Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 20

»Sie heissen also Ambrosia?« schrieb Johannes auf den Zettel, als das »Schulkind«, wie er das Mädchen fast verächtlich benamste, sich die Augen getrocknet hatte.

Sie lachte auf und schüttelte ein energisches Nein.

»Wie denn?«

Sie nahm den Bleistift und schrieb: »Loreley.«

»Wollen Sie mich naren?«

»Ich lüge nie!«

Gut, warum soll sie nicht Loreley heissen können. Er wusste eine Weile nichts mehr zu sagen. Es wurde ihm unbehaglich. Dabei fühlte er wohl, wie sie ihn unablässig betrachtete. Endlich schrieb sie: »Haben Sie Ihren Freund sehr lieb?«

Sogleich wollte Johannes antworten. Aber da stutzte er, kaute am Stift und legte ihn wieder weg.

Loreley stampfte mit den Füssen.

Lustig und kühl musterte er ihr cholerisches Gesichtlein und hob einen spassigen Drohfinger.

»Bitte, sagen Sie,« schrieb das Mädchen jetzt.

»Er ist furchtbar kurtzweilig und gescheit,« antwortete Johannes, »drum komm’ ich gern zu ihm. Auch sind wir Gespanen vom gleichen Dorf; sonst ...« Er durchstrich das »sonst« wieder.

Aber dieses »sonst« gefiel ihr. Sie wurde aufgeräumt. Auch seine Schreibfehler gefielen ihr. »kurtzweilig«, »naren«. Sie fing an, auf dem Papier sich ordentlich auszuplaudern. Dem Sigi sei sie dankbar, aber sie könnte ihn leichter hassen als lieben. Sie wolle aus dieser Bude fort, ehe er zurückkomme. Sie sei ja nicht arm, mit dreitausend verzinslichen Franken und einem hübschen Zimmer und so flinken Fingern. Sie schreibe »elend« schnell auf der Maschine. Ob er keine Schreiberin brauche? Warum er so weit von ihr wegrücke? Ob er dem Sigi glaube, dass sie beisse? Sie beisse nicht, wenn man sie zuerst nicht beisse. Ob er sie für ein schlechtes Mädchen halte? Er sehe so furchtbar sauber aus, wie Schnee, so weiss und so kalt. Ob er sie also für eine Dirne halte? Dann springe sie auf der Stelle zur Stube hinaus. Ein ehrliches Mädchen wolle sie sein. Aber je mehr sie es wolle, um so mehr mache man es ihr schwer.

Sie erzählte so eifrig, als hätte sie zu viel Wein genossen. In ihrem Zimmer könne sie einstweilen nicht übernachten. Aber sie habe einen hübschen Plan. Ihre grauen Augen funkelten vor schlauer Freude. Sie wollten morgen mittag zusammen hingehen. Sie hole dort das Nötigste und tausche dann mit ihm die Bude, bis ihre Sache in Ordnung sei. Ob er wolle? Es sei eine sehr schöne Kammer, sehr hell, zum Malen und Zeichnen gewiss bequem, und habe einen langen schweren Eichentisch und drei grosse Spiegel. Sie zeichne auch etwa.

Das ist ja ganz lustig, meinte Johannes. Warum sollt’ ich nicht? – Er überhörte das vom Zeichnen.

Die Wirtin brachte das Essen und fragte mit einem verschmitzten Lächeln, ob sie das Sofa zum Schlafen zurichten solle. Sobald aber das »Kind« erzürnt zum Bleistift griff, erinnerte sie sich, dass es ja kein Wort reden und keinen Sterbenslaut hören könne, also eine unglückliche, einsame Seele mitten im lustigen Tag sei, und da schwand sofort das Lächeln, ihre Augen wurden mütterlich weich, und sie legte beruhigend ihre fette Hand auf die Hand des Mädchens. »Ich habe nichts Arges gesagt, liebes Kind, lass, lass die Feder! Man kann doch lachen, ohne etwas Böses zu denken? oder, Herr ... Herr ...«

»Täler,« ergänzte Johannes. »Ja, uns dürft Ihr schon trauen. Das Jüngferchen bleibt vielleicht gar nicht hier über Nacht.«

»Keine Rede, es soll bleiben. Was will der arme Gof jetzt bei solchem Wetter weg? Hat er noch nicht genug? Mich stören Sie gar nicht. O nein, ich traue gut. Ich kann auch noch unterscheiden zwischen jungen Leuten und jungen Leuten. Wozu hat man Augen im Kopf? Und seit dreissig Jahren Pensionäre!«

Das Mädchen hielt ihr den Zettel hin. Sie nahm das Blatt und riss es unbesehen in vier Stücke. Dann ging sie fröhlich brummend davon.

Es war halb Acht, und der Wind rüttelte an den Flügelchen des uralten Bürgerhauses. Sie traten auf den kleinen Balkon hinaus und jauchzten beinahe auf. Der Himmel war gesäubert, der Mond warf ein unruhiges, windbewegtes Licht über die dunkle Limmat, die jenseitigen Häuser und über die zwei Kirchtürme, deren Zifferblätter drüben hell aufbrannten. Gerade unter ihnen flossen die Tramschienen wie eitel Silber und rutschte jetzt ein Wagen daher wie eine goldene Stube. Er war trotz der Nachtessenszeit ganz voll von Leuten. Alle hatten Pakete, Schachteln, Tüten in der Hand, alle wollten schenken und beschenkt werden. Denn übermorgen war Weihnachtsabend. Auch Tännchen wurden herumgetragen. Bis ans Geländer des Flusses wimmelte es von Leuten. Die Limmat selbst schien nichts als ein unzählbares funkelndes Hüpfen zu sein. Das erglomm und verglomm in der Sekunde hunderttausendmal und spritzte und funkte ein paar Sprünge weiter unten aufs neue auf. Durch den heftigen Wind klingelte und läutete es und schellte und schlug die Viertelstunden, dass man festlichen Sinnes werden musste und Johannes die Loreley an der Hand nahm und sagte: »Kommen Sie, Fräulein, wir machen einen Spaziergang in meine Bude. Wir können doch nicht hier vertrocknen.«

Sie verstand ihn sogleich, schlug freudig ihre Blicke zu ihm auf und schlüpfte in seinen Arm.

