Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 25

Schon am Gründonnerstag ging die leise, dann immer wildere Sage durchs Dorf, Pfarrer Carolus habe den allbeliebten Geiger mit dem Geld seiner »Kasse ohne Kontrolle«, wie die Cornelianer das betitelten, geschmiert und über die Grenze geschickt. Siebentausend Franken, die von Rechts wegen der Lustiger Kirche gehörten und aus Lustiger Hosensäcken kämen, seien nach Zürich gewandert, nur um den fröhlichen Schül los zu werden. Habe der lose Zeisig doch beim Abschied laut genug geprahlt, mit seinem Fiedelbogen stürze er jetzt den Turmbau von Babel.

An diesem Donnerstag, wo man sich aufs Osterlamm vorbereiten sollte, entstand in mancher Stube ein böses Misstrauen gegen den Pfarrer und entlud sich mehr als ein Krach zwischen Eheherrn und pfarrgetreuer Gattin wegen heimlich gestifteten Fünflibern.

Die Männer kränkten sich über die eigenmächtige Faust Carls, die man überall zu spüren bekam. Sie hatten alle den Schül gern gehabt. Fromme Dörfer mögen recht wohl wenigstens einen lockern Gesellen in ihrem Weichbild leiden. Er ist ihr Ventil für manche Ausgelassenheit und dann wieder ihr bequemer Sündenbock. Und den spediert man so mir nichts dir nichts davon!

Aber man hatte sich auch durch den ewigen Klatsch an den Turmbau nach und nach gewöhnt, und nun geschah es, dass die lautesten Schimpfer gegen den Turm auch am lautesten lärmten, dass der Bau unterbleibe. Die Schwätzer kamen so um alle Kurzweil. Der Turm wäre das nahrhafteste Futter für alle Opposition und alles Kritteln am Bierglas, aber auch für eine satte Neugier gewesen.

Indessen feierte man in Dorf und Kirche den Gründonnerstag mit Christi ergreifendem letztem Abendmahl und seiner Todesangst im Ölgarten. Die Glocken verstummten. Die Rätsche begann holzklappernd und traurig das Nötigste vom Turm her zu melden. Die schwarzen Tücher des Karfreitags kamen, die Orgel schwieg, des Heilands Tod und Grab ward gefeiert, des alten Jeremias unsterbliche Klagen erfüllten die Kirche. Die ganze Nacht ward vor dem Allerheiligsten gebetet. Am Karsamstagmorgen ward das Taufwasser gesegnet und das heilige Feuer entzündet, der Osterstier trampelte bekränzt und lebensfroh und von der Schuljugend umtanzt durchs Dorf hinunter. Alles bereitete sich auf die Auferstehungsfeier am Abend mit erwachenden Glocken und Orgelsängen vor, mit Alleluja, weissgekleideten Kindern und mit erleichterten, österlich beglückten Seelen.

Diese Tage haben für den Pfarrer noch mehr als für alle andern etwas wundervoll Herbes und Heiliges. Er macht selbst eine Art Erneuerung von der Bangigkeit und vom Judaskuss des Donnerstags zu den Martern des Freitags und zur Grabesstille des Samstags durch, um dann am Osterfest in verjüngter Apostelkraft mit seinem Meister aufzuerstehen.

Aber Carolus litt dabei noch seine eigene, ganz persönliche Karwoche. Wie bitter traf ihn das schnöde, herzlose Geschwätz, ihn, der die Selbstlosigkeit selbst war und oft den letzten Franken für ein müdes Weiblein aus der Weste gekloben hatte! Am Karsamstagabend vor der Auferstehungsfeier erwog er noch einmal alles Für und Gegen. Erst hintendrein war ihm wie ein Stein die Frage in den Nacken gefallen, ob er denn die unterzeichneten Verträge mit dem Baumeister Forni, die Dutzend eingegangenen Verträge, die auf Zeit und Zahl genau bezeichneten Arbeiten und Löhne, was sich allein schon in die dreitausend Franken verrechnete, ob er das alles nur so wie Tabak ins nächste Jahr verschleppen könne. Und gewiss um ein Jahr verschöbe sich das ideale Werk. Eusebi sagte, ja, das könne man. Er wolle helfen. Aber was weiss so ein Historiker vom Geschäft. Sofort winkte der Haselnusskopf Mariannes ab: nein, das könne man nicht. Der Pfarrer müsse die Hand tief in Schadengelder tunken. Die Hexe! Immer widerspricht sie, aber recht hat sie auch immer.

