Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 13

Wie dieser Oktober log! Er schleifte morgens und abends nasse Nebel über die Wiesen und man schauderte den Rücken hinunter. Aber von zehn Uhr an heizte die Sonne die grosse Weltstube so mächtig ein, als wär’s mitten im heftigsten Juli. Das Obst reifte und verschrumpfte am Baum an einem Tag, die Heuschrecken wüteten wie im Hochsommer, und die Schwalben verschoben ihre Winterkur von Woche zu Woche. Das Emd war kurz und karg gewachsen und statt eines dritten Wuchses vergilbte und schwärzte sich der schöne Weidboden wie um eine Brandstätte herum. Das Vieh litt, die Fliegen wollten nicht sterben, und die Grippe, nachdem sie schon halb erloschen war, schwoll bei diesen kalten Nächten und glühenden Tagen zu einer zweiten giftigen Üppigkeit an.

Eine alte, etwas verwirrte Frau, Regine Hutzli, die Tante jenes Holzers Mathias Minz beim Notkersegg, der den Tälersarg so billig hobelte, liess es ungescheut heraus, dass im Dorf keine Gnade werde, eh’ und bevor nicht der Pfarrer und der Ammann sich vor der ganzen Gemeinde den Friedenskuss geben.

Die Ilgenwirtin lag bereits die dritte Woche im Bett. Ihr blödes Lisettli war schon immer in gesunden Tagen, aber nun erst recht ein Hindernis im Haus. Mili arbeitete dafür wie zwei aufrechte Töchter. Sie kochte, wachte und wusch der Kranken und ging, je besser sie die seltsame Verlassenheit der Base erkannte, kaum noch von ihrem Bette weg. In der Tat, Frau Ida hatte niemand. Ihr Mann war ein vertrockneter Weinhändler, reiste gern, trank gern, spasste gern, aber liebkoste eigentlich nur seinen Beutel und seinen Bauch. Schöne, frische Frauen sah er voll stiller, zurückhaltender Begehrlichkeit. Darauf trank er eine Flasche und dabei blieb es. Für seine Frau, nachdem sie bei Sigis Geburt gleichsam alle Schönheit an diesen Prinzen ausgegeben hatte, so dass nachher nur ein kleines Hudli von Mädchen gelang, kurzsichtig, mit schwachem Gehör, unfertiger Sprache und halbem Verstand – für seine nun farblose, magere, matte Frau besass der Ilgenwirt kein stärkeres Gefühl mehr, obwohl sie ein Herz wie Gold hatte. Er rechnete ihren Wert nur noch nach ihrer Arbeit aus, und insoweit schuf die Krankheit endlich einmal über das lautlose, fleissige, verborgene Wirken Frau Idas volle Klarheit. Denn an allen Ecken und Enden fehlte es jetzt und haperte rechts und mangelte links, obwohl noch eine ältere Magd und der Hausknecht im Dienste standen. Vor allem gebrach es an jeder genauen Zeit und an jedem ordentlichen Tagesprogramm. Es zeigte sich jetzt, dass die stille Frau mit den müden, halbgeschlossenen Augen, dem langsamen Schritt und dem vielen Schweigen dennoch der grosse und der kleine Zeiger der Arbeitsuhr, noch mehr, die eigentliche Feder des innern Betriebes gewesen war. Auf einmal stieg ihr Wert ums Dreifache beim Gemahl.

Dass die blöde Lisette der Mutter wenig Seele schenkte, sie, die oft wochenlang hindämmerte und dann meist teilnahmslos im Bette lag und nur ass und schlief wie ein dummes Tierchen, das lässt sich leicht denken; aber minder begreiflich erscheint das frostige Benehmen Sigis gegen seine Mutter. Tat sie zu demütig, zu mägdehaft vor ihm, fütterte sie seine Eitelkeiten und seinen Egoismus zu willig, war zu schweigsam, stellte sich zu geduldig in den Hintergrund? Einerlei, er suchte sie nie, wenn sie nicht da war, und sah sie kaum, wenn sie da war, vertraute ihr nichts an und lebte nahe und fern von ihr wie ein mutterloser Mensch. Gewiss, er gehorchte den strammen Hausregeln. Das gehörte zum Geschäft. Da litt Herr Viktor Quäler keinen Einbruch. Aber dieser Gehorsam war eine Form ohne Seele, eine Ordnung ohne Freudigkeit, er kältete eher, als er wärmte.