So war er noch nie mit einem Mädchen gegangen. Denn was man im Tanzkurs tat, geschah aus Höflichkeit und Schule. Dies hier war volle Freiheit. Er spürte den Mann in sich, den Adam, der die vielen Even zu führen und zu stützen hat. Eine gewisse süsse Wichtigkeit hob ihm die Beine und liess ihn überlegen über das Jüngferchen und selbst über viele hohe Damen und Herren hinwegblicken. Man hat diesen Augenblick nur einmal im Leben, warum soll man ihn nicht übertreiben?

Als Loreley die kleine, aber heimelige Bude des Johannes betrat, klatschte sie vor Freude. O die gefiel ihr! Da sah alles so gesichert aus! Sie ging sogleich ans Fenster; es sah steil und unangreifbar in die Strasse hinunter. Dann untersuchte sie die Türe, ob man gut verriegeln könne. Erst jetzt stand sie vor den Spiegel hin und drückte, wie jedesmal, mit dem Zeigefinger ihre Nasenspitze einwärts, da sie bangte, es wolle sich da immer noch ein Gipfelchen herausbilden.

Er ging nun mit der Lampe an den Wänden entlang, wo er seine Zeichnungen und Farbenskizzen aufgeheftet hatte. Da schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und tupfte mit dem Finger gegen ihn: Sie? Sie haben das gemacht? – Er nickte. Und auf einmal gefielen ihm alle diese Köpfe, Landschaften, Blumen wieder, obwohl sie bei seinen Professoren so wenig galten. Ja, die Schule hatte ihn klein gemacht. Da war er nicht mehr das Genie von Lustigern, sondern im Erfinden vielleicht der ärmste Schüler, im Nachgestalten der geistloseste, nur in der mechanischen Genauigkeit trefflich. Aber gerade dieses »Schneiderhandwerk« war verpönt. Der eine Lehrer hatte ihm gleich geraten, sich aufs Formale der Kunst, etwa aufs Ornament zu verlegen. Alles andere sei für ihn wie auf einer Stange reiten wollen.

Aber Johannes war eine jener trockenen, engen, selbstbewussten Naturen, die schwer von aussen etwas annehmen. Es hätte ihm doch zu denken geben müssen, dass der kluge Corneli, dann der Sigi und selbst das Mili verstohlen die gleiche Ansicht über sein Talent hegten wie jetzt die Professoren. Aber kopieren konnte niemand so rasch und sicher wie er, selbst von der Natur. Das war wirklich die Kuh, das war der Apollo, das war der Botticelli-Engel. Nur frass viele Kuh kein Gras mehr, jener Apollo konnte nicht spielen und jener Engel nicht fliegen. Doch gewöhnliche Augen sehen das nicht. Und die gewöhnlichsten Augen waren die des Johannes selber. Er war schnell zufrieden. Wenn es nur stimmte, wie er es sah!

Er liess also die Lehrer nörgeln. Wusste er doch, dass einige der grössten Künstler als geradezu unbrauchbar aus den Schulen gestossen worden waren. Wenn er hier nur die Technik lernte. Den weitern Weg wird er sich dann schon machen.

Immerhin beleidigte und ärgerte ihn die stete Kritik seiner Arbeiten. Er entschädigte sich dann im Herzen dafür, indem er auf seiner Bude die Meisterwerke der Alten durchblätterte und eines davon exakt und sauber auf sein Blatt zeichnete. Er besass schon ein ganze Album davon. Besonders gross hatte er des Paul Rubens Ambrosius auf Karton gezeichnet. Und vor diesem stand die Loreley nun staunend still, den kleinen Mund halb offen und den weissen Zahn weit vorgestellt. Dieser abwehrende bischöfliche Greis, dieser fragend und flehend gebückte Kaiser, diese Höflinge, so nutzlos und hilflos daneben, die stillen, zeremoniösen Priester, der unwissende Ministrant mit seiner gewaltigen Kerze. Da musste etwas Gewaltiges geschehen. Das Mädchen zog Papier und Stift aus dem Täschchen. »Der Bischof Ambrosius lässt den Kaiser nicht in die Kirche treten,« schrieb Johannes ungern, »weil er einen grossen Mord begangen und noch nicht gebüsst hat.« Loreley sann über die Worte nach und nickte ernsthaft. Plötzlich warf sie sich auf Johannes, umfing ihn mit beiden Armen und küsste ihn gewaltig auf den Mund. Ihre grauen Augen schwammen vor Entzücken.

Johannes lächelte verlegen und zeigte ihr hastig andere Bilder. Er war nicht mehr ganz kühl. Besonders gefiel ihr noch Dürers Jesuskind mit Augen voll herrlicher Gescheitheit und mit der Erdkugel in der Hand. Sogleich schrieb sie: »Wann ist Weihnachten?« – »Übermorgen.« – »Hattet Ihr daheim ein Bäumchen?« – »Ja.« Sie lächelte überaus zufrieden.

