nur eine Minute, eine einzige Minute,« bettelte Carl und suchte die Nächsten zurückzuhalten. Umsonst, in wenigen Minuten war die vielköpfige Masse spurlos wie Wasser zerronnen.

Alles zerrinnt mir, überkam es Carl, alles, alles. Ist es nicht besser, ich resigniere? Der Bischof hat mir um Weihnachten einen Wink gegeben. Die Klosterfrauen von Heiligberg brauchen einen Beichtiger. Carl sann und sann, sah dann vom Tische auf und fand sich allein im Saal. Auch die Terrasse war leer, Stille ringsum. Gemütlich brannte von der Ammannstube her die Öllampe die Strasse herauf.

Aber unter der Türe wartete der kleine bescheidene Silberfischwirt, zeigte auf die Tische mit den halbgeleerten Gläsern, den Tellern voll Honigkringel und Mailänderli und den Flaschen Bier und Wein, die noch voll standen. »Fast niemand hat bezahlt,« jammerte er. »Dreissig Paar Schweinswürstchen sind bestellt und zwölf Portionen Schinken. Da rief einer: Grippe! und alles liess man unberappt stehen und rannte davon. Welch ein Schaden! Wie komm’ ich wenigstens auf meine Kosten, Herr Pfarrer? Ein Familienvater ...«

»Stellt mir die Rechnung morgen, ich zahle alles.«

Tief knickste der Kleine. »Sie sind immer gut mit uns, Herr Pfarrer, und da macht man es Ihnen so schlecht!«

»Wieso schlecht?« fuhr Carolus auf. »Ein Narr hat geredet, da spitzten sie die Ohren; denn die Narrenschelle tönt so spassig. Aber wenn sie einmal genug genarrt sind, kommen sie schon von selbst zum Verstand und damit zu ihrem wahren Freund zurück. Habt nur keine Angst!« Und indem er sich so für sein untreues Dorf wehrte, wurde er wieder voll Vertrauen und dachte: was Frauenkloster, totenstille Gänge, Bücher, Bücher und frommes Geflüster und vergitterte Fenster und gar keinen Bass unter fünfzig Nonnenflötlein. Das ist nichts für mich. Hier steh’ ich und fecht’ ich zu Ende.

Aber er ging zehnmal schwerer die zwei Treppen hinunter, als er sie emporgestiegen war. Eine schwere Niederlage lag ihm doch in den Beinen. In der Nacht draussen war es still. Alle Fenster und Türen waren verschlossen. Einsam wollte er die finstere Dorfstrasse zur Kirche hinaufwandern. Da huschte etwas aus dem Dunkel, klein, graziös, grossäugig und schneebleich, sah ihn mit einem wundervollen Kinderblick an, beugte sich nieder und küsste andächtig seine Hand. Dann verwehte es ebenso unhörbar im Dunkel. Wie ein Nachtpfauenauge, dachte Carolus. Mit einem Schlage fühlte sich der Pfarrer wieder wie beschwingt. Er hatte begriffen: für die ganze Pfarrei, die verblendete, hatte das taubstumme, kluge, tiefe Mädchen soeben Genugtuung geleistet.

Kapitel 23

Lustigern hat nie einen eigenen Arzt gehabt. Die Herren Doktoren kommen, wenn sie jung sind, auf dem Velo, die Dreissiger zu Fuss und die Vierziger mit dem Einspänner von Uzli, Wyla oder Batzig daher und tadeln alle, man rufe sie immer zu spät und meist in der Nacht ins entlegene Dorf. Wenn Dr. Grendel in Uzli von der Hausschelle erwacht und noch müde von her gestrigen aufopferungsvollen Praxis der Frau ruft: »Geh und horch am Fenster, ‘s ist zwei Uhr, das kann nur ein Lustiger sein,« so täuscht er sich selten einmal.

Aber jetzt begegneten sich zwei und oft drei Ärzte am hellichten Tage auf der Lustigern Dorfstrasse. Es war falsch, man rief sie nicht zu spät. Aber diese Frauen und Männer kennen nichts als Arbeit und Mühe vom Morgen- bis zum Abendstern und karge Erquickung und Aushalten und Ausharren wie Zugpferde in den Deichseln. Sie bleiben gesund. Aber nach und nach zehrt sich ihre Lebenskraft auf, und kommt dann eine Erkältung an der Zugluft, wenn man vor Hacken und Schaufeln sich bachnass geschwitzt hat, oder eine Ansteckung wie die giftige Grippe, dann finden diese Zerstörerinnen eine abgebrauchte, müde Maschine, wo schier auf einen Fingerdruck die ganze Mechanik zusammenkracht.

So starben denn vor allem die Alten. Cecili hüllte ihren Corneli in dicke Schärpen, aber den täglichen Messgang konnte sie ihm nicht verbieten, und einen Mantel kauften sie beide nach achtzig mantellosen Jahren nicht mehr.

Den Kaplan und Pfarrers Peregrina warf es am gleichen Tage ins Bett. Das Mili und Lorli kamen und halfen. Siria aber ging in die ärmsten und elendesten Wohnungen wie eine patentierte Krankenschwester. Ihr Tee war gut, ihr Mitleid tat noch besser, aber am meisten half den Kranken auf, wenn sie mit ihrer singenden Stimme ein Kirchenlied und hernach einen frischen Jodel sang. Ja, besonders der Jodel schien eine eigene Heilkraft zu besitzen.

Eines Tages fuhren drei Särge am gleichen Morgen zum Friedhof. So etwas war noch nie in Lustigern vorgekommen. Als Carl diese drei langen schwarzen Gehäuse sah, fielen ihm die sechs Bretter ein, die er zweimal am Waldhüttlein des Matthias Minz erlebt hatte. Er fühlte sich durchaus wohl. Es war kalt und wirbelte einen bissigen Aprilschnee über die schwarzen Kleider und weissen Chorröcke. Dennoch ging ein sonderbares Bangen durch seine Glieder. Mit den Dreien, die da steif und gefroren in den Särgen lagen, hatte er vor wenigen Stunden noch gebetet, die bittersten Augenblicke gleichsam mitgerungen, ihren letzten Seufzer entgegengenommen. Seit vier Wochen war er so Tag und Nacht auf dem Plan gestanden, immer im Atem Kranker, im Wimmern Sterbender, im Hilfeschrei solcher, die leben, ach so gerne noch leben wollten, und müssten sie noch dreimal härter als bisher das Brot für jeden Tag und den Schlaf für jede Nacht erkämpfen. Carl war allgegenwärtig. Eben hatte man ihn oben, eben unten im Dorf gesehen, am Fenster der Schreiberfrau Mathis, bei der Ilgenwirtin, im Schulhaus, auf der Strasse nach Schwarzenboden. Er verdreifachte sich sozusagen, die Ärzte staunten über seine herrische Kraft, die Kranken vergötterten ihn. Er wachte nächtelang bei einem Jüngling, dessen grünes Holz sich bog und krachte und doch erst nach sieben mal sieben Sensenhieben martervoll zerbrach. Aber das war die Niederlistube, wo der letzte Tanz getobt hatte. Carl sagte kein Wort, segnete, betete, tröstete, scherzte in Minuten der Erleichterung, richtete das Selbstvertrauen auf, erzählte Geschichtlein, die mit den Füssen auf der lustigen Erde steckten, aber den Kopf in den noch viel lustigeren Himmel strecken. Im Hause des Sägemeisters Weibel und am Bett des gewaltig fiebernden Ilgenwirts liess er nicht ein Tröpfchen Unmut über ihre Feindseligkeiten bei der Kirchgemeinde, nicht eine leise Runzel über ihre Tanzfrechheiten merken. Er verzieh und vergass das alles, wurde in diesen breiten Schatten des Todes selber interesseloser für irdische Geschäfte und Sorgen, seine Stirne war nicht mehr ganz glatt, an den Schläfen fing das kecke Kraushaar an, mäusegrau zu werden, seine herrliche Augenbläue umwitterte etwas wie Ewigkeitsluft. Welch ein Priester! lobte man. Ein Seelsorger, wie wir noch keinen gehabt! Dass er uns doch lange erhalten bleibe! Nur ganz in der Tiefe der kritischen Seele fügten die gelasseneren Männer hinzu: wenn er doch nur in seinem Chorrock bliebe, da ist er ein Held und Heiliger!

Aber Carolus kannte jetzt seine Leute. An jenem Abend in der Fastnacht hatte das Runzelig- und Grauwerden begonnen. Er traute nicht mehr. Das Fleisch ist zu schwach. Ging diese Geissel vorüber, so erwachte der alte Hang, die alte Lockung, die alte Schlangenlust. Mit dem öffentlichen Tanz ist es für lange aus. Aber in den Häusern kann es wieder aufflackern und in der Ecke, wo der Grossvater sich im letzten Röcheln streckte, kann nach wenigen Wochen wieder der Schül mit der Geige sitzen. Der Schül hat noch keine Antwort. Er ist nicht widerlegt. Keine Gründe können ihn widerlegen, wenn Predigt, Erfahrung und Tod ihn nicht widerlegen. Da nützt der Geist nichts, da nützt nur robustes, praktisches Vorgehen. Schül muss um jeden Preis fort; selbst wenn Siria, die eine so gelehrige und willige Tochter seines Unterrichtes geworden ist, mitzieht und neuerdings den Staub der Erde zu schlucken beginnt. Zuerst und vor allem ist die Seele des Dorfes zu retten.

Als Carl nun an diesem fünften April vor den drei Särgen stand, vom Winter umflockt, als könnte es gar keinen Frühling mehr geben, da umfing ihn eine grosse Traurigkeit. Die Röte wich aus seinem Gesicht, die Augen netzten sich, er musste mehrmals im Totenpsalm absetzen. Kaum konnte er die Leichenrede anheben. Vom Aufjammern der Leidleute, vom vielen Husten der Schulkinder und von seinen eigenen sonderbaren Ängsten oft unterbrochen, erzählte er langsam, wie die Drei hier den letzten Schritt in die Ewigkeit getan hätten. Meinrad Eicher, der im längsten Sarg, habe ihm noch zum Turmbau drei gefällte Eichen vom Torwald geschenkt und gesagt, die Eichen des Wildbergers Alberti, der auch im Sterben lag, gäben nicht so solides Holz. Da habe der Alberti noch zwei Beigen Tannenbretter vermacht, für die Gerüstböden sei Eiche zu schwer. Aber die zwei Greise selbst seien standhafter als Tanne und Eiche gewesen; denn jene Bäume zittern unter der Todesaxt, sie aber hätten der Welt beinahe lachend Gutnacht und dem Himmel Guttag gesagt. Im schmälsten Sarg aber liege der gute heftige Jakob Weber, der immer so grosse runde Augen gemacht habe, wenn er etwas Neues oder Merkwürdiges sah. Wie der sanft geworden sei und gegen Morgen fünf Uhr, als das Betläuten anhob, den Pfarrer nochmals an beiden Händen gefasst, mit kalten schwitzenden dünnen Fingern gefasst und geflüstert habe: Nicht wahr, Pfarrer, es geht nicht mehr lange! – Und dann habe er ihn umklammert, wie man ein Ruder im Sturm umklammert, habe die Augen wunderbar gross und schön aufgetan und gelispelt: Da ... da ... sind die ...! und sei ihm leblos auf den Arm gefallen. Da sind sie! Er höre es noch. Jakob habe es fast gesungen. Welche sie? O gewiss die Engel des Herrn, um so einen Lieben im schönsten Schwung ins Paradies zu tragen! – Ach, rief dann Carolus, schauen wir doch nichts mit den Mäuseaugen der Erde an. Tun wir die grossen Augen dieses Jünglings ins Ewige auf, dann wissen wir Ernst und Eitelkeit zu unterscheiden, dann zuckt es in keinem Muskel mehr zum Tanz, dann bauen wir mit unsterblichem Tannen- und Eichenholz am Turm, von dem aus wir in den Himmel sehen und einst mit einem fröhlichen Satz auch in den Himmel springen.

Und reden kann er, hiess es nachher. Wie ein Papst! Kein Zweifel, den nimmt uns der Bischof bald genug weg. Solche vergrauen nicht zuhinterst im Land. Die Stadt wurd ihn wollen. Er bekommt den Domherrenstuhl und weiss Gott noch den Bischofstab zu guter Letzt, kommt unsere Kleinen zu firmen und zwinkert mit den Augen, wenn er am »Silberfisch« vorbeigeht. Und wenn dann alles Volk in den Staub sinkt vor dem violetten Mann und seinem apostolischen Segen, dann scherzt er vielleicht: So seid ihr nicht immer abgekniet, ihr lieben Leutchen! – dann erwidern wir: Doch, doch! gnädiger Herr, immer sind wir vor unserm Seelsorger so niedergekniet. Ihr habt es nur nicht immer recht merken wollen.

Am Nachmittag machte der Pfarrer einen Besuch in der Kaplanei. »Wie bring’ ich nur den Geiger fort?« fragte Carl seinen Kaplan, der noch sehr gebrechlich im Bette lag, aber die ganze Decke mit Abschriften von Dokumenten, alten Briefen, einer gesiegelten Urkunde und einer handgeschriebenen Chronik überstreut hatte.

»Gib ihm ein paar Tausend Franken, und er pfeift wie der Biswind davon.«

»Woher nehmen?«

»Vom Turmfonds! oder wie die deine geheimnisvolle Kasse nennst.«

Carl starrte den Eusebius verblüfft an.

»Es fragt sich nur,« betonte der Kaplan, »ob ein solcher Geldverbrauch noch im Sinne der Schenker läge.«

»Das schon, o das schon. ‘Zur freien Verfügung des Pfarramtes für gutscheinende Bedürfnisse der Pfarrei’, steht deutlich auf dem Deckel. Anders nahm ich keinen Fünfbätzler an. Aber, aber ... das andere ... nein, das geht nicht.«

»Was geht nicht, Carl, mein Herz? was?«

»Ich muss mit dem Turmbau beginnen. Nach Ostern darf keine Stunde gezaudert werden.«

»Wieso pressiert das so, du Grosser?«

»Hör’, Kleiner, aber red’ mir nicht drein, bis ich fertig geredet! Ich bin ein bisschen Thomas. Ich muss sehen, greifen. Ich glaube auch ohne das, aber recht mutig und tüchtig und sicher werd’ ich erst, wenn mir die fünf Sinne beistehen. Es ist eine Schwäche, aber es ist so. Und darum den hohen Turm her! Nun sind aber die Lustiger noch viel ärgere Thomasse als ich. Beweise so hell wie Glas und Widerlegungen so stark wie Stiere ... oh ... das ...« Carl schlug sich auf den Mund.

»Was hast du?«

»Nichts, nichts!« – Aber auf einmal stand hell das Wort des Bischofs vor ihm: Nicht mit dem Horn des Stiers, mit dem geduldigen Zahn der Maus ...

»Also, Argumente so scharf wie Mäuschenzähne, geduldige, frommen ihnen keinen Deut. Sie müssen alles gröblich sehen, hören, betasten können. Ich arbeite an ihrer innerlichen Erbauung; diese Grippe hilft mit. Sie ist eine schreckliche Gnade, aber doch eine Gnade. Dennoch wird erst der augenfällige Ausbau des Turmes sie recht begeistern und ganz für meine Pastoraten gewinnen. Tatsachen wollen sie haben. Dieser gen Himmel strebende Turm wird eine Tatsache sein, die auch ihre eigenen Türmchen reckt. Sie können dann nicht anders. Ich habe jetzt fast neuntausend Franken beisammen, Holz wird schon nächste Woche auf den Platz geliefert, Steine, Sand, Kalk, Zugtier, alles ist bestellt. Am Osterdienstag beginnen wir.«

Eusebius überschaute seinen Carolus von Kopf zu Fuss. Welch ein herrlicher Mann, selber stand er da wie ein Turm.

»Bist du dir denn nicht selbst Turm genug?«

»Du hast es ja gesehen,« entgegnete Carl bitter, »wie dieser Turm an der Kirchgemeinde und wieder am Fastnachtabend Risse bekommen hat. Wenn ich noch lange warte, gibt es einen schiefen Turm von Lustigern.« Er lachte sein lautes, gezwungenes Lachen.

»Und ist dir Gott nicht Turm genug?«

»Ach, da fängt es wieder an,« zürnte Carl; »du willst nicht verstehen.«

»Dann rede das Siegel da!« sprach Euseb und wies auf die grosse graue Urkunde neben sich. »Schau, es ist eine Urkunde des Abtes von St. Gallen, als man ihm einen Haufen Rechte und Gewalten beschnitten hatte. Von da an siegelte er mit diesem Satz und blieb der seligste Mensch.«

»Amor turris meus«, las Carl. »Jeder auf seine Weise, Eusebi. Dem ist die Liebe, mir ist der Glaube Turm.«

»Aber ohne Liebe wäre es ein Turm ohne Fundament. Paulus, Korinther ...«

»Habe ich keine Liebe? Eusebi, alter Freund, kennst du mich nicht besser? Du weisst gar nicht, wie ich die Lustiger liebe. Alle möchte ich zusammen in meinen Hosensack, ach nein, das ist dumm,« verbesserte er sich sehr ernst, »alle möchte ich sie zusammen in den Tabernakel zu Jesus einschliessen, und mich damit, und gar nie mehr herausgehen in diesen Winter der Welt. Frag’ die Kranken, ob ich keine Liebe habe. Aber ich kann nicht streicheln und schmeicheln und Süssholz raspeln. Liebe ist nicht Liebelei.«

Eusebius seufzte leise. Zugleich öffnete sich die Türe und Marianne steckte den Haselnusskopf herein und rief: »Herr Pfarrer, kann ich die Siria hereinlassen? Sie bittet recht darum.«

»Ich selbst habe sie ja hierher bestellt,« murrte Carolus, »damit es weniger auffällt. Nur herein! Eusebi, hilf mir um Gottes willen ein bisschen!«

Siria, das grosse, grobgebaute, aber von einer Zartheit des Herzens so lieblich verschönte Weib, trat beinahe furchtsam und mit schwitzender Stirne herein und blieb an der Türe stehen. »Nicht, nicht,« bat sie, als der Pfarrer ihr die Hand bot. »Ich habe ein wenig Fieber. Das Sandmeitli ist erkrankt und bekam eine böse Nacht. Es hat mir einigemal mitten ins Gesicht gehustet, es konnt’ nicht anders, das arme, es erstickt ja beinah. Ich sitze hier ab. Aber, Herr Pfarrer, mir ist angst. Bitte, sagt nichts Hartes gegen Schül. Gestern hat er mit mir das ganze Vaterunser gebetet. Wir fürchteten, er bekomme die Grippe. O wie schön hat er gesagt: vergib uns unsere Schulden! Nein, der ist nicht arg in der Seel’.«

»Und heut fühlt er sich wieder wohl?«

»Ganz gesund, gottlob.«

»So, dann könnt Ihr aufs nächste Vaterunser lange warten. Schon heut fiedelt er Euch eine Polka.«

»Ach, Hochwürden ...«

»Nein, nein, Ihr seid schlecht und recht die richtige, weiche, liebe, unlogische Eva, wie sie im Büchlein steht. Ihr schaut nicht weiter als zur hübschen Nasenspitze Eures Schül. Ich aber muss über die Köpfe und Seelen dieser Pfarrei wachen; auf einen einzigen Mann und auf eine noch so brave Siria kann ich nicht Rücksicht nehmen. Einer Karte zulieb darf man nicht das ganze Spiel verlieren, oder, Herr Jasskaplan?«

Eusebius lächelte ein ungewisses Nein. –

»Christlich ordnen wollt Ihr Euer wildes Beisammensein nicht,« schalt Carolus möglichst sanft, »er aus Unglaube, Ihr aus blinder Anhänglichkeit zu ihm. Diesen Zustand darf ich nicht länger stillschweigend dulden.«

»Geduld, Herr Pfarrer, ich bete ja so viel, dass ...« Es schüttelte ihren Körper vor Fieberschauer oder vor seelischer Not. »Gott wartet, Gott ist so gut, Gott ...«

»Gott wartet? Wie könnt Ihr das behaupten, wo so oft und unerwartet die Totenglocke schallt. Und wenn Gott wartet, heisst das, wir dürfen auch ganz bequem warten?«

»Nein, aber nicht so bitter pressieren, so ...«

»Es gibt nichts Pressanteres als unsere liebe arme Seele, glaubet mir.« Carl sprach das mit einer unnennbaren Ergriffenheit und drückte die breite rote Hand an seine Brust. Ihm war, es töne da drinnen: ja, ja, nichts Pressanteres! Pressiere du nur auch!

Die Türe ging auf, der Haselnusskopf der Marianne schob sich wieder und hernach ihr räderweiter Rock mit den unsichtbaren Pantoffeln ohne Exküsi herein. Sie trug ein Teebrett, stellte es vor Siria auf das Ziertischchen und sagte: »Da ist Enzian und Zucker und Zitrone im heissen Wasser. Das trinkt. Gleich wird Euch besser.« – Und zu den Herren: »Die arme Frau hat fast nicht die Treppe hinauf gekonnt ... Siria, kommt dann noch in die Küche, wenn Ihr geht!«

Carolus wölbte die Brauen über die eigenmächtige Person. Siria schluckte das Gebräu dampfend hinunter und wischte unaufhörlich den Schweiss aus dem Gesicht.

»Höre, liebes Kind,« fuhr Carl fort, »der Julius langweilt sich hier entsetzlich, er fliegt aus, sobald er kann. Auch hat er eine reissende Angst vor der Grippe. Könnte er jetzt gut weg, er reiste noch vor Abend ab. Auch ich möcht’ ihn schon vor Abend wegwünschen. Da sind Schül und ich einig. Nun war doch im Winter Aussicht für eine Anstellung in Zürich. Ich bin bereit, hierzu das möglichste beizutragen. Bitte, sagt ihm das. Ich will auch mit dem alten Zellwig noch darüber reden. Schickt mir den Schül morgen ins Pfarrhaus. Bereitet ihn vor, stimmt ihn ein bisschen demütig, dann geht es schon.«

Siria erhob sich schwer, als klebe sie überall an allem und jedem an und müsse sich schmerzlich losreissen. O ja, es war kein Kleines, diesen Frieden zu verlassen und wieder ins alte, wüste Getümmel geschleudert zu werden. Aber ihren lieben Schül konnte sie nicht verlassen. Ohne ihn, meinte sie, wäre erst recht kein Friede in ihr. Er gehörte zu ihr wie ihr Atem und Pulsschlag. Ohne ihn hätte sie sich nie zurechtgefunden, wäre sie jetzt wohl eine Ertrunkene im Wasser oder eine Verstossene im Strassengraben. Bei ihm hörte sie die ersten Klänge von Güte und echter Herzlichkeit durch allen Wirrwarr seines Gehabens. Ein Halbblinder führte eine Blinde und führte sie nicht schlecht, besser als sich selbst. Und nun war die Führung an ihr. Nie, nie, durfte sie ihn verlassen.

»Und Ihr,« bat der Pfarrer. »Bleibet doch bei uns! Alle sind Euch gewogen. Glaubet mir, wenn etwas Echtes an Schül ist, so kommt er später zurück und führt Euch an den Altar, wie es von Anfang an hätte sein sollen. So lebt Ihr in Sünde und Euer gutes Engelchen im Himmel, das Christophli, weint über Euch und schämt sich vor allen seinen himmlischen Gespanen, dass es nicht auch wie sie auf die Erde hinunterzeigen und prahlen kann: Seht, da geht meine Mutter mit dem Vater zur Kirche, sie haben Gesangbuch und Kerzen in der Hand und einen schönen Krank auf dem Kopf. Und alles grüsst sie, und der Pfarrer segnet sie, und sie bitten unsern Herrgott vor dem Altar um ein neues Büblein, da sie mich so schnell verloren haben.«

Siria sank wieder auf den Stuhl zurück.

»So ein seliges Geplauder möchte Euer Christophli im Himmel anheben. Und ihr beide hindert ihn und verhaltet ihm das Engelmäulchen, ach ... dem lieben Christophli!«

Jedesmal beim Namen Christophli erbebte die Frau. Beim dritten Mal war alle Rührung überwunden. Fest stand sie auf die Beine, öffnete die Türe weit und sagte düster, aber ohne Zorn: »Und Ihr habt das Kind nicht einmal getauft. Eure Hände meintet Ihr an diesem unschuldigen Geschöpf zu besudeln. O Herr Pfarrer! Dafür lässt unser Herrgott das Büblein jetzt bis an sein Knie kommen und nimmt es auf seinen Schoss und küsst es. Gott ist viel, viel barmherziger als Ihr! Lebet wohl!«

Und schon war sie an der Küche vorbei und zum Hause hinaus und stürmte dem Hag entlang die Wiese zum Tälerhaus hinauf.

Eine ruhelose Nacht folgte für Carl. Weder Mond noch Sterne schienen. Ein erstickendes Dunkel presste sich schwer an die feuchten Fenster. »Ach,« betete Carl, »es gibt keinen Frieden hier. Der Friede ist aus einer andern Welt.«

Er öffnete die Kasse und zählte die Fondsgelder zusammen. Neuntausenddreihundertsechzig Franken. Gleich schoss aus diesen soliden Zahlen ein solider Turm auf. Aber da reckten sich zwei riesige Arme herzu, packten ihn oben und brachen ihm den Hals, wie der Wind eine Pappel knickt. Wer war das? Der Schül? der Corneli? Oder, oder war es am Ende der Herrgott selbst?

Er rieb sich die Augen, schlief und träumte wieder buntes Zeug und war auch wieder jeden Augenblick wach. Denn er hörte alle Stunden schlagen. Schliesslich klopfte ihm das Herz so überschnell, dass er aufstehen und sich in den Lehnstuhl setzen musste.

Immer wieder, wenn er sich mühsam hin und her bedacht hatte, blieb er mit brennender Lippe vor der Frage stehen: soll ich den Turm opfern? Oder soll ich die Seelenruhe des Volkes opfern? Sie geht ja über alle Türme der Welt. Aber muss es denn sein? Kann man denn nicht beides behalten?

Noch ganz übernächtigt sah Carl aus, als Schül geziert wie immer, mit Hut und Stöcklein in der Linken und einem gewissen fröhlichen Humor in den prachtvoll schwarzen, von Leichtsinn glühenden Augen ins Studierzimmer eintrat. »Und?« sagte er, die Schnurrbartzipfel kräuselnd. »Und?«

Wirklich ein hübscher Mann, schlank, biegsam, mit nachtschwarzen Locken und einem losen Zug um die Lippen, die rot und süss wie Himbeersirup schienen, so ganz ein Figürchen, um den Mädchen den Kopf zu verdrehen und schwachen Frauen den Halt zu nehmen. Kein Boshafter! Er könnte kein Kaninchen schlachten. Aber genusssüchtig wie ein Maikäfer. Er ist imstande, die Unschuld von Dutzenden zu töten. Seine Geige ist des Teufels! Carl sah nicht Stöcklein und Hut; ihm war, der heillose Kerl schwinge Geige und Bogen. O was hat dieser Geiger in den sechs, sieben Monaten seines Hierseins für Unruhe und Qual gestiftet und dazu immer mit lachenden roten Siruplippen. Furchtbar kam er ihm vor, hexenmeisterlich, ein dämonischer Schwindler. Dass ich so lange warten konnte, wunderte sich Carl. Dass der mir nicht schon das ganze Dorf verhext hat. Hier muss alles gewagt, alles geopfert werden.

Der Pfarrer bot Schül einen Stuhl und fragte höflich, wie es »der guten Siria« gehe.

»Meinem Weibe wollen Sie sagen. Sie ist heute im Bett geblieben. Mili liess sie nicht aufstehen.«

»Das ist die Grippe! Passet auf! Diese Hexe schont niemand. Letzte Nacht meinte ich, sie halte mich auch schon am Zipfel.«

Schül rückte etwas zurück und rieb die Hand am Knie ab.

»Heute früh wurde ich zum Schreiber Mathis gerufen. Der war noch nie krank. Jetzt liegt er erst zwei Tage. Und wie ich komme, ist das Licht schon ausgeblasen. Er hatte noch den Mund offen, als wollte er etwas herausschreien. Niemand wagte, ihn zu berühren. Da hab’ ich’s getan ...«

»Sie selber?« Mit Grausen betrachtete Schül die roten Hände des Pfarrers und rückte noch mehr ab.

»Das macht man so,« erklärte Carolus und hob die Hände mit den hohlen Seiten wie zwei Schalen gegeneinander, dass gerade ein Gesicht dazwischen Platz hatte. »Ihr fasst unten, sehr so, das Kinn und drückt von oben stark über die Stirn herunter. Dann schnappt es wie ein Türschloss ein und geht beim ärgsten Schütteln im Sarg nicht mehr auf. Doch was habt Ihr? Wie bleich Ihr werdet! Gebet acht, Ihr bekamt die Grippe noch nie. Wen sie so spät packt, packt sie dafür auch ganz gehörig.«

Dem sensiblen Schül klapperten die Knie zusammen. Er fürchtete das Kranksein wie das Huhn das Wasser. Wenn es ihn einmal ins Bett werfe, dann sei es Matthäi am letzten. Ihn bangte, ob er wohl von Siria oder jetzt vom Pfarrer schon angesteckt sei. Unendlich verlangte ihn weg aus diesem Spitaldorf. Er merkte den Spott des Pfarrers wohl, aber jetzt überwog die heillose Todesfurcht.