Nach einer Woche herzlicher Besorgung fühlte Frau Ida im Mili das ihrem Herzen nächste und wärmste Blut rinnen. Sie überwand die angewöhnte Verschwiegenheit und vertraute der guten Wärterin, von der Schwäche des Bettes und von der Summe bitterer Erfahrungen übernommen, ihr verborgenes freudloses hungriges Seelenleben. Dabei küsste ihre verspätete Lippe dem guten Mädchen die Hände, die Stirne, den Ärmel sogar und bat: »Lass mich, o leid’ es; du Gutes!« – Und sie wünschte zu sterben. »Mach’ mich nicht gesund, Kind!« bat sie. »Lass mich so abschwachen und hinüberschlafen. Geh nur du nicht weg, bis ich ganz sicher tot, bis ich aus diesem elenden Hause ganz sicher entflogen bin.« – »Nein, Base, Ihr werdet wieder gesund, und dann habt ihr neue Lust am Leben.« – »Am alten Leben, Mili? Nicht den kleinen Finger voll Mut hab’ ich dazu. Und nicht einen kleinen Finger voll Kraft.«

Vorher wusste das Mili nur, was das Dorf immer halb recht, halb schlecht weiss, der Quäler vernachlässige seine Frau, aber sie dürfe im Hauswesen regieren und habe einen seligen Stolz auf ihren hübschen Jungen. Er habe ihr jüngst im Garten den Arm gereicht und sie artig zum Friedhof geführt. Alle Mütter, die zusahen, hätten dabei einen stillen Neid gekriegt.

Jetzt sah Mili in dieses Glück hinein. Es verstand die Not der Frau lange nicht recht und schob der Krankheit zu, was dem Leben gehörte. Ihr gesunder Sinn konnte weder diese Verlassenheit verstehen, noch dass man sich so gehen lassen könne, statt immer wieder aufzustehen, so wie ein Vogel noch mit der letzten Feder sich aufzuschwingen probiert. Aber nach und nach spürte auch Mili diese sonderbare Kälte. Der Wirt kam oft hinein, aber seine Stimme blieb die gleiche, mit der er die Weinsorten und Preise aufzählte, und immer waren es Nützlichkeitsfragen, wenn er sagte: »Was meinst, wirst in einer Woche aufstehen? Kann ich die Beth wegschicken? Darf ich dir morgen anfangs das Rechnungsbuch ins Bett geben? Das Mili hilft dir.« – Und der Bub kam nur abends und morgens, bot keine Hand, lächelte nichtssagend, und seine ganze Kinderseele drehte sich zwischen den zwei Phrasen: »Hast gut geschlafen? ... Wünsch eine gute Nacht!« Und eigentlich, kam er wegen der Mutter?

Vielleicht, wenn Ida so grosse Qual ausgestanden, dass es ihr die Glieder verzogen, den Atem zugewürgt und Schreie der Verzweiflung erpresst hätte, vielleicht wäre dann Mitleid oder doch ein menschliches Grausen über diese hölzernen Leute gekommen. Aber nicht einmal die Gnade zu rühren und zu ergreifen ward der Ärmsten vergönnt. Sie lag so lässig im Bett, litt so geringes Fieber, sah so gewöhnlich, so langweilig aus, dass es eher Verdruss erweckte, wenn sie noch immer liegen blieb. Hätte der Arzt nicht sehr drohend geäussert, dass es sich um ein arges Eingreifen der Grippe in die Herzfunktionen handle, sie hätten das Weib mit ihren Ungläubigkeiten sicher aus dem Bette geplagt. So aber stand das Mili mit verschränkten Armen und energischer Miene da und bewies, dass sie alle Gott danken müssten, wenn Frau Ida noch einmal heil aufstehen könne.

Sigi war überall und nirgends. Er wusste jeden Schritt Milis, beobachtete es vorsichtig, aber scharf, wie man einen gefährlichen Vogel im Käfig betrachtet, dem man weder das Türlein zu öffnen oder auch nur den Finger hereinzustrecken wagt, und mit dem man doch so gerne spielte. Den Abend im Pfarrhof hatte er sich wie eine schwere Traumbefangenheit von der Stirne gewischt, doch zuckte ein Schrei, ein Aufblitzen jener Stunde noch manchmal in die Trägheit seiner Tage hinein.

