Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 15

»Zu Weihnachten komme ich auf ein paar Tage,« sagte Johannes, »und zeig’ euch, was ich studiert habe. In zwei Monaten schon, das geht ja wie der Wind.«

Reisefertig, in einem schmucken Überzieher und einem weichen, dunkelbraunen Filzhut stand er da. Die weissen, feinen Hände hingen lässig aus den weiten Ärmeln. Ein schwerer Mantelkragen umpolsterte seinen schlanken Mädchenhals. Die harten, grauen Augen schimmerten mit ein bisschen leichter Rührung.

Das Mili bebte den ganzen dunklen Wintermorgen vor dem Abschied. Eine sonderbar müde Starrheit lag über ihr. Aber darunter zuckte es mit tausend Flämmchen von Leidenschaft. Erst jetzt, wo die grosse Stadt ihn für lange raubte, fühlte sie, wie begünstigt sie bisher gewesen, diesen wunderlich Lieben stets um sich, unter dem gleichen Dache, am gleichen Tische gehabt zu haben. Wie wenig hab’ ich das geschätzt, ach, und sicher wie gar nicht hab’ ich’s ausgenützt! Nun sollen ihn die andern, die fremden, die fernen Menschen haben! Mir aber ist, das Haus sei ohne Glanz und Seele ohne ihn.

Ja, sie zitterte vor Schwäche und Kraft der Liebe. Wird er, der ewig Gleichgültige, jetzt, im letzten Augenblick, endlich ein Fünklein Gefühl offenbaren. Oder ist er wirklich ein Stein?

Mit welchem Fleiss hatte sie seine Hemden genäht, in seine weissen Nastücher seine J und T gestickt, seine Strümpfe gestrickt und eine Schärpe in prachtvollen Maschinenbildern für ihn vollendet. Wie einen Prinzen hatte sie ihn ausstaffiert. Jeder Stich war eine Lust, jeder ein Leid gewesen. Ach, wie wollte sie ihn so fürs ganze Leben ausrüsten, immer um ihn sein, ihn hegen und wärmen mit ihrer ganzen halb mütterlichen, halb mädchenhaften, aber immer so sehnsüchtigen Zärtlichkeit, diesen Menschen wie eine Sonne so hell und frisch, aber so kalt wie der Mond.

Allen gab Johannes leicht die Handspitze, allen lächelte er ein fröhliches Ade ins Gesicht; dann aber fuhr er mit dem kleinen Finger die schmale Nase hinunter und sagte: »Mili, begleite mich bis zur Ilge, sei so gut!«

Sei so gut! Das war ein neues Wort. Sie staunte. Fast fiel ihr das Laternchen aus der Hand. Er nahm den Handkoffer und Schirm in die linke, sie an die rechte Hand und zog das Mili so sanft regiererisch in den dunkeln Morgen hinaus. Leichte Schneekörnlein flogen herum. Es war fünf Uhr morgens und noch schwere neblige Finsternis. Mehrmals hielt sie das Blechlaternchen vor zum überweg Sehen. Aus wenigen Scheiben glomm eine Lampe. Man stand etwa zum Melken auf.

Das Mili ging widerstandslos an seiner Hand und dachte: Geschehe, was wolle, ich will nichts als Treue und Ergebenheit sein.

»Schau, dort unten tränkt der Baschi schon seine Braune!« sagte Johannes. Man hörte das Klatschen der Kuhschnauze im Brunnenwasser durch den Nebel und fror dabei.

Sie dachte: Du willst etwas anderes sagen, beeile dich! Es sind nur noch hundert Schritte bis zur Ilge. Sie schwieg und verging beinahe vor Kummer.

Ein leichter Windstoss kam, und einige dürre Blätter raschelten auf den gefrorenen Weg. »Das wird gehörig über die Uzlistrasse blasen, weisst beim Bettener Rank!«

Das Mili fühlte seinen Händedruck stärker werden. Es schwieg und dachte wieder: Etwas ganz anderes hast auf der Zunge. Heraus damit! Dabei wuchs ihr Selbstbewusstsein plötzlich empor wie ein Kamm überm Kopf. Sie streckte sich.