Sie sassen aufs Sofa, er rauchte eine Zigarette und bot ihr Biskuit aus einer Blechbüchse. Es fiel ihm nicht ein, dass Mili dieses Backwerk eigenhändig bereitet und ihm gestern als Weihnachtsgruss geschickt hatte. Er stopfte dem »Schulkind« Stück um Stück in den Mund, nahm schliesslich den Bleistift und zeichnete es im Profil ab. Das gefiel ihr jetzt am wenigsten. Aber sie sagte nichts. Sie glaubte ihm bereits mehr als sich selbst.

Sie wollte nun schon heute hier schlafen. Gut! Um elf Uhr verliess er sie, ganz erwärmt von ihrem seltsamen, wilden Wesen, und gab ihr auf der Schwelle, da sie darauf zu warten schien, einen raschen Kuss. Dann zügelten sie am nächsten Mittag das Nötigste aus Lorlis Stube und schlossen diese ab. Am Abend holte er sie aus dem Bureau. Aber am Weihnachtsvorabend bekam sie um drei Uhr frei und erwartete ihn um die Fünfe hier in seiner kleinen Bude.

Als er eintrat, funkelte ihm mit vielen roten und gelben Wachskerzlein ein kleiner Christbaum entgegen. Nüsse und Bauernäpfel hingen daran. Auf dem Wipfel schwebte ein Stern. Unten am Stamme sass eine Maria aus Wachs und wiegte das heilige Kind, während Joseph seinem Maultier Futter vorwarf. Neben dem Bäumchen sass Lorli, so hatten sie den kostbaren Namen bereits verbilligt, sass da in einem weissen Kleid, mit einem blauen Band um die Stirne, wie ein Christkind, und hielt ein wollenes Lämmchen auf dem Schoss.

Johannes schwankte zwischen Staunen und leisem Lachen. Er fühlte sein Dorf. Genau so machte man es daheim. Aber dieses seltsame Christkind, wie wichtig es ihn anschaute! Und das gelbwollene Lämmchen. Eine rührende Einfalt; aber er konnte nicht anders, es verzog ihm die Lippen zu einem gutmütigen Spott.

Aber jetzt nahm das »Schulkind« das Schäfchen, schaute Johannes fest und gross an, ob er es auch sehe, und rückte mit dem zottigen Tiere zur Muttergottes unter den Baum, liess es neben der heiligen Frau so stehen, dass sein wolliger Kopf dem Jesuskind an die Füsschen reichte. Das Lämmchen schien die göttlichen Sohlen küssen und wärmen, aber sich zugleich unter ihren Schutz begeben zu wollen. Ja, es wusste sich nicht nahe genug anzuschmiegen. Und immer fragten Lorlis Augen den Johannes: Siehst du? Verstehst du? – Es war kein Spiel, sie meinte etwas furchtbar Ernstes, das merkte nun auch er, und sein Scherz erlosch.

Unbehaglich, aber neugierig blieb er vor ihr stehen. Lorlis Augen fingen an zu bitten Hub gleichsam nach etwas von ihm zu dürsten. Aber nicht nach einem Kusse. Schliesslich wurden ihre Blicke schwer und traurig und ungeduldig, weil er gar nicht begriff. Sie zeigte auf das Lamm und dann auf sich. Sie, sie selbst sei das Jesus suchende Tierchen.

Jetzt auf einmal packte es ihn; genau wie beim Tode des Marx. Wieder einmal stiess ein besseres tieferes Gefühl durch seine Oberflächlichkeit hindurch und rührte an etwas Geheimem, was selbst Menschen, die wie Schaufenster sind, in sich bergen. Ach ja, so ein verschupftes Geschöpf war sie und suchte Schirm und fand ihn nirgends als allendlich unter diesem heiligen Bäumchen.

Er wollte sich zu ihr setzen. Aber sie ergriff ihn rasch am Arm und führte ihn ans Tischchen vor dem Sofa, das seitlings vom Baume stand. Da prunkten eine Flasche Macon, schon entkorkt, und daneben eine Kristallplatte mit vier spitzen Kelchen und die Flasche mit Milis Hörnli. An der Flasche aufgestellt war der Dürersche Jesusknabe. Daneben lag ein dünnes Heftchen mit der Aufschrift: Übungen. In einem Teller lagen Zündhölzchen und englische Zigaretten.

»Welch ein Mütterlein!« spasste er und wollte es aufs Papier schreiben. Aber sie zerrte unwillig an seinem Arm. Sie hatte ihn ungefähr verstanden. Sie konnte vieles von den Lippen und Augen lesen, sobald sie die Sprechenden besser kannte. Nicht so sollte er reden.

Sie füllte die Gläser, stiess mit ihm an, trank einen grossen Schluck und zeigte ihm das Heft. »Das Schäfchen der Christnacht,« hiess der Aufsatz. »Abgeschrieben für mein liebes Ding da, das Lorli Guerazzi, von Bertha Brunner. – Denk daran!« Das war ihre Pflegmutter, die zwei Jahre lang das verwahrloste Kind betreute und auf saubere Wege führte. Guerazzi! Also italienisches Blut! Darum dieses sonderbare Zeug, dachte er, das mir so gegen die Toggenburgernerven geht! Und mich doch so eigen bezaubert, musste er wider Willen zugeben.

Sie schlückelten wieder, assen Hörnli und es rann warm in ihre jungen Leiber. Johannes wollte die Türe riegeln, da man im Gang lärmen hörte, um recht ungestört zu sein. Aber sie zog ihn aufs Sofa zurück. Ab und zu sah Lorli nach dem Schäfchen, ob es noch dort an den Sohlen des Himmelsknaben hafte. Dann blätterte sie im Hefte, und er sah, dass die kurze Legende vom Christnachtschäfchen nun noch zweimal folgte, aber von Lorlis Hand abgeschrieben.