Da kam ein Nachmittag, schwül wie der gestrige und vorgestrige, aber ein Nachmittag von besonderer Wichtigkeit. Es gibt solche Stunden. Man sieht ihnen nichts an. Sie geben sich genau wie andere. Dennoch rinnen sie nicht wie Sand oder ein schläfriges Wasser. Sie rollen Blöcke daher, krachen, ändern; mehr als sonst ein Jahr leistet, bringen sie auf ihrer kurzen Minutenspur zuweg. Erst später merkt man, wie entscheidend diese Stunde war. Hätte man es vorher gewusst, man hätte gezittert und sich vor ihr in alle Löcher verkrochen. So eine Stunde kam nachmittags, am 6. Oktober, am Tage des strengen und düstern Mönches Bruno, des Heiligen. Da zogen zwei Menschen, unwissentlich mit einem grossen Schicksal beladen, von Uzli die staubige Lustigerstrasse herauf; und in der Ilge sagte Ida, nachdem sie dem strickenden Mili lange zugeschaut hatte, plötzlich und klärte ihr abgelebtes Köpflein sonderbar auf: »Mili, Kind Gottes, ich muss mit dir reden.«

Die Jungfer sah befremdet auf.

»Du bist nicht mehr lustig,« klagte die Frau langsam, »machst jetzt oft so ... ja so schwere Augen. Es drückt dich etwas. Du bist viel freier dahergekommen.« Sie lächelte seltsam, fast hinterhältig.

Das Mili ward dunkel und schoss merkwürdig hastig auf: »Ich denk’ eben an daheim, was die ohne mich für eine Ordnung haben! Ihr müsst mich jetzt wirklich am Nachmittag auf ein, zwei Stunden nach Hause lassen, zum Nötigsten.«

Ida lächelte noch schlauer. Ihre farblosen, lichtscheuen Augen bekamen Öl.

»Du weisst doch, dass der Johannes die halbe Zeit im Pfarrhof ist, und der Heli hat zum Fädeln und Kochen das Sandmeitli und kann’s so leicht noch ein Stück aushalten. Da ist doch nichts zum Sorgen, Kind!«

Mili bog sich zur Nadel und überzählte die Maschen ... siebzehn, achtzehn, neun ...

»Neunzehn, zwanzig! Ach, lass das, Mili. Du hast einen Kummer. Lad’ ab!«

»Bas’ Ida, was habt Ihr nur? Plagt uns nicht so!«

»Du, du plagst dich, ich möcht’ dir leicht machen. Aber was kann ich, wenn du so zugeriegelt tust!«

O Gott, dachte Mili, sie hat’s gemerkt, sie weiss alles.

»Gib mir die Hand! So! Jetzt schau’ mir ins Gesicht, du starkes Mili! Nun meinst du, ich merk’ nichts? Meinen Sigi, meinen schönen, bösen Sigi hast im Kopf ... Der hat dir das Herz verdreht. Sag’ nur schnell Ja. Und ist nun das so himmeltraurig? Ja, was ist ... was hast jetzt wieder ... was ...«

Das Mili entriss ihr die Hand, stand zwei Schritte weg, wusste nicht, ob lachen, ob schimpfen, und brachte nur unter stetem hartem Nicken mit dem Kinn das Wort hervor: »Ich? ... den Sigi! ... Aber Bas’ Ida, wo seid Ihr?«

Jetzt staunte die Kranke. Dieser überraschte, abweisende Ton klang zu ehrlich. Eine fahle Blässe überzog die Frau, die Augen füllten sich, alle Helle hatte in Düsterkeit umgeschlagen. Aber etwas wie Beleidigung und Zorn sickerte jetzt aus dieser sanften Frau hervor, als sie klagte: »Ist er denn nicht schön? Ist er etwa nicht deiner wert, Jungfer Habenichts? ... Liebt er dich etwa nicht? Grausam liebt er dich!«