»Dieses Klima tut mir nicht gut,« sagte er leise; »ich friere hier immer und schwitze dann wieder und ... überhaupt ...«

»So geht doch!«

Schül knipste mit Daumen und Zeigefinger. Das hiess: und woher das Geld? – Dann fügte er laut bei: »Ich muss jetzt Erwerb haben. Ich bin Musiker. Ich will Geigenstunden geben, hier und in der Nachbarschaft. Auch Handharmonika und Zither und Trompete verstehe ich. Ganz billige Lektionen will ich nach Ostern offerieren. Die Leute sind musikalisch, das gibt schon Brot und am Ende sogar Braten.«

»Das heisst, wenn Ihr nicht selbst vorher ein Teu ... ein Todesbraten werdet,« drohte Carl, in dessen Einbildung die Gefahr solcher Musikstunden, von einem solchen Lehrer erteilt, ins Ungeheuerliche wuchs. Da würde der Walzer sozusagen wie ein Teufelskatechismus schon den Kindern ins Blut eingegossen. Niemals! Und kostete es nicht einen Kirchturm, sondern ein siebentürmiges Münster wie das von Rouen sein soll.

»Ihr wollt mich erschrecken,« wehrte Schül ab.

»Ja, Julius Täler, das will ich,« begann Carl nun mit Energie. »Seien wir ehrlich! Ich will und muss Euch aus meiner Pfarrei schaffen, und koste es auch die gute arme Siria.«

»Reich, reich ist sie bei mir,« prahlte der Tropf.

»Aber auch Ihr wollt um jeden Preis fort. Ihr habt eine wahre Todesangst, länger da zu bleiben. Es langweilt Euch überdies hier unendlich. Hättet Ihr Sechs-, siebenhundert Franken, Ihr hättet längst den Spatzenstrich genommen.«

Schül zuckte skeptisch die Achseln.

»Das hättet Ihr!« wiederholte Carl bestimmt. »Nun gebe ich Euch nicht siebenhundert, ich gebe siebentausend Franken, wenn Ihr heut abend packt und morgen in aller Frühe verschwindet!«

Der Eindruck dieses Wortes war gewaltig. Schül erhob sich wie vom Blitz getroffen, setzte sich wieder und stand wieder auf. Plötzlich lachte er auf: »Legendenstil! Den kennt ihr Schwarzröcke so gut.«

»Schwatzt blöd, wie Ihr mögt und müsst. Ich wiederhole einfach: siebentausend Franken!«

Eine Pause trat ein. Carl liess dem nervös zuckenden und reibenden Schül Zeit, sich zu sammeln.

»Ist das wahr?« fragte Schül plötzlich, die Augen voll Tränen. »Wär’ so ein Wunder möglich! Ach, wie ... wie ... danke ich Ihnen!« Er sah weite Strassen, das violette Dächermeer einer grossen Stadt, die blitzenden Spiegel der Restaurants und die Trunkenheit eines von Freude zu Freude tänzelnden Gassenvolkes, See, Dampfschiffe, Villen im Grün, sausende Eisenbahnen, Fahnengeflatter, Burgunderweine in geschliffenen Kelchen und Musik, Musik überall, aussen und innen. Freilich auch einmal Hunger, riskierte Schwindeleien, Polizei, Wachtlokal, aber das geht vorbei und wieder funkelt wie ein Sternenhimmel die Grossstadt mit ihren unzählbaren, ewig neuen, rettenden und beglückenden Möglichkeiten.

»Hier gibt es kein Wunder,« bemerkte Carl beinahe angewidert und zeigte auf einige dick und gross beschriebene Bogen auf dem Tisch. »Wir haben eine nackte Rechnung vor uns. Ich gebe, Ihr nehmt, und die Bedingungen werden rechtlich unterschrieben. Haltet Ihr sie nicht wie jüngst mit der Hunderternote, dann geht alles an uns zurück.«

Jetzt wurde Schül aufmerksam. Bedingungen, unterschreiben ... geht alles zurück ... das klang schon wieder wie Strick und Handschelle.

»Wie meint Ihr eigentlich? Ich verstehe nicht,« gestand er unsicher.

»Ganz einfach: ich habe mich von Herrn Zellwig unterrichten lassen. Der Platz in Zürich steht noch offen. Aber die Hinterlage wurde inzwischen, da gar viele Anmeldungen kamen, auf zehntausend Franken erhöht. So viel müsst Ihr als persönliche Garantie hinterlegen. Verseht Ihr den Posten auch nur fünf Jahre leidlich, so braucht es keine Sicherung mehr. Macht Ihr aber Dummheiten, so können wir das Depositum vom einen Tag zum andern zurücknehmen, wobei freilich vorerst dem Unternehmer aller daraus erwachsene Schaben zu vergüten ist. Wir riskieren also nicht wenig. Ihr aber werdet in einem solchen Falle unwiderruflich auf die Gasse gestellt.

Nun zahle ich siebentausend, Herr Zellwig dreitausend Franken an jene Hinterlage. Zellwig ist ein reicher Fabrikant, und er sagte mir selbst, dass er an unsre katholische Kirche als strammer Protestant nichts gäbe. Aber in Euerem Falle wolle er dreitausend Franken gefährden. Er kenne meine Gründe, er achte sie auch als Andersgläubiger hoch, und da es ums Volkswohl gehe und weil nur Katholiken seit dreissig Jahren in seiner Stickerei ständen und einen redlichen Teil am Gedeihen seines Hauses hätten, so mache er sich eine Freude daraus, mir mit diesen dreitausend Franken beizuspringen, um so lieber, als sie ja sicher nicht verloren seien. – Ich hätte den Corneli fragen können. Aber der hätte mir einen abschlägigen Bescheid gegeben. Das ist ein verlorener Posten, hätte er gesagt, basta. So beschämt dieser freisinnige Protestant gar viele von uns, die katholischer als katholisch sein wollen. Wir glauben nicht, dass es ein verlorener Posten ist, sonst könnt ich’s nicht verantworten. Es ist nicht mein Geld, es ist Herrgottsgeld.«

Schül schwieg. Carolus lief mit hitzigen Schritten um den Tisch. Der Versucher lockte noch ein letztes Mal: bleib beim Turm; auf den Schelm hier ist kein Verlass! Vergiss nicht, dass du schon Material gekauft und Löhne zugesichert hast; dass, wenn man zu Ostern nicht mit den Gerüsten beginnt, wie du laut genug verkündet hast, du allen, allen Kredit in der Pfarrei verlierst. Deine Freude wird zu Wasser, dein Mut zerrinnt. Und darfst du frommes fremdes Geld zu diesem Zweck verwenden, nämlich dass ein Spitzbube wie der Schül auf einer Vorstadtbühne allen Hokuspokus treiben kann?

Und was willst du dann machen den langen Sommer? Im Schlafrock sitzen und die Friedhofkrähen zählen? Und der Corneli! Wie wird er ins Fäustchen lachen. Wie lautete jüngst das Brieflein des Bischofs? So: »Ich teile Hochwürden mit, dass der Donator der Kinderglocke in Lustigern den Namen geändert und statt einer Carls-, eine Ceciliaglocke weihen lässt. Die Glocke kann auf Ende Juli in den Turm gehängt werden. Sie liegt bereits im Guss. – Und das Frauenkloster in den Heiligbergtannen, in der Kühle und im Frieden einer andern Welt, lockt Sie das nicht?«

»Frieden einer andern Welt!« wiederholte Carl.

Rascher und rascher stürmte er um den Tisch. Seine Finger bebten, das Stirnhaar ward feucht, und das Himmelblau seiner grossen, stolzen Augen netzte sich. O wie wäre es schön, das Hämmern und Sägen, das Emporziehen der Lasten, das Ho – hoi – o – o der Träger, das Rumpeln der Quadern, das Klatschen des Kalkwurfs, das tägliche Hinaufsteigen und Sehen, wie der gigantische Blumenstengel wächst, oder vom Pfarrfenster dem Fliegengesumme der Arbeit hoch über allen Giebeln zu lauschen. Dies alles lassen ist fast wie Tod ... o Gott ... wie schwer ist das! ... Und Wagen und Knechte sind für nächste Woche fest bestellt ...

Da zerrte jemand an der Klingel, stürzte die Treppe herauf, steckte, ohne erst anzuklopfen, den Kopf herein und schrie: »Ihr sollt in die Ilge kommen. Der Sigi stirbt.«

»Der Sigi? ist hier?«

»Vorgestern ist er in die Osterferien gekommen, er fühlte sich übel. ‘s ist nicht Grippe. Ganz anders, kommt!«

»Sogleich! Sagt, in einer Minute! – Und Ihr,« fragte Carl und suchte umsonst nach der glänzenden Seifenblase von vorhin. »Und ich? – Da stirbt einer, und wir, was plänkeln wir Arme noch lange um Zeitliches herum?«

»Wir unterschreiben!« sagte Schül voll Bitte und Hoffnung.

»Wir unterschreiben,« wiederholte Carl mechanisch.

»Da steht Zellwigs und Eure Unterschrift ja schon,« rief Schül, nachdem er die wenigen Zeilen überflogen hatte.

Carl zog ihm das Blatt aus der Hand und sagte: »Ich kann es noch zerreissen, noch in dieser Sekunde, und der Turm ist gerettet.«

»Der Turm?«

»Merkt das Kind noch nichts! Den Turm opfere ich für Euch. Woher hätte ich sonst die Tausender? Unterschreibt, schnell, schnell, so ist’s vorbei.«

Schül zeichnete seinen Namen in Fieberhast hin.

Viel sanfter bot ihm Carl den zweiten und dritten Bogen. Beim vierten Blatt für den Unternehmer in Zürich ward seine Stimme müde und heiser, als er sagte: »Auch dieses Blatt.«

Dann gab er ihm noch dreihundert Franken Vorschuss für die Reise. Die Firma Felber würde sie ihm vom Quartal abziehen und unmittelbar hierher vergüten. Er schloss: »Lebet wohl! Jetzt ist für Euern Leib gesorgt, das andre nehme unser Herrgott in acht!«

Als er zur Ilge rannte, die Knie schwer wie Steinplatten, hörte er im oberen Strässchen den Geiger das Liedchen pfeifen »Und im Aargau sind zwei Liäbi«, und sah, wie er das Stöcklein hochwarf und geschickt bald mit der rechten, bald mit der linken Hand wieder auffing.

Kapitel 24

Als Carl ins Krankenzimmer trat, war Sigi gerade zu sich gekommen und schaute mit feuchten, verwunderten Augen Vater und Mutter und den Pfarrer auf der Schwelle an. Stirnrunzelnd suchte er sich zu besinnen, wieso er halb entkleidet, mit aufgerissenem Kragen und Hemd auf dem Bette liege und wieso man mit so ergriffenen Mienen um ihn stehe. Endlich irrte ein schwaches Lächeln über seine eingeknickte, wachsweisse Nase nieder. Sein Haar war nass, und grosse, dunkle Blutflecken besudelten die Ärmel und ein weisses Tuch, womit man ihm den Schaum vom Munde gewischt hatte. »Wasser!« befahl er leise.

Dann fing er an, sich zu genieren, die Brauen zu zacken und zu schelten, dass man solch ein Wesen mache, wo es doch so etwas Gewöhnliches sei, und sogar den Pfarrer rufe, als ob er ad inferiores verreise. Er habe hierfür das Billett noch nicht gelöst. Man solle jetzt hinausgehen, er wolle schlafen. Er klingle dann schon. So ein Anfall, bah, so etwas Gewöhnliches.

»So etwas Gewöhnliches?« widersprach der Vater, während die Mutter schon gehorsam zur Zimmertür huschte. »Du hast ausgesehen wie ein Toter und bist vielleicht auch nicht weit davon weg gewesen. Der Doktor Grendel wird nun kommen.«

»Auch das noch!« seufzte Sigi, indes die hellrötliche Farbe, die sein Antlitz sonst wie mit zartem Weinglanz belebte, rasch zurückkehrte.

»Sag’, hast du den Anfall in Zürich auch schon gehabt?« fragte Viktor.

»Ja, ja, ein-, zweimal ... doch was soll das? Lasst mich jetzt schlafen. Mein Kopf ist so stumpf und müd, als hätte man damit eine Stunde gekegelt. Geht! Sie entschuldigen, Herr Pfarrer. Ich bedanke mich dann persönlich bei Ihnen.« Damit wandte er sich rücksichtslos gegen die Wand.

Der Pfarrer war nicht gemeint, auf solche Art zu retirieren. Aber die Eltern winkten ihn flehentlich mit sich in die Vorkammer hinaus.

»Wir meinten, er sterbe uns unter den Händen,« entschuldigte Viktor.

»Was war es denn eigentlich?« fragte Carolus. »Eine Ohnmacht? ein Herzkrampf? eine Magenöde, wie?«

Frau Ida weinte ins Schnupftuch. Zornig von ihr wegblickend, antwortete der Wirt, es sei etwas viel Schlimmeres, das fallende Weh, Epilepsie.

Aber wieso denn jetzt erst? Ob sie’s verheimlicht hätten?

Wie man wolle. Sigi habe als Kind darunter gelitten. Durch ihre Schuld! In einer unbewachten Stunde sei das Büblein einmal aufs Fenstergesimse geklettert und gleich rückwärts auf den Hinterkopf in die Stube zurückgefallen. Von da an kamen die Anfälle. Man habe dann durch Bäder und Diät und Luftkur das unheimliche Ding spurlos weggebracht. Sigi wisse nicht einmal davon. Leider! Denn sie hätten es ihm vielleicht später doch sagen sollen, weil der Arzt erklärte, Sigi müsse bis über die Entwicklungsjahre hinaus sehr behutsam leben. Erst mit zwei-, dreiundzwanzig Jahren, mit dem Bart, habe Dr. Grendel gespasst, höre die Gefahr des Rückfalles absolut auf. Aber Sigi sei so stark und tüchtig geworden, dass sie leider alle Bedenklichkeit fallen liessen. Sie meinten es ja gut. Würden sie ihm die Sache verraten haben, so hätte immer eine Drohung über dem Buben gehangen, und auch der Arzt wagte nicht, fürs Schweigen oder Reden zu entscheiden. Je nach dem Naturell hätte die Preisgabe des Geheimnisses den Burschen erst recht melancholisch machen und zu Anfällen disponieren können. Aber strenger hätten sie sein sollen. Alkohol habe der Arzt streng untersagt und fast so entschieden auch das Rauchen. Sie aber liessen den Sigi sorglos paffen und am Weinglas läppeln, und auch andere Störungen in seinem Wesen wie rasches Zürnen und Wüten, leidenschaftliches Kommandieren und eine gewisse aufregende Gier nach Mädchenverkehr hätten sie zu spät und daher nicht mehr wirksam bekämpft. Nie dachten sie an eine so grauenhafte Möglichkeit wie die heutige.

Dem Wirte ward heiss wie bei einer Beichte. Es war ja auch wahrhaft ein Sündenbekenntnis, das spürte er; und mit den Fehlern des Sohnes gestand er deutlich genug die eignen. Um so lieber fügte er nun hinzu, dass es letzten Winter auffallend besser geworden sei. Sigi habe sich ruhiger betragen; besonders die Schürzenjägerei habe in Zürich stark nachgelassen. Dagegen süffelte und tobakte er immer noch zu heftig. Auch habe er geradezu unvernünftig studiert, sei nie vor zwei oder drei Uhr zu Bett gegangen und habe so etwas wie Musik, oder wie man das heisse, getrieben. Ganze Nächte sei er von der Bude weggeblieben, in Geheimzirkeln, wo man Tote reden lasse, Wunder vormache, etwas von Seele wie Watte zeige und das Gehirn verstöre. Wenn er dann rasch heimkam, habe er fast nichts erzählt, sei schläfrig gewesen und habe sich gern ins Zimmer eingeriegelt. Nur in der Fastnacht sei er plötzlich wie ein umgekehrter Handschuh geworden und habe nichts als Witze und Schabernack verübt. Bei dem altmodischen Fest lebte er förmlich auf. – Alle drei Personen guckten sich hier vielwissend an. Wieso nun dieses Entsetzliche? Sie brächten nichts aus dem Jungen heraus. Der Pfarrer möge es versuchen. Und wenn es dienlich schiene, möge er den Sigi auch über sein fallendes Weh aufklären und die Eltern von Herzen entschuldigen.

Aber Carolus bekam nichts als Höflichkeiten zu schmecken und ging fast unwillig weg. Der Arzt verordnete Brom, verbot alles Gewürzte und jegliche Spirituosen und mahnte, nichts zu unterlassen, was das Gemüt des Kranken beruhigen könne.

Mili war betroffen, dass Sigi daheim sei und nichts von sich hören lasse. An jenem altmodischen Abend waren sie beide wie berauscht auseinander gegangen. Sie hatten sich weder einen Schwur, noch auch nur die Hand gegeben, gerade wie zwei Menschen neben einem jungen Rosenbäumchen stehen, die ersten blutroten Kelche sich öffnen sehen und in der heitern Gewissheit, es blühe nun von selbst herrlich weiter, ohne jede Sorge rechts und links von ihrem süssen Geheimnis davonspringen.

Dann kamen die Stunden der Ernüchterung. Nicht als ob Mili noch hätte zweifeln mögen, dass sie beide zueinander gehören. Solche Bedenken lagen nicht in ihrer Art, und zu allmächtig war der Unterschied zwischen dem, was sie für Johannes gefühlt und was sie jetzt für Sigi so brennend empfand. Aber mit dieser Leidenschaft für Sigi ging ein sonderbares wachsendes Mitleid für Johannes Hand in Hand. Das Schwesterliche und Mütterliche in ihr regte sich stärker. Ihr war, er habe niemand auf der Welt als sie; wenn sie mit Sigi gehe, lasse sie ihn ganz fallen. Als die schlechten Zeugnisse von Zürich kamen und viele den Kopf schüttelten und selbst der Pfarrer einen Augenblick am Maler zweifelte und ihn kaum für ein neues Stipendium anzumelden wagte, da stellte sie das glühende Bild Sigis mit aller Anstrengung hinter den armen Milchbruder und suchte diesem die paar Tage Aufenthalt recht herzlich zu widmen. Johannes malte das Ambrosiusbild über der Kirchentüre. Er freilich war gar nicht niedergeschlagen und strich die Farben voll Kraft auf die Mauer. Und eines gelang sicher vollkommen: ein geradezu musikalisches Zusammenspiel der grauen, braunen, weissen und roten Töne. Immer stand ein Grüpplein Neugieriger unten am Gerüste und trug das Lob des jungen Meisters weit herum, obwohl es zwischen den Stangen und bergenden Segeltüchern eigentlich nichts als Farbenkleckse erwischte. Carolus und Johannes wurden dabei immer zufriedener. Aber gerade diese blinde Zufriedenheit des Johannes tat dem gescheiten Mili weh. Abschreiben ist doch keine Kunst, und wenn der Kopist auf den Inhalt der Kopie stolz wird, dann macht er sich lächerlich. Sie ging auch zum Portal und schaute dem Maler zu. Aber ihre Seele war nun so warm und fürs wahre Gefühl so empfindlich, dass der prachtvolle Farbenrausch sie nicht betäubte, sondern ihr erst recht die Armut der Gesichter und menschlichen Bewegungen, den Mangel an heissem, innerem Nachempfinden bewies. Selbst die Kunst will den Johannes verlassen, dachte sie. Was bleibt ihm dann noch, wenn auch die Schwester geht? Darf sie das? Ja? Nein? ...

Und in ihrer Art hatte sie ihn doch auch gern. Er blieb sich immer gleich, hübsch, fröhlich, kühl und eigner Herr! Man gewöhnte sich so lieb und leicht an sein Wesen. Wir früher kochte sie ihm, rüstete sein Bett, wusch seine Hemden und bürstete seine Hosen und links und rechts wandte er sich mit der alten unverfrorenen Zutraulichkeit an sie. Mili hiess es links, Mili rechts, Mili vorn und hinten. Köstlich vertraut war ihr diese stete Musik; es fehlte ihr etwas, wenn es dieses Rufen und Bitten und Befehlen und hundertfältige Sorgen in alle Kleinigkeiten nicht mehr gäbe. Es war eine Art Regieren, und sie regierte gerne. Zufriedenheit kam dann über sie. Ihr braunes Gesicht nahm Mutterfarbe an.

Aber wenn sie an Sigi dachte, strömte mehr als Zufriedenheit, schoss eine Sonnenflut von Glück über sie. Zufrieden war sie dann nicht mehr, o nein, im Gegenteil, ungeduldig, hitzig, begehrlich, es fehlte ihr dann allenthalben etwas. Die Liebe scheint das mit sich zu bringen. –

Und doch wagte sie nicht weiterzudenken, was nun folge, ob Sigi bald schriebe oder selber käme. Sie wünschte, es bliebe noch lange so und doch wieder, es geschähe je eher je lieber etwas Gutes. So konnte es jedenfalls nicht bleiben.

Und nun war er da und kam nicht. Das marterte sie. Aber am dritten Tag, nach allerlei Vertuschen, bekam sie klaren Bescheid, was in der Ilge vorgegangen sei und wie Sigi an schwerem Kopfweh immer noch darniederliege. Sie hatte eben das Tälerpaar zur Station nach Uzli begleitet und sich von der treuen, ihr tief ans Herz gewachsenen Freundin fast nicht losmachen können. Als sie, über das unklare Schicksal der Siria ihr eigenes vergessend, auf dem Rückweg vor dem Portal stillstand und zum Johannes hinaufgrüsste, da winkte Bas’ Ida vom Ilgenfenster sie ins Gasthaus und erzählte ihr alles vom Sigi noch genauer als damals dem Pfarrer, weinte, schlug sich wie eine Verbrecherin an die Brust und ächzte: niemand, gar niemand kann es ihm sagen.

Und aufs Innerste erbebend erklärte Mili leise, sie schon, sie wolle es ihm sagen.

»Und würdest du ihn auch so heiraten, so? Einen Fallsüchtigen? ... Überdenk das! Würdest du?«

»Ich glaube ja, wenn er noch will,« kam es zitternd aus ihrem Munde. Aber jetzt blies sie gewaltig den Flaum auf; denn ein so schweres Wort war ihr noch nie entfahren.

»O du süsses heiliges Kind du, wahrhaftig mein Seelentrost,« schrie die Frau. »So geh gleich zu ihm und red’ ihn an. Aber nimm zuerst ein Süppchen. Gerade ist angerichtet. Derweil meld’ ich dich.«

Aber Mili bat noch um ein Stiefelchen alten Veltliner. Dann erst wagte sie es.

Sigi lag im Lehrstuhl. Er hatte den Eisbeutel vom Nacken geworfen, lächelte seltsam und bot ihr eine so schwache Hand, als würden gleich die Finger daran abfallen.

»Was ist denn mit dir?« jagte sie schweratmend.

»Kaputt!« Er blickte sie ununterbrochen an.

»Sigi,« bat sie und fuhr ihm über die Hand, »rede wie ein Christ und mach’s nicht schlimmer, als es ist.«

»Du weisst doch, dass man mit solchen Geschichten ein verlorener Mensch ist. Ein Epileptiker ist schlimmer als ein Toter!«

»Wie’s gekommen, dir sozusagen angeblasen, so scheint mir, kann’s auch wieder gehen.«

»Das ist nicht angeblasen. Das steckte schon lange, lange da drin.« Er betupfte die Stirne.

»Wir haben nie etwas gemerkt, Sigi.«

»Ich schon. Das heisst, früher auch nicht. Aber jetzt, nach diesen ... Vorfällen, ist mir doch allerlei erklärlich, sogar aus der Schulzeit.«

»Du spinnst,« scherzte sie.

»Ich wurde immer so schnell zornig beim Spiel in der Pause. Dann war mir wohl. Im Zorn war mir, ich sehe besser, höre besser, fliege beinah und verstehe einen Haufen Sachen, die ich vorher nicht begriff. Aber nach einiger Zeit in der Bank ward mir plötzlich heiss und schwindelig, und die Hände nach innen wurden ganz nass. Dann konnt’ ich nicht mehr aufpassen. Und solches hat sich oft wiederholt, wenn ich mich sonst in etwas übertrat. Zum Beispiel bin ich oft vom Wasser die Tobelwand hinauf geklettert, wo nicht einmal ein Eichhörnchen probiert hätte. Und zu oberst, wo’s überhing, war’s mir am leichtesten zumut. Jedes Gras und Steinchen konnt’ ich zählen, so klar sah ich. Wenn ich dann wieder unten an der Thur im Sichern stand und nicht mehr dran dachte, fing’s plötzlich an, da hinter den Ohren zu musizieren und zu brennen, und ich musste mich auf den Rücken legen, so drehte sich alles um mich herum. Damals hab’ ich’s nicht geachtet. Jetzt fällt es mir sozusagen wie Schuppen von den Augen. Das war schon Epilepsie.

Aber soll ich dir eigentlich solches vorschwatzen? Sag’, warum bist du hereingekommen? Hab’ ich dich etwa gerufen?« Ein böser grüner Schimmer blitzte plötzlich auf.

»Hoho, Sigi, wenn du mich fortjagst, geh’ ich sogleich,« spasste sie halbierst. »Aber ich meinte, wir hätten vieles miteinander zu plaudern. Wir ...« sie stockte, es machte ihr Mühe, »wir ... am Abend beim Jakoberhops ... mir ist ...«

»Das war Fastnacht, jetzt ist Karwoche,« sagte Sigi.

Nun wurde Mili böse. Wozu dieses Versteckensspiel miteinander? Ist jetzt die Zeit zu solchem, gerade jetzt?

»Höre, Sigi, Fastnacht, Fasten, Ostern, ich bin das Mili, das du jetzt gut kennst, vor- und nachher. Und nun frag’ ich, bist du etwa nicht mehr der gleiche wie damals, als du mich über deinen Kopf geschwungen hast? Bist du nicht mehr der gleiche Sigi?«

Er krümmte die Brauen, leckte an den Zähnen, schnob aus den gesperrten Nasenlöchern und sagte endlich mühsam: »Nein, ich bin ein andrer, ein Siecher, ein Unheilbarer, ein ekelhafter Tropf. Was plagst mich noch? Seh’ ich etwa nicht, dass du so schön und gesund bist wie schon immer, nein, noch schöner, noch viel schöner. Zum Teufel, geh! Was hab’ ich Narr da noch zu schwatzen ...« Er verzog das Gesicht und wandte sich ab.

Jetzt verstand sie. Einen Augenblick sah sie ihn traurig und unschlüssig an. Aber ihr gesunder Sinn siegte sogleich. Sie bog sich über ihn, sagte kein Wort, nahm nur seinen erhitzten Kopf und drückte ihn voll unsagbarer Einfachheit an ihre Wange. So taten einst die vom Land, wenn sie liebten, aber noch die wunderbare Keuschheit vor dem ersten Kusse nicht brechen mochten.

Aber Sigi kannte diese heilige Scheu nicht. Überströmend von jähem Glück suchte er ihren Mund, ihre Augen, ach, jeden warmen Fleck des geliebten Gesichtes, bis sie sich ihm entwand und drohte: »Seien wir vernünftig, Sigi, lass, es schadet! Nur jetzt keine Exzesse, sagt Doktor Grendel.«

»Nein,« presste er voll seligem Eigensinn zwischen den Zähnen hervor und wollte sie nochmals erhaschen, »jetzt werde ich gesund. Gib her, einen Kuss darfst zu mir wenigstens schenken, das ist keine Sünde.«

»Bist du dann zufrieden?«

»Wie noch nie.«

»Da!«

Als hätten sie beide zu viel Wein getrunken, sahen sie einander mit glänzenden Augen an. Dann begann Sigi wieder: »Das warst du mir übrigens schuldig. Du hast mich krank gemacht ... du am meisten ...«

»Sigi!«

»Höre mich fertig. Ich habe dir von meinen Müdigkeiten und vom Schwindel erzählt und wie ich dann oft mich ganz stumpf fühlte wie ein verbogener Nagel. Aber in den obern Klassen und am Gymnasium verlor sich das so total, dass ich’s für immer vergessen hätte ohne die neuerliche Geschichte. Ich rauche wohl viel und süffle ein bisschen, aber in einem Rausch hat man mich noch nie gesehen, du etwa ausgenommen.«

»Ich ... Ach, schweig doch!« lachte sie und verhielt ihm den Mund.

Flink packte er diese Hand, legte sie auf sein Herz und sagte: »Zähl selber, ob das nicht Rausch ist! Ta-ta-ta, tatata! Hörst du?«

»Aber wieso?«

»Dann kam die Hochschule und das Poussieren, wie man unter Studenten sagt. Und jetzt, wo ich mich mit den Mädchen herumtrieb, für zwei Tage vernarrte, für zwei Wochen verärgerte und die ganze Zeit toll und voll aufregte, da kam es wieder. Und als ich mich dann, ich Armer, in dich verliebte, und du so heillos gleichgültig, ja widerhaarig tatest, und ich mich im Wein und Tabak und bei allen möglichen Stadtbesen darob rächen wollte, da ward es stärker. Ich dachte, es komme vom Rauchen und steckte es auf. Aber mir ward kein bisschen besser. Da rauchte und trank ich erst recht drauf los.«

»Und die Mädchen?« flehte Mili; schmerzlich schnäbelte sie die Oberlippe in die untere. »Diese ... diese Mädchen?«

Er errötete dunkel und senkte den Kopf.