»Wollen wir es lesen?« fragte sie.

»Ich tue, was du willst,« sagte er und lehnte sich brüderlich an sie, genau wie er’s abends daheim beim Mili gewohnt war. Sie strickte dann am äussersten Ende der Fensterbank und er lag halb darüber und lehnte sich an ihre Achsel, so dass sie fast nicht mehr mit dem Garn ausholen konnte und es doch so gerne, ach, so gerne litt.

Auch Lorli duldete es. Aber die Mädchenhafte Sinnlichkeit von gestern und vorgestern, wenn es überhaupt das gewesen war, schien durchaus verflogen. Wie eine ernst Schwester oder eine junge noch ernstere Mutter gebärdete sich dieser Knopf von einem Weibe. Sie überschaute nochmals das funkelnde Zimmerchen mit der Gruppe unter dem Baum. »Ihr freund hat mir erzählt, dass ihr daheim es so macht; und dass man dann etwas Gutes isst und trinkt und dass du den roten französischen Wein gern hast. Aber das ist Nebensache,« schrieb sie. »Jetzt kommt die Hauptsache.« Sie bot ihm das Heft hin, er solle das Geschichtlein laut vorlesen! Mit einem gewissen Takt wählte er nicht die erste, deutlichste, sondern Lorlis letzte, etwas flüchtige Abschrift. Sogleich schrieb sie. »Ich war dumm, die Legende langweilte mich, aber jetzt ...«

Er legte den Arm leicht über sie und neigte sich mit dem Kopfe zu ihr, hielt das Heft nahe und wollte beginnen, als es an die Türe klopfte und fast gleichzeitig geöffnet wurde. Sigi trat ein, hinter ihm unsicher das Mili und zuletzt Schül Täler mit dem grünen Geigensack.

Johannes blieb wie versteinert sitzen. Aber auch die Ankömmlinge standen wie angenagelt still. Nur die Augen Lorlis flatterten gleich zwei grossen grauen Schmetterlingen von Gesicht zu Gesicht und hafteten zuletzt auf der totenbleichen wunderhübschen Jungfer im schwarzen Mantel und schwarzen Spitzentuch um den Kopf, die so steif dastand und ihr mit so düsteren Augen begegnete. Und diese Taubstumme verstand allein sogleich die ganze Lage.

Zuerst fasste sich Schül. Mit lustigen Augen und erhobenem Finger trat er herbei, nahm Johannes’ Hand und sagte: »Ja, ja, Hänsli, wir sind vom gleichen Dreck gemacht.« Und er griff behend nach Lorlis Hand und küsste sie. »Aber ein charmanter Besen, ich gratuliere.«

Im selben Augenblick schoss Johannes auf, es blitzte, klatschte, Schül strauchelte beinahe, glotzte mit tränenden Augen den Johannes an, ob es möglich sei ... und fuhr mit der Hand an die geohrfeigte Wange. Dann kroch er kleinlaut rückwärts zu einem Wandstuhl.

Diese schneidige Tat erlöste die Leutchen. Sigi bot dem Mili einen Stuhl und stand dahinter wie ein Knecht. Johannes bot die Hand. Sie war schlaff und gab keinen Druck. »Ich dachte nie, dass du mich so überfallest,« suchte er zu scherzen. Aber seine Lippen zuckten noch. »Sonst hätte ich dich anders bewillkommt.«

Sie sah ihn nur bitter an und blies ein wenig die Oberlippe auf. Es ging ihr noch alles wild im Kopf herum. Ihr Geliebter in der Umarmung eines Stadtmädchens. Aber dann doch der Christbaum daneben! Diese Dirne, ein so verwildertes fremdes Gesicht. Aber neben ihr das Jesuskindlein, und jetzt hat sie das Lämmlein ergriffen und drückt es eng an die Muttergottes und lächelt so eigen. Da trinken sie Wein und lesen Wange an Wange weiss Gott was Arges. Und doch die Ohrfeige! Und dieser Zorn wie aus Unschuld! Was soll sie glauben?

»Du sagst kein Wort,« fuhr Johannes schwieriger fort. »Es gefällt dir halt nicht, wie ... natürlich! Aber,« raffte er sich auf, »ich habe nichts Schlimmes getan, Mili! Ich stehe zu allem, was Du da siehst.«

»Wie ich dir gesagt habe, exakt!« sprach Sigi laut.

Die Jungfer stützte die Ellbogen auf die Knie und schattete das Gesicht mit beiden Händen. Sie atmete furchtbar schwer.

»Soll ich ein wenig geigen?« kam es schüchtern von der Wand. »‘s tät vielleicht gut! etwa: Es ist ein’ Ros’ entsprungen ... oder: Stille Nacht, heilige Nacht?«

Sigi wehrte mit der Hand ab. »Ich bin,« sagte er mit einer versucht ärgerlichen Stimme, »der Anstifter alles Bösen und Guten hier. Jetzt will ich eine kleine Rede halten. Doch, doch, Milmili, und du, Johannes, notiere der Ambrosia das Nötigste ...«

Und nun erzählte er mit einer kalten, beissenden Selbstverhöhnung, wie er den Zufall mit dem Kind hier ausnutzen wollte. Es dürfen es alle wissen, dass er ins Mili »bis über den Wirbel« verliebt sei. Und Johannes sei ihm darum heillos überquer gekommen. Doch habe er immer geglaubt, es sei nichts Ernstes von solchen, die wie Geschwister beisammen gelebt, für einen richtigen Liebhaber zu befürchten. Schon eine kurze Trennung werde das beweisen, und wenigstens Johannes habe durch sein gleichgültiges Wesen alles eher als einen Verliebten vermuten lassen.