Er wartete. Sie sah sie grauen Atemwölklein aus seiner feinen Nase flocken. Noch fünfzig Schritte, und sicher wartet der Sigi schon an der Haustüre.

Da tauchte die hochgieblige Kaplanei auf, und oben erglomm eine Kerze. Eusebius richtete sich zur Frühmesse. Jetzt stand Johannes still, kehrte sich scharf gegen Mili und fragte: »Was ist mit dir? Du redest nicht. Schon lange bist du so still. Und man sah dich nirgends. Oft sucht’ ich dich, um ein wenig zu plaudern, aber du hattest nie Zeit. Was ist los?«

Sie hielt das Laternchen hinter sich, dass er ihr nicht ins Gesicht sehe. »Nicht einmal heute sagst du ein Wort, Mili. Meinst etwa, das sei mir egal?«

Mili hüstelte und würgte, aber brachte keine Silbe heraus.

Sie waren wieder ein Stück gelaufen. Jetzt klapperten genagelte Schuhe die untere Turmstiege zu den Glockenseilen hinauf. Das Mettglöcklein, das misstönige, fing an, durch die frostige Finsternis zu scherbeln. Aber der Ton war vertraut. Er klang wie Einladung und Gruss aus all dem Grauen in eine gastliche warme Stube hinein. Beide fühlten etwas davon. Es fehlten noch zwanzig Schritte. Man nahte der grossen Ilgenlaterne, die weit über den Platz leuchtete. Was sag’ ich nur?

O jetzt ist es zu spät! Jetzt ist alles, das ganze Leben verpasst! ... Ein ungeheurer Jammer packte sie. Das schöne, gerade, junge Weib erbebte wie eine schlanke, melancholische Birke im Föhn.

»Heb’ die Laterne hoch!« befahl Johannes weich.

Sie konnte nicht anders, sie musste das Licht heben und in sein blasses Gesicht mit den dünnen, schwarzen Sicheln von Brauen und dem Mund voll weisser, strenger Zähne sehen. Seine kleinen Augen waren voll Munterkeit. Ein Lächeln wie leiser Triumph spielte um die farblosen Lippen.

»Da hab’ ich dich!« sagte er stolz und froh zugleich. »Du hochmütiges Ding – hast es halt nun doch sagen müssen, wie du zu mir stehst ...« Schonungslos musterten und peinigten sie seine lachenden, kieselgrauen Blicke, und sie musste ihm noch die Laterne dazu halten.

»Schau, Mili, ich bin ein Fisch. Mich plagte das Blut bisher wenig. Kein Mädchen bedeutet mir viel. Ich versteh’ den Sigi nicht. Er sagt, ich sei der Nordpol und er der Äquator. Und vielleicht denkst du’s auch, ich hätte dir nie so eine rote Hitze gezeigt, wie der Sigi verspritzt, sondern nur Schnee, Schnee. Aber, Mili, horch’, wenn ich ein Mädchen lieb hab’, bist du’s. Und ich glaub’, ich pass’ zu keinem; aber wenn ich zu einem passe, bist du es allein. Ist dir das genug? Mehr kann ich nicht sagen, ‘s wär’ gelogen. Bist zufrieden?«

»Ja, ja, ja,« jubelte es aus dem schönen Mädchen.

»Dann her!« sagte er fröhlich und küsste sie auf die rechte und linke Wange und dann auf den Mund. Sie fühlte seine harten Zähne und seine frischkühle Lippe nicht, sie hatte noch keine Erfahrung, man küsste sich ja fast nie in diesem Bauerndorf. Ihr gingen alle sieben Himmel durch Leib und Seele. Sie trocknete die Augen, blies die Laterne aus und sagte fest: »Mach’, was du willst; aber ich bin nur für dich, nur für dich!«

»Schreiben werd’ ich nicht,« bemerkte Johannes. »Du weisst, wie mir das Gekritzel zuwider ist. Aber du sollst mir alle Wochen einen Brief schicken und vom Corneli und vom Pfarrer und von der Kirchgemeinde und von den Mustern und vom Heli und allem, auch vom Onkel Lustig erzählen.«

Sie nickte und zögerte und sagte plötzlich: »Aber du, Johannes, pass auf! Geh’ dem Sigi nicht nach! Du hast gestern noch gebeichtet und kommuniziert. Bleib’ gut! Geh’ in die Messe und Predigt. Hannes, um Gotteswillen, werd’ nicht wie der Sigi!«

Johannes lächelte erhaben.