»O Ida, schweiget oder ich lauf’ Euch davon.«

»Wir stille Frauen sehen mehr als ihr tolle Springinsfelde. O ich weiss alles. Ich versteh’ ihn. Er ist nicht schlecht, wie das ganze Dorf sich ins Ohr bläst. Er ist sehr, sehr edel ... Alles weiss ich. Ich hab’ auch meine Augen und Ohren und in Zürich meine Bekannten. Er trieb es wie ein Holderi und Kolderi, Spass und Leichtsinn und Schwachheit durcheinander, wie’s einer treibt, der Plötzlich vom Wasser in den Wein kommt. Aber, Kind, glaub’ mir, das waren alles dumme Räusche. Es lag nichts Ernstes dahinter. Es hat ihn sicher oft angeekelt ...«

»Frau Bas’ ... lasset das, was geht es mich an? Nie hab’ ich auch nur einen Augenblick an Sigi anders gedacht als ... als ... ach, gar nicht einmal an ihn gedacht hab’ ich.«

»Schlechtes, böses Ding,« grollte die Frau und wischte sich stets neue Tränen weg. »Jetzt kam er und jetzt ward es ernst. Er denkt nichts und sieht nichts als dich. Er ist ganz verschossen in dich. Und du tust wie ein Fisch.«

»Ich geh! Das kann ich nicht hören.«

»Geh nur, lass mich und ihn, lass uns nur alle im Stich! Gott wird dir das nicht so leicht hingehen lassen, gar nicht, gar nicht, das glaub’ mir nur!«

»Mutter, Mutter,« flehte die Jungfer nun ganz erschreckt.

»Schön Mutter, Mutter. Ich merk’ nichts Kindliches an dir.«

Mili kniete vor ihr nieder, streichelte ihre Hände. Das Weinen stand dem Mädchen in der Kehle. Ihm war, soeben habe eine grosse, schwere Uhr die Stunde geschlagen. Vorbei alles Mädchentum, die Frau beginnt!

»Ich habe nie etwas bemerkt,« beichtete es ruhiger. »Wir haben gespasst wie Schulkameraden. Er redet ja wohl oft anders als man hier redet ... so studentisch ... es ist wahr. Aber wer denkt da an etwas ... an so etwas, wie Ihr meint. Jetzt, da Ihr mir das gesagt habt, versteh’ ich manches, wenn er so sonderbar tat. Aber denkt doch, was er für ein Herr ist und was er für Herrenlaunen hat! In zwei Wochen reist er wieder zur Schule, und dann ist alles abgeschüttelt. So sind doch die Studenten ...«

»Eben das soll er nicht,« sagte die Frau mühsam.

»Wie meint Ihr?« fragte Mili mit grossen Augen. »Komm näher, gib die Hand! Die andere auch! Jetzt hab’ ich dich! ...«

»Was wollt Ihr von mir,« bat Mili bebend. »Ich lieb’ ihn nicht, ich mag ihn nicht. Er ist mir ... ich fang’ an, ihn im Gegenteil ...«

»Mili, Mili, sei still! Was bist du dumm! Wo fändest du so einen! Alle Mädchen reissen die Augen nach ihm auf. Er ist reich, er ist gescheit, er wird hier einmal Ammann. Frau Ammännin, ist das nichts? Du Tropf ... hast denn kein warmes Blut? Bist ein Fischweiblein? He?«

Das Mili machte ein immer schrofferes, widersetzlicheres Gesicht.

»Schau, ich sag’ dir die Wahrheit, der Junge verdirbt mir in der Stadt, wenn er nichts Solides hat, das ihn hoch hält, so eine rechte, ehrliche Liebe, so ein tüchtiges Ding wie du. Er hat das Blut vom Vater und von mir, heisses, glaub’s nur. Er muss etwas Warmes am Herzen halten können. Ich weiss, wie er dir schon lange nachgestrichen ist, wie er jetzt um die Kammer herum horcht und späht, wie er nicht zum Haus hinausgeht, weil du drin bist, und die Mägde ausfragt, was alles du bei mir machst. Hättest Augen, du merktest ihn hinten im Gang, oben auf der Stiege, hinter alles Türen, so passt er dir auf. Wenn du so ein Fisch bleibst, rennt er mir in die Stadt und wirft sich der ersten besten in die Arme. O er ist frech. Wir haben letzten Winter mehrere Briefe von Zürich bekommen, nicht schöne! von den Mädchen selber, einmal von so einer armen Mutter, einmal nom Advokaten wegen Geldentschädigung. Sag’ keine Silbe davon! Wir schweigen. Aber das wär’ nun das grosse Glück, wenn du ihm lieb tätest, Hoffnung machtest, sogar ein Küsslein oder zwei erlaubtest. Du bist entsetzlich stark. Du hast einen gleich an der Hand. Der Sigi bliebe dir treu. Es wären nur ein paar Katzensprünge, was er in der Stadt etwa noch riskierte. Er hätte dich immer im Rücken und käme immer wieder zu dir. So eine frische, gesunde, kluge Jungfer, wie du bist, gäbe das für unsern Sigi einen Schatz und eine Frau fürs Leben wie keine zweite. Das Haus hier finge wieder an, heiter zu werden. Und wir Alte würden jung ...«