Also ein Jahr läuft faul am alten Käsbissen vorbei. Und inzwischen? Wohin soll sein Überschuss von Kraft und Temperament? Und auch das Dorf hat welchen. Im mächtigen Bau hätte er sich so recht nach Herzenslust ausgewirkt. Nun verpufft er sich in Unruhe und Nörgelei, vergeudet sich für Dummheiten, grübelt und spintisiert an Verkehrtheiten herum, endet in Schlaffheit und Stagnation. Kein Schwung und grosser Zug wird sein. In Kleinkrämerei und Trödelzeug wird die träge, selbstzufriedene Dorfseele sich ausgeben. Und er selber auch. Er wird verbauern und verholzen wie so mancher Landpfarrer.

Und doch, was ist denn eigentlich anders geworden? Die siebentausend Franken sind doch noch da, das heisst unten im geld- und menschenverschlingenden Zürich liegen sie unangetastet, und die Zinsen ziehen wir wie von der Bank. Nur das wir diese Summe für fünf Jahre nicht verwerten können. Wie viel Kredit man auf diese Hinterlage bekäme, das hing leider völlig vom Geiger und seinem Leichtsinn ab. Er konnte eine Sauerei anstellen, die Tausende kostete.

Doch über zweitausend Franken lagen noch in der Kasse. Wenn man nicht baut, werden wenige da weiter stiften und äuffnen. Auch die besten Geber riechen und schmecken ihr Almosen gerne. Erst mit dem Bauen kommt neuer Gebensappetit.

Geld, Geld, Geld, das ist das einzige Hindernis. Die andern Bengel sind aus dem Weg geräumt. In der Grippezeit waren die Herzen weich. Drei von den fünf Kirchenräten liessen Carl schriftlich wissen, dass sie keine Opposition gegen den Bau erhöben. Auch hatte er Unterschriften, die weiter zu nichts verpflichteten, in der ganzen Gemeinde für den Bau gesammelt. Hundertsechzig Stimmfähige hatten zugegeben: meinetwegen baue man! Das war über Zweidrittelsmehrheit. Allerdings besass diese Sorte von Zustimmung keine gesetzliche, nur moralische Kraft. Doch das genügte dem Pfarrer. Dass Corneli einen Protest erlasse, war so sicher wie der Tod. Aber dabei würde es sein stilles Bewenden haben. Auf der ganzen Wellt gilt sonst: wer zahlt, befiehlt; und wer es dabei noch gut beim Zahlen mit Gott und allen Menschen meint und für sich keinen Rappen will, der sollte doch zwei- und dreimal befehlen dürfen!

Es rätschte vom Turm und riss Carl aus seinem qualvollen Hin und Her zur Kirche hinüber. Solche Gottesdienste, die mit der Dämmerung beginnen und im Sternenlicht endigen, besitzen einen besonderen Zauber. Aber der köstlichste ist diese Karsamstagabendfeier. Zu Hause hat man gebrätelt und gechüechelt auf morgen und dann das schönste Kleid übergeworfen und mit weltlicher Freude rennt man nun in die kirchliche, sieht eine Feuersbrunst von Kerzen und Lampen, eine grossartige Erschlossenheit der Altäre mit ihrem Schönsten und Heimlichsten und bebt in einer jener grossen herzklopfenden Erwartungen mit, von denen die Menschheit seit ihrer uralten Wiege lebt und leben wird.