Eine schwache Röte schoss über sein bleiches Gesicht.

»Hör’ auf,« bat Mili gequält.

»Ich muss und wenn ihr es nicht hören wollt, so sag’ ich’s dem Christkind, das heut nacht auf die Welt kam und an das wir alle glauben.«

Er habe gedacht, so einem kalten, vergesslichen Menschen wie Johannes anzuhangen, sei eine Sünde am frischen Leben. Mili verdiene ein ganzes heisses Herz. Mag er sich mit diesem »Schulkind« belustigen, habe er gedacht und sei heimgereist und habe mit Mili reden wollen.

Lorli sah gespannt auf Sigis Mund. Dann bot sie dem Johannes den Stift. Aber was sollte er schreiben?

Das Mili habe sich nicht erschüttern lassen. Da sei er rasend geworden und habe geschwindelt. Ihr Johannes liege in den Armen einer Dirne. Wie im Sturm seien sie da auseinandergefahren.

Aber am gleichen Abend in der bittersten Zerstörung seines Herzens habe er einen Mann wunderbar reden hören. Das heisst, er habe einfältig und nicht geschickt und recht kunterbunt durcheinander geredet. Aber ihn habe es wie eine Stimme aus den Himmeln gedünkt. Er habe sich in seinem Elend an diesen Mann geschmiegt, er sehe noch das Gesicht, viel leuchtender und freudiger als der schönste Stern über ihnen, und fühle noch das warme, gewaltige Herzklopfen unter seinem Kittel. Just, was der sprach und wie er’s sprach, habe ihn bis in die Seele getroffen. Er sei sich furchtbar dumm und klein und schlecht vorgekommen und noch spät nachts zum Pfarrer gelaufen, um ihm offen zu sagen, dass er das Mili dem Johannes nie wegnehmen könnte und nie wegnehmen möchte. Aber wen traf er da? Das Mili selbst.

Eben hatte das Mili dem Pfarrer gelobt, sie wolle jetzt durchaus auf Johannes verzichten; bis jetzt sei das innerlich nicht geschehen. Jetzt tue sie es mit vollem Verstand und Willen. Und der Pfarrer habe eine köstliche Freude gehabt und auf den eintretenden Sigi gezeigt: der wäre der Rechte! Aber wie sei Carolus aus den Wolken gefallen, als Sigi zum Mili sagte: Verzeih mir, ich will dich nie mehr behelligen; das wegen Johannes ist eine elende Lüge. Ich selbst habe ihm jenes Mädchen aufgehalst; aber es ist weder eine Dirne, noch lässt sich Johannes mit ihm in etwas Unsauberes ein. »So sagte ich.«

Mili blickt mit einem beredten Vorwurf auf das Sofa, wo sie die zwei so intim nebeneinander überrascht hatte. Sie schüttelte den Kopf, sie glaubte nicht.

Dann komme selbst und überzeuge dich, so viel ist die Reise schon wert, habe er gesagt. Und schliesslich, da auch der Pfarrer energisch beistimmte und der Schül längst wegen einer Anstellung nach Zürich sollte, so seien sie heute mittag wirklich abgereist, aber sie beide hätten nicht zehn Worte unterwegs gewechselt. Da seine Bude leer war, seien sie hierher geeilt und, obwohl er dem Johannes völlig traue, müsse er doch zugeben, dass der Schein, aber auch nur der Schein, eher für Milis Ansicht spreche. Und doch wiederhole er: sein Freund habe sich in nichts verfehlt, und ihm bleibe nur noch eines zu tun, das Mili und den Johannes recht ehrlich um Verzeihung zu bitten. »Aber du, Johannes, zeige endlich, dass du ein so kostbares Geschöpf verdienst. Sonst, bei Gott, geschähe dir recht, wenn ein Besserer sie gewänne!«

Dem Johannes schien, man kehre sein Inneres nach aussen. Er schämte sich und wusste nicht, wohin blicken. Dem Lorli entging nichts. Es rückte immer mehr von ihm ab und rutschte immer mehr gegen das Krippenspiel hinüber. Eine mächtige Wehrhaftigkeit kam über das Kind.

Ganz gewiss hätte vorhin eine Liebelei auf dem Sofa begonnen, das musste sich Johannes gestehen. Und ganz gewiss hatte er das Mili, sobald es ausser Auge war, auch ausser Sinn und Herz gehabt. Wenigstens für diese Zürcherzeit. Jetzt, wo es so bleich und müd im schlichten Dorfmantel dasass, fühlte er sich wie vernichtet. Doppelt vernichtet zwischen ihren und Lorlis anklägerischen Blicken. Und trotzdem hatte er nichts Böses getan, er sah in Mili nichts als die warmvertraute Schwester und in Lorli nichts als ein herziges Kind. War nun das ein Verbrechen?

»Ich weiss genug,« sagte das Mili tonlos. »Ich hab’ es ja gesehen, Arm in Arm, Wein ... eine ... eine Dirn ... Schon nach ein paar Wochen von daheim ... Und Weihnacht ... und wir dachten, du kommest ... du habest Heimweh ... du ... ach ... Uns kein Wort schreiben, aber da ... da kannst du mit einem ... hergelaufenen Mädchen schreiben und lesen und ... ach ... Onkel komm.« Sie erhob sich, tränennass, und die ganze Bitterkeit der letzten Tage und Nächte übernahm sie.

Ihr Gesicht war so schön und so durch und durch vom Kummer geadelt, dass niemand wagte, diese einfache, unmodisch gekleidete Dörflerin aufzuhalten, niemand als – Lorli.