Sie musste unterbrechen für einen längeren Schnauf, so hastig hatte sie das herausgefiebert.

Das Mili hatte ihr braunes Zigeunergesicht mit dem blanken, messingfarbenen Scheitel tief in die Decke vergraben. Jetzt sah sie mit heissen, trockenen Blicken auf und sagte erschüttert: »Ihr übertreibt. Das kann nur ein Spielchen sein, wie er’s mit andern getrieben. Was kann ihm so ein armes unwissendes Dorfmädchen sein. Bin ich hübsch?« Sie heiterte sich ein wenig auf, »und bin ich gar nicht so dumm? Ich glaub’s selber. Aber der Sigi findet noch viel hübschere und gescheitere in der Stadt. Jetzt hat er niemand, da ist ihm jeder Apfel recht. Jawohl,« wehrte sie gegen die Kranke, »jeder Apfel. Er beisst hinein wie letzthin und wirft ihn über den Weg ... Lasst mich ausreden! ... Ich war im Garten, um Euch das zartere Gemüse zu lesen. Er zerrte eine Birne ... ach, ja was tut’s, es war eine Birne ... vom Bäumchen, weil sie rot und gelb glänzte, riss zwei, drei Bissen weg und schmiss sie in die Strasse. Aber Sigi, sagt’ ich, so darf man doch nicht, die isst man fertig ... Da ist eine bessere! sagte er wild und riss wieder eine vom Ast und biss hinein. Ich bin weggegangen. Er hat sicher noch eine dritte und vierte probiert. Es gibt ja immer eine bessere. Und so hat er’s mit den Mädchen. Ihr erzählt es ja selbst ...«

»Aber du bist ein seltener Apfel, glaub’s nur. Er hat dem Vater etwas von Zürich beichten müssen, sonst hätt’ er kein Geld gekriegt. Der Vater war bei Laune, und da hat er ihm auch etwas von dir verraten und gesagt, so was habe er nie gespürt. Er möchte ein Engel werden, brav sein wie ein Kind, wenn er nur ein wenig Freud’ mit dir hätte ... Du, du ganz allein kannst uns den Sigi retten.«

Mili schüttelte sich vor Grauen.

»Mein Mann hat ja nun die Vormundschaft über euch übernommen und wird euer Gut gegen den Onkel Julius gehörig verteidigen. Da kam er und sagte: Euere Sache stehe gar nicht böse. Aber wenn du auch nichts als ein Nastuch und einen Fingerhut hättest, würde er dir den Sigi geben, weil du alles so prächtig bei euch in Ordnung haltest wie in einem Drückli, und weil man dem Sigi einen warmen Fleck geben müsse, wo er sich festwurzeln könne. Wenn er dann mit dem Wipfel ein bisschen hin und her kokettiere – du weisst, wie närrisch er redet ... mit dem Wipfel ... denk! – so mach’ es nicht mehr viel. Früher hat mein Mann immer an eine reiche Heirat gedacht, etwa an die Zellwigtochter. Aber erstlich ist sie protestantisch, und jetzt, nach all dem Geschrei aus Zürich, denke. Und weil du auch meinem Mann etwa Besonderes vorstellst ...«

»Bah!«

»Ja, etwas Besonderes ... Er versteht sich auf dieses Fach,« fügte sie schwermütig lächelnd bei, »auf die zwei F, sagt er.«

»Was?«

»Flaschen und Frauen, verstehst du! Auch der Sigi fängt mir an Wein zu läppeln. Er schlückelt noch wie ein Kind am Lutsch. Grad so wie er’s wohl auch mit den Mädchen noch ein bisschen artig macht ... Ach, Milmili, du musst uns helfen.«

»Ich kann nicht. Wüsstet Ihr nur warum. Ach nein, aus vielen, vielen Gründen.«

»Zähl mir ein paar davon auf,« forderte Ida strenger.