»Sag’, was bekomm’ ich für einen Mann, was für ... Schau’ mir in die Augen, Sigi ...«

Mühsam lächelnd hob er das Gesicht zu ihr. »Ich soll beichten?« lispelte er und wechselte die Farbe. »Gut, wenn du ...«

»Nein, nein, nein, nein, schweig! Ich will nichts hören. So wie du bist, hab’ ich dich. Aber bleib jetzt gut, Sigi, jetzt gehörst du mir. Jetzt darfst du nichts, nichts mehr weggeben an ... Nicht wahr? Ach wir hätten ja sonst kein Glück, und unsere Liebe wäre wie Regenwasser. Sigi, Sigi,« beschwor sie und umklammerte seinen Arm, »sonst liefe ich noch in dieser Minute weg und wollt’ dich nie mehr sehen.«

»Wegen dir,« begann Sigi wieder, »denn das musst du jetzt fertig hören, ja, wegen dir, weil ich dich nicht bekam, darum bin ich immer tiefer in den Dreck geraten. Und als ich zu Weihnachten kam und so übel empfangen wurde, wo ich doch wusste, dass du dich selbst täuschest, wenn du dir einredest, den Johannes zu lieben ... das war ja Geschwisterliebe oder so eine Art kameradschaftliches Zusammenkleben, nichts anderes ... ja, als du so hart warst und ich so schimpfte und log und davonsprang, das gab mir den Bogen. Da übertrieb ich alles, das Studieren, Tanzen, Trinken und die Mädchenjagd, und ward doch nie froh und satt und nahm Anläufe zur Askese, denke, zur Abtötung, las die Mystiker, die nur von der Liebe zu Gott schwärmen, und ging, da ich dich trotz allem nicht vergessen konnte, in Spiritisten- und Okkultistenstuben, wo man dunkel macht und tischklopft und Geister zitiert und sich antworten lässt: liebt sie mich oder liebt sie mich nicht? und doch den Schwindel mit Händen greift. Und da bekam ich den zweiten Anfall; den ersten gleich zu Weihnachten. Aber schau, das Schwindeln nützt doch einmal. So ein Medium sagte mir: tanze mit ihr an der Fastnacht und hebe sie vom Boden auf, dann ist sie unrettbar dein. – Ich lachte. Tanzen mit dir, in Lustigern! Welch eine Fabel! Und da liegt die Einladung vom Pfarrer, wie ich in meine Bude komme, auf dem Tisch! – Das andere weisst du. Nun hab’ ich allen Radau aufgegeben, vielleicht nur zu hitzig studiert und freilich auch immer Angst gehabt: ja schön, aber das Mili hat dir doch mit keiner Silbe was versprochen; vielleicht träumst du ... Und ich zitterte, wenn ich dachte, ich käme heim und du wolltest von nichts wissen. Ich wollte schreiben, früher heimkommen, aber wagte es nicht. Einmal ging ich ins Schwurgericht. Die Geschworenen waren schon lange abgetreten und jeden Augenblick musste jetzt die Türe aufgehen und das Kollegium mit dem Urteil Schuldig oder Frei zurückkommen. Ich sah den Angeklagten. Er war keine Sekunde still, schwitzte, rieb die Hände, fuhr sich ins Haar, schloss und öffnete die Augen und zuckte bei jedem Schuhtritt zusammen. So war ich. So sass ich in der Bahn, so schlich ich ins Dorf, ins Zimmer hier, und da kam der dritte Anfall. Es konnte ja gar nicht anders sein. Jetzt komm, küss mich noch einmal, küss mir alle, alle weitern Anfälle weg, küss mich an Leib und Seel’ gesund, du gesundestes, liebstes Menschlein auf der ganzen Welt.«

Kapitel 25

Schon am Gründonnerstag ging die leise, dann immer wildere Sage durchs Dorf, Pfarrer Carolus habe den allbeliebten Geiger mit dem Geld seiner »Kasse ohne Kontrolle«, wie die Cornelianer das betitelten, geschmiert und über die Grenze geschickt. Siebentausend Franken, die von Rechts wegen der Lustiger Kirche gehörten und aus Lustiger Hosensäcken kämen, seien nach Zürich gewandert, nur um den fröhlichen Schül los zu werden. Habe der lose Zeisig doch beim Abschied laut genug geprahlt, mit seinem Fiedelbogen stürze er jetzt den Turmbau von Babel.

An diesem Donnerstag, wo man sich aufs Osterlamm vorbereiten sollte, entstand in mancher Stube ein böses Misstrauen gegen den Pfarrer und entlud sich mehr als ein Krach zwischen Eheherrn und pfarrgetreuer Gattin wegen heimlich gestifteten Fünflibern.

Die Männer kränkten sich über die eigenmächtige Faust Carls, die man überall zu spüren bekam. Sie hatten alle den Schül gern gehabt. Fromme Dörfer mögen recht wohl wenigstens einen lockern Gesellen in ihrem Weichbild leiden. Er ist ihr Ventil für manche Ausgelassenheit und dann wieder ihr bequemer Sündenbock. Und den spediert man so mir nichts dir nichts davon!

Aber man hatte sich auch durch den ewigen Klatsch an den Turmbau nach und nach gewöhnt, und nun geschah es, dass die lautesten Schimpfer gegen den Turm auch am lautesten lärmten, dass der Bau unterbleibe. Die Schwätzer kamen so um alle Kurzweil. Der Turm wäre das nahrhafteste Futter für alle Opposition und alles Kritteln am Bierglas, aber auch für eine satte Neugier gewesen.

Indessen feierte man in Dorf und Kirche den Gründonnerstag mit Christi ergreifendem letztem Abendmahl und seiner Todesangst im Ölgarten. Die Glocken verstummten. Die Rätsche begann holzklappernd und traurig das Nötigste vom Turm her zu melden. Die schwarzen Tücher des Karfreitags kamen, die Orgel schwieg, des Heilands Tod und Grab ward gefeiert, des alten Jeremias unsterbliche Klagen erfüllten die Kirche. Die ganze Nacht ward vor dem Allerheiligsten gebetet. Am Karsamstagmorgen ward das Taufwasser gesegnet und das heilige Feuer entzündet, der Osterstier trampelte bekränzt und lebensfroh und von der Schuljugend umtanzt durchs Dorf hinunter. Alles bereitete sich auf die Auferstehungsfeier am Abend mit erwachenden Glocken und Orgelsängen vor, mit Alleluja, weissgekleideten Kindern und mit erleichterten, österlich beglückten Seelen.

Diese Tage haben für den Pfarrer noch mehr als für alle andern etwas wundervoll Herbes und Heiliges. Er macht selbst eine Art Erneuerung von der Bangigkeit und vom Judaskuss des Donnerstags zu den Martern des Freitags und zur Grabesstille des Samstags durch, um dann am Osterfest in verjüngter Apostelkraft mit seinem Meister aufzuerstehen.

Aber Carolus litt dabei noch seine eigene, ganz persönliche Karwoche. Wie bitter traf ihn das schnöde, herzlose Geschwätz, ihn, der die Selbstlosigkeit selbst war und oft den letzten Franken für ein müdes Weiblein aus der Weste gekloben hatte! Am Karsamstagabend vor der Auferstehungsfeier erwog er noch einmal alles Für und Gegen. Erst hintendrein war ihm wie ein Stein die Frage in den Nacken gefallen, ob er denn die unterzeichneten Verträge mit dem Baumeister Forni, die Dutzend eingegangenen Verträge, die auf Zeit und Zahl genau bezeichneten Arbeiten und Löhne, was sich allein schon in die dreitausend Franken verrechnete, ob er das alles nur so wie Tabak ins nächste Jahr verschleppen könne. Und gewiss um ein Jahr verschöbe sich das ideale Werk. Eusebi sagte, ja, das könne man. Er wolle helfen. Aber was weiss so ein Historiker vom Geschäft. Sofort winkte der Haselnusskopf Mariannes ab: nein, das könne man nicht. Der Pfarrer müsse die Hand tief in Schadengelder tunken. Die Hexe! Immer widerspricht sie, aber recht hat sie auch immer.

Also ein Jahr läuft faul am alten Käsbissen vorbei. Und inzwischen? Wohin soll sein Überschuss von Kraft und Temperament? Und auch das Dorf hat welchen. Im mächtigen Bau hätte er sich so recht nach Herzenslust ausgewirkt. Nun verpufft er sich in Unruhe und Nörgelei, vergeudet sich für Dummheiten, grübelt und spintisiert an Verkehrtheiten herum, endet in Schlaffheit und Stagnation. Kein Schwung und grosser Zug wird sein. In Kleinkrämerei und Trödelzeug wird die träge, selbstzufriedene Dorfseele sich ausgeben. Und er selber auch. Er wird verbauern und verholzen wie so mancher Landpfarrer.

Und doch, was ist denn eigentlich anders geworden? Die siebentausend Franken sind doch noch da, das heisst unten im geld- und menschenverschlingenden Zürich liegen sie unangetastet, und die Zinsen ziehen wir wie von der Bank. Nur das wir diese Summe für fünf Jahre nicht verwerten können. Wie viel Kredit man auf diese Hinterlage bekäme, das hing leider völlig vom Geiger und seinem Leichtsinn ab. Er konnte eine Sauerei anstellen, die Tausende kostete.

Doch über zweitausend Franken lagen noch in der Kasse. Wenn man nicht baut, werden wenige da weiter stiften und äuffnen. Auch die besten Geber riechen und schmecken ihr Almosen gerne. Erst mit dem Bauen kommt neuer Gebensappetit.

Geld, Geld, Geld, das ist das einzige Hindernis. Die andern Bengel sind aus dem Weg geräumt. In der Grippezeit waren die Herzen weich. Drei von den fünf Kirchenräten liessen Carl schriftlich wissen, dass sie keine Opposition gegen den Bau erhöben. Auch hatte er Unterschriften, die weiter zu nichts verpflichteten, in der ganzen Gemeinde für den Bau gesammelt. Hundertsechzig Stimmfähige hatten zugegeben: meinetwegen baue man! Das war über Zweidrittelsmehrheit. Allerdings besass diese Sorte von Zustimmung keine gesetzliche, nur moralische Kraft. Doch das genügte dem Pfarrer. Dass Corneli einen Protest erlasse, war so sicher wie der Tod. Aber dabei würde es sein stilles Bewenden haben. Auf der ganzen Wellt gilt sonst: wer zahlt, befiehlt; und wer es dabei noch gut beim Zahlen mit Gott und allen Menschen meint und für sich keinen Rappen will, der sollte doch zwei- und dreimal befehlen dürfen!

Es rätschte vom Turm und riss Carl aus seinem qualvollen Hin und Her zur Kirche hinüber. Solche Gottesdienste, die mit der Dämmerung beginnen und im Sternenlicht endigen, besitzen einen besonderen Zauber. Aber der köstlichste ist diese Karsamstagabendfeier. Zu Hause hat man gebrätelt und gechüechelt auf morgen und dann das schönste Kleid übergeworfen und mit weltlicher Freude rennt man nun in die kirchliche, sieht eine Feuersbrunst von Kerzen und Lampen, eine grossartige Erschlossenheit der Altäre mit ihrem Schönsten und Heimlichsten und bebt in einer jener grossen herzklopfenden Erwartungen mit, von denen die Menschheit seit ihrer uralten Wiege lebt und leben wird.

Die prachtvollen Kirchenfahnen wehen, so ganz andere Fahnen als alle übrigen Banner, das hohe Silberkreuz bewegt sich, die Statuen Sankt Martins und Sankt Ambrosius’ und einer seide- und schleierumwehten Madonna werden hoch über die Köpfe gehoben, Fackelträger erscheinen, die Ratsherren in ihren langen faltigen Mänteln wie die Senatoren Roms, die Vereine, die Schulkinder, die Erstkommunikanten, mit weissen Kränzen im Haar, alles ordnet sich zur Prozession, zwei Kapuziner rücken für den einen kleinen Eusebius auf, der noch den Lehnstuhl hütet, langbärtige alte Männer, in ihrem gemütvollen Kuttenbraun, mit dem Stricke und der Kapuze, die so geheimnisvoll auf die Kinder wirken.

Jetzt lüftet sich auch der samtgestickte Baldachin. Das Betgemurmel durch die nächtige Kirche hinunter, so vielstimmig und tief wie das Meer, stockt plötzlich mit einem Amen, der Pfarrer, in wunderbarer Majestät gekleidet, nur dass ihm alle Stücke zu klein sind, steigt auf die Höhe des Altars. Totenstille! Er hebt die Arme, er blickt in die Höhe, er singt mit seinem ergreifenden Bass: Christus ist erstanden, Alleluja! Und in diesem Augenblick geht der Himmel auf, es lodert von Licht, es hallt und widerhallt von Orgel- und Volksgesang, es funkelt von allen stillen und lauten Schönheiten der Prozession, die durch die Gänge der Kirche schreitet, als könnte sie vor Freude nicht mehr stillstehen, als möchte sie am liebsten mit dem emporschwebenden Osterhelden auch in die Höhe fliegen und das letzte Klümplein Erde von den Sohlen schleudern. Und über dem Dache toben die fünf Glocken geradezu vor Jubel, wieder reden, o von Gottes Liebe reden zu dürfen.

O wie schön ist das! Wie glücklich macht mich nur das Denken daran!

Und wie glücklich ist erst der Pfarrer. Mit welcher seligen Hoheit schreitet er unter dem Baldachin, das heiligste Sakrament in den Händen. In diesen Minuten denkt er an nichts als ans Ewige. Diese Feier ist sozusagen die Schwelle des Himmels. In diesem Augenblick sind alle Menschen gut, alle heilig, alle vom Himmel engelhaft umblaut. Die störrischsten Männer stehen wie Kinder da. Der Corneli scheint mit seinem Silberkopf ins Überlicht getaucht. Unirdisch ist, was seine blutlosen Lippen leise beten. Der Viktor Quäler trägt stolz eine der Baldachinstangen in schneeweissen Handschuhen, und der oft so grimmige Meister Weibel hustet und gluckst, um das Weinen zu verhalten. Hundert belichtete Gesichter gucken wie Geister aus dem Dunkel. Der Pfarrer sieht sie wohl, aber er kennt sie nicht, so aus allem gewöhnlichen Erdentag heraus sind sie verhimmelt. Zur Kanzel empor, auf die Säulensockel, über die sonst demütig gemiedenen Altarstufen hinauf wimmelt es von Volk. Mütter heben kleine Kinder auf den Arm und zeigen: schau da, schau dort, siehst die Muttergottes? Blick auf, das Allerheiligste! – Und kein Säugling tut einen Laut. Sie öffnen Mund und Augen und sperren das Näschen auf und möchten diesen ganzen Himmel verschlingen. Der Johannes trägt die Osterkerze, der Sigi schwingt das Fähnlein Mariens und es verzieht ihm den Mund, wenn er an gewisse Dirnen von Zürich denkt, die ihn statt an ihrem Arm jetzt mit solcher frommen Standarte sähen. Sähen sie’s doch, denkt er und kommt unbewusst ins Beten. Sähen sie’s doch und könnt’ ich ihnen meinen Stolz zeigen und ihnen erzählen, was für einem wundervollen Weibe ich das Banner trage, o sie beneideten mich uns kämen zuhinterst im Zuge mit, die Armen, denen ich nur Graues und Niedriges, nie etwas Lichtes und Hohes wie dies da zeigte!

Lorli hält das Band der Madonna. Ach, wie kindlich es drein blickt, genau wie das Weihnachtslämmchen am Knie der Mutter Gottes. Nur das Mili ist nicht da. Es sieht bei der Peregrina und bei Eusebius nach dem Nötigsten.

Den Pfarrer Carl Bischof dünkt, er wandle gar nicht mehr auf Erden. Bald betet er, so nahe dem Heiligsten, Gott möge ihn doch auch auferstehungswürdig machen; bald blickt er lächelnd seitwärts, als möchte er alle zu seiner Freude einladen.

Die Leute in den Bänken haben ihr Kerzlein angezündet. Es ist eine uralte Lust, recht hübsch geformtes Wachs zu tragen. Die einen haben Kerzen wie Kronen, andere wie Kränze, dritte wie Tauben oder Kreuze. Da sieht Carl, neben der Marianne vorbeischreitend, wie sie als Kerze einen schlanken Turm mit hohem Helmputz in der Hand hält, einen Turm mit Fensterchen und dem Kreuzgipfel. Beinahe hält er im Schritt inne. Ja, ja, schwört er im Entzücken des Augenblicks, ich baue! Ich baue sofort! Das ist ein Zeichen. Der Turm, der Turm sei ein Stück Auferstehung für uns alle.

Als er mit dem Sigrist zur Sakristei hinaus in die tiefe, sternenbesäete Nacht trat, fragte Carl, ob jener den Turm der Marianne auch gesehen habe. Der lachte und sagte, das sei ein alter Spass. – Wieso? – Nun, der Pfarrer Clamor habe schon den Turm erhöhen wollen. Das habe Zank gestiftet, und die, denen der Bau gefiele, hätten wächserne Türme und die andern ein wächsernes Tännlein als Zeichen, der Turm sei längst gedeckt und bewimpelt, an hohen Festen in die Kirche getragen.

»Habt Ihr so ein Tännchen gesehen?« fragte Carl beinahe ängstlich.

»Nicht eines,« gab der Sigrist zurück.

»Gott sei Dank!« entfuhr es dem Pfarrer.

Aber vor dem Pfarrhof wartete die Marianne. Was ist los? dachte Carl und fühlte etwas Gutes voraus.

»Hochwürden,« sagte die Kleine mit grosser Gebärde, den Turm aus Wachs fest umklammernd, »ein Wort! Ich sehe Euch, wie Ihr den Turm ausbauen möchtet, und wie bald so, bald anders etwas dazwischen kommt und Ihr darunter leidet. Da hab’ ich mit Eusebi gesprochen ... oder wenn Ihr wollt, mit dem hochwürdigen Herrn Kaplan.« Wunderlich rümpfte sich ihr lachendes Haselnussköpflein.

»Lasst, lasst,« bat Carl rasch.

»Aber der Eusebi wollte nichts davon wissen und meint’, ich solle das ganz allein verantworten. O, dazu steh’ ich ohne Knieschnapper. Also das ist’s, seht: der Turm soll höher werden und wenigstens unsere Blicke und so nach und nach auch unsere Herzen etwas höher emporziehen. Das mein’ ich so fest wie Ihr. Und für den Herrgott darf’s schon was kosten. Wie viel Geld versaufen unsere Männer über die Ostern nur fürs Magenkitzeln. Und da ... kurz und gut ... hab’ ich ein Sparkassabüchlein, viertausendsechshundertdrei Franken. Und damit macht einstweilen, was Ihr wollt. Ihr zahlt mir bloss den jährlichen Zins und gebt’s zurück, wenn Ihr zuviel in die Kasse kriegt, oder einen Teil davon oder gar nichts, wie’s eben kommt, wenn ich nur mein Lebtag den Zins hab’. – Das ist, Hochwürden, mein Osterei, und der Eusebi ... pardon, der hochwürdige Herr Bruder ...«

Carl konnte nur noch mit der Hand flehend abbitten.

»... wird seinerzeit auch noch seinen Stumpen leisten, wartet nur. Er ist so schrecklich langweilig, wenn’s an etwas Neues geht. Aber mir gefällt das Neue. Jeder Tag ist doch etwas Neues, und heisst es denn nicht, Gottes Güte sei ewig neu. Und die schöne heilige Ewigkeit ist doch einmal für jede Seele das Allerneueste, wenigstens für mich alte Schachtel gewiss ... Gute Nacht, Hochwürden ... und fröhliche Ostern!«

Damit war sie im Dunkel auch schon verhuscht. Die Büsche, die Nacht, der Himmel oder auch der glücklich aufhorchende Turm konnten ebenso wohl das »fröhliche Ostern« gratuliert haben.

Welch ein gescheites, welch ein ganz unnennbar gescheites Weiblein ist das, dachte Carl überselig. Jawohl, eine Haselnuss, und immer spürt man das Harte. Aber dann springt auf einmal die Schale auf und hüpft so ein goldener Kern heraus. O Gott, wie dank’ ich dir! Jetzt ist alle Not vorbei. Der Turm steht auf.

Eine Stunde darauf, es war schon tiefe Nacht, bewirtete Carl noch mit Wein und Kuchen die sechs Männer, welche das Gerüst vom Ambrosiusbilde am Portal weggeschafft hatten. Es fiel ihm in seinem Jubel nicht auf, wie verlegen die Männer taten und sich ab und zu seltsam anschauten.

Späte Ostern, schöne Ostern. Die Amseln sind eben eingezogen, die Veilchen duften ums Dorf, die Gartenbäume öffnen tausendfach ihre grünen Augen, das Junge Grün lacht wie ein keckes Mädchengesicht, die Bäche schäumen vom Schnee auf den Höhen, und schon probieren am warmen Mittag die Buben, barfuss zu gehen. Selbst die lange Karwoche konnte nicht beständig den schwarzen Schleier vorhalten und weinen. Dann und wann lüftete ihn ein fröhlicher Windstoss und stahl ihr ein Lächeln vom Antlitz.

Am Ostermorgen ging Cornelius voll Heiterkeit zum Gottesdienst. Er lächelte auf dem ganzen Weg. Denn er hatte drei Ostereier für Cecili versteckt, und zwar so gut, dass sie auch nicht eines findet, ohne sein langsames, neckisches Nachhelfen. Auf einem Ei stand »Neugier«, auf dem zweiten »sucht«, auf dem dritten »und findet nicht«. Dieser Nasenstüber gehört ihr. Je älter, je schlimmer wird’s mit ihrem G’wunder. Keine Amtsschublade ist mehr sicher vor dieser Wetterscecili!

Er griff nach der Brotrinde im Sack und den Pfefferminzen. Alles hübsch beisammen! Eine gewisse Auferstehungsfreude durchschauert ihn. Was starb da nicht seit der letzten Ostern um ihn herum und lag unterm Boden! Und er, der tiefe Achtziger, schritt noch über die auflebende Erde mit ebenso auflebender Fröhlichkeit wie ein Frühlingsmensch. Gut ist Gott! Aber gut ist auch massvolles, solides, akkurates Leben! Tut Gott das Seine und Corneli das Seine, dann stolpern wir noch munter in die Neunzig hinein.

Vor dem Portal scheine eine Volksversammlung zu tagen. Aha, das vielbesprochene Ambrosiusbild. Sehen wir mal, was der Bursche kann! Er hätte den Götti freilich einmal begrüssen dürfen, der Fant!

Corneli nähert sich. Man schaut ihn eigentümlich an, einige lächeln, andere argwöhnen, andere fragen mit den so ungenierten Dörfleraugen. Was haben sie?

Man rückt breit auseinander. Jemand flüstert Corneli, jemand Carl! Einer sagt: Papst und Kaiser. Der Ambrosi, flüstert es dawider, war nur ein Bischof, nicht Papst.

Noch immer ahnungslos hebt er das rechte, kleine, glänzendschwarze Auge und ... versteht alles. Da ist die Kirchentüre, da steht der Pfarrer dahinter, da will der Ammann hinein, da stösst man ihn weg, so verewigt man eine schlechte Tat, an der Stirne der Kirche, so ... so ... am Osterheiligtag!

»Helft! Hebt ihn! Er fällt!« schreit es durcheinander. »Dem Ammann wird übel!« Vier, fünf Männer halten den Riesen. Indessen fangen die Glocken an, ihr Auferstehungslied zu spielen.

»‘s ist nichts,« bröckelt Corneli hervor. »Hätt’ ich nur den Stock mitgenommen! ... Ich bin noch nüchtern ... wisst! ...«

»Ah, Ihr wolltet kommunizieren?« hiess es. »Nein, trinkt das Schlücklein da, Magenbitter ... Man hat’s aus der Ilge gebracht ... So! Ganz echtes!«

»Ja,« versucht Corneli zu scherzen, »das hat den Teufel!« Er verzieht den zahnlosen Mund wie ein Kind bei Medizin. Aber es belebt! ... »Was kostet das?« ... »Nachher, gut! nachher.« Er findet die Westentasche nicht.

Er wollte in die Kirche, aber trotz allem Hochmut und Eigensinn ging es nicht allein. Man musste den Greis auf seinen Stuhl führen. Da sass er ab, wischte sich die Stirne trocken und fühlte sich rasch gehoben.

Plötzlich rauschte ein prachtvoller weisser Chorrock um ihn. Er sah auf. Der Pfarrer stand da und neigte sich mit wahrhaften Bruderaugen zu ihm nieder. In der Sakristei hatte man geschrien, der Corneli sei vor der Kirche in Ohnmacht gefallen. Rasch nahm Carl das Krankenöl und zog die Stola an und lief in guten Treuen herzu. Nicht der leiseste Verdacht wegen dem Bilde kam ihn an.

Corneli starrte einen Augenblick entsetzt an ihm empor. Dann machte er mit der kleinen geballten, schneeweissen Hand ein gebieterisches: Weg! Weg da! – und schloss die Augen. Viele sahen dieses gewaltige Zurückweisen und fühlten, jetzt sei Corneli es, der den Pfarrer sozusagen aus der Kirche weise.

Es war eine niederschmetternde Geste. Aber Carl in seinem Osterjubel merkte ihren schweren Sinn nicht. Er fasste sie auf wie damals, als ihm her Ammann den Arm entzog. Greisenhafter Dünkel! Carl raffte sich daher im Augenblick zusammen, betete leis: heut, o Gott, will ich nichts, gar nichts übel nehmen, und sagte dann laut: »Ihr habt Euch schon erholt. Es freut mich, dass ich nicht nötig bin, und ich wünsch’ Euch glückselige Ostern.«

Hab’s gesehen, hab’s gesehen, Euern Osterspruch überm Portal, wollte Corneli erwidern. Doch nein, man war ja in der Kirche und sang das Alleluja. Ob dieser Priester das auch merkt?

Die kühle, wohlige Kirchenluft erfrischte ihn. Er suchte das Ambrosiusbild zu vergessen und zu beten. Aber da sang Carolus so hell am Altar: »Der Herr sei mit Euch!« und rief den Dominus omnipotens Deus auf und forderte: Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus, o er sang immer von Gott, vom Himmel, vom Frieden ... und er selbst! Er selbst!

Ach, Corneli wollte nichts denken als an Jesus, den Auferstandenen. Jesus, deine Stimme, nur deine, keine andere lass mich hören! – Doch da sang Carolus wieder gewaltig das Credo: ich glaube! – Pfarrer, Pfarrer, eine Frage: an was glaubst du? An Macht und Pracht, an Kommando und Herrschaft glaubst du, an dein Rechthaben immer und an das Nachgebenmüssen der andern. Das glaubst du und betest doch daneben von Geduld und Kreuz und Demut und Liebe! Pfarrer Carl Bischof, glaubst du wirklich an die Liebe?

Die Orgel brauste, der Kirchenchor jubelte ein Alleluja nach dem andern, der Weihrauch wirbelte hoch, und im Kerzenschein flimmerten Seide, Silber und Gold vom Altar, wo die hohe Messe sich wunderbar vollzog.

Jetzt sang ein Knabensolo mit ungebrochener Stimme und Begeisterung: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für uns dahingab.

Die Liebe! widerhallte es in Cornelis altem Kopf, und plötzlich rieselte ein Erkennen wie kalter Schauder über ihn. Die Liebe! Und glaube ich daran? Hab’ ich mehr davon als er, der dort so falsch singt. Was tat ich denn Liebes? Wem? Cecili und ich kratzten zusammen bis in die Achtzig, für wen? Der dort am Altar tut es doch für einen äusseren Schein von Gottesverehrung, ja, für den irdischen Glanz Gottes. Für sich will er keinen Rappen. Er hat auch immer leere Taschen. Und ich? Kinder hab’ ich nicht, Verwandte nur von ferne und vermögliche. Für wen sammle ich also meine Liebe? Für mich, so ist es, nur für mich ...

Der Sigrist kesselte und klotterte mit dem Sammelbeutel neben ihm. Das Kirchenopfer! Schlaf’ ich denn, dachte Corneli. Er griff in die Weste und warf seinen gewohnten Zweibätzler hinein. Battist Töss rechts, ein gewöhnlicher Sticker, hielt einen silbernen Halbfränkler bereit, wurde rot, als er Cornelis Aug’ begegnete und flüsterte mitten in einem Vaterunser demütig zum Ammann: »Ich dacht’ halt, es sei heut Heiligtag! Nichts für ungut!«

Für diesen Töss sind fünfzig Rappen, was für mich fünfhundert Franken, plagte sich Corneli. Aber ich gab zwanzig Rappen. Bin ich, bin ich eigentlich geizig?

Dona nobis pacem! flehte nun der Chor vierstimmig von der Empore herab. Gib uns den Frieden! Den Frieden nicht des Geldes, noch des Glänzens und Regierens, dona nobis pacem, gib uns den Frieden einer andern Welt! –

Corneli war zu alt und zu klug geworden, um nicht von Zeit zu Zeit an die Torheit seines Geldscharrens zu denken. Mit dem Verstand war er längst kein richtiger Geizhals mehr. Er hätte jetzt das Geld rollen lassen. Aber er war ein Gewohnheitstier des Geldzusammenlesens geworden, wie die Biene eine Zusammenträgerin des Honigs ist, ob sie mag oder nicht. Oder er glich jetzt einem Mechanismus, der nicht anders kann als die Münze hineinschnappen, die man ihm darbietet. Dieses Hineinschnappen war zu seiner zweiten, oft als Last und Schmach empfundenen Natur geworden. Er konnte nicht einmal Geld zu seinem eignen Behagen ausgeben, etwa zu einer Kutschenfahrt durchs Toggenburg hinauf oder in einem wertvollen Buch oder bequemen Möbel. Er fühlte das peinlich, probierte öfter kleine »Verschwendungen« und fiel immer wieder rasch ins alte metallische Phlegma zurück.