Die prachtvollen Kirchenfahnen wehen, so ganz andere Fahnen als alle übrigen Banner, das hohe Silberkreuz bewegt sich, die Statuen Sankt Martins und Sankt Ambrosius’ und einer seide- und schleierumwehten Madonna werden hoch über die Köpfe gehoben, Fackelträger erscheinen, die Ratsherren in ihren langen faltigen Mänteln wie die Senatoren Roms, die Vereine, die Schulkinder, die Erstkommunikanten, mit weissen Kränzen im Haar, alles ordnet sich zur Prozession, zwei Kapuziner rücken für den einen kleinen Eusebius auf, der noch den Lehnstuhl hütet, langbärtige alte Männer, in ihrem gemütvollen Kuttenbraun, mit dem Stricke und der Kapuze, die so geheimnisvoll auf die Kinder wirken.

Jetzt lüftet sich auch der samtgestickte Baldachin. Das Betgemurmel durch die nächtige Kirche hinunter, so vielstimmig und tief wie das Meer, stockt plötzlich mit einem Amen, der Pfarrer, in wunderbarer Majestät gekleidet, nur dass ihm alle Stücke zu klein sind, steigt auf die Höhe des Altars. Totenstille! Er hebt die Arme, er blickt in die Höhe, er singt mit seinem ergreifenden Bass: Christus ist erstanden, Alleluja! Und in diesem Augenblick geht der Himmel auf, es lodert von Licht, es hallt und widerhallt von Orgel- und Volksgesang, es funkelt von allen stillen und lauten Schönheiten der Prozession, die durch die Gänge der Kirche schreitet, als könnte sie vor Freude nicht mehr stillstehen, als möchte sie am liebsten mit dem emporschwebenden Osterhelden auch in die Höhe fliegen und das letzte Klümplein Erde von den Sohlen schleudern. Und über dem Dache toben die fünf Glocken geradezu vor Jubel, wieder reden, o von Gottes Liebe reden zu dürfen.

O wie schön ist das! Wie glücklich macht mich nur das Denken daran!

Und wie glücklich ist erst der Pfarrer. Mit welcher seligen Hoheit schreitet er unter dem Baldachin, das heiligste Sakrament in den Händen. In diesen Minuten denkt er an nichts als ans Ewige. Diese Feier ist sozusagen die Schwelle des Himmels. In diesem Augenblick sind alle Menschen gut, alle heilig, alle vom Himmel engelhaft umblaut. Die störrischsten Männer stehen wie Kinder da. Der Corneli scheint mit seinem Silberkopf ins Überlicht getaucht. Unirdisch ist, was seine blutlosen Lippen leise beten. Der Viktor Quäler trägt stolz eine der Baldachinstangen in schneeweissen Handschuhen, und der oft so grimmige Meister Weibel hustet und gluckst, um das Weinen zu verhalten. Hundert belichtete Gesichter gucken wie Geister aus dem Dunkel. Der Pfarrer sieht sie wohl, aber er kennt sie nicht, so aus allem gewöhnlichen Erdentag heraus sind sie verhimmelt. Zur Kanzel empor, auf die Säulensockel, über die sonst demütig gemiedenen Altarstufen hinauf wimmelt es von Volk. Mütter heben kleine Kinder auf den Arm und zeigen: schau da, schau dort, siehst die Muttergottes? Blick auf, das Allerheiligste! – Und kein Säugling tut einen Laut. Sie öffnen Mund und Augen und sperren das Näschen auf und möchten diesen ganzen Himmel verschlingen. Der Johannes trägt die Osterkerze, der Sigi schwingt das Fähnlein Mariens und es verzieht ihm den Mund, wenn er an gewisse Dirnen von Zürich denkt, die ihn statt an ihrem Arm jetzt mit solcher frommen Standarte sähen. Sähen sie’s doch, denkt er und kommt unbewusst ins Beten. Sähen sie’s doch und könnt’ ich ihnen meinen Stolz zeigen und ihnen erzählen, was für einem wundervollen Weibe ich das Banner trage, o sie beneideten mich uns kämen zuhinterst im Zuge mit, die Armen, denen ich nur Graues und Niedriges, nie etwas Lichtes und Hohes wie dies da zeigte!