»Ich lieb’ ihn gar nicht, so wenig als den Regenschirm da,« stiess Mili heraus. »Man muss doch lieben fürs Heiraten.«

»O du lieber Kindskopf! Wenn du so glaubst, kommt das schon mit der Zeit. Wer sollte meinen Sigi nicht zuletzt lieb bekommen? Das wär’ mir ein rarer Vogel.«

»Ich werd’ ihn nie lieben.«

»Sag’ solches niemals, sag’s nie, nie!«

»Zweitens glaub’ ich nicht an ihn. Er spielt. Er ist zu schön, zu jung, zu gescheit, zu wild ... zu böse ... zu ...«

»Was noch zu, zu ...?«

»So einer kann nicht Geduld und Treue haben. Seht Ihr nicht, wie ihn alles, gar alles langweilt.«

Frau Ida schwieg diesmal voll Bekümmernis.

»Drittens, Bas’ Ida, passen wir nicht zusammen. So viel merk’ ich. Er will regieren, ich kommandier’ auch gern. Er weiss viel Gescheites, ich nichts als Küche und Waschtrog. Man sagt, er tanze in Zürich zum Staunen gut. Er tanze heillos gern. Ich kann nur den Walzer und der Pfarrer hat mich fast exkommuniziert, als ich’s ihm ausplauderte.«

»Das sind doch Kleinigkeiten.«

»Aber dutzend und dutzend. Und überhaupt, am Sigi ist nichts Sicheres, und an allen Fingern kann er die flottesten Töchter angeln und ... und ... ausserdem, seid nicht böse, Mutter, aber ... ich hab’ ja schon einen Schatz ... o Gott, jetzt ist’s heraus ...«

Sie warf sich in die Flaumdecke und horchte ängstlich, was jetzt komme. Da fühlte sie ein Streicheln und Schmeicheln zarter Finger im Haar, ein Flüstern, ein erregtes Atmen und endlich: »Wen? Wen? Dann geb’ ich Ruh!«

»Den Johannes!« kam es unter Schlucken und Zucken aus den Federn.

Frau Ida liess den Kopf ins Kissen zurückfallen, schloss die Augen und wiederholte: »Den Johannes!«

Nach einiger Sammlung bemerkte sie: »Täuschest du dich nicht, Kind? Ist es Liebe, wirkliche Liebe vom Weib zum Mann? So viel ich höre, ist Johannes wie ein grosses Kind, das an niemand als an sich denkt.«

Das Mili fuhr wie von einem Stachel geritzt in die Höhe.

»Rede, Kind, ist das in Wahrheit die Liebe der Eva zum Adam?«

Und Mili, nun ganz von seiner laut und stark erblühten Frauenhaftigkeit überzeugt, wurde rot und sagte: »Sei er, wie er wolle, aber wie keine Mutter, keine Schwester, kein Schulkamerad liebt, sitzt er mir auf dem Herzen. Ich lieb’ ihn mit meiner ganzen, ganzen ..., ach, wie sag’ ich’s ... allein und einzig als Weib ... Ich glaub’, wie die Eva den Adam verehrt und geliebt hat ... O Bas’ Ida, wie reden wir!« schloss sie mit wunderbarem Schamrot bis in die feuchten Augen hinein.

Sie schwiegen beide. Die Hitze summte und zitterte sozusagen durchs verhängte Zimmer. Vielmal wollten beide wieder mit etwas Gleichgültigem anheben. Aber keins wagte es. Sie fühlten, dass in diesem Augenblick sich etwas zu Wichtiges entschieden habe. Endlich wagte die Frau nochmals: »Prüfe gut, Mili. Im ganzen Dorf heisst es, der Johannes liebe niemand. Er verkrieche sich, soll der Kaplan ihm ins Gesicht gesagt haben, in sich selber hinein wie eine Schnecke in ihr Haus. Er sei kalt bis ins Herz. Kannst du eine solche Schnecke heiraten, so etwas Kühles, Blutloses?«