Aber noch nie wie heute trieb es ihn zu einer so herzhaften Gewissenserforschung. Kam es von der Ohnmacht? Oder war er wirklich dem Tode nahe und hatte nun solche Stimmungen? Todesbesserungen nennt sie das Volk. Immer wieder musste er an den Halbfränkler des Battist Töss und an seinen Zweibätzler denken.

Das Geld, phantasierte er, rauscht bei mir zusammen wie Bäche. Ein ganzer Geldsee entsteht. Aber ich lasse niemand herzu. So ist es. Ich will alles allein haben, will meine Seele darein baden, will nichts für andere wegtröpfeln lassen und will doch einmal selig auferstehen wie unser Herr und Heiland. Aber das verdammte Geld wird mich hindern. Die Fünfliber hängen mir an Leib und Seele mit solchem Übergewicht, dass ich mich nie zu etwas Grossem, wie die Liebe es ist, aufschwingen kann. O könnt’ ich doch aus dem Gelde auferstehen!

Herr, hilf mir heraus! Es ist ein tiefes Grab, und ein rechter Felsblock deckt es zu. Ich kann ihn nicht mehr allein wegheben. Ich bin zu schwach. Schicke deinen Engel, dass er den Stein wegwälzt und ich auferstehe, o Herr!

Dem Pfarrer steht es nicht zu, mich zu foppen. Aber das Bild hat vielleicht gar nicht so unrecht, dachte Corneli. Er könnte dich einmal an der Himmelspforte abgewiesen werden wie der Kaiser vom Kirchentor, nicht wegen herzlosem Mord, aber vielleicht wegen herzloserem Geiz. Blut klebt an deinen Händen, sagte Ambrosius zum Imperator. Geh, wasch es zuerst ab! – Geld klebt an deinen Fingern, würde er zu ihm, dem Ammann, sagen. Geh, wasch zuerst diesen Schmutz von Gold und Silber ab!

Herr lass mich aus dem Gelde auferstehen, stammelte Cornelius drei-, viermal und fiel in eine neue Ohnmacht. Er kam erst vor der Kirche am frischen Osterwind zu sich und liess sich langsam heimwärts geleiten. An der Strassenkreuzung versuchte er es allein. Es ging.

»Dieses Schandbild!« lärmte Cecili voll Zorn und Tränen und schenkte ihm Kaffee mit Nidel ein. »Und dass dein Göttibub solches malt. Ist er so dumm oder so schlecht?«

»Dumm, entsetzlich dumm.«

»Dem wollen wir die Hörner schon abstossen. Künd’ ihm einfach die zweitausendeinhundert Franken für die Stickmaschine.«

»Damit wurden wir auch den braven Heli und das Mili strafen. Nein, aber die Kutteln will ich ihm gehörig waschen. Scheint’s hat er ein miserables Zeugnis heimgebracht. Lass er das Gekünstel und geh er zur Stickerzeichnung, der Tropf! Aber wie, findige Cecili, wie, noch kein einziges Osterei gefunden?«

Sie schüttelte verdrossen mit dem Haarwisch.

»So such’ in der Kammer, dort sind alle drei. Es steht ein Spezialspruch für dich darauf. Such’ nochmals, ich leg’ mich ein wenig in den Stuhl ... So gegen das alte Spinnrad hin, versuch’s einmal!«

Sobald Corneli allein war, zog er geräuschlos fünfhundert Franken aus dem obern Fach seines Kastens und steckte sie rasch wie ein Dieb zu sich. Er wusste noch nicht genau, was damit beginnen; jedenfalls etwas zur »Auferstehung aus dem Gelde«. Dann verschwand die Stube, das Geld, alles vor seinen Sinnen, und er sank, halb Ohnmacht, halb Schlaf, mit dem Kopfe ins Stuhlkissen.

Cecili nach nutzlosem Suchen fand ihn so, rückte ihn bequemer zurecht und griff, da sie dabei etwas knistern hörte, in seine Rocktasche. Sieh, sieh, fünfhundert Franken! Was will er damit? Gott, er wird mir weich wie ein Kind. Und sie nahm das Sümmlein und steckte es wieder in die gleiche Schublade. Dieses Osterei wenigstens, Schatz, lieber, hast nicht gut versteckt. Jetzt frisch daran, nun find’ ich auch die andern.

Kapitel 26

Das Lorli sah vom Schemel zum Heli empor, der hoch auf seinem Sitzbrett die Maschine mit der einen Hand in tosendem Auf und Ab hielt, während die andre auf der Vorlage nachzeichnend herumstach, auf dass mit allen Arten von Stichen und Punkten das genaue Bild in hundert Wiederholungen durch das Gewebe ziehe.

Das bleiche Mädchen mit den grossen dunkeln Augen, in denen so viel Kindlichkeit neben etwas Sonderbarem, Uraltem lag, liebte diesen Schemel. Es strickte, nähte, flickte da und bot dem stummen Heli stumme Gesellschaft. Er hatte sich zuerst daran gewöhnen müssen wie an eine Katze, die uns immer an die Füsse liegt. Nach und nach war ihm ohne diese Katze beim Arbeiten nicht mehr wohl. Ja, aus der Katze war für ihn ein Menschlein geworden, ein taubstummes zwar, ach, aber doch so ein feines, zierliches, warmes Menschlein mit Augen, wie er noch keine aus einem Gesichte hatte leuchten sehen. Und zum ersten Mal fühlte der Sonderling, dass es noch etwas Schöneres gibt als das Alleinsein.

Mit dem Instinkt eines Wesens, das einst viel Unruhe hatte essen müssen und daran schier verdorben war, fand Lorli im Tälerhause flink diesen stillsten, friedlichsten Platz, wohin es nach allen Geschäften oben in der Wohnung, so hurtig es nur konnte, zurückkehrte. Welch eine fromme Einsamkeit und welche Selbstgenüge lag auf dem unschönen Gesicht des Jünglings und machte es so viel anziehender als die meisten, o auch als des Johannes bildhübsches Antlitz. Wie gut verstand sie seine Worte vom Mund zu lesen! Er sprach so langsam mit ihr, und seine kleinen Augen redeten so gescheit, ach was, gescheit, – so innig zu jedem Worte, dass es für sie keine Kunst mehr, wohl aber ein wahres Entzücken war, ihn reden zu sehen. Sie stand dann vom Schemel auf, um ihm besser auf den Mund zu sehen und trat ganz nahe an ihn und nickte nach jedem Satze.

Aber so wohl ihr im Tälerhause war, eine feine Runzel war ungelöst wie ein Seidenknoten auf ihrer hohen Stirne geblieben. Nicht einmal Milis klares Auge bemerkte diesen sonderbaren Rest. Heli hatte ihn sofort erkannt und wenn Lorli ihn gar zu viel fragte, dann tupfte er mit seinem groben Finger auf dieses Knötlein und lächelte: Was willst du alles wissen; sagst mir ja auch nicht alles. – Sie tat dann mit dem errötenden Kopfe so, dass es nicht Ja und nicht Nein hiess, sondern etwa: Hab’ Geduld; wenn ich’s einmal sag’, dann sicher keinem andern als dir.

Aber es war nichts dabei als gesunde Kameradschaft. Erst als Heli immer dringlicher erzählte, was er alles so im Stillen für sich sehe, im dunkelsten Loch noch sehe, und was er daraus ersinne und wie dann glaublich nichts mehr fehle als ein Stift oder Pinsel, um das Gesicht darzustellen, erst dann begann ein wärmeres Interesse gegenseitig zu werden; gegenseitig, denn Heli ersah sofort aus dem Gesichtlein Lorlis, wie tief sie ihn begriff. Und sollte sie ihn etwa nicht begreifen, sie, die so vielerlei dachte und es auch nicht in die Welt hinausgeben konnte? die so viel Schönes in der Natur fand und so viel Tiefes an den Menschen entdeckte, und es niemandem zeigen durfte? Waren sie nicht beide Schicksalsgenossen, die ihr Bestes für sich behalten mussten, wo sie es so gerne aussäten und Ernten aufwachsen sähen?

Einmal sass Johannes kühl und froh wie immer bei ihnen. Er sollte nun bald nach München abreisen. Aber nicht für die Akademie, sondern zu einem berühmten Freskomaler trug er Empfehlungen in der Tasche. Heli bat ihn mit gefalteten Händen noch um eine Stickereizeichnung und schilderte ihm das Bild Zug um Zug: Tannen, ein prachtvoller Kuhkopf reibt sich am Genadel, ein Kälblein schmiegt sich an, fern durchs Geäst ein toggenburgisches Aplhüttendach und Kafeerauch in Kringeln darob; und alles so angeordnet, dass die Tannen den starken Rand der Bordüre, das gehörnte Haupt mit dem weichen Kälblein eine idyllische Erzählung ins tiefere Gewebe bildet und das Rauchgekringel die ganze Breite geradezu durchflockt und mit Heimatlichkeit und Alpfriede erfüllt.

Sieben-, achtmal versuchte Johannes, diesen Vorwurf aufs Papier zu bringen, und änderte wieder nach Helis Zusätzen, so dass nach und nach etwas Artiges entstand. Nur das Hüttlein wollte noch nicht recht in den Raum passen.

Fieberhaft hatte Lorli zugesehen, es bebte mit allen Fingern, nahm endlich den Karton, deutete hin und her, strich leise mit dem Stift an, wie die Dinge anders gestellt sein müssten, und während Johannes hochweise nichts begriff, ging dem Heli die Idee Lorlis klar auf und das Muster ward jetzt auch räumlich und vom Standpunkt des Gewebes aus, einer Bettdraperie, ganz ausgezeichnet gelöst. Nun machten die Brüder erstaunte Komplimente, aber Lorli entwischte, und erst als Johannes weggegangen, kehrte sie mit einer Mappe zurück und bot Heli Blatt um Blatt. Bei ihrer guten Pflegmutter, die Zeichenunterricht in einer Klosterschule gegeben, hatte sie täglich teils aus eigenem Genuss, teils um die Wohltäterin zu erfreuen, sich im Zeichnen geübt und ein grosses Geschick und für die kurzen drei Jahre auch einen grossen Fortschritt bewiesen. Dann hatte der Tod auch diese Freude wie vieles andere entblättert. Aber gerade darum hatte sie für Johannes gleich ein liebevolles Vorurteil empfunden, da Sigi von ihm als einem Kunstschüler erzählt hatte, der auf Tod und Leben male und zeichne.

Da gab es aus Lorlis Ferien in Engelberg nun auch Tannen und gehörntes Vieh und rauchende Berghäuschen in der Mappe. Weil es dunkelte, traten die Zwei unter das hohe Fensterchen, hielten, ohne etwas zu denken, die Köpfe beim Beschauen zusammen, schlugen sich den Arm um und verglichen das eine und andere, und Heli fand, wie viel mehr Kuh und Tanne und Alpe das von Lorli als das von Johannes Gezeichnete sei. Du musst wieder zeichnen, wiederholte er bei jedem neuen Blatt. Warum hast du das versteckt? Und er tupfte auf die kleine Furche in der Stirne: war es das? O nein! Sie schüttelte das Haar. Das ist es nicht.

Es kamen Lämmchen, die zur Hütte trabten, Bäche, die sich aus dem Wald ergossen, auch steife Köpfe und geschmacklose Ornamente. In einem kleinern Hefte wilderte es von jungen Einfällen. Das war jedenfalls Lorlis geheimes Skizzenheft. Sie liess ungern darin blättern. Plötzlich stiess Heli auf einen Kopf, fast knabenhaft noch im Profil, von griechischer Eleganz und Klarheit, aber mit einer ungestümen, begehrlich aufgeworfenen Lippe. Lorli errötete und wollte das Heft wegnehmen. Aber Heli hielt es fest wie ein Mann und blätterte herrisch weiter und traf immer wieder auf dieses zauberische Gesicht, wo Edles und Schwüles gefährlich ineinander flossen. Jetzt wurde es auch ihm zu viel. Er gab ihr die Mappe fast bedrückt zurück und zeigte nochmals zaghaft auf das Knötlein in der Stirne. Und obwohl nun feuerrot, hielt das Mädchen die Frage aus, schlug ihre grossen Augen nicht nieder und nickte ein festes Ja.

Und trotzdem, von da an waren sie befreundeter als je. Lorli zeichnete wieder. Vom sichern mechanischen Strich des Johannes war nichts in ihr. Sie zögerte und zauderte und lebte mühsam mit. Aber in jedem Zug atmete etwas und redete etwas, das es bei Johannes nicht gab. Sie übte sich nun, wie nur hitzige Mädchen von siebzehn Jahren es können, um sicherer im Nachbilden und Formen zu werden. Das waren die schönsten Nachmittagsstunden, wenn Heli ein Weilchen sein Getöse unterbrach, vom Brett niedersprang und zu ihr auf einen zweiten Schemel sass, um ihrem Stift zu folgen, ihm den Weg und die Seitensprünge anzugeben, und wie sie zusammen an der Skizze verbesserten, ihr dies, ihm jenes Passendere einfiel und Heli oft noch im Moment, wo das Ganze wie eine geöffnete Blüte im Lichte stand, durch einen kleinen gemütvollen Einfall ihr noch jenen Duft und jenes seelische Aroma gab, wodurch die Blume eigentlich erst Blume wird.

Seltsam war nur, dass diese hübschen, in Einzelheiten wohl noch ungeschickten Bildchen absolut nicht in den Geist der Stickmaschine passten. In alte Kalender, in Märchenbücher, an die Wand einer behaglichen Winterstube gehörte das. Aber fürs Industrielle war es zu duftig, zu frei, zu seelenhaft. Die Nüchternheit des Johannes fehlte.

»Wir bringen auch das noch fertig,« ermutigte Heli, »nur Geduld! Aber unser Herz wollen wir dabei nicht verkaufen.«

Und so lebten sie tiefer ineinander als Mili je mit Johannes. Immer glänzte ein feiner Schweiss auf dem denkseligen Gesicht des Heli, und Lorli wischte ihn mit ihren feinen städtischen Tüchlein ab, wie der »Helibär« auch dazu brummte. Das war die einzige Liebkosung, wenn man so will. Sie drückten sich nie die Hand, boten sich nie die Wange, dachten an keinen Kuss, da ihre Seelen sich täglich viel feiner küssten, als die feinsten Lippen vermöchten.

»Hier ist es so still wie in einem Wald,« sagte Mili, wenn es einmal aus seiner Geschäftigkeit heraus in diesen Frieden hinunterstieg. »Und die zwei Drosseln pfeifen nicht einmal, wie’s doch im tiefsten Wald sein müsste,« log sie fröhlich hinzu. Denn nur zu gut wusste sie, wie es hier unten geheimnisvoll konzertierte.

Nein, die zwei Leutchen liessen sich von niemand beunruhigen, und die wilden Gerüchte vom Dorfe her trafen sie nicht anders, als ob es sich um einen Kampf im hintersten Asien handelte. Freilich, dann und wann tauchte der Name Carolus aus diesen fernen Staubwolken auf, und Lorli horchte mit mitleidvollem Herzen auf. Denn es bewunderte diesen prachtvollen Mann, der ihm die goldene Gastlichkeit seines Kinderglaubens wieder erschlossen hatte. Aber es, mit seinem seltsamen, fast weissagenden Blick, sah nichts Glückliches an ihm, der ihm doch das Glück gezeigt, nichts Friedliches, der ihm doch den Frieden gewiesen hatte, im Gegenteil, er war ihm ein unendlich Bemitleidenswerter, ob er singe, lache, siege, einerlei, genau wie an jenem Fastnachtabend. Lorli sah etwas Düsteres, Tragisches über diesem königlichen Krauskopf, und darum wurde es immer seltsam traurig, wenn es nur das Wort Carolus hörte.

»Lass ihn doch machen,« scherzte dann Heli behaglich. »Der ist gross genug. Der haut sich schon allein durch. Der würde dich gehörig abkanzeln, wenn er dein Mitleid merkte. Dein Mitleid würde er bemitleiden. Sieh da,« lachte er und drückte seine zwei kleinen Augen zu zwei winzigen Lichttropfen zusammen, »Jetzt red’ ich bald so gescheit wie der Sigi.«

Aber wie gewisse überempfindliche Menschen selbst hinter dem Ofen noch den Wind, der draussen tobt, in den umpolsterten Gliedern fühlen, so spürte Lorli, ohne auch nur etwas Sicheres zu vernehmen oder zu verstehen, den furchtbaren, reissenden Rhythmus, in dem sich die Ereignisse um den tapferen Pfarrer abspielten und zur Krisis drängten, in ihrem Innern leise mitschwingen. Und wie man nun durch die doppelten Scheiben in den Tumult hinausäugt und die armen Wanderer unterwegs bedauert, aber sich dann noch enger an den Ofen drückt, so seufzte Lorli manchmal für seinen vergötterten Helden, aber schmiegte sich gleich doppelt innig an Helis Sitz und war doppelt froh, dass dieser kein Held war.

So bauten die beiden unbewusst in diesem alten Webkeller an einem Bau des gemeinsamen Glückes, während seit Wochen drunten im Dorf am Turme der Sprach- und Seelenverwirrung, wie Corneli es nannte, gemauert und gezimmert wurde. Zwischen Kalkgruben, Sandhaufen, Beigen von gutem Granit und Hölzern und Brettern sah man den Pfarrer fröhlich wandeln, sich den langen Rock beschmieren und mit Gesell und Meister hoffnungsfroh plaudern. Der Bauherr Forni war ein Italiener, der alles zu machen verstand, Brücken, Fabriken, Dämme, Kaminschlote, Mietkasernen und Strassen durch felsiges Gelände. Warum sollte er nicht auch einen Kirchturm strecken können? Er hatte dem Pfarrer einst in Gons den Friedhof tüchtig renoviert und eine wackere Totenkapelle an den Turm angegliedert. Seitdem besass er Carls volles Vertrauen. Bis im Herbst wollte er das Werk hier unter Dach und Fach haben, nur bedang er sich vom Pfarrer gute Arbeiter aus. Er selbst brachte nur zwei mit. Denn Carl wollte den Gewinn am Turm vor allem seinen Pfarrkindern zuhalten. Es hatten sich viele vor Ostern gemeldet. Burschen, die ein bisschen schreinern und pflastern können, gibt es ja in jedem Dorfe mehr als genug. Als nun aber ernstlich begonnen wurde, zogen sich die solidern Elemente zurück. Was sich da noch feilbot und einstellen liess, war niedern Schlages. Aber Carl in seiner gehobenen Stimmung sah nur noch Gipfel und Zinnen und nichts von dem, was dunkel und böse in den Tiefen herumschlich. Er ahnte nicht, dass eine Menge seiner Parteigänger nur schon durch die Übergabe des heimatlichen Baues an einen Tschinggen statt an den Kirchgenossen und Zimmermeister Weibel sich empört von ihm wandten. In der Tat wäre Weibel mit seinen fast genialen Anlagen und seiner genauen Kenntnis von Land und Leuten der Sache mindestens so gut wie Forni gewachsen gewesen. Jetzt wurde er ein gehässiger, witziger Feind des ganzen Unternehmens.

Die angelobten Fuhren von Holz und Stein wurden pünktlich geleistet. Aber über das Versprochene hinaus gab es keinen Span noch Kiesel. Jedoch auch das bemerkte Carl nicht. Und ebenso wenig schwante ihm das geringste, dass die überwiegende Männerwelt der Gemeinde seit dem erfeilschten Fortgang des Schül und noch mehr seit dem enthüllten Ambrosiusbild und den Ohnmachten des alten Dorfhauptes sich von Carls Eigenmächtigkeiten ein für allemal abgekehrt hatte. Was viele in Angst und Bettschwäche unterschrieben hatten, je nun, das war geschrieben. Sie wollten den Turm nicht hindern, aber auch nicht den kleinen Finger für ihn rühren. Zu mächtig hatte es auf sie gewirkt, wie der riesige Ammann vor dem Portalbild zusammenbrach. Sie alle erinnerten sich der Predigt jenes jungen Eiferers am Kirchenfest und taten einen Eid, dass dieses Fresko den Corneli für Zeit und Ewigkeit strafen sollte und wie unchristlich das war! Obwohl man zeitlebens auf den alten Geldprotzen und Geizhals geschimpft hatte, schwenkte die Fahne des Dorfhasses und der Dorfliebe sofort um, als der Greis solche Schläge erlitt. Auf einmal war er ein besorgter Patron des Dorfes, ein fester Halt und Schutz gegen moderne Frechheiten, ein Erhalter des guten Alten, ein Schirmer der Bürger und ihrer Rechte, ein frommer Mann, der selbst den Priestern, wo sie weniger als Priester sein wollten, den Drohfinger hob. Hundert Geschichtlein von seiner harten Kindheit, seinen Leiden und Mühen beim Weben, seinem Kampf und Gefängnis, seinen Stiftungen und einem Testament, womit er Lustigern herrlich bedenken würde, gingen wie Fliegen zu allen Türen und Fenstern hinein, und was das Wahrste und Echteste am Greise war, wovon aber niemand wörtlich sprach, die absolute Reinheit und Ehrlichkeit seiner Amtsführung mehr als ein halbes Jahrhundert lang, das erfüllte alle, die Schimpfer und die Lobhudler, mit der gleichen heimlichen Ehrfurcht. Und dass diesem hohen verdienten Achtziger nun an der Schwelle der Ewigkeit die letzten Tage noch so verbittert und versauert wurden und gerade von dort, von wo sie versüsst werden sollten, das machte jetzt bei gründlichem Überlegen immer böseres Blut. Der Kaplan ist doch schon über zwanzig Jahre hier und der beste Freund des Corneli geblieben. Da kommt dieser Carl und gleich teufelt es los wie Katz’ und Hund.

Von dem allem wusste Carl nichts. Er hatte den Corneli zwei Wochen lang nie mehr in der Kirche gesehen. Das war für alle so ungewöhnlich, wie wenn plötzlich ein Altar oder die Kanzel gefehlt hätte. Aber Carl dachte, das sei die Folge jenes Schwächeanfalls am Ostertag, und Peregrina, die natürlich die lautere Geschichte von A bis Z kannte, wagte ihren Herrn nicht aufzuklären.

Pünktlich mit dem ersten Beilschlag am Werk war der Protest des Ammanns im Namen »einer geregelten Kirchenverwaltung« erschienen. Ein kurzes, ruhiges, würdiges Wort, womit die Eigenmächtigkeit eines solchen Verfahrens als verfassungswidrig bezeichnet und alle Verantwortung auf den Urheber geworfen wird. Auch dem Bischof, der übrigens nach Rom gepilgert war, wurde der Protest übersandt. Dann ging er durch einige Zeitungen, mit boshaften Ausfällen gegen die pfäffische Herrschsucht glossiert. Daran war der gerade Cornelius unschuldig. Er hatte ein Exemplar dem Pfarrer, eines dem Protokoll der Kirchgemeinde, ein drittes dem kantonalen Administrationsrat und eines dem Landesbischof zugestellt, und es war gegen sein vornehmes Empfinden, dass einige Dunkelmänner die Erklärung abschrieben und an alle Fahnen- und Kreuzstangen der Kirche, sowie dem Standbild des heiligen Ambrosius an den Bart klebten. In Carolus stürmte es; aber er war diesmal Diplomat und tat, als sähe und höre er nichts. Und so sprach man nach kurzem auch nicht mehr davon.

Man hatte den alten Helm vom Turme genommen. Das musste jedes Kind voraussehen, dass sonst nicht weitergebaut werden könnte. Aber trotzdem, als nun das liebe graue Spitzdach mit dem Silberkranz abgedeckt, das Gerippe entblösst und die noch so starken Schrägbalken abgehoben wurden –- o wie lange widerstanden sie! – da dünkte es die zartern Dörfler schier eine Entweihung. Die stärkern griffen an den Stangen und Latten herum und sagten: Herrgott, wie schade um das alte Werk! Seht, welche Balken, alles Eichen, fester als Eisen! Das hätt’ noch Jahrhunderte gedauert. – Wirklich, wie Totengebein lag es jetzt herum und machte traurig, wo man es leb- und ziellos herumliegen sah.

Das frische Material war gewiss nicht so gut. Aber das neue Stockwerk rückte um so rascher in die Höhe. Nur klagten die Maurer, das Gerüste sei zu lose und unsicher gebaut, zu recht für Tschinggen, die wie Katzen durch das Stangenwerk klettern. Sie aber bekämen fast Schwindel und könnten an manchen Stellen nicht fröhlich zugreifen.

Umgekehrt behauptete Meister Forni, die Hiesigen arbeiten schlecht und faul, ein einziger ausgenommen, der Matthias Minz, der ihm wirklich prächtige Bretter, nur etwas zu glatte, schmale, fast sargmässige schneide. Mehrmals habe er den Kalk dieser Faulenzer ausgeschüttet und sie das Gemauerte wieder abbrocken lassen, so lästerlich schlecht sei da gewerkt worden. Carl mahnte zur Geduld, schärfte den Einheimischen gewissenhafte Leistung ein und fand, dass es trotz diesen kleinen Unebenheiten famos ins Blaue emporrücke. Er sah heiter ins Kommende.

Wenn das katholische Kollegium, das ist die höchste kantonale Behörde über das sämtliche Kirchenverwaltungswesen, im Frühherbst in der Hauptstadt zusammenkommt, dass ist der Turm fast fertig und das Verlesen des Protestes wird zugleich mit einem sanften Rüffel des Präsidenten und vielleicht mit einem ungnädigen Spruch des Bischofs vor der schlank gemauerten, schwalbenflughohen Tatsache verhallen.

So dachte Carl und liess sich eines Abends mitten unter den Arbeitern am Portal zum Vespertrunk nieder. Er hatte ein Fass dicken, halbschäumenden Barbera bekommen und bot jetzt einige Liter des lombardischen Saftes herum.

Der schwere, süffige Trunk löste die Zungen, und Lienhard, der Strassenmeistersohn und schlaue Feldmesser, ward durch das kameradschaftliche Gebaren des Priesters verwegen und fragte: »Wisst Ihr, Herr Pfarrer, warum unser Turm fünfeckig ist? Überhaupt, wer kann’s am besten erklären? Dem leer’ ich ein volles Glas von diesem Schwarzwein.«

Es gab gute Antworten. Der Forni sagte: »Man nannte euch Lustiger landauf landab Vierschröter. Da wolltet ihr zeigen, dass ihr auch Fünfschröter seid.« – Carolus meinte: »Sonst liebt man überall das Gerade; nur ihr habt immer einen Rest, der nicht aufgeht, ihr wollt die Ungeraden sein.« – Einer, der aus den Alpen kam, erklärte, er habe mehrere solche Kirchtürme an gefährlichen Lawinenhalden gesehen, das fünfte Eck gegen den schlimmen Absturz gerichtet. Und in der Tat war auch der hiesige Turm so gestellt, das die dritte Kante gegen Südwest, die fünfte gegen Nordost sah. Wind und Sturm fochten ihn stets von diesen zwei Seiten an. Indessen mit der Glockenstube begann der Turm viereckig zu werden, und dieser Wechsel gab dem Gebäu etwas Launisches und Zopfiges.

»Ihr habt alle falsch,« erwiderte Lienhard mit weinnassen Schnauzborsten; »sogar unser gelehrter Pfarrer. Das Geschichtlein hab’ ich vom Spätzlibauer, dem alten Mesmer, so vernommen: Als man an die Fundamente ging, waren Pfarrer und Ammann im Streit, beinah wie heute, und der Pfarrer wollte nur noch vier, statt fünf Kirchenräte gelten lassen, um im Rat die Oberhand zu behalten. Vier bändigt man eher als fünf. Schliesslich sagte er: so viele Herren Räte als der Turm Ecken hat! Denn eckig ist dieser Rat sowieso. Da ergab sich der Ammann willig drein und dachte, ich will dir schon für Ecken sorgen. – Aber am Abend kam der Geistliche zum Baumeister und sagte: ›Für siebentausend Gulden baut Ihr; ich biet’ Euch achttausend. Dafür müsst Ihr das Fundament achtseitig machen und das Dorf täuschen, als ob es einen achteckigen Turm gäbe. Sobald die Grundmauern aus dem Boden gucken, müsst Ihr zwei und zwei Seiten immer in eine einwärts zusammenschmelzen, wie das vom Achteck zum Viereck leicht geschieht. Es wird dann in den vier neuen Seiten, immer in der Mitte, ein Ansatz vorstossen, wo jedesmal ein Paar zusammentraf. Diesen Ansatz führt Ihr noch einen Meter hoch über die Erde, als wären doch acht Ecken und knöpft ihn dann plötzlich ab, so dass sie eine Art Sockel bilden. Abgemacht!‹ Und aus irgendeinem Privatsäckel schob der geistliche Fuchs dem Architekten gleich eine Tausenderrolle zu.