»Wie könntest du die lieben Heiligen und gar den Heiland malen, wenn du ein ganz Unheiliger, Schlechter, ein Unchrist würdest!«

»Mili, hab’ keine Angst. Ich ginge schon in die Kirchen wegen den schönen Bildern und den prächtigen Szenen. Wo findet ein Maler Besseres?«

»Schon, schon, Johannes; aber doch mehr noch wegen ...«

»Ja, ja, ich bin kein Heiliger, aber noch weniger ein Heide ... Ich glaub alles leicht und gern, was ...«

»Ho, endlich!,« schrie es von der Ilgentüre her. »Sieh, auch das Milmili will mir Ade sagen. So viel Herz hätt’ ich dir gar nicht zugetraut.«

Er stülpte den köstlichen Astrachankragen über Hals und Kinn auf, knüpfte den Mantel oben fest und sagte zum Hausknecht: »Nimm auch die Tasche des Johannes und geh’ uns voraus, hop, hop! ... Mein Geizkragen von Vater will mir nicht einmal den Einspänner geben. Abhärten, sagt er, abhärten! Und derweil schnarcht er noch dort oben!«

Mili hatte schweigen wollen. Aber der letzte Satz empörte sie zu sehr, und auch die grünen frechen Blicke, womit er sie im leichten Küchenkleid, nur mit dem Schultertuch überschlagen, musterte, ärgerten sie heillos.

»Du hast recht, so viel Herz hab’ ich nicht. Den Johannes hab’ ich begleitet.«

Sigi knickte die Nase ein. Fast spöttisch sah er auf Johannes. Das chinesische Pagodendach schwoll auf, indem er mit seinen nassen, gelben Zähnen langsam buchstabierte: »Ja, ja, Schwesterliebe! Fein, ich ziehe den Hut.«

Johannes lächelte sein gefrorenes Lächeln auch über den Sigi herunter. Aber dann tat er etwas Tapferes, ja, Entscheidendes. Er umfing mit beiden Armen genau unter der grossen Ilgenplatzlaterne seine schlanke Jungfer, presste sie an sich und küsste sie nochmals herzhaft auf den Mund. Und im gleichen Augenblick hörte man in der ganz nahen Kirche das Schellchen zur Opferung bei der Frühmesse klingeln.

»Jetzt lauf’ und wärm’ dich nochmals im Bett, Schätzchen!« sagte er kurz. »Lebwohl!«

Sigi, wie ein junger Tantalus, wand sich hin und her und zog Blut aus den Zähnen. Mili verschwand im Dunkel.

»War das der Bruder oder der Bräutigam?« fragte er wie im Spass und spuckte aus.

»Ich weiss es nicht,« versetzte Johannes sorglos. »Aber schau, du spuckst Blut.«

»Komm, komm!« drängte Sigi. »Und was machte es, wenn ich das Herz ausspuckte!«

Kaum waren die Jünglinge ums Strasseneck gebogen, so tauchte das Mili mit der verlöschten Laterne, aber einer frisch lodernden Seele aus dem Hintergässchen hervor und wollte in die Kirche. Aber ihm schien, es flüstere und rufe etwas seinen Namen durch den Nebel. Wahrhaft, aus einer kleinen Scheibe guckte Bas’ Ida hervor. Sie hatte ihren Liebling bis zur letzten Sekunde von ihrem Fenster aus verfolgt.

»Bet’ für beide, Kind! Bet’ für meinen Sigi auch! Wenigstens das tu’ ihm zu lieb!«

Mili nickte. – Es trat in die finstere Kirche. Weit vorne war eine kleine Helligkeit von zwei Kerzen. Dort, nahe dem Altar, knieten acht bis zehn Gestalten, darunter die Marianne und die Peregrina. Der Kaplan in weissen Gewändern wandte sich eben zur Epistelseite, und der Ministrant begoss ihm die Finger aus der Kanne. Lavabo inter innocentes manus meas! hörte man ihn beten.