Denn das war nun für alle unerwartet und erstaunlich, wie die Kleine aufsprang, in ihrem weissen Kleide wie ein Schmetterling der hochgewachsenen dunkeln Jungfrau anflog, sie umarmte und mit so inbrünstigen, guten, treuen Augen anflehte, dass in Mili alle Überlegung stockte. Dieses Mädchen, das dem Mili kaum an die Achsel reichte, aber mit viel reiferen Augen dreinsah, zog und zerrte mit leidenschaftlicher Heftigkeit an der Jungfer und zwang sie neben sich aufs Sofa. Dann öffnete sie das blaue Heft, tupfte mit dem Finger gebieterisch auf den Titel und warf hilfefordernde Blicke auf Johannes.

»Vorlesen sollst du das, Mili,« erklärte Johannes. »Gerade als ihr kamt, wollten wir damit beginnen. Vielleicht geht uns allen dann ein Licht auf.«

»Ach, wozu?« rief Mili. Sie verstand kaum, was man sagte. »Lese sie selber ... das ist ja alles ...«

»Das arme Kind ist taubstumm,« erwiderte Johannes.

»Was ... taub... stumm?« stotterte Mili, seiner kaum mächtig. Eine unermessliche Verwirrung, durch die es hell und dunkel zuckte, ergriff sie. Aber da lächelte die Kleine ihr schon ins Gesicht und nickte, denn das Wort taubstumm verstand sie am besten von der Lippe zu lesen, nickte fröhlich, streichelte die grosse Bäuerinnenhand mit seinen Pfötchen und tupfte wieder energisch auf den Titel.

»Lies denn!« bat Sigi. »Wir sind alle gestraft. Da hinten hat einer sogar eine Ohrfeige. Vielleicht verdienst du auch eine kleine Strafe. Lies!«

Mili schüttelte den Kopf. Unmöglich, unmöglich!

»Du hast ihr Dirne gesagt. Dieses arme Kind ist vielleicht in dieser Stunde besser als wir alle. Folg’ ihm, lies! Es ist gescheit, es will etwas damit!«

Dem Mili schwamm es vor den Augen. Es nahm dennoch das Heft. Wie Lorli das sah, umschloss es innig, innig mit einem Arme die grosse Nachbarin, blickte zu ihr auf, und ein wahrer Himmel entstrahlte seinen Augen. Aber mit dem rechten Arm presste es das Lämmchen zum Jesuskind. Das war unwiderstehlich. Ohne zu wissen, wieso und warum, begann Mili mit seiner hohen, lauten Stimme: »Es war einmal ein Lämmchen ohne Heim ...«

Lorli schlug mächtig, dass alle es sehen mussten, mit der Hand auf seine Brust: Ich, das war ich! ... dann umschlang es Milis kräftige Hüfte wieder und sah ihr sorgsam auf die geschnäbelte Oberlippe.

»Da dachte das arme Tier: Was mach’ ich allein? Alle haben ein Heim und einen lieben Herrn, nur ich nicht. – Und es ging auf die Suche.

Und zuerst kam es einem reichen Herrn in die Hand. Der hatte alles in Fülle, Haus und Herde und Macht und Reichtum. Aber wie es zu ihm trat, blitzte auch schon die Schere in seiner Hand, um ihm die Wolle zu nehmen. Und ein Schlachtmesser steckte grausig in seinem Gurt. Das würde er hernach ziehen und das Lämmchen, nackt und jung, zu seinem Mittagschmaus abschlachten. Da floh das Lämmchen.«

Jetzt zeigte Lorli mit unerbittlichem Finger auf Sigi. Der! der ist es! Ich habe ihn durchschaut. Er wartete, aber zuletzt hätte er Schere und Messer gezogen.

Sigi schluckte und zog die Brauen zickzackig hoch. Aber er sagte nicht nein und niemand half ihm. Mili drückte das Lorli enger an sich und fuhr leiser fort:

»Nun floh es zu einem andern Herrn. Der sass still und kühl da und freute sich am Tierchen und nahm Farbe und Pinsel heraus uns sagte: Sei glücklich! Ich will dich malen!

Aber das stillte dem Lämmchen weder den Hunger, noch gab es ihm Streu zum Warmwerden. Und so floh es wieder.«

Alle blickten auf das Kind. Und wirklich, es streckte den Finger sogleich gegen Johannes: der da; da war keine Wärme und kein Herz ... Jetzt sah auch Mili auf. Und wie ein einziger Blitz zum Erhellen einer ganzen, bisher dunkeln Landschaft genügt, so kam es über Mili: ja, kein Herz, Farben, Zeichnung, Essen, Trinken, Lachen, aber kein Herz. Und noch inniger, als wäre es von jeher sein Schwesterlein gewesen, drängte Mili das Mägdlein an sich, indem es weiter las:

»Da dachte das arme Geschöpf: Ach, jetzt geh’ ich nicht mehr hin, wo reiche oder schöne Herrschaften hausen. Die wollen mich ja nur zum noch reicher und noch schöner Werden verbrauchen; aber nicht zum Hirten und Herzen, wie ich’s doch auch brauche, gleich alles, was lebt, nehmen sie mich zu sich.

Jetzt suche ich keine hohen und breiten Höfe mehr. Da ist keine Liebe. Und es trabte und trabte müde weiter, wo etwa ein recht kleiner niedriger Stall wäre und davor eine ganz elende Stallampe hinge, denn es dunkelte schon.