Lorli hält das Band der Madonna. Ach, wie kindlich es drein blickt, genau wie das Weihnachtslämmchen am Knie der Mutter Gottes. Nur das Mili ist nicht da. Es sieht bei der Peregrina und bei Eusebius nach dem Nötigsten.

Den Pfarrer Carl Bischof dünkt, er wandle gar nicht mehr auf Erden. Bald betet er, so nahe dem Heiligsten, Gott möge ihn doch auch auferstehungswürdig machen; bald blickt er lächelnd seitwärts, als möchte er alle zu seiner Freude einladen.

Die Leute in den Bänken haben ihr Kerzlein angezündet. Es ist eine uralte Lust, recht hübsch geformtes Wachs zu tragen. Die einen haben Kerzen wie Kronen, andere wie Kränze, dritte wie Tauben oder Kreuze. Da sieht Carl, neben der Marianne vorbeischreitend, wie sie als Kerze einen schlanken Turm mit hohem Helmputz in der Hand hält, einen Turm mit Fensterchen und dem Kreuzgipfel. Beinahe hält er im Schritt inne. Ja, ja, schwört er im Entzücken des Augenblicks, ich baue! Ich baue sofort! Das ist ein Zeichen. Der Turm, der Turm sei ein Stück Auferstehung für uns alle.

Als er mit dem Sigrist zur Sakristei hinaus in die tiefe, sternenbesäete Nacht trat, fragte Carl, ob jener den Turm der Marianne auch gesehen habe. Der lachte und sagte, das sei ein alter Spass. – Wieso? – Nun, der Pfarrer Clamor habe schon den Turm erhöhen wollen. Das habe Zank gestiftet, und die, denen der Bau gefiele, hätten wächserne Türme und die andern ein wächsernes Tännlein als Zeichen, der Turm sei längst gedeckt und bewimpelt, an hohen Festen in die Kirche getragen.

»Habt Ihr so ein Tännchen gesehen?« fragte Carl beinahe ängstlich.

»Nicht eines,« gab der Sigrist zurück.

»Gott sei Dank!« entfuhr es dem Pfarrer.

Aber vor dem Pfarrhof wartete die Marianne. Was ist los? dachte Carl und fühlte etwas Gutes voraus.

»Hochwürden,« sagte die Kleine mit grosser Gebärde, den Turm aus Wachs fest umklammernd, »ein Wort! Ich sehe Euch, wie Ihr den Turm ausbauen möchtet, und wie bald so, bald anders etwas dazwischen kommt und Ihr darunter leidet. Da hab’ ich mit Eusebi gesprochen ... oder wenn Ihr wollt, mit dem hochwürdigen Herrn Kaplan.« Wunderlich rümpfte sich ihr lachendes Haselnussköpflein.

»Lasst, lasst,« bat Carl rasch.

»Aber der Eusebi wollte nichts davon wissen und meint’, ich solle das ganz allein verantworten. O, dazu steh’ ich ohne Knieschnapper. Also das ist’s, seht: der Turm soll höher werden und wenigstens unsere Blicke und so nach und nach auch unsere Herzen etwas höher emporziehen. Das mein’ ich so fest wie Ihr. Und für den Herrgott darf’s schon was kosten. Wie viel Geld versaufen unsere Männer über die Ostern nur fürs Magenkitzeln. Und da ... kurz und gut ... hab’ ich ein Sparkassabüchlein, viertausendsechshundertdrei Franken. Und damit macht einstweilen, was Ihr wollt. Ihr zahlt mir bloss den jährlichen Zins und gebt’s zurück, wenn Ihr zuviel in die Kasse kriegt, oder einen Teil davon oder gar nichts, wie’s eben kommt, wenn ich nur mein Lebtag den Zins hab’. – Das ist, Hochwürden, mein Osterei, und der Eusebi ... pardon, der hochwürdige Herr Bruder ...«

Carl konnte nur noch mit der Hand flehend abbitten.