O diese heilige Stille, diese fromme, tiefe Schattigkeit, dieser Duft von Wachs und Weihrauch und hundertjähriger Andacht. Auf einmal versank vor Milis Seele alles, was draussen ist, es fühlte nur Friede und Frische über sich kommen, dünkte sich unglaublich stark und frei und hörte nur immer: Lavabo ... ich will meine Hände unter den Unschuldigen waschen.

Und sie sah wie ein Kind ihre Hände an, und sie schienen ihr weiss, und die Hände des Johannes waren weiss und die der Siria und ... und ... o Freude! ... Sie sah nur weisse Hände, nur Unschuld und nichts anderes, wo weit sie blickte. O wie gut ist Gott, dachte sie, und wie macht er alle und alles gut!

Es flockte und rieselte vom grauen Himmel, als wollte es mahnen: passt doch auf, ihr Schelme, es wird nun wirklich ohne Spass Winter. Wohl glich es eher einem starken Reif und übersäete nur leichthin den Boden. Aber es war genug, um allen Herbstleichtsinn fahren zu lassen und schwere Bündel Reisig in die mächtigen Kachelöfen zu stossen.

An einem solchen Tag besuchte Carl das Marei des Sigrist Spätzli, dem die Grippe eine langwierige Kopfkrankheit angeworfen hatte. Da stiess er auf Siria. Sie wusch gerade dem achtjährigen Kind Hals und Kopf mit Essigwasser ab und sang dazu in welschen, und wie Carl dünkte, liederlichen Weisen. Aber Marei, das sonst schrie und ausschlug, hielt beim süssen Alt dieser Frau ohne Mucks her. Die Sigristenleute waren im Tenn beschäftigt.

Als die ungeheure Figur des Pfarrers so plötzlich das halbe Stüblein füllte, stiess Siria unbewusst einen leisen Schrei aus und schlug die Augen nieder.

Sie schleicht sich mit Lumpenliedern in die Familien und er spielt zum Tanz auf und beide ärgern mir das Dorf tödlich, dachte er. Sieh, sieh, wie die Sünderin zusammenknickt!

»Ihr fürchtet mich! Habt Ihr so ein böses Gewissen?«

»Ja, ich fürchte Sie!« sagte das Weib leise und hob den Kopf. Das Kind fing an zu strampeln. Sogleich wusch Siria sanft mit dem lauen Schwamm über den kahlen Kopf der Kleinen und diese ward getröstet.

»Darf ich wissen warum?«

Das grobe und doch so weiche Gesicht Sirias wurde feierlich. Langsam, das Kind immer mild streichelnd, sagte sie fast singend: »Ich kam ins Dorf, eine müde Bettlerin, schwanger und elend zum Sterben. Und Sie vergassen, dass Einer sagte: kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, und ich will euch erquicken! Sie vergassen, dass er sagte: alle, – und Sie donnerten mich zu Boden. Um Ihretwillen läg’ ich vielleicht dort tot im Gras. So einen Priester fürchte ich!«

Carl riss am Kragen und fuhr durchs starre Haar. Ein Schwindel überlief ihn. Er öffnete das Fensterchen und setzte sich davor auf einen Schnitztrog.

»Sing, sing,« lallte das Kind und wollte wieder heftig werden.

»So singt doch Euer Gewelsch,« murrte der Pfarrer, nur um sich zu regen. Das Wort der Frau hatte ihn wie eine Keule getroffen.