Vom Hunger, Wind und Unwetter war das Tier so misshandelt, dass es geradezu hässlich anzuschauen war und die Hunde es überall anbellten und die Buben ihm Steine nachwarfen und kein ehrlicher Mensch mit ihm hätte etwas zu schaffen haben wollen. Das ist ein ausgeschämtes, verlumptes, verdorbenes Tier, sagten sie und schüttelten sich vor Anstand und Ekel.« – Wieder zeigte Lorli auf sich.

»So wagte es nun nicht einmal mehr in die kleinen Höfe und geringen Hürden hinein. Es ist zu schön da für mich, jammerte es und suchte noch Geringeres.«

Die kleine Gesellschaft in der Stube verstand nach und nach, wohin die Legende ziele. Alle ergriff der einfältige Ton. Und Mili las auch rührend einfach.

»Endlich, als es fast erfroren und todmatt war, sah es noch einen kleinen Lichtschimmer von einem Stall her kommen. Dieser Stall war eher ein Haufen Steine mit Ästen darüber und einem Loch darinnen. So etwas Armes hatte nicht einmal unser Lämmchen bisher gesehen. Das ist etwas für mich, dachte es; das passt ganz zu mir. – Und im Augenblick fühlte es schon etwas Heimatliches, Stubensüsses über sich kommen. Es trottete herzu, blieb am zerbröckelten Eingang stehen und staunte geblendet. Denn innen war alles voll Licht. Eine königlich schöne Mutter sass da auf einem Strunk Holz, und ein Kind hell wie die Sonne lag in ihrem Schoss, und Lämmchen aller Art drängten sich herum, magere, besudelte, zerfetzte und verkrüppelte, rieben sich an den Knien der Frau, wärmten sich am Sonnenschein des Kindes und blökten so vergnügt, wie man nur im sichern Heim sich so gebärden mag. Und sogleich sah die heilige Frau das zitternde Tier an der Schwelle und winkte es herzu und grüsste: Herein, herein, hier darf niemand draussen stehen. Gerade du nicht! Gerade für euch hab’ ich diesen jungen, schönen, guten Hirten geboren. Ihr hättet ja sonst niemand. Er aber wird nicht bloss euch, sondern die ganze Welt behirten und behüten.

Und da fühlte das Lämmchen, wo es doch eben noch vor Blödigkeit und Elend meinte umzufallen, keinen Hunger und keinen Frost mehr. Maria streichelte sein Fell glatt, und das Jesuskind lächelte es an, und nun kam noch Joseph, schüttete Heu und Streu auf und drohte mit dem Finger, aber nicht böse, dass sie jetzt alle wie Brüder und Schwestern in guter Ordnung ässen und tränken und friedlich nebeneinander von allem Leid der Welt ausruhten, recht wacker schliefen und zu einem neuen besseren Tag erwachten.«

Sogleich nach diesem Schlusssatz zeigte Lorli zum Lämmchen neben der Krippe. Und alle verstanden, es wolle nun auch einen solchen guten und treuen Hirten suchen. Ob man verstehe? Dann stand es stramm auf. Offenbar wollte es sogleich weggehen. Hier hatte es seinen Stall nicht gefunden.

Aber Mili hielt es nun seinerseits mit aller Kraft fest und sagte: »Du Gutes!« Und sie nahm es wie ein Kind zwischen die Arme, dass Lorli halb auf ihren Schoss zu sitzen kam und küsste es zwei-, dreimal auf den Mund und streichelte es über den Wangenflaum und sagte wieder: »Du Gutes!« und: »Verzeih mir, ich war auch so schlecht und traute dir übel und nannte dich sogar Dirne, während du doch so gut bist. Verzeih mir!« Obwohl Lorli die Worte nicht buchstäblich verstand, begriff sie doch den Sinn der Liebkosungen und nickte und wehrte und wollte aufstehen und sich, ach so gerne wieder neben diese gesunde, frische, Reinheit und Stärke atmende, wahrhaft mütterliche Freundin niederlassen. – Die zwei Jünglinge jedoch sahen sich verlegen an: was nun?

Da simmte und summte es plötzlich leise durchs Stüblein wie von süssen frommen Bienen, wenn sie um ihre liebste Blüte schwirren, hineinschlüpfen und selig vom Genuss mit einer noch viel innigeren Musik weiterfliegen. Es war die C-Saite auf Schüls Violine. Dann glitt das Spiel auf die nächsten Saiten, rauschte kräftiger, etwa wie junges Weidenlaub im Morgenwind, noch ehe die Sonne da ist, geheimnisvoll zu flüstern und plaudern beginnt. Dann ward es lauter. Das war schon Buchenlaub, geschüttelt im lauten, streitbaren Tag. O wie schön! Alles lauschte. Schül hatte »seine Gnade«.

Plötzlich eine Stimme von weit, weit hinten, aus einem gewaltigen Dome etwa, von der dunkeln Orgelempore her. Einsam und still klang die Melodie: »Es ist ein’ Ros’ entsprungen.« Alle horchten, sagten die Worte in der Seele nach und falteten unbewusst die Hände.

An diese einsame Stimme der Hoffnung schloss sich nach kurzem ein feierlicher Chor an, sang und hoffte und glaubte mit und sah mit Augen: »Hat sie ein Kind geboren, das uns erlöset hat.« Der Dom füllte sich mit Weihnacht. Tausendköpfig sang das Volk zwischen Bögen und Säulen mit.

Wie wunderbar geigte der Julius! Schwitzte er oder weinte er oder von was glühte sein schönes, weiches Mannsgesicht in solcher Feuersbrunst? Niemand, der nicht gemeint hätte, er wäre in der Kirche, in der Lustigern Weihnachtsmette um Mitternacht.