»... wird seinerzeit auch noch seinen Stumpen leisten, wartet nur. Er ist so schrecklich langweilig, wenn’s an etwas Neues geht. Aber mir gefällt das Neue. Jeder Tag ist doch etwas Neues, und heisst es denn nicht, Gottes Güte sei ewig neu. Und die schöne heilige Ewigkeit ist doch einmal für jede Seele das Allerneueste, wenigstens für mich alte Schachtel gewiss ... Gute Nacht, Hochwürden ... und fröhliche Ostern!«

Damit war sie im Dunkel auch schon verhuscht. Die Büsche, die Nacht, der Himmel oder auch der glücklich aufhorchende Turm konnten ebenso wohl das »fröhliche Ostern« gratuliert haben.

Welch ein gescheites, welch ein ganz unnennbar gescheites Weiblein ist das, dachte Carl überselig. Jawohl, eine Haselnuss, und immer spürt man das Harte. Aber dann springt auf einmal die Schale auf und hüpft so ein goldener Kern heraus. O Gott, wie dank’ ich dir! Jetzt ist alle Not vorbei. Der Turm steht auf.

Eine Stunde darauf, es war schon tiefe Nacht, bewirtete Carl noch mit Wein und Kuchen die sechs Männer, welche das Gerüst vom Ambrosiusbilde am Portal weggeschafft hatten. Es fiel ihm in seinem Jubel nicht auf, wie verlegen die Männer taten und sich ab und zu seltsam anschauten.

Späte Ostern, schöne Ostern. Die Amseln sind eben eingezogen, die Veilchen duften ums Dorf, die Gartenbäume öffnen tausendfach ihre grünen Augen, das Junge Grün lacht wie ein keckes Mädchengesicht, die Bäche schäumen vom Schnee auf den Höhen, und schon probieren am warmen Mittag die Buben, barfuss zu gehen. Selbst die lange Karwoche konnte nicht beständig den schwarzen Schleier vorhalten und weinen. Dann und wann lüftete ihn ein fröhlicher Windstoss und stahl ihr ein Lächeln vom Antlitz.

Am Ostermorgen ging Cornelius voll Heiterkeit zum Gottesdienst. Er lächelte auf dem ganzen Weg. Denn er hatte drei Ostereier für Cecili versteckt, und zwar so gut, dass sie auch nicht eines findet, ohne sein langsames, neckisches Nachhelfen. Auf einem Ei stand »Neugier«, auf dem zweiten »sucht«, auf dem dritten »und findet nicht«. Dieser Nasenstüber gehört ihr. Je älter, je schlimmer wird’s mit ihrem G’wunder. Keine Amtsschublade ist mehr sicher vor dieser Wetterscecili!

Er griff nach der Brotrinde im Sack und den Pfefferminzen. Alles hübsch beisammen! Eine gewisse Auferstehungsfreude durchschauert ihn. Was starb da nicht seit der letzten Ostern um ihn herum und lag unterm Boden! Und er, der tiefe Achtziger, schritt noch über die auflebende Erde mit ebenso auflebender Fröhlichkeit wie ein Frühlingsmensch. Gut ist Gott! Aber gut ist auch massvolles, solides, akkurates Leben! Tut Gott das Seine und Corneli das Seine, dann stolpern wir noch munter in die Neunzig hinein.

Vor dem Portal scheine eine Volksversammlung zu tagen. Aha, das vielbesprochene Ambrosiusbild. Sehen wir mal, was der Bursche kann! Er hätte den Götti freilich einmal begrüssen dürfen, der Fant!

Corneli nähert sich. Man schaut ihn eigentümlich an, einige lächeln, andere argwöhnen, andere fragen mit den so ungenierten Dörfleraugen. Was haben sie?