Sie sang wieder. Überaus eitel und lustig. So mag sie im Varietee geknickst und halbnackt herumgewirbelt und geträllert haben, vor Buben wie der Schül und der Sigi. Carl wollte antworten, er sei damals in einer heiligen Empörung gewesen, habe nur an den Skandal gedacht und so ihr grosses Weh nicht bemerkt. Das tue ihm leid, alle Not sei ihm heilig. Aber als ihr Lied nun Hihihi und Hehehe machte und sie dazu einen Takt mit dem Absatz klopfte, entschlug er sich aller Entschuldigung und fragte nur: »Und die Sünde fürchtet Ihr nicht? wie? die Sünde?«

Siria sah ihn an, besann sich und sagte ernst: »Wenn Sie mir die Sünde zeigen und wenn sie so etwas Hartes und Schwarzes ist, wie Sie da, Herr Pfarrer, dann fürcht’ ich sie.«

»Habt Ihr denn noch keine Sünde gesehen?«

»Ich glaube nicht. Aber ja, als Sie auf uns Arme damals loszogen, das muss eine bittere Sünde gewesen sein.«

Das Marei schrie wild auf, verzog greulich den Mund und schäumte ... Ganz blau wurde sein Gesichtlein. Es hielt den Atem zum Ersticken an. »Da kommt der Krampf, wenn man nicht singt,« sagte Siria.

»Aber nicht solche Hudelei. Ich will singen,« sagte Carl und rief zum Kind: »Pass auf, Marei, jetzt sing’ ich dir etwas anderes, Marei, hör’!«

Er begann, so leise er konnte, seinen Liebling, den Choral des dreimaligen Sanctus zu singen. Aber seine grosse Stimme und diese kleine Kammer! Und seine stürmische Begeisterung, sobald er die heiligen Sänge anhob! Er sah Altar, Kirche, Orgel, die Scharen der Engel und Erzengel, die das Lob des Lammes in auf- und niedersteigenden Chören zu Harfe und Zimbel sangen, und seine Stimme schwoll an für einen Dom und überfüllte das Kämmerlein und sprengte fast die Wände, und erschreckt und entsetzt focht das Marei mit den Armen, rieb die Zähne aufeinander, sträusste die kleinen Ohren und überschrie zuletzt noch den ungeheuren Bass in wahnsinnig schrillen Tönen.

Sofort brach der Pfarrer ab. Unwillig blickte er auf das irre Kind. Aber da war nichts zu machen. Es krümmte sich schauerlich in Delirien.

»So singt doch, singt, sonst gibt der Wurm nicht Ruh’!« gebot er hastig.

Wieder begann der süsse Alt. So singt tiefes, klares Wasser im Fels. Ach, wie das Kind sogleich stumm wurde und lächelte. Das kann doch kein Lumpenlied sein. Schade um diese Stimme! Welch ein Ave Maria oder Agnus Dei würde das!

Nach einer Strophe wollte Siria abbrechen.

»Singt nur fertig!« brummte Carolus.

»Aber Sie hören es nicht gern,« wandte Siria ein.

»Ist’s ein gemeines Schangson?« fragte Carl. »Ich verstehe dieses sonderbare Gassenhauer-Französisch nicht.«

»‘s ist ein Liebeslied, glaub’ ich; aber ich merk’ so wenig davon als das Kind da. Mir ist der Klang alles.« Und voller und lauter hob sie eine neue Strophe an, dass es wundervoll durch diese Enge wogte, und die novembergraue Stube schien davon lenzlich aufzuhellen.

So sang die Frau das Mädchen in Schlaf und legte es mit dem kranken Haupt auf ein Kissen voll kühler Huflattichblätter. Der Pfarrer war ganz in Gedanken versunken. Endlich richtete er sich auf und fragte viel ruhiger: »Was habt Ihr eigentlich für ein Bekenntnis?«

»Wie meinen Sie?«

»Ich meine, in was für einer Konfession seid Ihr erzogen?«

»Meine Eltern waren Protestanten, aber ich ward bald Waise und kam zu Leuten, die sagten, es gebe vielleicht weit, weit weg einen Gott, aber jedenfalls keine Kirchen Gottes. Die seien von Menschen fabriziert. Vielleicht auch der Herrgott selbst sei von Menschen fabriziert. Die Menschheit sei schon gar alt und immer schlau gewesen.«

Carl hätte am liebsten vor solcher Lästerung die Ohren verhalten. Aber darf man das? Wie gerne tät man’s oft im Beichtstuhl auch. Man darf nicht. Man muss klar sehen, sogar um den grössten Dreck herum.