Aber der Ammann roch die Falle, als er die acht Seiten im Plane sah. Acht Räte will der Geistliche nicht, sondern vier. Er dividiert also, sobald er ins Licht damit rückt, durch zwei. Und rasch begab sich der Ammann zum Baumeister und befahl, zehn Seiten statt acht in den Grund zu mauern und im übrigen nach dem pfarrherrlichen Rezept zu verfahren. Er bekomme dann zehntausend statt siebentausend Gulden für das Gotteshaus, ja, er könne die drei Rollen Goldes gleich einstecken. Und so geschah es. Es gab also fünf Räte, aber mindestens zehn Prozesse, bis schliesslich der Architekt dem Pfarrer als Schmerzensgeld für den fünften Kirchenrat die Tausend zurückgeben musste. Mich freilich dünkt, er hätte sie nicht zurückgeben sollen. Der Pfarrer war im Unrecht.«

Dem widersprach Carolus wohlgelaunt und es wurde eine Weile darob hin und her gestritten, bis plötzlich der gleiche angriffige Lienhard verschmitzt zum Pfarrer rief: »Ihr hingegen hättet euch vom Corneli nicht lumpen lassen, gegenteils habt Ihr ihn ordentlich an Nas’ und Ohr genommen.« Zugleich zeigte er auf das Ambrosiusbild über ihnen an der Portalfront.

Der Pfarrer verstand keinen Deut, bis der Feldmesser zudringlicher meinte: »Das da oben seid doch Ihr und der andere ist der Corneli. Bei Gott, das ist ein Trumpfass und doch möcht’ ich’s nicht ausgespielt haben ...«

Jetzt ging ein dunkler Schatten über die kneipende Gesellschaft, am dunkelsten über das Antlitz Carls. Es wurde fast violett.

»Ihr habt einen ganzen Liter Barbera im Kopf, sonst könnten Ihr nicht solchen Unsinn plappern,« zog der Pfarrer los. »Packt euch an die Arbeit!«

»Gar nicht beduselt bin ich. Todklar weiss ich, was ich sag’. Den Corneli habt Ihr da oben gestraft!«

Carl erhob sich und gab das Zeichen zum Aufbruch. Der Meister Forni lachte in den Bart: da siehst, was für ein Maul deine Zöglinge haben; aber die Hände rühren sie nicht so toll.

Immer zuversichtlicher ward der Arbeiter. »So sagt,« schrie er, »sagt uns ins Gesicht, ob Ihr nicht an euch und den Corneli gedacht habt, als ihr das Bild bestellt habt. Saget doch, Herr Pfarrer!«

Carl wurde noch dunkler, die zwei Schaufeln gruben sich heftig in die Unterlippe, er schwieg.

»Seht, Ihr schweigt,« triumphierte der Halbtrunkene. »Alle seht ihr, wie unser Pfarrer schweigt. Aber auch, wenn Ihr sprächet, gälte es nichts. Denn den Corneli hat dieses Bild zu Ostern fast getötet. Dreimal ist er von Sinnen geworden. Euere Schuld ist’s nicht, wenn er noch lebt und in die Kirche geht.«

Der Pfarrer stand da und meinte, eine Lawine gehe über ihn, eine Lawine von Scham, Not und Bitterkeit, wogegen die fünfte Kante des Turmes nichts half. Das Kraushaar sträubte sich fachlich auf und der Schweiss rieselte allenthalben daraus hervor. Einst ja, aber längst nicht mehr, hatte er dem Fresko diesen rachsüchtigen Sinn gegeben. Aber eben einmal doch.

Und Corneli hat nur diesen einen Sinn verstanden und behalten. Er konnte nicht anders. Also daher jene Ohnmacht zu Ostern, daher jenes furchtbare: Zurück! Daher die zwei Wochen Fernbleiben von der täglich besuchten Kirche. An allem war ich schuldig. In der Tat, wenn Corneli nicht mehr aus seinem Entsetzen erwachte, was bei seinen Jahren so nahe lag, wäre ich der Mörder dieses Greises, wenn nicht der vorsätzliche, so durchaus der roh fahrlässige Mörder. Gott im Himmel, wohin gerat’ ich?

Nochmals erhob er die Hand und deutete der Gruppe, sie solle zur Arbeit zurückkehren. Dann verschwand er wortlos in der Kirche.

Merkwürdig, wäre Carolus nicht mit gebogenem Rücken sozusagen ins Kirchendunkel geflohen, hätte er sich vielmehr in die Höhe gereckt, den Grossmäuligen scharf in die Fäuste genommen, geschüttelt und verächtlich von sich geschleudert, wahrhaft, er hätte die irdische Partie des Kampfes gewonnen, und unermesslich wäre der Respekt vor ihm gestiegen. So aber, da er nicht einmal den Schein einer Lüge wagte, verlor er und gewann dafür etwas Unbezahlbares, das Recht auf Gnade.

Im Dorfe aber lief es wie Feuer herum, dass der Pfarrer auf das freche Maul des Lienhard nichts zu entgegnen wusste, dass er sich nicht reinigen formte, dass er verstummte und wie das böse Gewissen wegschlich. Und die Männer fühlten sich nun in ihrer strengen Ablehnung der pfarrherrlichen Willkür aufs frömmste gerechtfertigt, kamen sich sozusagen als Richter ihres bisherigen Richters vor, und der Kamm ihrer Selbstgerechtigkeit schwoll ihnen hoch über das Gehirn hinaus. Vergessen war alles Grosse, was Carl in kurzer Zeit an ihnen, ihren Kindern und Kranken und Verängstigten getan. Sie sahen nur Anmassung und Streitlust und geistlichen Luxus in seinem Gehaben und bedauerten, dass gerade sie, die tugendhaften Lustiger, diesen und keinen anderen Pfarrer bekommen hatten. Wenn man nur wüsste, wie sich seiner entledigen und wieder einen stillen, sanften Seelsorger bekommen ähnlich den hochseligen Zyrillus Zelblein oder dem Eusebi!

Der Unmut über das Herrentum dieses Priesters und die Widersetzlichkeit gegen seine Überhebungen wuchsen unbewusst wie Gras und erreichten nach und nach eine hohe Rebellion der Geister. Man hätte es nicht ungern gesehen, wenn ein Krach in der Kasse oder im Bau das Werk hätte stocken und schliesslich den braven Turm wieder den alten Helm aufstülpen lassen. Carolus wurde plötzlich wieder wie ein Fremder im Dorf empfunden. Alle früheren, längst vergessenen Misshelligkeiten mit ihm traten jetzt blutfrisch und gewaltig aufgebauscht wieder in Erinnerung, vor allem manche etwas rauhe Predigt, die Beichtstuhlgeschichte, das heillose Geldsammeln in eine unkontrollierbare Kasse, dieses Betteln besonders am Kranken- und Sterbebett, selbst bei ganz mittellosen Leuten, der Hader mit dem Corneli, die Missachtung des Kirchenrats, die Ambrosiuspredigt, die kühnen Worte am Ende der Kirchgemeinde, die ausnehmende Gunst der Frauen, der Überfall im Löwen mitten im Tanz, wo er die besten Bürger wie Schulbuben abkanzelte, der Feldzug gegen Schüls Geige, bis er sie endlich mitsamt den beiden Leutchen, als wären es Poststücke, kalt abwertete und nach Zürich spedierte, dann dieser Turmbau so ganz aus Selbstherrlichkeit heraus, dies alles vor einem fertigen Jahr! Was würde erst in zehn Jahren geschehen! Nein, es war übergenug. Man müsste an den Bischof gelangen. So kann es nicht weitergehen.

In der Tat, die Luft um den Pfarrer war wie von Elektrizität geladen. Es brauchte nur noch ein Fünklein, und eine furchtbare Entladung konnte folgen.

Als daher kurz nach jenem Vespertrunk Eduard Forni vier Arbeiter, darunter jenes Grossmaul Lienhard, davonjagte, weil sie so miserabel mittaten, als wollten sie mit dem Turm nur ihren Spott treiben, da entstand im Nu eine drohende Gärung im Dorf. Einige Dutzend Männer rückten vor die Kirche. Der »Tschingg« sah sich benötigt, die italienischen Ersatzmänner, die bereits mit roten Schärpen und Polentakesseln eingerückt waren, sofort heimzuschicken und die vier Gesellen wieder einzustellen, wollte er nicht einen ernsten Skandal gefährden. Forni selbst war mehr als einmal auf dem Punkt, den ganzen Bau mit Verlust aufzugeben. Nur die Rücksicht auf seinen treuen Patron liess ihn beharren. Aber das neue Stockwerk über den Glocken freute ihn nicht, so elegant es von unten aussah. Stein, Sand, Kalk, Zement, alles schien ihm nur so hingehudelt. Einzig das Holz- und Sparrenwerk war solid, weil eigenhändig von ihm und dem Matthias ausgeführt. Ungern wie auf etwas Unsicheres baute er nun den zweiten, letzten Stock auf und hob inzwischen schon die alte Glockenstube in das vollendete neue Geschoss, zehn Meter über das bisherige. Aber immer gab es Widerwärtigkeiten mit den Lustiger Arbeitern und merkwürdig, der Pfarrer mischte sich nicht mehr darein und, sooft er nun kam, war immer etwa Fremdes an ihm, beinahe als wäre er Gast, nicht Wirt des Turmes.

Man behautet heute noch, Carolus sei erst durch die Katastrophe, die wir nun rasch schildern müssen, aus dem Geleise seiner bisherigen energischen Wehrhaftigkeit geworfen worden. Das ist nicht wahr. Eusebius weiss das besser. Als an jenem Abend Carl aus der Kirche trat, bleich, verhärmt, das Haar zerrauft und schon heftig gegen den Wirbel hinauf ergrauend, da war er gewiss schon nicht mehr der muntere, kraftstrotzende, selbstgewisse Mann von früher. Wohl ging er sofort stramm und ganz aufrecht zu Eusebi hinüber und kehrte auch sehr aufrecht in seinen Pfarrhof zurück. Auch sein Bass in der Kirche scholl keine Note schwächer. Dennoch war es nicht mehr der gleiche Carl. Er gab nichts auf, sah täglich dem Bau nach, kletterte trotz Schwindel und Herzklopfen noch oft in die untern Gerüste empor, tröstete und ermutigte den Forni und verteilte grosse Trinkgelder unter die Werkleute. Aber er brannte nicht mehr dabei wie früher, seine Stirn leuchtete nicht mehr sonnig und die rosenblättrige Lippe blutete nicht mehr vor Eifer. Es geschah alles erst, streng, ruhig, amtgemäss, ohne Schwingen und Schweben. Der Turm schien nur noch ein Ziel des kühlen Verstandes, nicht mehr der brausenden Gefühle zu sein. Aber niemand merkte das als er selbst, Eusebius und der scharfe Meister Forni.

Damals, nach jener herzpackenden Anrempelei, in der vesperlich stillen, tiefsonnigen Kirche, von Schatten des Todes umweht, er wusste nicht seines oder des Cornelius Todes, damals hatte Carl sich gründlich in die Abgründe seines Wesens versenkt, richterlich untersucht und in der Kaplaneistube hatte der weise Eusebius nachher schonend mitgeholfen, und ein Turm war wirklich gestürzt, ein Turm von Eigensinn, Rechthaberei und verhüllter Selbstglorie, und das alte echte Wesen des Mannes quoll wieder kindesfrisch und kindeslauter aus den Rinden oder Verwachsungen des Alters hervor, und es konnte ein neues Blühen geben. Nicht was du wolltest, sagte der kleine Eusebi mild, war ungut, o im Gegenteil! aber wie du es wolltest, das war vom Übeln. Aber jetzt gibt es kein Zurück. Mach fertig, was du begonnen hast, aber dann beginne nichts mehr ohne zwei Genossen in die Regie zu nehmen, Gott als Chef und deine Pfarrkinder als stille Teilhaber.

Dem Ammann, das stand fest, musste eine schöne Genugtuung werden. Aber wie, ohne Chorrock und Stola in den Staub zu ziehen? Das, was über Carls Person stand, das Priesteramt und die Priesterautorität, durften dabei nicht verunglimpft werden. Nicht der Priester, der Mensch in Carl musste büssen. Am liebsten wäre er im ersten Sturm seines Herzens zum Corneli hinuntermarschiert, hätte sich tief vor ihm hingekniet, ihm alles herzlich und herzhaft bekannt und ihn um ein mildes Gericht gebeten. Ja, er hätte sich nicht gescheut, das Fresko zu übertünchen und auf so reuigem Grunde ein gütigeres Bild hinmalen zu lassen, etwa Heinrich den Zweiten, den famosen heiligen Kaiser, mit dem Bamberger Dom in der Hand und der Römerkrone im blonden Sachsenhaar. So eine Figur würde gewiss den Corneli bei jedem Messgang heiter stimmen und alle Theodosiuserlebnisse vergessen machen. Ein Laie, man bedenke doch, das Gotteshaus fest in den zehn Fingern, so recht wie ein Kirchenpräsident des Mittelalters!

Aber das geht nicht, widersprach Eusebi und streichelte dem Riesen, der wie zur Beichte vor ihm kniete, die verstrubelten und verschwitzten Krausen wie einst dem wilden Buben glatt. Dann streifte er lächelnd den Ärmel auf, zeigte auf einen matten Fleck und sagte: »Weisst du noch damals? Begeisterung soll nie weh, immer wohl tun!«

Wie ein Knabe schluchzte Carl in die Knie des unvergleichlichen Lehrers hinein.

»Auch jetzt musst du die Begeisterung zügeln, darfst nicht schon wieder ins Gegenteil übertreiben. Ein Missetäter bist du nicht. Es nützte auch keinen Deut, dem Ammann in die Stube zu rumpeln. Er würde dir vielleicht nicht einmal öffnen oder dich nicht ausreden lassen, dir den Rücken kehren und nun seinerseits ein Unrecht tun. Mit Gefühlsüberschwang erreichst du bei diesem nüchternen Realitätenrechner gerade das Gegenteil von dem, was du so heiss möchtest. Überlegen wir einmal ruhig, was das Beste wäre.«

Wie unvergesslich blieb dem Eusebius zeitlebens die Pause, die nun eintrat! Voll Gläubigkeit, beinahe schon wieder mit einem blauen Lächeln seiner Augen guckte Carl in der gemütlichen Stube herum, wo auf dem Fensterbrett die grosse gefleckte Katze Zülli einer Fliege behaglich zusah, wie sie näher und näher an der Scheibe heruntergaukelte und sich gar nicht bemühte, da ihr der Braten ja von selbst ins Maul fliegen wird. Das Pendel der leierförmigen Barockuhr tickte heiser hin und her; im grossen Bauch eines Kristallglases schwammen elegant die Goldfische herum, und der Spruch auf dem Ofen: Wärme dich und wärme! tönte so verschmitzt wie nur je. In der anstossenden Küche hörte man ein seltsames Hüsteln und Schneuzen und Hin- und Herfegen. Eusebi kannte das. Seine Marianne wollte das Weinen verheben. Hatte sie doch den von ihr heimlich vergötterten Mann immer langsamer ans Haus kommen sehen, mit einem Antlitz wie Zerstörung, und sogleich vieles verstanden. Aufs Servierbrett stellte sie nacheinander ein Gläschen Enzian, ein Gläschen Magenbitter, eine Kanne dampfenden Kaffee, ein Becherlein Burgunder. Alles und jedes wollte sie anbieten und liess am Ende doch alles stehen. Da musste ein anderer Spiritus helfen.

Carl hatte sich an den Tisch gesetzt und bemerkte erstaunt einen ungeöffneten Brief mit dem Stempel der bischöflichen Kanzlei. Fragend tupfte er Eusebi, der still in seine Brille hineinstarrte. »Tu ihn nur auf!« flüsterte Eusebi; »ich hab’ schon mehrere solche Papiere und weiss den Text auswendig. Es wird heissen: überred’ den Carolus fürs Heiligberger Stift!« – Carl riss auf und las laut:

»Hochwürden! Unser z. Zt. in Rom weilende Hwst. Bischof hat Ihrem H. H. Pfarrer Carl Bischof die Beichtigerstelle auf Heiligberg angeboten. Seine Gnaden fanden es der Überlegung wert, ob Ihr Prinzipal aus den immer widrigern Verwicklungen in Lustigern, woran seine Methode doch nicht ganz schuldlos ist, sich nicht am ehesten durch Übernahme dieses ruhigen, nervenstärkenden Postens ...«

»Hm, nervenstärkend!« Beide Geistliche mussten lächeln.

»... nervenstärkenden Postens, der auch seinem Temperament für eine Weile überaus zuträglich wäre, loslösen ...«

»Kanzleistil,« seufzte Eusebius schalkhaft hinein. »Hat der Satz noch keinen Schwanz?« – Aber Carl machte missmutig ein Pst! Diese Zeilen duldeten keine Witze.

»... loslösen und das Schlichten des verworrenen Garns einer neutralen, kühlen Hand überlassen sollte.

H. H. Pfarrer hat einen ausweichenden ...« das ist nicht richtig, einen abschlägigen, verbesserte Carl ruhig –, »um nicht zu sagen abschlägigen Bescheid erteilt ...« ach so, jetzt sagt er’s auch, lispelte Carl und schlug sich ruhig auf den Mund.

»Aber inzwischen haben sich die Verhältnisse in der Pfarrei verschlimmert, Proteste und Beschwerden laufen bei uns ein. Wir sind über die Lage von beiden Seiten genau unterrichtetet und Reverendissimus befahl uns, es während seiner Abwesenheit nicht zum Äussersten kommen zu lassen, sondern mit seiner Vollmacht im Notfall energisch vorzugehen. Sie möchten wir nun noch vor weiteren Schritten um Ihr Urteil bitten und zugleich, wenn Ihr Gewissen damit einig geht, Sie ersuchen, beim Pfarrer in Ihrer klugen, liebevollen Art einzuwirken, das er es über sich bringt, einen stillen Abschied zu nehmen und zu günstiger Stunde, ohne jegliches Aufsehen, ins Frauenkloster zu reisen, dessen Pfründe wir hierzu einstweilen noch offen halten. In dieser Entsagung und unfeierlichen Verabschiedung möge der lb. Pfarrer eine geeignete Busse für seine zu laute, zu herrische Pastoration sehen!«

»Schau, schau,« bemerkte Carl erbleichend, »bei Nacht und Nebel soll ich verschwinden!«

»So schreibt nur einer in der Pfalz,« spasste Eusebi. »Wir sehen, das ist unser künftiger Bischof. Aber gib einmal acht: würdest du mit Stab und Mitra nicht den gleichen Stil und Stecken gegen uns Priesterlein wenden?«

Carl umarmte seinen alten Freund. »O wie du mich kennst, besser als ich mich selbst.«

»Ja, Gott schütze uns vor deinem Krummstab! Da würden wir böse gekrümmt,« scherzte Eusebi weiter, da er sah, wie der Riese neben ihm am Briefe würgte.

Mühsamer las Carl: »Das unbestritten viele Gute, das Ihr Prinzipal unter Einsatz seiner ganzen Person dem Dorfe erwies, aber das unter sotanen Umständen sich nicht entsprechend auswirken konnte, wird um so reichere Früchte tragen, je gehorsamer und demütiger er sich in unsern Vorschlag fügt. – Sie, Hochwürden, wiewohl wir gut wissen, wie alt und gebrechlich Sie sind und wie unlieb diese Verfügung Ihnen ist, müssten vorläufig als Verweser amtieren, da Sie uns trotzdem z. Zt. als die passendste Persönlichkeit erscheinen. Wir geben Ihnen einen jungen rüstigen Kaplan als Gehilfen ...«

»Ich gratuliere,« sagte Carl mit zitternder Stimme zu Eusebius, »Herr Pfarrer von Lustigern!«

Aber der erhob sich entsetzt. Seine ganze Figur mit den fuchtelnden Armen, den fliehenden Füssen, der von der Nase gerissenen Brille und dem aufgeblähten Vogelnest war ein einziger Protest.

»Es ist das beste!« brachte Carl hervor; »und doch, und doch, so sollte keiner fortgehen, der so guten Willens war wie ich.«

»Nein, niemals, du gehst nicht weg, Carl,« entschied Eusebi und spreizte wehrhaft die kleinen schwarzen Hosenbeine auseinander. »Hast du irgendwo an dir und andern etwas zu verbessern, so hier. Ein Heiliger in den Tannen und Mauern von Heiligberg nützt uns zehnmal weniger, als wenn der nämliche hier im Dorf um Vollkommenheit ringt.«

Carl atmete auf. Ach, trotz allem, wie ungern ginge er weg! So schwer, ja unmöglich schien es ihm plötzlich, wie dass man einen Atemzug nicht vollenden soll. Er hatte ja so unendlich viel Klarheit und Selbsterkenntnis und Liebe an diesem einen Abend gewonnen! Ihn dünkte, er überschwelle davon und er könne, ja, müsse es in ununterbrochener Segensfülle über seine so lieben, bösen und wieder lieben Schäflein ausgiessen.

»Weisst du, was ich nach St. Gallen schreibe: Carl Bischof sitzt mit Verlaub und Respekt gesagt auf seinem Pfarrstuhl fest und lässt den widrigen Wind abflauen, denn es ist wirklich nur wetterwendischer Wind. Hingegen bittet Eusebius Nuss hiermit um die stille Sinekure. Er ist halbblind, halbtaub, gichtisch und möchte die paar Atemzüge, die ihm noch bleiben, in so einem sorglosen, frommen Hause tun, unter einigen interessanten, leider noch nicht ganz bereinigten historischen Dokumenten ...«

Mitten im Dunkel dieser Stunde mussten die beiden einander erquickend ins Gesicht lachen.

Gottlob, die Herren lachen, sagte sich Marianne, schob das Häubchen zurecht und trug mit einer wortlosen Verbeugung das üppige Trinkbrett auf. Dann verschwand sie mit unsichtbar gleitenden Pantoffeln und gespreiztem Rock, wie eine schwebende kleine stumme Glocke.

»Nein, bleiben wir ernst,« bat Carl und schluckte vom Magenbitter. »Du sagst, die ganze Mannschaft der Pfarrei sei gegen mich.«

»Ja, aber die Frauen, die in solchen Dingen feiner fühlen, sind im stillen alle für dich und die Kinder auch. Und was heisst dann noch, die Männer seien gegen dich? Die Männer ohne Frauen und Kinder! Gibt es überhaupt ein richtiges Dafür- und Dagegensein bei unserem Mannsvolk? Nein, dies Für und Gegen im Persönlichen sind bei uns Unterländlern nur sogenannte ‘bessere Augenblicke. Das ist,« eiferte der Historiker immer energischer, »keine Charakterlosigkeit, keine Unstetigkeit, es ist vielmehr eine schöne, vielleicht ab und zu gefährliche Elastizität, da man ebenso rasch vom Recht zum Unrecht abschwenken mag wie umgekehrt vom Unrecht zum Recht. Aber zuletzt sieht das letztere. Einige Vorwitzige nennen uns deswegen falsch. Aber stehe das Wort, so hat es nicht entfernt etwas mit Judasfalschheit zu tun. Es ist die Falschheit, die in unserem mangelhaften Sehen und Begreifen liegt, die Falschheit unseres Verstandes, des flinken, einbildungsmächtigen, neugierig nach allen Winden sich wendenden Untertoggenburger Verstandes, der dann ohne langes Grübeln jetzt dies, jetzt das als das Bessere betrachtet. Gerade weil es ihm das Bessere scheint, wird er falsch und wirft das frühere Bessere weg. Das Herz aber ist treu. Was ihm der Verstand als das Bessere vorlegt, packt es sogleich und innig. Jetzt meint Lustigern, dein Weggang sei das Bessere; nach vier Wochen wird es schwören, dein Hierbleiben sei noch besser. Denn inzwischen hatte es Zeit, falsch zu werden, das heisst seinen Verstand zu reinigen. Ein Tag lehrt eben den andern. Nicht nur hier, auf der ganzen Welt ist das Männervolk so. Ich habe nicht umsonst fünfzig Jahre den Charakter in der Geschichte studiert. Immer ist die Menschheit in Hosen so gewesen. Aber die Frauen nicht. Die stillen, guten, echten Frauen in den Stuben nicht! Sie sind die leise, aber feste Politik der Welt. Und darum sag’ ich, was bedeutet es viel, wenn die Männer einen Augenblick deine Gegner sind! Wenn nur das stille, standhafte Herz der Frauen zu dir steht. Die Männer kommen von selbst wieder. Sie sind nicht, wie sie meinen, die Führer, sie sind immer die heimlich Geführten. Und erst die Kinder! Du gibst ihnen ab und zu trotz dem kantonalen Verbot Ohrfeigen und hast sogar einen greulichen Hosenspanner auf dem Gewissen. Aber diese Kinder würden dich doch mit hundert Kusshändchen festhalten, wenn sonst alles an dir zerrte und risse ...«

»Diese Rede darfst du nicht drucken lassen, Eusebi, die Männer würden dich steinigen in einem solchen besseren Augenblick,« scherzte Carl. – Aber dennoch, wie hatte er bei dieser Musik der kaplänlichen Worte aufgehorcht! Wohl meinte sein feines Gehör, es zittere ein leiser Misston hindurch. Aber er wollte ihn überhören. Wusste er doch, dass Eusebius ein so ehrliches und wohlgestimmtes Instrument war.

So beschloss Carl zu bleiben. Aber am nächsten Sonntag würde er von der Kanzel dem Cornelius öffentliche taktvolle Genugtuung leisten. Eusebius nahm ihm das Gelöbnis ab, dass er diesen wichtigen Passus der Predigt ihm vorher zeige und allenfalls korrigieren lasse und dann ohne ein Mehr oder Weniger wortwörtlich so ins Volk hinunterschicke. Später wollte man dann auch über »die Kasse ohne Kontrolle« mitsammen etwas Geschicktes ausmachen. Jetzt nicht, nicht alles auf einmal! ... und die Antwort in die Pfalz einstweilen stunden, bis man mit Tatsachen erwidern könne.

Wohl zuckte es in Carl einigemal rebellisch auf, als ducke er sich unnötig, mache sich zu gering, raube sich selbstmörderisch Recht und Freiheit. Aber dann dachte er an den zitternd an der Türe pochenden, an den todbleich zusammenbrechenden Corneli, an sein schreckliches: Weg! zurück! und beugte sich sogleich wieder zum Schemel der Demut nieder. Doch konnte er es nicht hindern, dass ihn in seiner Kammer hernach eine grosse Ernüchterung und Niedergeschlagenheit überfiel: Aber kann ich das alles auch leisten? Kann ich mein Wesen so bändigen? Kann ich mir so Laub und Blumen abschneiden, wo ich doch meine, es sei gerade das Schönste an meinem Baum? Und steh’ ich dann so entblättert und geknickt da, wird man noch mit Achtung zu mir aufschauen und Schatten und Frucht von mir wollen?

Kapitel 27

Am Sonntag darauf stritten zwei heimliche Brautpaare unter den Haustüren miteinander auf ganz seltsame Weise.

Das eine stand auf der holprigen Schwelle des Tälerhauses, und Heli, viel schmucker als ehedem gekleidet, sagte zu Lorli: »Jetzt gehen wir wieder so in die Kirche?« – und er deutete auf das Knötlein in Lorlis Stirne. – »Wie soll ich da beten können? Wenn mir immer dieser hübsche Teufel in deiner Mappe in den Sinn kommt, wo man doch wie ein Engel tun sollte!«

Er zitterte über die ganze breite Gestalt. Da steifte Lorli ihre Schultern, nahm ihn an der Hand und führte ihn in den Stickkeller zurück. Einmal musste es ja sein. So nahm sie Papier und Stift, lehnte sich an ihn und erzählte kurz, oft nur mit Mienen und Gesten, dabei aber immer enger an ihn geschmiegt, das Folgende:

Hier sei alles so rein, wenigstens meine sie es. Aber sie sei unrein und komme sich immer mehr wie ein Dieb in diesem Hause vor. Aber wie schwer wäre es fortzugehen! Lieber bekennen, obwohl auch das ihr bis jetzt unmöglich schien.

Er wisse schon, wie sie als Kind herumgeworfen worden, eine Waise und ohne sich mit Worten und Horchen wehren zu können. Wie viel Wüstes habe sie gesehen, als sie es noch gar nicht verstand! Ach und dann habe man sie in alle möglichen Häuser verdingt zu allerlei Diensten; und da habe sie sich extra blöd gestellt und oft weder gewaschen, noch gekämmt, weil sie früh sah, wie man ihre Mädchenschaft, so unreif sie war, schon verderben wollte. Man habe sie geküsst und liebkost, vielmals. Aber Schlimmeres habe sie doch immer verhindern können, da sie wie eine Eidechse wegschlüpfen oder, wenn man ihr den Weg versperrte, grunzen konnte wie ein ungeheures Schwein. Ob er’s hören wolle?

Da wurde er furchtbar neugierig, aber sagte doch: »Ein andermal, Schatz!«

Dann habe die, fünfzehnjährig, einen Posten bekommen als Kammerjungfer. Gerade weil die stumm und taub war und keinen Dreck fürchtete, habe man sie andern vorgezogen. Und allen sei sie hässlich vorgekommen. – »Oh, oh!« machte Heli. –

Sie habe eine Art, die Stirne zu knoten und Mund und Nase herunterzuziehen, dass jeder Zierbengel davon laufe. Ob er’s mal sehen wolle?

Wieder packte ihn eine grässliche Neugier, wie denn das sei oder ob sie jetzt lüge, und wieder überwand er sich und sagte: »Später einmal recht gern! Aber ich würde nur näher kommen.«

Doch in jenem nobeln Hause, wo es im übrigen recht flott und leicht zuging, sei jener Jüngling im hintersten Zimmer krank gelegen, den sie später vor Heimweh so oft aus dem Gedächtnis abgezeichnet habe. Er trug eine scheussliche Wunde am Knie, litt oft furchtbar, aber verbiss den Schmerz grossartig, war nie stolz gegen sie wie die andern, sondern zeigte grosses Interesse an ihr, hatte Mitleid mit ihrem Übel und zwang sie geradezu, besser schreiben und lesen zu lernen, unterhielt sich den ganzen Tag mit ihr, sagte, sie habe einen sehr gescheiten tiefen Kopf und gab ihr wundervolle Märchen zu lesen, und sie meinte, ihr Leben sei jetzt selber eines.