Man rückt breit auseinander. Jemand flüstert Corneli, jemand Carl! Einer sagt: Papst und Kaiser. Der Ambrosi, flüstert es dawider, war nur ein Bischof, nicht Papst.

Noch immer ahnungslos hebt er das rechte, kleine, glänzendschwarze Auge und ... versteht alles. Da ist die Kirchentüre, da steht der Pfarrer dahinter, da will der Ammann hinein, da stösst man ihn weg, so verewigt man eine schlechte Tat, an der Stirne der Kirche, so ... so ... am Osterheiligtag!

»Helft! Hebt ihn! Er fällt!« schreit es durcheinander. »Dem Ammann wird übel!« Vier, fünf Männer halten den Riesen. Indessen fangen die Glocken an, ihr Auferstehungslied zu spielen.

»‘s ist nichts,« bröckelt Corneli hervor. »Hätt’ ich nur den Stock mitgenommen! ... Ich bin noch nüchtern ... wisst! ...«

»Ah, Ihr wolltet kommunizieren?« hiess es. »Nein, trinkt das Schlücklein da, Magenbitter ... Man hat’s aus der Ilge gebracht ... So! Ganz echtes!«

»Ja,« versucht Corneli zu scherzen, »das hat den Teufel!« Er verzieht den zahnlosen Mund wie ein Kind bei Medizin. Aber es belebt! ... »Was kostet das?« ... »Nachher, gut! nachher.« Er findet die Westentasche nicht.

Er wollte in die Kirche, aber trotz allem Hochmut und Eigensinn ging es nicht allein. Man musste den Greis auf seinen Stuhl führen. Da sass er ab, wischte sich die Stirne trocken und fühlte sich rasch gehoben.

Plötzlich rauschte ein prachtvoller weisser Chorrock um ihn. Er sah auf. Der Pfarrer stand da und neigte sich mit wahrhaften Bruderaugen zu ihm nieder. In der Sakristei hatte man geschrien, der Corneli sei vor der Kirche in Ohnmacht gefallen. Rasch nahm Carl das Krankenöl und zog die Stola an und lief in guten Treuen herzu. Nicht der leiseste Verdacht wegen dem Bilde kam ihn an.

Corneli starrte einen Augenblick entsetzt an ihm empor. Dann machte er mit der kleinen geballten, schneeweissen Hand ein gebieterisches: Weg! Weg da! – und schloss die Augen. Viele sahen dieses gewaltige Zurückweisen und fühlten, jetzt sei Corneli es, der den Pfarrer sozusagen aus der Kirche weise.

Es war eine niederschmetternde Geste. Aber Carl in seinem Osterjubel merkte ihren schweren Sinn nicht. Er fasste sie auf wie damals, als ihm her Ammann den Arm entzog. Greisenhafter Dünkel! Carl raffte sich daher im Augenblick zusammen, betete leis: heut, o Gott, will ich nichts, gar nichts übel nehmen, und sagte dann laut: »Ihr habt Euch schon erholt. Es freut mich, dass ich nicht nötig bin, und ich wünsch’ Euch glückselige Ostern.«

Hab’s gesehen, hab’s gesehen, Euern Osterspruch überm Portal, wollte Corneli erwidern. Doch nein, man war ja in der Kirche und sang das Alleluja. Ob dieser Priester das auch merkt?

Die kühle, wohlige Kirchenluft erfrischte ihn. Er suchte das Ambrosiusbild zu vergessen und zu beten. Aber da sang Carolus so hell am Altar: »Der Herr sei mit Euch!« und rief den Dominus omnipotens Deus auf und forderte: Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus, o er sang immer von Gott, vom Himmel, vom Frieden ... und er selbst! Er selbst!