»Und Ihr?«

»An einen Gott hab’ ich immer geglaubt. Den hat mir niemand nehmen können. Und er hat mir oft geholfen; zuletzt, als der Schül mich mit seiner Jacke wärmte und vor den Grobianen schützte. Damals war ich am Verzweifeln.«

»Und der Julius? Glaubt der noch an Gott?«

»Nicht immer, aber doch oft.«

»Was heisst nun wieder das?«

»Für gewöhnlich denkt er an keinen Herrgott und lacht mich aus, wenn ich davon spreche. Aber manchmal tut er etwas sehr Gutes; dann ist er wie ein reines Kind und sagt selbst: Das hat mir Gott eingegeben. – Sehen Sie! Und besonders wenn er einmal lieb ist und abends daheim bleibt und die Geige im Dunkel spielt. Ich sage Ihnen, dann glaubt er an Gott. Ich denke, niemand betet schöner als er dann mit dem Bogen. Und an solchen Abenden ist er ein gang anderer, macht Pläne zum Arbeiten und rührt kein Glas an. Dann sag’ ich immer: Der Finger Gottes hat dich angerührt. Und er: Gut fühl’ ich’s; dass er nur nicht mehr von mir lasse! – So ist es mit Schül.«

»Ihr helft da unsern Kranken, und Kopfwaschen und Salben und Verbinden könnt Ihr gewiss gut. Aber das ist nicht alles. Könnt Ihr auch beten? Das hilft über alle Arznei.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nicht einmal das Vaterunser?«

»Nein.«

Carolus wurde nicht mehr zornig. Ratlos irrten seine blauen, grossen Augen über dieses rätselhafte Weib. Nicht einmal das ABG des Christentums kann es auswendig. Und doch und doch hat es den Glauben an Gott und viel Gnade bewahrt.

»Wenn Ihr nicht betet, nützt Ihr wenig bei den Kranken. Was nützt es, einen Gott zu haben, wenn ich nie zu ihm komme? Im Beten bin ich bei ihm, ganz warm und eng an seinem Knie. Habt Ihr Papier ... Da liegt auch nirgends ein Fetzen.« Er nahm das Brevier aus der Tasche. »Auch da nicht. Aber ich muss Euch das Vaterunser aufschreiben. Ihr werdet sehen, wie herrliche Musik das hat.« Damit riss er in der Hast ein Blattbild aus dem Buch und schrieb unter lautem Nachsprechen: »Vater unser ... sehet, es gibt keine Waisen! – der du bist im Himmel – passet auf, Frau Siria! – geheiliget werde dein Name. Zu uns komme dein Reich ... dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden – Passet auf! – Gib uns heute unser täglich Brot ... und vergib uns unsere Schulden ...«

»Hören Sie das, hören Sie es!« rief jetzt ihrerseits die aufmerksame Horcherin.

»wie auch wir vergeben unsern Schuldnern ... und führe uns nicht in Versuchung – seht, das habt Ihr nicht beachtet! – sondern erlöse uns von dem Übel. Amen.«

Siria hatte die Hände gefaltet im Lauschen. »O ja, das ist gross und viel und schön,« gestand sie tief aufatmend. »Aber schwer! Geben Sie mir das Blatt! Schon morgen kann ich’s auswendig.« Sie nahm das Papier und küsste es dankbar.

»Auswendig, ja. Aber später müssen wir es inwendig können. Und das ist viel schwerer. Denkt einmal: unser Will und Gottes Wille, fast immer stehen sie ein bisschen quer; bis wir das Nachgeben recht verstehen, das Nachgeben!« – Er schlug an seine Brust.

Siria begann den Pfarrer schon mit einer gewissen Vertraulichkeit zu betrachten.