Er sagte zuerst, sie habe eine Hand zum Zeichnen und ein famoses Gefühl, was und wie man etwas schildern sollte. Er zeichnete selbst gar fein. Obwohl sie ihn nicht reden hören konnte, merkte sie doch aus allem, dass er eine ganz andere, schönere Sprache besitze, als sie bisher kannte. Ja, er habe ihr das Lesen vom Munde beigebracht. – Jetzt wurde Lorli rot, denn sie wusste, wie doppelsinnig das klang und auch wahrhaft doppelsinnig sich ergeben hatte. Rasch schilderte sie weiter, wie er zehnmal das gleiche Wort aussprach und sie, der er es vorher aufs Papier notiert hatte, nun Buchstaben für Buchstaben von der Lippe abnehmen musste. So ging es bald von den einfachen zu den schwierigern Wörtern. Er hatte eine scharf geschwungene, herrische Oberlippe, aber die Unterlippe hing sanft herunter wie beim Pfarrer, wie ein Rosenblatt, nur viel bleicher.

Heli knurrte und rutschte ein wenig auf dem Sitz. Sie klebte sich noch heimeliger an ihn, dass sie fast nicht mehr schreiben konnte.

Immer habe sie diesen armen blassen Mund, der fast keine Speisen mehr aufnahm, betrachten, bewundern, zuletzt innig, innig lieben müssen. Es wäre andere unmöglich gewesen. Und mit dem Munde liebte sie auch das andere, vor allem die Augen, die wie weiches Harz leuchteten und die Stirne voll Schatten und den ganzen edeln Menschen. Ja, Heli, ich darf nicht lügen, sonst hat das Beichten keinen Sinn, ich liebte diesen Jungen wie Himmel und Erde zusammen. Er war mir schier ein Gott. Du wirst noch sehen, wie ich lieben kann. Alles musst du wissen. Aber rutsche und bocke nicht so herum, oder ich schweige! Das ist ja jetzt alles vorbei.

Täglich musste ich ihm die Wunde am Knie säubern. Alle andern ekelte der Eiter in der schauerlichen Wunde; nicht einmal die Mutter vermochte zuzusehen. Es roch nach Fäulnis und ging auch mir wider das Blut. Aber nach und nach tat ich’s sogar gern, und der Kranke sagte, selbst der Arzt mache es nicht so gut. Dann beim Auswaschen und Verbinden sah ich, wie furchtbar er litt. Aber er lächelte eigen und sagte: »Nur weiter, ‘s tut gut so!«

So gewannen sie sich nach und nach über alles lieb. Er fing an sie zu küssen und lange, lange an seiner weissen und doch so heissen Wange zu halten. Und sie dachte, so möchte sie es immer haben. Sie fühlte nichts Unerlaubtes dabei. Sie hatte auf der ganzen Welt nur ihn.

Da wurde er nach und nach herrischer, und eines Tages sagte er, fromme Frauen hätten den Pestkranken sogar die Beulen ausgesogen. »Bitte küsse mir die Wunde einmal, dann glaub’ ich, dass du mich lieb hast, und dann heiraten wir uns, wenn ich gesund werde.«

Heli ergrauste. – Und nun solle er hören, wie sie einmal geliebt habe. Sie habe ihm zu willen getan, und er habe ganz selig gelacht und gesagt: nun gesunde er sicher.

Sie fuhr sich über den Mund, als wische sie etwa weg. »Ach, Heli, noch heute weiss ich nicht, soll ich mich darüber schämen oder stolz sein. Verzeih mir, Heli, aber ihn hab’ ich fast zu Tode geliebt.«

»Weiter, weiter,« verlangte der Jüngling und schnaufte gewaltig wie ein Mann.

»Nichts weiter. Wir blieben so. Aber eines Abends griff der Brand plötzlich um sich, noch in der Nacht musste der Arme in die Klinik. Das Bein wurde abgesägt und er starb, noch bevor er’s wusste, am Herzschlag. Ich starb fast mit.«

Sie musste eine Pause machen, auch Heli war aufs tiefste erschüttert.

Aber dann war sie abgehärtet oder verweichlicht, wie soll sie’s nennen? Sie fürchtete die Männer nicht mehr, und das war ihr Unheil. Aber was konnte sie anfangen? Um nicht zu verhungern, musste sie vieles dulden. Zweimal entlief sie einem garstigen Hause, aber einmal fiel sie der Gewalt anheim ... ja, einmal ... Sie barg das Gesicht in Helis Ärmel. – Und daher die Runzel. Für ihr ganzes Leben sei sie eine Unreine, kein strammer, sauberer Mensch würde mehr mit ihr etwas haben wollen. In kein reinliches Haus dürfe sie ihren Schmutz tragen. Auch in Helis nicht? ... oder ... »Ach ... ich möchte doch so rein, o so rein sein wie dein herrliches Mili ...« Mit brennenden Augen hing sie an ihm ...

»Du liebe, liebe, liebe ... Gans!« konnte er nur sagen. Er musste sich mit einem groben Wort schirmen. Er hätte lieber etwas Feineres gesagt. Dafür küsste er sie nun und liebkoste sie und gar nicht ungeschickt, obwohl es sein erster Versuch im Leben war. Und er half ihr Haar und Gewändlein glätten und leicht, als ginge es auf silbernen Rädlein, eilten die zwei zur Kirche. Aber kurz vor dem Tore fragte sie: »Und für wie alt hältst du mich?« und sie zitterte, wie beim vorigen Geständnis nie. »Siebzehn doch nach allem,« sagte er. Da steifte sie nochmals wie zu einem Todessprung ihr niedliches Figürchen und versetzte: »Zwanzig! Und jetzt läufst du weg! o Gott!«

O über solche Evchen! Wenn nicht die vielen Kirchgänger gewesen wären, er hätte sie nochmals umfangen und ihr zwanzig Küsse hintereinander gegeben. So aber sagte er nur ein zweites Mal: »Gans!« –

Ganz anders war der Streit auf der untersten Haustreppe in der Ilge, wo das Mili bei der nun ganz verstörten Bas’ Ida Nachtwache gehalten hatte.

»Diesmal gehen wir miteinander in die Kirche,« gebot Sigi ungestüm. »Arm in Arm. Man soll wissen, dass wir verlobt sind.«

Aber Mili sträubte sich, so sehr ihre ganze Seele Ja, Ja sagte. Ihr Stirnhaar flog golden auf, sie blies und schnob leise in den Flaum der Oberlippe und beharrte dabei, es sei ihr noch unmöglich. – Ob sie sich denn schäme? – Torheit, stolzieren würde sie mit ihm. – »Nun also denn!« schrie er wütend. – Es sei etwas in ihr, das dagegen stehe, sie wisse nicht was, vielleicht weil die Mutter drinnen so schwer krank liege und mit ihrem Irrereden ihm, dem Mili selber, den Sinn fast verrückt habe. Immer wieder habe sie vom Turm gefabelt; er falle auf euer Haus und töte. – »Entsetzlich war das zu hören. Und immer wollte sie ›Sigi‹ sagen und konnt’ es nicht recht. Immer schien es, sie sehe dich stürzen zusammen mit dem Turm. Mir krachten die Ohren vom Gerede.«

Einen Augenblick stutzte Sigi und die Augen verschwammen ihm im Schwindel, so dass er rasch nach der Lehne tastete. Was war nun das? Ein Sturzgefühl wie damals am Fenstergesimse, als er dem Johannes oben am Zifferblatt zusah, fuhr ihm schaudernd die Beine hinauf. Aber er ermunterte sich sogleich, stülpte das Pagodendächlein trotzig auf und sagte, jedes Wort mit seinen gepressten gelben Zähnen markierend: »Nun erst recht müssen wir zusammengehen, bevor der Turm umfällt und uns mausetot tötet. Die Leute müssen uns wenigstens einmal als Brautpaar gesehen haben.«

Da legte Mili beide Hände auf ihre Brust. Das tat sie nur, wenn ihr dringend schwer war. »Sigi,« flehte sie, »um Gottes Willen, nur heute noch nicht. Lass mich so, für mich allein, bitte, bitte! ... oder noch besser, ich bleibe bei der Mutter ...« Und hastig schlug sie den Arm um ihn, drückte ihm, sehe es, wer es wolle, einen tiefen Kuss auf die rechte, in die Stirne hinaufgezückte Braue und verhuschte hinter der Türe des Krankenzimmers.

Sie ist noch nicht mein, fuhr es Sigi geheimnisvoll durch den Kopf. Da spukt etwas herum, Herrgott, was ist es denn? ... Und er fuhr sich über die Stirne, als wäre er in ein Spinnetz geraten. Wie er auch rieb, immer noch fühlte er einen unbequemen Faden hier und einen dort. Es muss im Kopfe selber sein, murrte er. Bald weiss ich nicht mehr, was innen und was aussen ist.

Dann strich er die hübsche Haarscheitel zurecht, zupfte die Krawatte glatt, besah die Bügelfalten und glänzenden Schuhspitzen und ging langsam in die Kirche. Darf man beten, betete er, um eine baldige Heirat, zu dir, o Gott? Oder ist das etwas zu Kleines für deine Majestät? Wenn man darf, so gib mir das Mili rasch oder dann lass mich noch rascher von deiner bittern Welt abfahren!

Als nun der Kaplan das Evangelium falsch und heiser wie immer gesungen hatte, schritt Carolus in Chorrock und Stola, das Barett in der Hand, feierlich auf die Kanzel. Es war etwas Geläutertes, Helles über seinem tiefroten Apfelgesicht. Er hatte diesen Morgen früh eine ungewöhnlich grosse Schar Frauen und Halbwüchsige um seinen Beichtstuhl getroffen, und was er da unter dem heiligen Siegel der Verschwiegenheit vernahm, machte ihn noch viel milder und demütiger, als er an diesem Morgen ohnehin war. Ach, wie begriff er alles, alles, diesen Argwohn, diese Unruhe, diese Zanklust und Rechthaberei, diese Missverständnisse und Gehässigkeiten, auch gegen ihn, ja, gegen ihn ganz besonders. Wohl flüsterten Frauen durchs Gitter und Kinder; aber gerade so erfuhr er ja am unbefangensten, wie in einer Abspiegelung, die Nöte der Männer, die zwischen Frau und Kindern ihre Tage schwerer und leichter durchhauen. Wie verzeihlich war alles in diesem engen, gedrückten Arbeitsleben. Fast konnte es nicht anders sein.

Die vielen Weiber und Kinder hatten ohne Zweifel ihrem Seelsorger in seiner Kümmernis diese heimliche sakramentale Freude bereiten wollen. Einigen Müttern hing ein Tautropfen reinsten Mitleids an den Wimpern, etliche Kinder hatten jenes junge wunderbare Lächeln auf den Lippen, als er ihnen die Hostie reichte, jenes himmlische Lächeln, das beschwört: alles sei schön und lieb und gut, und nach dem Herrgott sei der herrliche blauäugige Riese da vor ihnen in seinem weissen Chorhemd, mit der goldfunkelnden Stola und dem prachtvollen Kelch und mit seiner so vertrauten Stimme, auch wenn sie Latein redet, der beste und schönste und liebste aller Menschen.

Nein, ich bin nicht verlassen, dachte Carl. Diese Kinder ahnen schon mein Leid, und diese Frauen vergeben auch mein Verschulden. Gut ist deine Welt und Menschheit, o heiliger Gott, geschaffen.

Aber auch einige ergraute Männer und Sigi waren zum Altar getreten; dieser Sigi, der jetzt täglich zu Carl ins Pfarrhaus kam, seine schlechten Witze losbrannte und wider Willen im weitern Gespräch unter viel Trübem und Eitlem ganze Blöcke seines tiefsten, heimlichsten Goldgrundes emporschaffte. Sobald er’s dann rein auffunkeln sah, ward er unwirsch und schüttete das Streusand neuer Spöttereien darüber. Aber es war nur Sand. Wohl dutzendmal im Tage heischte er vom Pfarrer, er solle dieses Volk doch nicht so ernst nehmen; sondern sich einprägen, dass die gleichen Menschen ihn im Hui siebenmal hassen und siebenmal lieben können. Was habe dann so ein Stürmchen auf sich! Nur der Himmel kenne wohl eine Liebe ohne Anfang und Ende. Er, Sigi, nicht einmal den Anfang recht ... Kurz, dieser Jüngling war in wenigen Tagen Carls sonderbarer, neckender, widerspruchsvoller und im Grunde doch erquicklicher Freund geworden.

Carl stand jetzt hoch auf der Kanzel und bemerkte sofort vorne in der Bank Sigi mit dem eleganten Haarschnitt und tadellosen Rock, und neben ihm als Gegenspiel den Matthias Minz, den »billigen« Sargmacher und Brettermeister am Turm. Er hatte Augen so schwarz wie seine Särge und stand auch im schwarzen Kleid so steif und düster in der Bank wie ein aufgestellter Totenbaum. Aber er schien auch so treu und dunkelgütig zu sein wie der Sarg, dieses bei aller Härte so gastliche Haus aller, gar aller, auch derjenigen, denen sich jedes andere, selbst das elendste Hüttlein verweigert hatte. Eine solche harte, grausame, unheimliche, aber bestimmte Güte lag deutlich über dem hölzernen Gesicht des Matthias. –

Der Kaplan sass im Messkleid am Seitenaltar und horchte gespannt, wie der Pfarrer in den von ihm mitredigierten Passus überleiten werde. Die Backenmuskeln in seinem mageren Gesicht zuckten fieberhaft. Stumpf und gleichmütig, dünkte ihn, füllten die Männer die rechte Seite des Schiffes und taten, als hören sie der Predigt nur zu, weil sie eben nicht anders dürfen. O sie werden die Ohren bald gehörig spitzen. Der Corneli ragte wie ein Schneegipfel in den Voralpen aus allem Volk heraus. Kalt und fromm stand er da und betete. Der Pfarrer hob mit seinem einzig schönen Bass an; dem Kaplan fing das Herz unter der steifen Kirchenseide stürmisch an zu klopfen.

Nachdem Carl vom Guten Hirten und von seinen folgsamen und verirrten Schafen gesprochen, lenkte er über, es gäbe nur einen wirklich guten Hirten. Alle andern, seine Unterhirten, seien fehlerhaft und genau wie bei den Lämmern gäbe es bessere, mittelmässige und sogar etwa auch einen ganz schlechten Hirten. Dann fuhr er mit einer plötzlich veränderten, leisern, aber noch bestimmtern Stimme fort: »Ich bin wahrhaft keiner von den bessern Hirten. Doch ich möchte es gerne sein. Aber da hab’ ich schon einen Fehler begangen, als ich in die Pfarrei kan. Ich meinte, ich könne alles allein machen. Ich meinte so, weil ich in meinem früheren Sprengel sozusagen musste alles allein machen. Aber das ist keine Entschuldigung, und mein Erstes hier hätte sein sollen, euch anzugehen, dass ihr mir helft, ein besserer Hirte zu werden, wie ich euch heile, bessere Schafe zu werden.«

Jetzt passte alles auf, man stupfte sogar die Schläfer, dass sie aufhorchen; da tönte es sonderbar von der Kanzel.

»Das also habe ich unterlassen,« rief der majestätische Bass von der Höhe. »Ich glaubte immer, ich könne vieles allein machen, was man eigentlich doch nur miteinander recht gut machen kann. So ging es mir mit diesem Gotteshaus. Mich verzehrte fast die Sehnsucht, Gott dem Herrn sein irdisches Heim recht würdig zu gestalten, vor allem ihm einen höheren Turm zu geben und damit unser Heimweh nach jenen Höhen auszusprechen, wo allein der wahre Friede ist. Und wieder glaubte ich, das besser allein zu schaffen. Ich wusste, dass ihr in euern vielen nüchternen Tagessorgen es weit schwieriger habt, diesem Gedanken zu folgen. Aber darum hätte ich es doch nicht allein besorgen, nicht gegen euch erzwingen sollen. Ich musste geduldig warten, warten, warten, bis ich euch nach und nach mit dem gleichen Weine der Begeisterung erfüllt und mitgerissen hätte. Das war wieder mein Fehler.

Wenn ich nun einem oder vielen von euch damit weh getan habe, so bitte ich alle diese von diesem heiligen Platze aus, der weder Lüge noch List leidet, verzeiht mir! Es geschah ohne bösen Willen. Und wenn einer unter euch ist, gegen den ich besonders hart schien, weil ich ihn als unbelehrbaren Gegner betrachtete, so bitte ich diesen lieben Bruder noch ganz besonders um Verzeihung ...

Und endlich, meine Brüder, wenn ich mit dem Ambrosiusbilde über der Kirchentüre schuld an einer unfreundlichen oder sogar kränkenden Auslegung bin, so bitte ich vor allem den, der am meisten darunter litt, es mir nicht nachtragen zu wollen. Eines ist ja wahr, ich wollte mit diesem Bilde alle warnen, die der Kirche zu nahe treten. Aber es wäre ein Irrtum gewesen, euch und eure Führer, die der Kirche so treue Kinder geblieben sind, mir darunter vorzustellen. Wenn je ein solch schwarzer Gedanke mich beschlich, er ist längst wie ein giftiges Insekt und für immer verscheucht. In diesem Fresko am Eingang sehe ich von heute an nichts anderes als die Freundschaft zwischen Kirche und Staat, die Bruderliebe zwischen Geistlich und Weltlich, den Händedruck zwischen Hirt und Herde, wie ja auch Ambrosius und Theodosius die zärtlichsten Freunde geblieben sind ...«

Ausgezeichnet, dachte der Kaplan, und nun sag’ sofort Almen. – Ausgezeichnet, dachte auch Sigi, und wie tapfer! Aber unsere Plebejer können diese Höhe nicht fassen. Heil und Lorli aber begriffen nichts. Ihnen schien, heute müsse die ganze Menschheit ein Herz und eine Seele sein.

Cornelius traute zuerst seinen Ohren nicht. Aber wahrhaft, so scholl es: »Den, der am meisten darunter litt.« ... Eine Hitzewelle überschwemmte ihn vom Kopf zu Fuss. Diese laute deutliche Abbitte kitzelte ihm das kühle Herz unendlich wohlig. Scham, Triumph, Rührung wollten ihn überwältigen und machten seine Lippen zucken.

Aber wird er Wort halten? »Den, der am meisten darunter litt,« solches ist flink gesagt. Aber sagt er auch etwas vom Gutmachen? Ruft er die Kirchenräte zu sich? Liefert er ihnen jene schwere unkontrollierbare Geldkatze aus? Hört er mit dem Turmbau auf? Keine Silbe davon. Wir sollen verzeihen und er soll weitersündigen! O ja, es wird im alten Takt weitergespielt. Er ist und bleibt ein schlauer Appenzeller ...

Links und rechst sah Carl indessen doch die Männer vom Wehen seiner Rede erfasst sich ins Haar greifen, an den Hosen kratzen und kaum noch wagen, zur Kanzel empor zu blinzeln.

Inzwischen aber hatte Carl, ermutigt von diesem Wald von windgebeugten Köpfen tief unter ihm, gegen alle Verabredung mit Eusebi, sich von seinem seelsorgerlichen Herzen fortreissen lassen und fuhr nun im Stegreif fort:

»Nun aber, ihr lieben Pfarrkinder, wenn der Vater sich cor euch wegen seiner Schwachheit neiget, so neiget auch euch in eurer Schwachheit vor ihm! Gegen wen von euch habe ich denn eigentlich gesündigt? Wo hab’ ich mit Wissen etwas verübt, was euch verletzen oder schädigen sollte? Gegen einen einzigen von euch bin ich schuldig, und schuldig nicht in der Art eines Feindes, sondern eines ehrlichen Gegners. Aber jetzt lasset mich eure Ehrlichkeit gegen Gottes Sonne halten und ihre Fäden prüfen. Sind das ehrliche Gegner, die gestern schimpften, ich hätte das Geld für den Turm verschleudert, und die heute alles täten, um den Bau zu hindern? Was wird diese Sorte morgen probieren? ...«

Ach, Mensch bleibt Mensch. Die ganze Bedrängnis und Bitterkeit, die sich seit Wochen in diesem schönen apfelroten Haupte angesammelt hatte, entlud sich jetzt. »Oder sind das ehrliche Gegner, die wissen, dass ich auf die Goldstücke lache wie auf Kieselsteine und oft meinen letzten Franken aus der Tasche gebe, und die dennoch munkeln, dass man mir kein Geld anvertrauen dürfe, ohne Tag und Nacht einen Sperber darauf zu setzen, damit ich keine langen Finger mache? ...«

Bravo, bravo, schrie Sigis Herz. Das ist der alte Haudegen. Den brauchen die Spiesser hier. Und Sigi suchte die aufloderndes Augen des Pfarrers mit seinen heissen grünen Blicken zu treffen und noch wilder zu entfachen. Aber der Kaplan wand sich auf seinem Samtstühlchen vor Leid hin und her und betete leise: Piano, Carl, piano! O Gott hilf, er reisst wieder alles nieder! – Nur der Matthias lächelte still und düster bald den hitzigen Pfarrer oben, bald den noch hitzigeren Sigi an. Dieses dunkle starre Lächeln schien zu fragen: Wozu diese komische Aufregung. Ich sarg’ euch doch einmal wie stumme, steife Puppen in meine sechs Bretter hinein.

»Sind das ehrliche Gegner, die mir in der Grippe die Hand küssten und mir ewigen Dank gelobten und die ein paar Wochen später am Bierglas maulten, man sollte mich auf einem Schubkarren je bälder je besser zur Gemeinde hinausschieben? Oh ihr, die es trifft! ... Ehrlichkeit, Ehrlichkeit! Die härtesten Gegner finden sich einmal in Liebe, aber mit Unehrlichen gibt es keinen Frieden.«

Lenk ein, Carl, lenk ein, flehte Eusebius heimlich und rutschte in furchtbarer Not auf dem Polster umher. Lenk ein, wenn es noch möglich ist, du Sturmwind ohnegleichen. Ach nein, nun ist alles verloren.

»Seien wir ehrlich, Freunde,« rief Carolus gewaltig. »Nichts ist ehrlicher als Gott, und nichts Unehrliches lässt er zu sich. Von heute an sei darum die Ehrlichkeit unsere Losung. Ehrlichkeit im Glauben und Lieben, Ehrlichkeit in jedem Gedanken und Wort, aber auch im Widerwort, in der Kritik, in der Gegnerschaft, Ehrlichkeit immer und überall! Nie tut diese schöne heilige Ehrlichkeit weh, sondern sie macht das Kranke gesund, das Gesunde heilig, das Heilige selig. Diese scheinbar so kalte, aber im Grunde so heissblütige Tugend, die ja nichts anderes ist als die Sancta et Pia Justitia des Evangeliums, möge uns in einer aufrichtigen, treuen Familie zusammenschweissen und über den holperigen Erdenpfad dereinst zum ewigen Vater führen, Amen!«

Den Männern geschah, als hätte man sie ein Weilchen über die Backen gestreichelt und ihnen dann eine heillose Maulschelle versetzt. Waren sie hart in die Kirche gekommen, noch viel härter gingen sie hinaus. Nun leugnet er uns noch die Ehrlichkeit, grollte es dumpf, stempelt uns zu Lügnern und Diebsseelen. Aber wer riegelte plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, die sämtlichen drei Türen der Kirche, um im Dunkel seine Querköpfigkeit durchzusetzen? – Ehrlich! Warum will er dann eine Geldkasse ohne Kontrolle? Warum scheut er alles öffentliche Hantieren mit dem Kirchenrat? Ehrlich, leicht gesagt, schwer getan!

Nun gut, wenn morgen am Turme keine Zuber auf- und niedergezogen werden, keine Schaufeln klatschen, kein lebendiges Bein im Gerüste herumklettert, wenn morgen der Pfarrer seine Gelder in unsere öffentliche Kirchenkasse schüttet und dem Corneli die Rechnungen und Verträge des Turmbaues sauber auf den Tisch legt: dann wollen wir dem Appenzeller wieder glauben, sonst ... bei Gott, geht es so nicht weiter. –

Aber am Montag lief es rege seilauf seilab, die Kalkgrube dampfte, die Steinblöcke klirrten, Matthias Säge kratzte schaurig durchs Bretterholz und die Befehle Fornis, halb deutsch, halb welsch, polterten gröber all sonst durch das Gestänge und Gemäuer. Auch rollten keine Goldstücke aus dem Pfarrhof. Nichts, gar nichts schien sich trotz der pompösen Predigt geändert zu haben, und die dumpfe Gärung wuchs und suchte wie ein wildes Schluchtwasser nach dem donnernden Ausgang.

Und wie in solchen gewitterschwangeren Zeiten Krähen und anderes finsteres Gevögel nahe fliegt und uns mit ihrem Krächzen fast den Kopf streift und die Stechmücken uns unheimlich bedrängen und unser Blut siedet und alle Vernunft überschwillt, so zogen jetzt eine Menge Gerüchte herum, wovon ein jedes die Unruhe mehrte und die Spannung der Gemüter noch steigerte. So hiess es, der Geiger Schül sei vom Chef wegen seinem Schlendrian von heute auf morgen aufs Pflaster gesetzt worden. Die Siria sei nachts im Dorfe gewesen, habe umsonst am Pfarrhofe gepocht, sei dann ihrem geliebten Vagabunden ins Elend nachgerannt. Fast die volle Hinterlage sei an den Pfarrer zurückgegangen. Der schwimme jetzt im Fett, während jene zwei Unseligen seinethalben im Staub und Laster verkommen. So etwas! Und da werden Himmel und Hölle gegen einen schlichten kleinen Dorftanz geläutet! – Und weiter: Der Bischof habe Carl mehrmals geboten, vom Posten abzutreten. Aber Carl sage jedesmal: nein! Und so einer will Gehorsam! – Und die Ilgenwirtin schreie in ihrer Verrücktheit von nichts als vom Turm. der Turm habe ihren Geist verstört. Man bringe sie nicht vom Fenster weg. Da sitze sie und starre am Turm empor und sei wie eine Bildsäule. Dann plötzlich schrecke sie auf, zerre den Flügel auf und schreie den Leuten auf der Gasse die unmöglichsten Dinge ins Gesicht, kenne sie und kenne sie handkehrum nicht mehr und lache und weine und nicke wieder wie eine Schlafende ein. Aber auch mit dem blitzblanken Sigi soll es im Kopf hapern. – Und fragt man, woher all diese Grausamkeiten, so zeigen hundert Finger zum Pfarrhaus, wo Carolus in dicken Büchern liest, den Rosenkranz betet und von all dem nichts zu wissen scheint.

Kapitel 28

Man mähte das erste Gras, dieses grünste Gras der Welt, von der Thur zu den Vorbergen hinauf. Die Maurer verlangten Urlaub. Diesmal hatten sie recht. Keine Sense und keine Heugabel durfte in dieser Gnadenfrist der Junisonne feiern. Denn Mutter Erde wartet nicht, sie will rasch bedient sein, oder sie rächt sich.

Aber da Meister Edoardo Forni sich nur im toten Stein, nicht im wachsenden und reifenden Leben der Natur auskannte, so verweigerte er barsch die Unterbrechung der Arbeit am Turm. Da nahmen sich die Lustiger Gesellen den Urlaub selbst, und diese Niederlage des Baumeisters war auch eine Niederlage des Pfarrers. Denn er wollte vermitteln, als es schon zu spät war. Doch begriff er die Mähder wohl, beschwichtigte den Italiener, der in dieser heissen, trockenen Zeit am liebsten gebaut hätte, und bildete sich ein, das Ganze habe höchstens eine Spitze gegen Forni, nicht gegen ihn, wie er ja so still geworden war und geduldig das Keimen des Samens abwartete, den er so gerecht und bescheiden in jener Predigt ausgestreut und wohl aufgenommen glaubte. Eusebi freilich hörte mit seinen langen Historikerohren ein anderes Gras wachsen. Aber wozu Carl aufregen? Was kommen muss, kommt doch.

Hoch und reich fiel das Gras in langen Schwaden. Als nun das meiste verstreut am Boden lag und in der erstickenden Schwüle des Nachmittags wunderbar durch die lachende Landschaft zu weihräuchern begann, sammelte sich von Wyla herauf mit unheimlicher Eile ein rostfarbiges, dann immer dunkleres Gewölke, deckte auf einmal halbnächtig das Tal, und plötzlich toste der ganze Himmel. Ein Wirbelwind nur fünf Vaterunser lang schlug die Lüfte mit Millionen Fittichen wie von ungeheuern Vögeln und schien die Erde sozusagen von der Erde wegzufegen. Es splitterte und ächzte im Kirchturm und auf Dutzend Dorfdächern. Dann nach einem fiebrigen Flackern und Krachen aus allen Höhen ergoss sich ein Wolkenbruch so unvorbereitet über die Gegend, dass gross und klein entsetzt unter Dach floh und das halbdürre Heu dem Zorne des Unwetters überlassen musste.