Ach, Corneli wollte nichts denken als an Jesus, den Auferstandenen. Jesus, deine Stimme, nur deine, keine andere lass mich hören! – Doch da sang Carolus wieder gewaltig das Credo: ich glaube! – Pfarrer, Pfarrer, eine Frage: an was glaubst du? An Macht und Pracht, an Kommando und Herrschaft glaubst du, an dein Rechthaben immer und an das Nachgebenmüssen der andern. Das glaubst du und betest doch daneben von Geduld und Kreuz und Demut und Liebe! Pfarrer Carl Bischof, glaubst du wirklich an die Liebe?

Die Orgel brauste, der Kirchenchor jubelte ein Alleluja nach dem andern, der Weihrauch wirbelte hoch, und im Kerzenschein flimmerten Seide, Silber und Gold vom Altar, wo die hohe Messe sich wunderbar vollzog.

Jetzt sang ein Knabensolo mit ungebrochener Stimme und Begeisterung: So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn für uns dahingab.

Die Liebe! widerhallte es in Cornelis altem Kopf, und plötzlich rieselte ein Erkennen wie kalter Schauder über ihn. Die Liebe! Und glaube ich daran? Hab’ ich mehr davon als er, der dort so falsch singt. Was tat ich denn Liebes? Wem? Cecili und ich kratzten zusammen bis in die Achtzig, für wen? Der dort am Altar tut es doch für einen äusseren Schein von Gottesverehrung, ja, für den irdischen Glanz Gottes. Für sich will er keinen Rappen. Er hat auch immer leere Taschen. Und ich? Kinder hab’ ich nicht, Verwandte nur von ferne und vermögliche. Für wen sammle ich also meine Liebe? Für mich, so ist es, nur für mich ...

Der Sigrist kesselte und klotterte mit dem Sammelbeutel neben ihm. Das Kirchenopfer! Schlaf’ ich denn, dachte Corneli. Er griff in die Weste und warf seinen gewohnten Zweibätzler hinein. Battist Töss rechts, ein gewöhnlicher Sticker, hielt einen silbernen Halbfränkler bereit, wurde rot, als er Cornelis Aug’ begegnete und flüsterte mitten in einem Vaterunser demütig zum Ammann: »Ich dacht’ halt, es sei heut Heiligtag! Nichts für ungut!«

Für diesen Töss sind fünfzig Rappen, was für mich fünfhundert Franken, plagte sich Corneli. Aber ich gab zwanzig Rappen. Bin ich, bin ich eigentlich geizig?

Dona nobis pacem! flehte nun der Chor vierstimmig von der Empore herab. Gib uns den Frieden! Den Frieden nicht des Geldes, noch des Glänzens und Regierens, dona nobis pacem, gib uns den Frieden einer andern Welt! –

Corneli war zu alt und zu klug geworden, um nicht von Zeit zu Zeit an die Torheit seines Geldscharrens zu denken. Mit dem Verstand war er längst kein richtiger Geizhals mehr. Er hätte jetzt das Geld rollen lassen. Aber er war ein Gewohnheitstier des Geldzusammenlesens geworden, wie die Biene eine Zusammenträgerin des Honigs ist, ob sie mag oder nicht. Oder er glich jetzt einem Mechanismus, der nicht anders kann als die Münze hineinschnappen, die man ihm darbietet. Dieses Hineinschnappen war zu seiner zweiten, oft als Last und Schmach empfundenen Natur geworden. Er konnte nicht einmal Geld zu seinem eignen Behagen ausgeben, etwa zu einer Kutschenfahrt durchs Toggenburg hinauf oder in einem wertvollen Buch oder bequemen Möbel. Er fühlte das peinlich, probierte öfter kleine »Verschwendungen« und fiel immer wieder rasch ins alte metallische Phlegma zurück.

Aber noch nie wie heute trieb es ihn zu einer so herzhaften Gewissenserforschung. Kam es von der Ohnmacht? Oder war er wirklich dem Tode nahe und hatte nun solche Stimmungen? Todesbesserungen nennt sie das Volk. Immer wieder musste er an den Halbfränkler des Battist Töss und an seinen Zweibätzler denken.