»Nichts mehr, Ida. Ich bleibe bei ihm, ganz wie er mich will! Er ist mir das erste und letzte auf Erden , . . ich, o ...« Wahrhaft, das geheime, lang verhaltene, hochgeschwollene Gefühl überlief, sie weinte, weinte vor Weh und Seligkeit, umarmte die Base, lachte und tropfte von neuem Tränen und lief zuletzt in die Küche hinaus, um sich das Gesicht abzuwaschen. Aber da kam Sigi vom Fenster ins Halbdunkel zurück, funkelte sie sonderbar an, lächelte ein wenig und sagte sehr weich: »Ich glaube, Milmili, dein Onkel Schül ist gekommen.« –

So war es. In der gleichen Stunde, wo die zwei Frauen im Krankenzimmer sich Klarheit über die nächsten Wege schufen, schuhten langsam ein magerer Mann und eine hübsche, aber matte Frau die brütendheisse Strasse von Uzli nach Lustigern hinauf. Sie gingen so sicher und so froh, als wäre dies ihr letztes Stück Mühsal vor einem ersehnten, glücklichen Ziel.

Der Mann, den Rucksack auf dem Rücken, war ein hübscher Dreissiger mit schwarzem, langzipfligem Schnurrbart, weitgeworfenem, schwarzem Haupthaar und sehr schönen, weissen Händen. Die Augen hatte er weit und lachend offen und auch den roten, feuchten Mund konnte er nicht schliessen. Er hüstelte beständig.

Die Frau zählte kaum dreissig Jahre und war grösser als er. Ihr Gesicht zeigte eine grobe, gutmütige Schönheit, und in den dunkelgrauen, weichen Augen lag etwas unendlich Dienstfertiges, ja geradezu Untertäniges. Keinen Blick liess sie von ihm. Er stützte sie, denn ihr fiel das Gehen bei der Fülle ihres gesegneten Leibes recht schwer.

»Mein Halbteil,« plauderte er schier heiter, »geht gegen den Hügel. Kein Mensch stört uns dort. Man hört die Thur ganz fern aus der Schlucht rauschen und die Finken jodeln von den Tanner herunter. Schade, dass wir durchs Dorf hindurch ans andere Ende müssen. Am liebsten trüg’ ich dich und zeigte: Seht, das ist mein scharmantes, gnädiges Frauchen! – O wie müd’ musst du sein! Dass uns aber auch das Motorrad vor Uzli verunglücken musste!«

»O, so langsam geht es schon. Du hast Ruhe noch nötiger. Was du gelaufen bist! Ja, jetzt wollen wir auf dem Eigenen sitzen und gehörig einander pflegen. Dein Husten ist kein Spass.« Mit schöner Stimme sagte sie das, es tönte wie gesungen.

»Den Durchzug ertrag’ ich halt nicht mehr. Im Heuschober gestern nacht hat’s heillos gezogen. Gottlob, heut strecken wir uns im eigenen Bett. Wir wollen einmal zwanzig Stunden hintereinander schlafen, gelt! Lehn’ dich mehr an, ich ertrag’s gut. Schau, schau, da guckt wahrhaft schon der Kirchturm über den Hügel. Das Kreuz und ein Stück Helm ... ‘s heimelt mich Weltmaikäfer doch wieder an. Die Kinderzeit, Gott, die trübt sich einem durch allen Staub der Vagabundenstrassen nicht. Wie Kristall blitzt sie mir entgegen. O ich zeig’ dir alle meine Spitzbubenplätze, das Wäldchen, wo wir fast einen Weltbrand angezettelt, und den Salzbirnenbaum, von dem aus wir die Kaplanenköchin nachts belauscht haben, wenn sie die falschen Zöpfe losmachte und sieben Heiligenbildchen küsste und dann im langen Hemd durchs ganze Zimmer Weihwasser spritzte und zum Fenster hinaus in der Nachthaube psalmierte: alle guten Geister loben den Herrn! Und wir oben in der Dolde riefen mit tiefem Bass: und seine unbezopfte Maid Marianne Siehstmichnicht! Ach, war das ein Klapf, wie sie die Holzläden dann zuriss!«

»O welch ein Schlingel bist du gewesen!«

»Immer, immer, Allerliebste! und der grösste vor anderthalb Jahren, als ich dich kaperte. Ach, wie anders leb’ ich, seit du bei mir bist.«

Freudig sah sie auf das zierliche, schwarzlockige Männchen nieder und dankte ihm mit einem Kusse auf die Stirne.