Man setzte sich zum Vespern in die Südren statt unter einen Baum und guckte fleissig durch die Scheiben, da ein so jähes Gewitter auch jäh verpufft und ein kurzes Bad dem Heu wenig Futterkraft entzieht. Aber der Himmel ward nach und nach eintönig katzengrau, und der augenblickliche Wutanfall siechte in einen gehässigen dauerhaften Landregen über. Schonungslos flutete es die ganze Nacht und den nächsten Tag herunter, hellte dann am dritten Vormittag auf Augenblicke gen Osten einen giftigen blauen und schlauen Schlitz weit auf, so dass alles mit Rechen und Zinken hinauslief und die verwässerte Mahd umwandte. Aber sie roch schon ein bisschen nach Fäulnis. Indes nach einer Stunde schlug der Wind um, es brach aufs neue los, und diesmal regnete es nun von einem Tag in den andern ein zartes, silbernes, schleierhaft feines Geriesel, warm und schmackhaft, aber so alles bis ins Eingeweide durchdringend, dass drei Viertel der Heuernte zugrunde gingen. Das war ein Landesunglück so gut, als stürbe die Stickerei für einige Monate oder als verpestete eine Seuche die Viehställe.

In tiefer Verdrossenheit sass man in den Stuben, rauchte den stinkigsten Tabak, den es gab, und tobte gegen alles, was an dieser Plage keine Schuld hatte. Das einzige Lächeln in dieser Trübsal kam von einem unerwarteten Orte. Cornelius setzte im Bezirk eine amtliche Kollekte und von der Kantonalkasse eine Notspende durch. Zugleich fügte er aus der eigenen Truhe dreitausend Franken für die sechs am meisten betroffenen, hilflosen Familien hinzu. In diesen Tagen hätte man ihn trotz seiner zweihundert Pfund Leibesgewicht nicht nur im Bezirk, sondern im ganzen Kanton auf den Achseln lobpreisend herumgetragen.

Aber dieses Unwetter brachte noch ein anderes Unheil. Jener Wirbelwind hatte in einem Stoss das Schutzdach weggeblasen, das die Maurer, ehe sie vor dem gefährlich nahen Blitzen aus dem Turm wichen, an die obersten Stangen befestigt hatten. Bretter, Pfähle, Leitern warf es auseinander und fuhr mit groben Fäusten ins lockere Mauerwerk. Dann goss es in den unfertigen, lotterigen, nun halb aufgebrochenen Neubau und in die Kalk- und Sandhaufen ebenso verderblich wie den Bauern ins Heu. Allerdings deckte Forni mit seinen beiden Getreuen nach und nach das oberste Fachwerk wieder notdürftig zu. Aber es war zu spät und nun erschreckend klar, welch geringes Material man verwendet und welch noch viel schlechtere Hand damit gewerkt hatte. Die tannenen Bretter des Alberti selig und die eichenen des verstorbenen Meinrad Eicher, ohnehin magere Knochen, verzogen und verbogen sich, bekamen beim ersten zarten Sonnenschein Risse und die Böden standen voll Lachen, während die Gerüstebretter vor Nässe so schlüpfrig wurden, dass man nur barfuss gesichert darüber schreiten konnte. Der Sonderling von einem Matthias hatte diese Laden in einer Anwandlung von düsterem Spass gehobelt, als gälte es einem Sarg, und wer nicht aufpasste, konnte sie leicht als seine Sargbretter betrachten.

Nach und nach sickerte das Wasser in den Unterbau hinunter, der Mörtel fiel wie Papierfetzen aus dem Gestein, die Blöcke zerbröckelten oder kollerten aus der Pflasterung, schräg über dem Zifferblatt gähnte eine armdicke Spalte auf, die Glockenstube stand voll Wasser, und eigentliche Bächlein rannen die Turmtreppe hinab. Dem Forni sträubte sich das Haar, als er nach acht Regentagen das heillose Unwesen genauer besah. Und doch liess dich in diesem steten Regnen, auch wenn die Werkleute sich nicht so entschieden geweigert hätten, einstweilen nichts Tunliches unternehmen. Behutsam stieg der Meister, die schwarzen Brauen zu einer einzigen Gewitterwolke zusammengezogen, die Stieglein hinunter und wollte dem Pfarrer die ganze Geschichte vor die Füsse werfen. Trug der doch auch sein Teil Schuld. Laie und ungestüm wie er war, hatte Carl auf Treu und Glauben das meiste Material selbst bestellt und war, da ein Pfarrer kein Holzer oder Steinmetz ist, natürlich von allen Seiten angeschwindelt worden.

Aber da schritt Carolus eben so weltverloren zufrieden mit einem Paten, einer Patin und säuglingtragenden Hebamme vom Taufbrunnen her aus der Sakristei, lächelte sich so seelenheiter in das Kind hinein und grüsste zum Forni hinüber so herzlich, dass der barsche runzelige Italiener es nicht wagte, in diesen Paradiesesfrieden zu fallen und den Bericht auf morgen verschob. Gerade so machte es Eusebi ja auch, verschieben, verschieben, bis er schliesslich urteilte, es sei eine unnütze Roheit, den in Frieden Gelullten aufzustören. Man lasse ihm diese Gnadenzeit, vielleicht schickt dann der Himmel doch noch einen seiner göttlichen Zufälle und wendet alles zum Besten.

Forni aber musterte am folgenden Morgen nochmals alles gründlich. Es schien ihm minder schlimm als am gestrigen grauen Abend, obwohl das Regenwasser ganze Lachen bildete und in kleinen Stürzen von Brett zu Brett und selbst die hölzerne Turmtreppe zusammen mit Steinchen und Kalkgeriesel hinunterplätscherte. Auch war die oberste Mauer einwärts gebogen, und dann und wann kollerte ein gehöriger Block aus den zerfressenen Gesimsen, blieb aber glücklicherweise zwischen den Stämmen stecken. Forni war ein zwerghaftes, dürres, federleichtes Männchen und achtete es wenig, dass die Böden unter seinen Sohlen manchmal so merkwürdig nachgaben. An den Hügelrändern guckten lange Streifen des lang entbehrten blauen Himmels hervor, und ein starker Wind tummelte sich in den Zinnen. Es gibt gutes Wetter, dachte der Italiener, und morgen können wir wie neu an die Sache. Denn ich reisse alles herunter, was nicht ganz solid gemauert ist. – Er bestellte die zehn Lustiger Arbeiter auf den nächsten Vormittag.

Aber in der Nacht erwachte er von einem ungeheuerlichen Weltlärm. Wolkenbruchartig prasselte es wieder nieder. Der Wind pfiff, das Gerüst stöhnte, und der blecherne Hahn auf der Ilge, wo Forni sein Quartier hatte, kreischte in seinen rostigen Gelenken hin und her. Türen gingen auf und zu, und die ganze Nacht ging es im Gasthof treppauf treppab. Am Vorgen sah Lustigern wie ein Schlachtfeld aus. Dächer waren halb abgedeckt, Ziegel über alle Wege gesät, die Fensterläden aus den Angeln, Scheiben zerschlagen, die Geranienstöcke – o wie lieben die Lustiger die Geranien, besonders die hellfarbigen wie Kinderblut! – lagen in Scherben auf der Gasse, die Gärten waren verwüstet, alle Weglein lagen voll Äste und zerblätterten Dahlien, mächtige Tümpel hatten sich zwischen den Gräbern des Friedhofs gebildet, und das Bächlein zwischen Pfarrer und Kaplan war einige Stunden hindurch ein Riese geworden, hatte Häge verschlissen, Äcker verschlammt und unter Cornelis Gehöfte die breiten schönen Wiesen über dem Thurtobel in einen sumpfigen See verwandelt. Das Turmgerüste jedoch schien von unten nur ein wenig schlaffer um den Bau herum zu hängen als gewöhnlich, doch war eine Sturzflut die Bretterböden hinuntergegangen, hatte die Glocken fast ersäuft und die Stiegen nochmals verschwemmt. Am Fuss des Turmes lag ein Wirrsal von Stein, Sand, Kalk und zerspellten Hölzern. Das musste doch alles von da oben herabgekommen sein.

Immer mehr Volk strömte frühmorgens auf den Platz und besah die Schäden und gaffte zum Turm empor und wartete, bis der Meister Forni mit seinen sehn murrenden Gesellen kam und langsam und umsichtig in das schwierige Gebäu emporstieg. Zuhinterst ging der unheimliche Matthias, durch die Zähne pfeifend.

In dieser Sturmnacht, die im ganzen Schweizerland ein übles Andenken hat, etwa um die Zwei, hatten zwei Männer in Lederjacken und Mützen eilends an der Pfarrhausschelle gerissen und Carolus heftig gebeten, ins Altersasyl zu kommen. Jene alte Frau, die ihre Zimmerschwester so gütig das rote Kissen gegen ein noch röteres tauschen liess, nicht sieben, siebenmal siebenmal im Tage, habe bei diesem Föhndruck eine Herzschwäche bekommen und verlange dringend nach den Sakramenten. Der Pfarrer solle entschuldigen. Sie hätten ja dieses grausame Unwetter nicht gemacht und auch die Herzschwäche der Alten nicht verursacht, meinte der eine naiv; der andere schwieg. Carl schrieb der Peregrina einen Zettel auf den Küchentisch und marschierte dann, das Allerheiligste im Brustbeutel, einen wachstuchenen Mantel und eine solche Kapuze über sich werfend, den beinahe lebensgefährlichen Weg durch Wald und Höhen empor zu Eugen Dotts einsamer Anstalt. Es krachte in den Buchenkronen und toste in allen weiten Lüften und riss, sobald man in eine Wiesenlichtung kam, einen fast rückwärts zu Boden. Man musste durch neugeborene Bäche waten und über Gruben setzen, ohne einen Schritt vor sich zu sehen. Denn die Laterne des Vordermannes blendete mehr, als sie führte. Kein Tier, kein Vogel war hörbar. Auch die Männer versuchten kein Wort. Der Wind hätte ihnen Laut und Atem verschlungen. Carolus betete zum Herrn der Stürme, den er doch so gütigstill an seiner Brust fühlte, dass er nicht nur die Lüfte, sondern auch die Herzen reinige und überall Frieden mache. Er hatte nicht lange, aber gut geschlafen, glaubte sich frischer als je und hatte seit Wochen, nachdem er alle Sorge auf den Herrn geworfen, eine köstliche Sammlung und Gelassenheit des Herzens genossen. Neben den täglichen seelsorgerlichen Arbeiten hatte er einmal gründlich seine Bibliothek geordnet, einen Bücherrodel ausgezogen und war dann in den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustin stecken geblieben. Diese ausserordentliche Seelengeschichte nahm ihn so gefangen, dass er sich ein Heft voll Notizen daraus machte. Dann nahm er seinen Liebling Chrysostomus her und vertiefte sich in dessen pastorale Schriften, Reden und vor allem in das Leiden und Lieben dieses gloriosen Griechen. Dem Pfarrer war, es wehe eine neue Zeit um ihn, als er diese uralten Bände las, und er musste sich jetzt oft Gewalt antun, um nicht wie Eusebi ein »Bücherschmecker« zu werden.

Jetzt nach so viel Stuben- und Buchgeruch tat dem Riesen dieser Sturm, der die andern fast wie die Bäume zur Ende bog, innig wohl und füllte seine Lungen mit der alten Tapferkeit. Hundertmal beim Riechen und Schmecken dieser herben Wetterluft, diesem gesunden Duft einer Neugeburt der Erde, sagte er sich heimlich: Carl, jetzt wird nicht mehr im Winkel gehockt und gefaulenzt, jetzt wird gearbeitet!

Erst im Flur des Verpflegungsheims, als man die Überkleider wegwarf, erkannte Carl den jungen Dott als einen der Begleiter und schüttelte ihm stumm dankend die Hand, weil er, der Andersgläubige oder vielleicht im Sinne Carls sogar Ungläubige, so viel Ehrfurcht vor dem Seelenbedürfnis der Sterbenden bewiesen habe. Aber gleich meldete die Zimmermagd, sie glaube, die Greisin sei verschieden. Sie glaube, schalt Carl, was heisst das? und lief mit Eugen ins Krankenzimmer. In der Tat war es schwer zu sagen, ob diese leise lächelnde, noch immer rotbackige Greisin tot sei oder nur schlafe. Man hielt ihr den Spiegel vor den Mund; Atem, Puls, Wärme des Leibes war nicht mehr wahrnehmbar. Nein, diese lächelte nicht mehr ins Diesseits zurück, die lächelte geradeswegs ins bessere Jenseits hinein.

Es blieb Carl nichts übrig als niederzuknien und zum Schöpfer und Vollender aller Seelen für diese eine, dem Staub entwichene zu beten. Aber dem Pfarrer schien im Anblick dieses heitern, fast lustigen Totenbildes, es sei nötiger, für die Lebenden um dieses Lächeln zu beten, und da auch Eugen neben ihn niederkniete und die Magd und der Hausknecht, von denen ein jedes etwas anderes in anderer Weise glaubte, aber im Halbdunkel unseres Daseins sich bewusst oder unbewusst nach dem gleichen Sternenglanz der Ewigkeit sehnte, so sprach nun der Pfarrer jenes grossartigste und allgemeinste aller Gebete vor: das Vaterunser. Und wenn je ein Gottvater in den Höhen war und seinen schönsten Namen aus den Tiefen gnädig aufnahm, muss es in dieser Nachtstunde gewesen sein, in diesem fernen, wind- und waldumbrausten toggenburgischen Altersheim.

Carl und Eugen sassen nachher in der untern Stube beisammen. Carl musste lächeln. Inzwischen waren auch die Sofas, die Tischteppiche, Lichtschirme rot geworden, und um die weisse Teetasse, die der Doktor phil. bot, aber Carl wegen der heiligen Messe abschlug, ging ein dreifacher purpurroter Streifen und ward in roten Buchstaben versprochen:

Vom Morgenrot zum Abendrot Schlag’ ich allen Kummer tot!

Die beiden plauderten vom Sterben, vom Zufriedensein, vom Sichhineindenken in den Sinn der andern, der gegnerischen, vom Glück, das man nicht im eigenbrödlerischen Für-sich-Alleinsein suchen soll, weil es dann ein enges, kleines Glück würde, sondern im Zusammensein mit und für alle andern, wodurch das Glück sich vervielfache, ins Ungeheure wachse, beinahe himmlisch werde, wie schon Plato herausgeschnüffelt habe, ... indem der Heide Christum vorausahnte, fügte hier Carl rasch hinzu. – Sie plauderten vom Begreifen aller Bosheiten und waren einzig gegen die Selbstgerechten böse, aber auch diese könne man schliesslich begreifen und ihnen verzeihen, ... als es plötzlich vom obern Boden laut aufschrie. Der Pfarrer sah betreten den Doktor an. »Nachwehen,« sagte Eugen lächelnd. »Die Frau da oben träumt und schreit noch dann und wann.« – Vor drei Wochen sei sie mit Gewalt hierher spediert worden. Sie sperrte sich mit Händen und Füssen und spie um sich. Sie wäre lieber in Schmutz und Liederlichkeit stecken geblieben und zählte fünfundsechzig Jahre. Sie ass nicht, trank nicht, bekam Krämpfe. Eugen stellte ihr rote Rosen auf den Tisch, das gefiel ihr ein bisschen. Aber dann grölte sie wieder und kehrte sich gegen die Wand. Da sagte Eugen: »Wissen Sie auch, gute Frau, dass wir Sie lieber haben als alle andern hier? Viel lieber!« – »Dürft ihr das?« spottete sie. – »Ja, das dürfen wir. Viele brauchen sehr wenig Liebe und ihr Herz ist schon übervoll davon. Aber viele wie Sie, liebe Frau, haben ein grosses Herz und einen grossen Herzensdurst. Und die brauchen darum auch eine grosse Liebe.« – Eugen merkte, dass sie gepackt wurde von diesem Überfall. – »Es wäre also wie bei einer Maus und einer Kuh. Die Kuh muss viel mehr saufen, um den Durst zu löschen. Kuhmagen, Kuhherz!« – »Ja, genau so,« sagte Eugen willig. – Da stutzte sie, aber schickte ihn sofort zum Zimmer hinaus. Unterdessen brachte man ihr die roten Pantoffeln, ein rotes Fusskissen und ein schönes rotes Schultertuch. – »In Gottes Namen, Herr Pfarrer, ich leide vielleicht an einer Art Rotsucht, aber sie macht mich und alles um mich glücklich. Diese Prachtsfarbe tat auch der Frau wohl. Sie zankte noch eine Weile und war sauer wie Sauerampfer und tat uns vieles zuwider. Aber immer sagte ich: Tut, was Ihr wollt, aber lange könnt Ihr’s so nicht treiben. Ihr habt ein zu grosses Herz, und wir lieben Euch zu herzlich. Ihr könnt uns zuletzt nicht widerstehen.

Das ging so sechs, sieben Tage. Nun wohnte eine beschränkte, mürrische Witwe nebenan; die redete mit niemand und das war ihre beste Art. Da sahen wir nun, wie die Rosa, so hiess die neue, bei der Witwe sass und ihr Hunderterlei vorplauderte und sie zum Lachen machte. Das hatten wir andern alle zusammen nie vermocht. Wir wunderten uns. Aber wir sollten noch Besseres sehen. Die Rosa half der andern, die das nie recht fertigte und uns doch nicht hinzuliess, die Haften im Rücken ordentlich schliessen und die Schuhe schnüren. Wie das geschehen konnte, gerade von jener da und gerade an dieser hier, das bleibt uns eines der vielen roten Rätsel der Liebe. Der Geist, sagt Ihr, Herr Pfarrer, und das ist doch einfach die Liebe, weht, wo er will. Jetzt ist die Rosa unsere sonnigste Alte, weiss unerschöpflich Anekdoten und Spässlein auszukramen, unterhält die ganze graue Gesellschaft bei Tisch und nur ab und zu im Schlaf wie vorhin entfährt ihr noch etwa ein Schrei. Das sind Nachwehen, sagt mir die gescheite Frau, Nachwehen der Geburt. Es war doch eine Zangengeburt! Und sie lächelt scharmant. O wir haben sie furchtbar gern.«

So warme Dinge erzählte Eugen und hielt den Pfarrer, so oft er aufstehen und heimgehen wollte, auf dem Stuhl zurück, da es ja ein Unding sei, bei diesem Sturm vor Tag auch nur hundert Schritte zu wagen, Und er erzählte neue Geschichten, und Carl fühlte wieder einmal, wie die Liebe um und um die gleiche ist. Die Rechte an der Brust, wo das Sakrament ruhte, flüsterte er: Hörst du’s? Freue dich, du stiller, verborgener und doch so einziger Welteroberer, o göttliche Liebe, freue dich! Dein, dein ist alles.

Nach und nach jedoch, beim leisen gleichtönigen Reden Eugens fiel er mit dem Haupte auf die Rücklehne und schlief ein. Eugen legte eine rote Plüschdecke über seine Knie und hätte ihn bis in den längsten Tag hinein schlafen lassen, so mächtig und zugleich so kindlich schlummerte dieser Riese im Stuhl. Aber als das Tosen draussen gegen sieben Uhr aufhörte und die Sonne voll Unschuld über seine Güsse spielte, erwachte Carl gerade von dieser auffallenden Ruhe, er, der Sturmvertraute.

Er erschrak und lief, so rasch es ging, gegen Lustigern zu. Es war zum Staunen, welche Furchen das Wasser durch das Gehölze gezogen, was für Baumkolosse mit zerschmetterten Armen über den Weg lagen und wie zerschunden und zerfetzt die schönsten Eichen dastanden. Ihn brannte nach den Ausblick ins Dorf hinunter. Als er nun wieder einen gewaltigen Stamm umging, der vom Waldrand über das Strässchen in die Wiese hinausgestürzt war, die Rinde aufgerissen, die Krone geknickt, das Laub schon blass und kraftlos, da befiel ihn plötzlich ein Bangen für seinen Turm, ein Bangen, wie er es noch nie empfunden hatte. Umsonst betete er einen Psalm nach den andern, rief den Allgütigen um fromme Gelassenheit an, gebe es, was es wolle, liess sich ins Ohr flüstern: lass sein! Gott ist dein Turm. – Wenn solche Bäume brechen, ist auch dein Turm nicht ungeschoren geblieben, raunte ihm ein Dämon flink ins andere Ohr. Carl rannte vorwärts, schwitzte, schnob, zerriss sich den Mantel und ward von den Stiefeln bis hoch ins Gewand hinauf mit Kot bespritzt, bis er endlich aufatmend vom nächsten Rank ins Dorf hinunter blickte und den Turm mit dem Gerüste wie immer dastehen sah. Ja, in diesem frischgewaschenen Morgenlicht lachte er ihm munter wie noch nie entgegen. Ihm schien, man arbeite sogar, er entdeckte etwas von Formen und Bewegungen im Gerüste und freute sich darob kindlich. Der Wind wird da wohl heillos herumgeschustert haben, aber sieh, wie lustig geht man ins Zeug. Er meinte sogar Stimmen zu hören, Rufe, Axtschläge und klappernde Bretter. Die Braven, lieber Gott, wie die gleich die Schäden beheben!

Langsam und beruhigt schritt er nun weiter. An einem Schuppen war das Dach weggehoben, auf den Fohren die Schornsteine und Dachtraufen niedergerissen. Die Leute flickten schon eifrig daran. Weiter unten gegen das Dorf klatschte der Boden ganz verwässert unter jedem tritt von Carls gewaltigen Schuhen. Aber er war getröstet und gelangte fröhlich in die obere Dorfgasse hinab.

Inzwischen war Meister Forni unter Brummen und Ächzen mit seinen Mannen durch ein wahres Getrümmer und nasses Geschiebsel in die Glockenstube gelangt; die halbe Decke war eingesunken, drum hatte es so sonderbar matt geläutet, diese Zungen hatten zu viel Wasser gelappt. Von da ins obere halbfertige Stockwerk zu steigen war eine gefährliche Arbeit. Es ging leichter durchs Gerüste empor, obwohl auch hier vieles aus den Schrauben gerissen und zerfetzt war und jeder Gusstritt auf dem glitschigen Bretterboden höchste Vorsicht erheischte.

Wär’ doch da alles zum Teufel, fluchten die Arbeiter insgeheim. Ruhig, mit seinem schwarzen Lächeln auf den hölzernen Gesicht und überaus sicher, sprang nur Matthias Minz über die Laden. Der Grimm des Forni über all die Pfuscherei von Menschen und Element schwoll immer höher an, je deutlicher sich der ganze trostlose Ruin enthüllte. Tränen sprangen wie kleine harte Kristalle aus seinen Südlandaugen. »Nix ist solido, alles futsch, bestia maledetta; viel slimm als neu maggen! O diaboli voi, o ladroni, alles da capo!« schrie er zu den Lustigern, die sich mit beiden Händen im Gestänge haltend ins Gerüste hinausschwangen. Maledetti voi! Das Heillose war, dass vom Wasser und Unrat auch der alte Turm bis tief hinunter beschädigt war. Kurz, man stand da, wo zu Anfang, nein, noch viel weiter zurück: man hatte eine Ruine abzutragen, bevor man wieder aufbauen durfte.

Das überwältigte den Italiener. Er überlegte in dieser wütenden Sekunde nicht, wie viel die Unvernunft der Natur, wie viel die Untauglichkeit des Pfarrers als Geschäftsmann, der Betrug der Lieferanten und seine eigene Schwäche, sich immer wieder überreden und einschläfern zu lassen, an dieser Zerstörung Schuld trug. Er dachte auch nicht an die viel verhängnisvollern Folgen für Pfarrer und Dorf, er sah nur die Zerstörung selbst, wie eine persönliche Arbeit, die ihn ohnehin nie gefreut, ihm Tag und Nacht verbittert hatte und nun faul und lotterig dastand, nicht wie ein Kind, das noch nicht stehen kann, es wirb ja bald stehen können –, sondern wie ein Greis, der im nächsten Moment nicht mehr stehen kann. Nun war sein Kropf voll. Er sprang klein und behend wie ein Gespenstermännchen ins wackelige Gerüste hinaus, er musste sich Luft machen. Und da der nächste der Feldmesser Lienhard war, sein giftigster Geselle, der ein schadenfrohes Grinsen schlecht verhielt, da blitzte die nervige Hand des Italieners auf und klatschte links und rechts eine ungeheure Ohrfeige um den verblüfften Kerl. Lienhard schwankte, liess die Stützen fahren und wäre unfehlbar das Brett hinaus in die Tiefe geglitten, wenn ihn nicht fünf, sechs Hände noch gepackt und aufgerissen hätten.

Jetzt ging da oben, wo man dem Himmel so viel näher zu sein glaubt, eine wahre Hölle los. Die Lustiger streiften die Ärmel auf und rotteten sich, so gut es auf diesem schwanken Fechtboden ging, gegen den Meister drohend zusammen. Lienhard stürzte sich wie eine Wildkatze auf den kleinen Forni, beutelte ihn an der Gurgel hin und her und schlug ihm mit der Faust wie mit einem Hammer auf den Schädel. Die beiden Italiener entzogen ihnen ihren kleinen Edoardo mit Not, griffen instinktiv nach dem Gürtel, wo kein Messer steckte, fletschten die prachtvollen Zähne, aber mussten sich begnügen, mit grandiosen Flüchen den bewusstlosen Meister in die Mauern hineinzuschaffen.

Noch eh’ das völlig erreicht war, fiel der Haufen neuerdings über die Italiener, das ganze Gerüste bebte, und sicher, hätte sich nicht jeder ums eigene Leben oft mit beiden Armen an den Latten halten müssen, es wäre zu einer mörderischen Rauferei gekommen. Überdies stellte sich jetzt Matthias breit und ungelenk, aber fürchterlich stark vor die Brüllenden. Stumm, ohne Befehl, ohne Bitten, stand er einfach vor sie hin und schaute sie mit seinem dunkeln Sarglächeln an. Und das wirkte. Es gab eine Pause. Die zwei Tschinggen konnten ihren caro Maestro langsam den Turm hinuntertragen.

»Ich weiss, was ich tue; weg mit dem Schwindel!« schrie Lienhard wie rasend, riss ein Brett los, das nur noch lose an einer Schraube hing und schleuderte es hinunter. Gleich antworteten aus der Tiefe grelle Rufe, man stob auseinander. Wieder platzte ein Brett nieder, ein Balken folgte; jetzt flogen Hämmer, Beile, Sägen hinunter, Kübel voll Wasser, Steinblöcke. Wie Besoffene hantierten die Wilden da oben, als hackten sie in einem Baume die Äste weg, schüttelten und rüttelten und sahen nicht, wie sie sich selbst den Boden unter den Füssen wegzogen.

Der Kaplan las eben die Halbachtuhr-Messe. Er hörte bei seinem schwachen Gehör dennoch etwas Ungewohntes vor der Kirche und beim Lavabo, wo ihm der Messknabe die Hände mit Wasser begoss, lispelte er: »Was ist los? Ruf den Sigrist!«

Der Bub im weissen Röcklein, längst wie auf Dornen, flog hinaus, auch die wenigen Kirchgänger liefen zu den Türen. Als Eusebi sich zum Orate Fratres gegen das Volk wandte, lispelte noch eine alte Frau halblaut aus ihrem grossbedruckten Andachtsbuche. Aber hinten in seinem Ammannstuhle stand auch noch der gewaltige Cornelius, liess nichts vom Gejohle da draussen an sich kommen und antwortete sehr deutlich das: Suscipiat Dominus ... der Herr nehme dein Opfer an!

Der Haufe um den Turm vergrösserte sich, am Ilgenfenster rief die tolle Bas’ Ida wilde Fetzen von Gedanken hinaus, tat ein Gekicher, schloss und öffnete das Flügelchen wieder und spuckte hinaus. Aber niemand achtete auf sie. Sigi schlief nach seiner Gewohnheit tief in den Tag und erwachte erst jetzt vom Rumor, sah in den Scheiben hinaus, verstand, tat ein paar Schritte wie ein junger Tiger auf und nieder, zog dann ruhig die Festtagskleider an, kämmte sich sorgfältig, salbte das Haar, spritzte sich kölnisch Wasser auf die Hände, besah kritisch die Bügelfalten der Hose, schob dann etwas Dunkles in die Tasche und eilte schön und kühn wie ein Siegesjüngling hinunter ins Gedränge, das, in die Hunderte gewachsen, von den verschiedensten Empfindungen wie von sieben Winden hin- und hergepeitscht wurde. Man lärmte empor: »Seid ihr alle toll geworden? Wo ist der kleine Tschingg? Der Pfarrer heraus! Polizei! Corneli!« – Andere schrien: »Gottes Gericht!« und bekreuzten sich. Frauen beteten und flohen, Kinder weinten und schoben sich näher. Dann befahlen welche: »Man steige hinauf und werfe die Buben hinunter!« ... »Was nützt das alles?« ... Und dann stockte allen wieder vor starrer Verblüffung die Zunge, und sie staunten, wie das nur plötzlich im stillen, frommen Dorfe zu solchem Aufruhr kommen konnte.

Kapitel 29

In dieses Chaos gebot ein wohlbekannter mächtiger Bass plötzlich: »Liebe Leute, machet Platz! Im Namen Gottes, was geschieht denn da?« Mit langen Schritten marschierte Carolus in den Trubel, riss die blauen Augen auf und würgte am Verstehen. Ihm war, er sei aus allen seligen Himmeln gefallen. Weit wichen die Dörfler auseinander. Wie sah ihr Seelsorger aus, übernächtigt, ohne Hut, das Haar voll Tannadeln, den Stecken zerschält, bis hoch hinauf von Kot überspritzt, im wüsten, zerfetzten Regenmantel. Hat er entfliehen wollen und trieben ihn Sturm und Gottes Zwang zurück vor diese Verurteilung? Da war er jedenfalls, der Urheber aller dieser Plagen.