»Im Vaterunser werden wir uns vielleicht finden und verstehen, Frau Siria,« begann Carolus wieder. »Aber es hat noch viele Haken. Um eines bitt’ ich heut, wenn Ihr wirklich brav sein wollt: helft mir gegen den Julius und seine Tanzmusik.«

Als Siria verblüfft aufblickte, erklärte Carl, wie viel Unruhe und Unordnung dieses Tanzen in den bisherigen Dorffrieden bringe; wie es dabei zu Trinkereien, Eifersucht und Schlägereien und zu masslosen Eitelkeiten und Leidenschaften komme. Es sei wie mit dem Rauchen, solange es niemand versuche, entbehre er es nicht. Siria müsse am besten wissen, ob das Tanzen eigentlich froh mache. Und dabei sei es in der Stadt vielleicht noch eher eine gesellschaftliche Notwendigkeit; aber im braven, stillen, sonntagsfrohen Dorf! Und von einer Kunst, einer Anmut und klassischen Bildung des Tanzes wäre hier ohnedies keine Rede. Es sei kein Tanzen, es sei ein holperiges, brutales, nervenaufpeitschendes Holdrio, ein wildes Getrampel und Gedränge in Staub und Schweiss und Alkohol und ein tolles Geldvertun und sich den süssen Geschmack und die Heimeligkeit der Stube Verderben. Das! Darum bitt’ ...

Carl brauchte nicht weiter zu reden. Seine Gründe wogen ihr schwer genug, ganz abgesehen von den persönlichen, die sie als Frau ihres lieben Julius haben musste. Die Gewöhnung an ein Heim ward so unmöglich, betrunken kam er immer heim und hüstelte dann viele Tage trocken und heiser von der Lunge herauf.

Sie wolle dem Pfarrer einen Beweis geben, wie ehrlich sie es meine. Morgen, am Samstag abend, solle im Löwen von Schwarzenboden, das zu Lustigern gehört, grossartig gehopst werden. Schül gehe schon nachmittags hinunter. Abends um die Acht beginne man. Da solle er, der Gewaltige, der Furchtbare, so eine, zwei Stunden nach Beginn hinten, von den Thurwiesen her, ins Haus und Getümmel brechen, und mit der ganzen Wucht seines Amtes und seiner Gründe das wüste Fest auseinandertreiben. Und wenn er dem lieben, aber, ach, so schwachen Schül einen besonders starken Klaps versetze, so sei sie für sich und für ihn und für die ganze Zukunft dankbar und wolle nicht bloss das Vaterunser, sondern auch das Ave Maria und noch viele schöne Gebete lernen und sich und andern gelehrigen Ohren vortragen.

Da sind Ansätze zum Guten, dachte Carl. Diese verirrte Seele werde ich gewiss gewinnen. Er segnete das Kind, reichte Siria die Hand und sagte: »Nicht wahr, wir verstehen uns schon viel besser? Ihr fürchtet mich nicht mehr!«

»Noch ein wenig!«

Carl lächelte. »Wir sehen uns bald wieder. Ich will für Euch beten. Das hat bisher gefehlt.«

»Ich verstehe nicht.«

»Niemand hat für Euch gebetet und Ihr selbst auch nicht.«

»Was sagen Sie, niemand?« fuhr die Frau stolz auf. »Haben wir denn nicht ein Engelchen da oben? Der Christofli? der geradeswegs von der Taufe in den Himmel geflogen ist. O für mich und für den Schül wird stark gebetet. Vielleicht, o ja gewiss, betet das Kind auch für Sie, wenn Sie es schon nicht getauft haben. Engel verzeihen alles.«

Der Pfarrer wusste darauf nichts zu erwidern. Langsam schritt er dem Pfarrhof zu. Aber an jenem Abend trug das Mili der Siria einen Korb voll Äpfel und Kartoffeln, einen Butterballen, zwei dicke Speckflanken und eine geblumte Schachtel voll Schwarztee nebst Zucker und Zitronen vor den Stuhl und die besten Grüsse vom Pfarrer und – langsam zog sie es aus der Bluse hervor – ein kleines, ledergebundenes Gebetbüchlein, mit farbigen Stichen und den üblichen Andachten. Sie möge, habe der Pfarrer gesagt, darin ein bisschen buchstabieren.

»Buchstabieren,« wiederholten die zwei Frauen und sahen sich fragend an und mussten sich hell und heilig ins Gesicht lachen. – Was kann der düsterste November noch für heitere Abende hervorbringen!


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