Das Geld, phantasierte er, rauscht bei mir zusammen wie Bäche. Ein ganzer Geldsee entsteht. Aber ich lasse niemand herzu. So ist es. Ich will alles allein haben, will meine Seele darein baden, will nichts für andere wegtröpfeln lassen und will doch einmal selig auferstehen wie unser Herr und Heiland. Aber das verdammte Geld wird mich hindern. Die Fünfliber hängen mir an Leib und Seele mit solchem Übergewicht, dass ich mich nie zu etwas Grossem, wie die Liebe es ist, aufschwingen kann. O könnt’ ich doch aus dem Gelde auferstehen!

Herr, hilf mir heraus! Es ist ein tiefes Grab, und ein rechter Felsblock deckt es zu. Ich kann ihn nicht mehr allein wegheben. Ich bin zu schwach. Schicke deinen Engel, dass er den Stein wegwälzt und ich auferstehe, o Herr!

Dem Pfarrer steht es nicht zu, mich zu foppen. Aber das Bild hat vielleicht gar nicht so unrecht, dachte Corneli. Er könnte dich einmal an der Himmelspforte abgewiesen werden wie der Kaiser vom Kirchentor, nicht wegen herzlosem Mord, aber vielleicht wegen herzloserem Geiz. Blut klebt an deinen Händen, sagte Ambrosius zum Imperator. Geh, wasch es zuerst ab! – Geld klebt an deinen Fingern, würde er zu ihm, dem Ammann, sagen. Geh, wasch zuerst diesen Schmutz von Gold und Silber ab!

Herr lass mich aus dem Gelde auferstehen, stammelte Cornelius drei-, viermal und fiel in eine neue Ohnmacht. Er kam erst vor der Kirche am frischen Osterwind zu sich und liess sich langsam heimwärts geleiten. An der Strassenkreuzung versuchte er es allein. Es ging.

»Dieses Schandbild!« lärmte Cecili voll Zorn und Tränen und schenkte ihm Kaffee mit Nidel ein. »Und dass dein Göttibub solches malt. Ist er so dumm oder so schlecht?«

»Dumm, entsetzlich dumm.«

»Dem wollen wir die Hörner schon abstossen. Künd’ ihm einfach die zweitausendeinhundert Franken für die Stickmaschine.«

»Damit wurden wir auch den braven Heli und das Mili strafen. Nein, aber die Kutteln will ich ihm gehörig waschen. Scheint’s hat er ein miserables Zeugnis heimgebracht. Lass er das Gekünstel und geh er zur Stickerzeichnung, der Tropf! Aber wie, findige Cecili, wie, noch kein einziges Osterei gefunden?«

Sie schüttelte verdrossen mit dem Haarwisch.

»So such’ in der Kammer, dort sind alle drei. Es steht ein Spezialspruch für dich darauf. Such’ nochmals, ich leg’ mich ein wenig in den Stuhl ... So gegen das alte Spinnrad hin, versuch’s einmal!«

Sobald Corneli allein war, zog er geräuschlos fünfhundert Franken aus dem obern Fach seines Kastens und steckte sie rasch wie ein Dieb zu sich. Er wusste noch nicht genau, was damit beginnen; jedenfalls etwas zur »Auferstehung aus dem Gelde«. Dann verschwand die Stube, das Geld, alles vor seinen Sinnen, und er sank, halb Ohnmacht, halb Schlaf, mit dem Kopfe ins Stuhlkissen.

Cecili nach nutzlosem Suchen fand ihn so, rückte ihn bequemer zurecht und griff, da sie dabei etwas knistern hörte, in seine Rocktasche. Sieh, sieh, fünfhundert Franken! Was will er damit? Gott, er wird mir weich wie ein Kind. Und sie nahm das Sümmlein und steckte es wieder in die gleiche Schublade. Dieses Osterei wenigstens, Schatz, lieber, hast nicht gut versteckt. Jetzt frisch daran, nun find’ ich auch die andern.


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