Mit einem Gemurmel des tiefsten Unwillens empfing ihn der Haufen.

Der Pfarrer äugte in diesen Regen von Steinen, Scheitern und Werkzeug, in dieses höllische Getobe empor, und einen Moment musste er sich breitsohlig auf beiden gewaltigen genagelten Schuhen Numero 48 verspreizen, um den Stand vor dem Andrang des Blutes nicht zu verlieren.

Hat er geträumt die Wochen bis heute? Da wird ja sein Werk, seiner Tage Schweiss und Fröhlichkeit bübisch zerstört. Wo ist der Forni? Wo ist noch Überlegung da oben? Wie entsetzlich arbeiten sie. Das sind nicht Regierende, das sind Regierte, sie müssen, sie können nicht anders, sie stehen unter höherer Macht. So grausig es scheint, es sind Gottes ureigene Hände, die da oben wirken. Dennoch, ich liebe, ich küsse diese deine Hände, ich ergebe mich drein, o Gott! geht es ihm ergreifend durchs Herz ... Aber er fühlt in dieser Minute etwas wie einen Bruch langsam, langsam durch seinen Körper, noch mehr durch sein ganzes Wesen gehen. Etwas hat sich gespalten, ist geborsten vom Fuss bis zum Wirbel, ähnlich wie durch lebendes Holz ein feiner Riss von zu unterst bis zu oberst geht, wenn ein plötzlicher scharfer Axthieb in die Herzmitte gezückt hat.

Neugierig, böse, verwundert, schadenfroh, auch mitleidig da und dort blickte alles auf Carolus, wie er gebannt dastand, bis unter das Haar erbleichte und wie verzaubert in den Greuel dort oben sah, wo plötzlich zwei Beine in die Luft hinauszappelten, aber noch rasch hereingezerrt wurden. Da endlich öffnete er seine violette Lippe und rief: »Kann denn niemand den armen Menschen dort oben helfen? Sie morden sich ja selbst!«

Das hatte man nicht erwartet.

»Wo ist der Ammann? Ich bitte sehr, Corneli möge kommen.«

»In der Kirche. Holt ihn aus der Kirche,« schrie man.

Da legte sich eine Hand auf Carls Arm. Sigi stand mit fieberig leuchtenden Augen da. Wie Smaragde blickten sie. Schmuck, das Haar dunkel aufleuchtend, mit schneeweissen Manschetten und blanken Schuhen stand er und sagte ruhig zum Pfarrer: »Einen Augenblick Geduld, ich renne hinauf.«

Das war schneller gesagt als getan. Aber der behende Bursche mit seinen elastischen Muskeln wand sich wie eine Katze empor. Es stob von staubiger Luft die dunkeln Treppen herunter und grölte furchtbar zu Häupten. Aber atemlos schlüpfte er höher und höher und begegnete dem bewusstlos heruntergetragenen Forni. »Attenzione!« keuchten die Italiener. Was Attenzione? Jetzt tu’ ich einmal etwas Famoses. Er schwang sich über die Glocken empor und sprang plötzlich wie ein gezücktes Schwert in die Raserei dieser Menschen, die mit jedem Wurf und Krach toller wurden, lachten, sangen und geiferten.

»Was macht ihr Esel?« zischte Sigi sie an, und das Pagodendach der Oberlippe schwellte auf und färbte sich blau, während seine Finger zu zittern begannen. Er hielt beide Hände an den Mund und schrie so laut, dass man es unten hörte: »Ihr sägt euch ja den Ast ab, auf dem ihr sitzt, in ein paar Minuten fliegt ihr hinunter.«

»Was geht das dich an, du Cheib, du Pfarrerssöhnlein, du Stölzling! Warte, wir wollen dir einmal deine hübschen Höslein striegeln!«

Aber Sigi sprang zornweiss bis zum Rande der Bretter hinaus, von unten sahen ihn alle, und sagte: »Schimpft, prahlt, aber morgen wollt ihr doch auch noch leben, oder? Seht da unten! Der Corneli ... er winkt ... der Polizist! Wollt ihr gleich aufhören oder noch heut’ ins Zuchthaus, he? ... Ihr lacht euch ja selber aus!« ... Mit einem unwiderstehlichen Spott funkelte er sie an.

Die Worte Corneli, Zuchthaus taten einen Augenblick ihre Wirkung. Aber der Rausch war zu mächtig und überflutete ihre Versuche zu überlegen. – »Was macht uns der Balg weis?« wütete Lienhard, einen Knüppel in der Hand. »So ein Büblein will ich schon zum Schweigen bringen.«

Er näherte sich vorsichtig zum Sigi hinaus. Dieser wich zurück, so weit er noch konnte, immer bleicher das Gesicht, immer fahler das Kindsmäulchen. Dann aber stand er still, raffte seine ganze Seele zusammen und kommandierte: »Zurück! Oder ...!« Mit der einen Hand umkrampfte er einen Balken, mit der andern schnellte er einen Revolver aus der Brust und zielte dem Verfolger mit gezogenem Lauf geradwegs aufs Herz. Aber die zwei grünen Funken im Auge Sigis loderten jetzt furchtbarer als jeder noch so tödliche Funken, der in der Waffe schlummern mochte. »Zurück!« schrie er heiser ... Schaum trat über die Lippen ... »Eins, zwei ... ich schiesse ... dr ...«

Das war zu reell. Lienhard stellte rasch Schuh für Schuh hinter sich, die andern horchten, duckten sich, krochen gegen die Mauern. Es wurde auf einmal still. Nur der Sargmacher stand ruhig neben dem Turmloch und schaute zu. Da sah er, wie dem Sigi plötzlich der Revolver entfiel, er kreideweiss ward, die Augen verdrehte, das Knie einbog und den Griff der Stange mit einem unartikulierten Laut losliess. Matthias sprang hinaus, aber schon war der Junge über den Rand geglitten und schoss wie ein gestürzter schöner Engel ins Leere hinunter. Oben und unten ein entsetzlicher Schrei, das Aufschlagen eines weichen Körpers, und am Fenster der Ilge eine Mutter, die aufs Gesimse klettern und hinunterspringen wollte. Eine tödliche Stille entstand. Auf einmal waren alle Leidenschaften zu Eis erstarrt.

»Tragt den jungen Mann weg,« tönte jetzt Cornelis Stimme unendlich beruhigend. Der Ammann war zur Leiche getreten und überprüfte den Toten aufmerksam. Nie sagte er einem Menschen unter dreissig Jahren Mann. Alle spürten die Ehre dieses Wortes ergreifend.

»Ich war in der Kirche, wusste nichts, hätte auch nichts verhindern können,« fuhr er dünn und hart fort. »Gott weiss die ... den Schuldigen!«

Alle, alle schauten wie unter einem inneren Befehl zum Pfarrer, der gegenüber stand, steif, ohne Hut, verdreckt und zerfetzt, fast wie ein gewaltiger Bettler oder Übeltäter, aber nicht imstande, sich vom Fleck zu bewegen. Als ihn die hundert Augen so schwer grüssten, senkte er das Haupt.

»Im Namen der Gerechtigkeit gebiete ich,« schloss Corneli feierlich, »dass alle Arbeiter dort oben, die gefrevelt haben, mit Handschellen ins Spritzenhaus gelegt werden, bis die Bezirksmannschaft da ist. Aber diesem jungen Mann wollen wir übermorgen ein stattliches Begräbnis geben. Er hat grosse Unehre und Untat verhütet. Ich bitte alle, in die Kirche zu kommen und mit mir fünf Vaterunser für seine etwas stürmische Seele zu beten.«

Alles ging mit Corneli. Der Ammann war Pfarrer. Carolus stand da wie versteinert. Eben trug man den Forni ins Pfarrhaus.

Endlich ermannte sich Carl, trat durchs Hauptportal in die Kirche, schritt durch das Volk zum Chor, zog an den Stufen den Mantel aus und wandte sich im schimmernden Priesterrock mit dem Sakrament gegen das Volk. Und auf einmal erfuhren alle, dass der Pfarrer in dieser furchtbaren Nacht jedenfalls weit, vielleicht nach Rindeln, zu einem Sterbenden gegangen und eben heimgekehrt war. Sie sahen ihn plötzlich, wie er überhaupt hundertmal so ging und kam, zu jeder Zeit, auf jeden Ruf, an jedes Bett. Ein merkwürdiges Gefühl rieselte durch dieses arme, geplagte, seiner Sinne nicht mehr mächtige Volk.

Der Pfarrer hob das Allerheiligste hoch und segnete seine untreuen Pfarrkinder mit rührender Innigkeit. Er wusste, es geschah zum letzten Mal.

In der Sakristei zog Eusebius gerade sein Messkleid aus. Er wusste alles durch den Mesmer. Ein Auge voll Erbarmung traf den Prinzipal, während dieser sich in schwarze Seide warf, um die Totenmesse für den lieben Verunglückten zu lesen, von dem er beinahe noch glaubte, es sei bloss einer von Sigis Spässen, dass er nicht mehr lebe, witzle und die Brauen zu einem voreilig tiefsinnigen Spruch in die Stirne hinan zacke. Nach der Messe sagten sich die priesterlichen Freunde kein anderes Wort als: »Salve, Frater, Lebewohl, Bruder!« und im Tone dieser zwei Worte lag mehr als nur die Ahnung, sich nie mehr in Lustigern zu sehen. Es tönte wie in eine nahe Ewigkeit hinein. –

Cornelius ordnete mit knabenhafter Frische das Nötige. Das erste Verhör wurde abgenommen und mit Ausnahme des Matthias, der vielen trotz seiner Wortlosigkeit als der Unheimlichste von der Bande erschien, nach dem Hauptort in Haft gebracht. Um den Turm ward eine Schutzwache aufgestellt, das kantonale Bauamt telegraphisch hergerufen, und mit dieser Depesche schnellte eine andere durch die singenden Drähte über die Toggenburgerwiesen zum Hauptort, flog in die bischöfliche Kanzlei und sprach: »Ich nehme unverzüglich und dankbar die Beichtigerstelle an, reise morgen früh hin und halte mich zur Verantwortung gehorsam bereit. Carolus Bischof.«

Den ganzen Tag beschäftigte sich der Pfarrer mit seinen Papieren und Büchern. Zwar das Pfarramtliche glänzte in sauberster Ordnung, so dass man nur die Deckel zu öffnen brauchte. Auch der Hausrat und sogar die Bibliothek schuf Carl keine Sorge. Das würden die Fuhrleute schon recht ordnen. Er wollte auch nirgends Abschiedsbesuche machen. Seine Seele machte freilich Tausende. Aber bis weit über Mitternacht sass er am Pult und rechnete und zählte und schrieb, die nassäugige, todtraurige Peregrina hart neben sich, deren weisse Haaresfülle in wilder Verzweiflung auseinanderflatterte. Sie strickte ihm noch an einem Paar Socken, weil es oben im Klösterlein so kalte Gänge und Zimmer habe und die armen Nonnen so spärlich heizen.

Carl füllte Bogen auf Bogen mit einem sonnenklaren Bericht, was er von jeder Hand zur präzisen Zeit an Franken und Rappen für die Kasse ohne Kontrolle erhalten habe, was und wozu davon verausgabt wurde, was somit übrigbleibe. Es waren mit dem zurückgesandten Geld aus Zürich aufs letzte Kupfer genau, was er in Lustigern empfangen hatte. Diese Summe lag also noch unverletzt in der Kasse. Der kleine Verlust wegen Schül und der grosse am Turm bis heute war durch Mariannens grossmütige Summe, die Eusebius ebenso grossmütig aus seinem Säckel verdoppelte, nicht nur ersetzt, sondern es blieben noch beinahe fünftausend Franken Guthaben, um entweder den alten Turm herzustellen oder das Werk fortzusetzen. Für letztern Fall verpflichteten sich Eusebius und Carolus gemeinsam, die von Forni berechneten weitern Kosten von achttausend Franken entweder aus Eigenem oder durch freiwillige Spenden aufzubringen. Carl hatte den düstern Nachsatz hinzugeschrieben: Eventuell bürgt für den ganzen Rest meine Lebensversicherung im Betrage von fünfzehntausend Franken.

Er wollte noch ein Abschiedswort an seine Pfarrkinder schreiben, aber war zu müde und schlief auf dem Lehnstuhl wie vergangene Nacht ein. Um vier Uhr früh feierte er am Ambrosiusaltar ohne Glockenklang die letzte hiesige Messe.

Niemand war da als Peregrina und zwei gescheite ahnungsvolle Mädchenseelen, die schlau durch die Sakristei hereingedrungen: Mili und Lorli. Sie empfingen den Segen und küssten dem verehrten Hirten die Hand, aber blieben stumm, bis Carl das Mili bat, zu sagen, was es sichtlich auf dem Herzen trage.

»Nie,« bekannte sie nun leise, »habe ich geglaubt, Sigis Weib werden zu dürfen, und dennoch hab’ ich’s immer unendlich gehofft. Sie allein, Herr Pfarrer, wussten die Wahrheit,« fuhr die Jungfer mit ihrem erbleichten Antlitz und ihrem vom Schrecken noch immer starren Blicke fort. »Ich muss dem Johannes die Mutter und Schwester sein, so ist es.«

»Und du wirst bei diesem Opfer glücklich werden. Ich werde es bald auch,« bemerkte Carl sanft. – Und nach einer Weile fügte er bei: »Grüsse mir den Ammann Corneli und sag’ ihm, dass ich als sein stiller Freund weggehe. Schau mir ins Gesicht, sehe ich etwa anders aus? Und dem Johannes sag’: dass mir gestern die Augen aufgingen und ich zum ersten Mal seine Bilder recht gesehen und keine Seele gefunden habe. Sag’ ihm, wir zwei seien auf dem Holzweg gewesen und müssten jetzt absoluti anders marschieren. Er solle nach Herzenslust zeichnen und malen, aber sein Brot und seine Hausehre soll er nach dem Rate seines Pater mit Musterzeichnen verdienen. Und das Lorli da! das gute! Bald wird es Hochzeit feiern. Brennt also doch noch ein helles Kerzlein unter so vielen Totenlichtern. Die nicht reden, noch hören, fahren doch am sichersten.« – Seine Stimme hatte etwas Feierliches, Flüsterndes, Gedrängtes wie eines Sterbenden, der seinen letzten Willen bekundet.

Dann wandte er sich nochmals zum Mili und bat: »Nimm dich, du grosse starke Frau, der Siria an! Sie kommt sicher einmal hier zur Ruhe. So eine Liebe kann nicht in Unruhe verderben. – Da nimm, ‘s ist wenig, etwas Erspartes,« sagte er leise, »das schicke ihnen!«

Dann setzte sich Carl im Pfarrhaus ans Pult und schrieb folgenden kurzen Abschied:

»Meine Schäflein, euer Hirte geht weg. Er hat euch hüten wollen in allen Treuen, aber hat sich selbst zu wenig gehütet. Verzeiht ihm, was zu verzeihen, entschuldigt, was zu entschuldigen ist, und richtet nicht zu hart, wo er unrecht hat. Mit Liebe gehe ich weg. Alle lieb’ ich euch mehr als je, und ich bitte dringlich, dass ihr auch mir noch einen Rest euerer Liebe schenkt. Ich kann einen solchen Schutzengel gut brauen, sei es hier, sei es dort.

Meine Bücher und Rechnungen liegen offen. Seht nach, ob ein Rappen fehlt!

Und wenn ihr bald einen neuen sanften und klugen Hirten habt und im Sonnenschein an seinem Stabe schreitet, so vergesst, ich bitt’ euch um Gottes Erbarmen willen, vergesst den andern so wenig sanften und so wenig klugen, aber gewiss nie bösen Hirten nicht ganz, sondern schickt ihm ein starkes, warmes Toggenburgergebet in seine Dunkelheit nach! Gott segne eure Kinder! Lebet wohl in unserm Herrn Jesus Christus, bei dem wir uns eins mit dem Kusse des Friedens wieder grüssen wollen.«

Nach diesen bittersüssen Zeilen ersuchte ihn Marianne zum zehnten Mal, doch eine Tasse Milchkaffee zu nehmen. Er sei ja bleich wie ein Leintuch und habe eiskalte Hände.

Ihr zulieb, aber mit innerem Widerwillen nahm er ein weniges. »Es ist Zeit,« sagte er dann hastig, »bald öffnen die Frühaufsteher von Lustigern die Fenster. Ich brauche keinen Begleiter bis zum Batzener Bahnhof. Diese Reisetasche, Stock und Schirm trag’ ich ganz bequem. Der Eusebi verzeih’, dass ich als kleiner Lügner weggehe. Er meint, ich wandere erst um die Sechse aus. Was soll ich dem Greis eine Stunde Schlaf stehlen?«

Er blickte noch vom Küchenfenster über den Friedhof und schien die Gräber seines kurzen Jahres zu zählen und auch diesen Toten Ade zu sagen. »Vierzig müssen es sein,« meinte er, »und ich bekomme nur neununddreissig.« – »Es sind neununddreissig, Hochwürden, nicht vierzig, glaub’ ich,« wandte Marianne ein. Sie wusste es sehr sicher. »Nicht vierzig?« fragte er wie verwirrt. »Und immer meinte ich diese runde Zahl.«

Nun musste er auch von der Tante, dieser furchtsam liebenden, weichen, alten Mutter seiner Pfarrjahre, Abschied nehmen. »Du gehst nun, sobald es Tag läutet, mit den Pfarrhausschlüsseln zum Mesmer und bittest ihn, dich zum Kaplan zu begleiten als Zeugen, dass ich ihm nach bischöflichem Wunsch das verwaiste Amt übergeben habe.«

»Aber wie soll ich ... hier ... ohne Euch ... ohne ...« endlich brach das Blut durch – »ohne dich, lieber, liebster Carli ...?«

»O Tantchen,« scherzte er, »deine Kammer im Kaplanenhaus ist schon bereitet. Schön bekommst du’s dort, viel schöner als beim ewig lärmenden Carli, Clamor dem Zweiten!« – Er musste lachen. – »Ihr zwei, du und der Haselnusskopf, helft einander kochen und ein bisschen die Leute verhecheln und ...«

»O, Hochwürden spassen noch ...«

»Und dann aber wieder tröstlich beten und Gutes tun. Und die Nonnen auf dem Berg sind nicht aus Stein. Ab und zu ein Besüchlein ist schon gestattet. Du musst mir doch noch von den Lustigern,« sagte er, gegen alle seine Überzeugung lächelnd, »ein paar lustige brave Stücklein erzählen ... aber jetzt muss ich weg, es naht den Fünfen. Bei Nacht und Nebel, so will es der Brief. Schon bin ich unfolgsam.«

Eine Überraschung gab es an der Hauspforte. Da wartete der Matthias und erbot sich ohne weiteres, dem Pfarrer das Gepäck bis zur Station zu tragen. »Weit!« sagte er, »und mühsam!« und zeigte mit dem Arm übers Dorf und die ferne Schlucht zu den jenseitigen Batzener Höhen. Von Dort war Carolus fast genau vor einem Jahre in die Pfarrei gekommen. Jetzt floh er sozusagen.

Nun, der redet und stört ja nicht, dachte Carl und gab ihm seine Habseligkeiten.

Sie gingen still und jedes Geräusch vermeidend die von der Nacht feuchten Wege, an den weissverhängten Dorffenstern vorbei. Von der Ilgenstube, wo Sigi aufgebahrt lag, sah man Kerzenlichter in die Scheiben spielen. Carl schlug schweratmend ein Kreuz. Dann führte ihr Umweg sie an der Kammerseite des Ammannhauses vorbei. Auch da waren die Fenster noch dicht verhängt. Eine schier unbezwingliche Lust wandelte den Pfarrer an, ans Fenster zu klopfen und zu rufen: »Freund Corneli, alter, guter, harter Mann, der du mir gestern, wo mich die Not von allen Seiten überschwemmt hat, nicht einen Blick gegönnt hast, gönne mir jetzt – ich weiche ja! – wenigstens ein christliches: Guten Morgen! . . oder vielleicht besser ... Guten Abend! Es sieht bei mir viel abendlicher aus als bei dir ...«

Aber Matthias macht Pst! und drängte vorwärts. Und Carl dachte: recht so, vorwärts, nicht gar noch sentimental werden!

Man kam an der Villa Zellwigs vorbei. Wahrhaft, dort standen schon Vater und Sohn vor dem Stall und sattelten ein Pferd. Sie bemerkten Carl, stutzten, zogen sogleich tief die Mützen und blieben mit geneigten Köpfen fast ehrfürchtig stehen. Diese taktvolle Art von Zweien, die nie seine Schäflein gewesen und die doch auch Augen und Ohren und ein Urteil über ihn gehabt, zwangen Carl die erste Träne aus den Augen.

Jetzt aber sprang Hugo in seinem aufgebäumten, weissblonden Haar und seiner schlanken, ritterlichen Jungmännlichkeit herzu und fragte voll Anstand: »Darf ich den Herrn Pfarrer vielleicht zur Station Batzig fahren? Der Einspänner ist sogleich angespannt!« – Als er die Tränen Carls, seine verzogene Lippe und sein Kopfschütteln sah, machte er eine tiefe Verbeugung und zog sich schweigend zurück.

Man erreichte den Notkershügel. Weihnachten, Mond und Sterne, jener Schreiner, Türme ... und meine brutale Auslegung, mein Turmfieber.

Aber gleich wandte er sich auf die obere Seite der Strasse zu Matthias’ Waldhütte. Wahrhaft, da sind sie wieder, sechs Bretter, alle schwarz angestrichen. Ein Gruseln überlief Carl. »Für den Sigi?« fragte er beklommen.

Mit seinem schwärzlichen Lächeln sagte Matthias kurz: »Hat schon seinen!« – »Wozu dann« forderte Carl und bebte vor der Antwort. – »Man weiss doch nie, was bis Abend geschieht. Da sorg’ ich vor,« erklärte Matthias. »Der Sebast macht nun keine Särge mehr ... alle ich ... alle!«

»Hast du an mich gedacht?«

Der grosse vierschrötige Kerl grinste und zeigte die breiten weissen Zähne.

Fast fürchtete es Carl mit diesem Menschen neben ihm. Sie stiegen das Tobel hinunter. Carl erinnerte sich von Schritt zu Schritt an jedes Wort mit den Gonser Ratsherren. Unter der Brücke tobte die Thur mit den geschwollenen schmutzigen Gebirgswassern vorbei. Die Lücke, wo einer das Bein brechen konnte, gab es noch. Dann ging es steil jenseits empor. »Es pressiert,« warnte der schattige Kamerad, als wär’s der Tod selber. »Der Zug fährt vor Sechs ab.«

Carl keuchte empor. Das Herz tat ihm weh. Er musste den Kragen aufknöpfen und spürte eine bleierne Mattigkeit vom Kopf durch den Körper hinunter in die Riesenschuhe rieseln. Er schwitzte und fror dennoch. Als man aus der Schlucht gestiegen, musste er immer wieder, so sehr er sich vor dem Kameraden schämte, zurückblicken, wo auf der jenseitigen fernen Terrasse Lustigern im grauen Morgen lag, und den Kirchturm mit dem Gerüste betrachten. Wie eine Ruine sah er von hier aus oder wie ein Gespenst oder eine Sage. Carl konnte es kaum mehr glauben, dass er dort drüben je gewesen und mit der Sache zu tun gehabt hatte. Eine sonderbare Gleichgültigkeit, schier Bewusstlosigkeit umfing ihn.

»Rasch, rasch,« rief Matthias. »Da pfeift die Lokomotive schon zur Abfahrt.« – Wie der mich wegjagt, in die Ferne, in den Tod! dachte Carl und verdoppelte sein Rennen. Er fühlte seine Füsse und ungeheuerlichen Schuhe nicht mehr. Jetzt war ihm, es gehe von selbst, wie eine Maschine, die nicht er, sondern ein Fremder bewegt.

Alles war ihm in diesem Augenblick entsetzlich gleichgültig, das Laufen, das Zuspätkommen, die Ermattung, Lustigern im Rücken, das Bergkloster vor sich, der schattige Mann an seiner Seite, Leben, sterben, alles. Er sah nichts mehr und dachte nichts mehr als: Friede, o Gott, dein Friede!

Das wegen seiner Langsamkeit berühmte Bähnlein, vom Volk als Der gute Hirt, das Bügeleisen, die schlafende Schnecke verspottet, hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Als es den riesigen Mann daherstürmen sah, stoppte es mit der Gutmütigkeit solcher Landbähnchen. Man winkte dem Pfarrer, nur nicht zu springen. Er verstand es umgekehrt, raste heran, klomm die zwei eisernen Tritte empor, nahm vom Fenster aus die Tasche in Empfang, warf sich auf den Sitz, dankte und nickte dem Matthias noch einmal und schloss die Augen. Friede, Friede am Berg ... oben ...

Aber noch war Matthias mit seinem Fünfliber Trinkgeld nicht zehn Schritte weg, so stoppte die Eisenbahn nach zehn, fünfzehn Radrunden wieder. Jemand hatte die Notbremse gezogen. Die wenigen Reisenden steckten die Köpfe aus den Fenstern. Carls Abteil öffnete sich, man schrie heraus, fuchtelte mit den Armen und winkte Hilfe herbei. Der Bahnhofvorstand kam. Träger wurden geholt. Carl war am Herzschlag verschieden.

Vier Männer trugen den gewaltigen Toten aus dem Wagen und legten ihn vorläufig, bis man wusste, wo dieser Ruhelose sein Grab habe, ins Wartezimmer erster Klasse und schloss dort ab. Da noch kein Telegraphenbüro offen stand, trug Matthias in ruhigem Schritt die Botschaft selbst nach Lustigern. Es ward ein schreckhaftes Erwachen und Aufstehen, als Nachbar zu Nachbar die Kunde herübertrug. Viele sagten noch lange nachher, wie sie bei diesem Bericht gefroren hätten und am liebsten unter die warme Decke zurückgekrochen wären. Und wenn es an jenem Tage wieder klopfte, meinten sie, der Tote stehe selber vor der Türe.

Und so kam es, dass die Lustiger den Pfarrer Carl Bischof zum zweiten Mal ins Dorf holten.

Als der riesenhafte Sarg am Egidihaus ankam, fingen die Schulkinder ein unermessliches Weinen an.

Cornelius stand bolzgerade und hart neben Eusebi wie beim Einzug des Pfarrers. Er sagte zornig zu den Lehrern: »So lasst sie doch nicht so unvernünftig schreien!« – Aber es zuckte und würgte etwas in ihm, was, ach so gern, wie diese jungen rücksichtslosen Kehlen in die Welt hinausgeschrien hätte: Versöhnung, Freundschaft, Friede. Friede einer andern Welt!

Dem funktionierenden Eusebi in seinen Priesterkleidern merkte man die Rührung am wenigsten an. Ein Historiker kann sich trocken und nüchtern geben wie altes Papier, aber der Text darinnen ist oft der leidenschaftlichste. – Der Kaplan segnete die Leiche ein, warf ihr die Schollen ins Grab nach wie gestern dem Sigi. Er hielt keine Leichenrede. Der Tote hatte selbst gesprochen: Seid jetzt zufrieden mit mir. Ich war euch im Wege. Nun bin ich nicht bloss aus Lustigern, ich bin aus der Welt gegangen. Betet für mich und seid wieder gut!

Nach dem Begräbnis wartete Cornelius an der Friedhofstiege auf Eusebi, wechselte mit ihm ein paar kühle Worte und sagte dann mit einem Versuch zu spassen: »Wann spielen wir den nächsten Jass?«

»Den, lieber Corneli, spielt mit dem dort,« sagte Eusebius ernst und deutete bum Grabe Carls. »Ich für mich habe ausgejasst.« – Der Kaplan wusste, dass der Ammann mit jener Frage nur seine Gefühle meistern wollte. Aber er konnte trotzdem nicht anders antworten.

Als ein frischer, morgenrötlicher Kaplan eingerückt und die beiden alten Jungfern Marianne und Peregrina, die sich wie Milchschwestern verstanden, in Eugens Altersasyl mit roten Vorhängen, Kissen und Pantoffeln prächtig untergebracht waren, zog eines Morgens in der gleichen menschenleeren Frühe Eusebius allein mit Stock und Seitentasche zur Station Batzig und fuhr ins Kloster Heiligberg, wo er noch an die zwanzig Jahre – er ist als hoher Neunziger gestorben, man lebt gesund unter Mutter Historia – als der kühle, kluge Gewissensrat der siebenunddreissig Klosterfrauen waltete, von ihnen über alles verehrt und verhätschelt. Solange Marianne und Peregrina lebten, erschien er ab und zu für ein warmes Plauderstündchen. Daran zehrten die Jungfern Köchinnen dann viele Wochen lang. Bei dieser Gelegenheit besuchte er dann auch die Gräber zu Lustigern und nahm bei Corneli und Cecili den Imbiss, und da war es, wo er sich einmal zu einem Jass verführen liess. Ein einziges Mal! Und er hat ihn zur Strafe auch gründlich verloren. Um drei Franken gerupft, verliess er das Haus und sah noch lange die rotbackige selige Cecili vom Fenster aus lachen.

Als er starb, lagen noch viele unvollendete historische Untersuchungen auf dem Tischchen an seinem Kopfende. Aber die grösste historische Untersuchung, an der die Menschheit seit ihrem ersten Lallen laboriert, hatte nun auch er gelöst, das unsterbliche Rätsel des Sterbens.


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