Lorli schob schüchtern ein Blatt dem Mili zu. Was war das, was dieses Stüblein zu einer Kirche machte? Und Mili schrieb:

»Es ist ein Reis entsprungen Aus einer Wurzel zart, Wie uns die Alten sungen, Von Jesse kam die Art, Und hat ein Blümlein ‘bracht, Mitten im kalten Winter Wohl zu der halben Nacht.«

Lorli sog die Zeilen sozusagen aus dem Stift. Sie, die nicht reden und nicht hören konnte, konnte dafür besser als alle diese scharfen Ohren und Zungen das Unaussprechliche und das Verschwiegene aus Mensch und Natur und hier aus diesem fast übernatürlich schönen Lied erkennen. Sie war jetzt die glücklichste. Sie schmiegte sich an Mili wie das Laub an den Zweig, und es schien ihr, sie höre nun auch aus dem Atem und dem singenden Saft und Blut der Freundin die Musik der Geige dort, ihr Schwingen, Schweben und Ruhen.

»Das Röslein, das ich meine, Davon Jesaias sagt, Hat uns gebracht alleine Marie, die reine Magd; Aus Gottes ew’gem Rat Hat sie ein Kind geboren, Das und erlöset hat.«

Lorli vermochte nichts als zu lesen und die schreibende Hand zu küssen.

»Wir bitten dich von Herzen Gott, Vater aller Gnad’, Durch dieses Kindleins Schmerzen, Die es erlitten hat, Woll uns verhilflich sein, Dass wir ihm mögen machen Ein’ Wohnung hübsch und fein.«

»Wo singt man das?« bat Lorli hingerissen.

»Bei uns auf dem Dorf! Komm mit! Komm zu mir!«

»Ich werde kommen.«

Dieser sonderbare Christnachtabend in der Zürcher Studentenbude hatte eine grosse Bedeutung für alle fünf Personen, ja, man kann sagen für ganz Lustigern.

Schül unterrichtete sich über ein verkrachtes Unternehmen, nämlich eine kleine Vorstadtbühne mit Musik und theatralischen Vorstellungen. Infolge der Grippe war sie eingegangen. Niemand hätte zum Eiter einer solchen Anstalt besser gepasst. Jetzt wollte ein kapitalkräftiger Nachbar neu beginnen, ein Schulkamerad von Herrn Zellwig, und dieser empfahl ihm den Julius Täler in seiner heitern und vielseitigen Zutunlichkeit als Musikus, Verse- und Spässemacher, Schauspieler und Malerdilettant. Alles hätte sich genehm abgewickelt, Schül präsentierte sich ausgezeichnet, gefiel durchaus und hätte einen famosen Vertrag sofort unterzeichnen können, wenn nicht eine Garantiesumme von sechstausend Franken die unerlässliche Bedingung der Anstellung gebildet hätte. Es ward aller Wein der Begeisterung flink zu Wasser und Schül zog ganz verzagt heim. Sigi warf sich mit einer Art von Gier auf das Strafrecht, korrespondierte mit dem schwäbischen Zimmermann und wurde viel in den Bibliotheken Zürichs über seltenen, historischen Papieren angetroffen. Er ging auch noch viel mit Mädchen, besonders mit einer Halbtürkin, deren unheimlich feuriges Haar wie die vergoldete Kuppel einer Moschee über dem melancholischen Gesicht sich in die Höhe wölbte. In der Fastnacht soll er es besonders keck an den grossen Bällen getrieben haben; aber im geschichtlichen Seminar galt er als der schärfste Kopf, dessen skeptische Einwendungen selbst den berühmten Professor manchmal verlegen machten.

Johannes lebte im alten fröhlichen Trab weiter. Manchmal meinte man auf Augenblicke, es habe sich eine Spalte in seinem vergletscherten Wesen geöffnet. Sah man näher zu, so war es glatter, sauberer Firn, dessen schwache Fussspuren von einem munteren Wind und einer kühlen Sonne immer rasch verweht wurden. Neben eifrigem Zeichnen und Farbenmischen – und hier leitete ihn ein prachtvoller Sinn – schuf er ein Dutzend Stickmuster und sandte sie dem Mili zum Geburtstag. Sie hatte gestaunt.

Wie wusste dieser Egoist einen fremden Geburtstag. Da war doch wieder eine kleine Fussspur der Gefühle!

Aber umsonst bemühte er sich, den Ambrosius der Rubens-Gruppe zu steifen oder den Theodosius tiefer zu buckeln. Es kam immer etwas Verzerrtes heraus. So liess er es denn im Alten und schrieb an den Pfarrer: man darf nichts Hauptsächliches an einem alten Meister korrigieren!

Sechs Wochen nach jenem Abend befand sich Lorli im Tälerhause bei der Freundin. Der merkwürdige Toggenburger Hornung hatte eben begonnen und Mili führte sein kleines »Schwarzjüngferli« sogleich recht und schlecht, als wäre es immer so gewesen, am Blasiustag in die Kirche zur Halssegnung und zwei Tage später, an Sankt Agatha, durfte Lorli auch vier Brötchen zum Altar tragen, damit sie geweiht würden. Das Geblüt der italienischen Ahnen regte sich und Lorli glaubte wahrhaft in jenem stillen Dorf ohne Bahn und Postwagen den rechten Stall und Wirt gefunden zu haben. Sehr bald begriff es die Geheimnisse der Stickerei, die Geheimnisse des stillen Heli und das Geheimnislose, aber Fabrik- und Augenfällige der Johannes-Zeichnungen. Es kam nun vor, dass der wortsuchende Heli und das wortlose Lorli über der Vorlage des Johannes sassen und das Gleiche dachten.


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