»Und zu denken, wie wir uns fanden! Auf der Basler Polizeiwache, ich wegen Radau mit meiner Geige, du, schlafend von einer Bank geholt, ohne Papiere. Und es war elfter November und das Lokal nicht geheizt. Weisst du, warum ich das Datum so gut weiss?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Wie grob waren Nase und Mund, dick, wulstig, breit. Aber wie vergass man alles ob dem hinreissend schönen warmen Grau ihrer grossen, herrlich bewimpelten Augen!

»Es war Martini. Von diesem Heiligen gibt es in unserer Kirche ein uralt Bild, wie er den Mantel halbiert und einem Bettler das eine Stück reicht. Das kam mir in den Sinn, als du so hart an der Mauer kauertest und die Achseln hochzogest.«

»Ja, du guter Martinus hast nicht halbiert. Du hast kurz und gut den Rock ausgezogen und befohlen: schlupf’ hinein! Und du sassest hemdärmlig da und wärmtest dich an mir, bis der eine Wachtmeister sagte: auseinander! O wie haben wir gelacht! Wir wussten genau, dass wir nie mehr auseinander gehen, nein, dass wir immer näher geraten.« »Und als er zum zweiten Mal sagte: Auseinander, das ist unmoralisch! da antwortete ich: Der ungeheizte Ofen ist unmoralisch. Ich bin Zeitungsschreiber und bericht’ es morgen in der Nationalzeitung, dass am Martinitag, am Tag des Gänsebratens in der warmen deutschen Stube, dass da den stubenlosen, armen Menschen auf der Polizei bei Null Grad Reaumur nicht einmal geheizt wird ...«

»O wie staunte ich dich an. Wie herrlich hast du geredet!«

»Ja, da heizten sie, und du sagtest: Zum Danke sing’ ich was ... und sangest:

«Durch einen tiefen Schnee Kam uns der Christ entgegen, Da floh das alte Weh Vor einem jungen Segen ...»

O wie du sangest! ‘s war wie in der Kirche. Die Polizei kraute im Bart, machte gewaltige Trotzaugen und konnt’s nicht hindern, dass ihr die Augen überliefen.«

»Weil du mich mit der Geige so schön begleitet hast. Nach drei Takten dacht’ ich, das geht zusammen wie Bruder und Schwester. Und wieder nach drei Takten, als wir einander anlächelten, dacht’ ich, nein, es geht zusammen wie Mann und Weib; in dieser Musik waren wir schon verheiratet.« Sie stand still, atmete schwer und trocknete den Schweiss von den brandigen Lippen.

»Wie du das sagst, wie ein Dichter!« lobte er. »Aber dir ist elend, nicht wahr. Nur noch drei Minuten, Kind!«

»Durst hab’ ich, bloss Durst. Kommt denn kein Brunnen?«

»Grad’ an der Dorfkreuzung ist einer! Stütz’ dich ganz und gar auf mich! Hei, wirst du mir ein durstiges Teufelchen schenken!« – Er gab ihr voll Schelmerei den Kuss zurück.

»O es soll nicht hungern und dursten wie wir!« sagte sie auflachend. »Ah, jetzt sieht man das ganze Dorf. Potz, wie putzig ist das alles um die Kirche gestellt. Also, das ist ein Milchdorf, sagst du, voll guter, süsser Milch. Was ist gut!«

»Milch zum Überlaufen, Most zum Überlaufen, nein, Durst gibt es nicht. Jetzt, da spaltet es sich; der kleine Weg hüpft dir direkt zum Kirchplatz, zwischen dem Schulhaus und dem Spritzenhüttlein mitten ins grüne Kirchengras. Da ist der bessere Brunnen, aber immer viel gwundriges Pack herum. Hingegen rechts der Landstrasse nach kommen wir ins Unterdorf und könnten hintenum schwenken gegen unser Haus.«

»Und Wasser?«

»Hat’s auch, aber etwas weiter weg.«

»Komm’, was fürchten wir die Leut’! Grad hineingesprungen wie ins Bad und alles Gruseln ist vorbei.«

»Bravissima! So denk’ ich auch. Übrigens an uns kann doch jeder nur Freud’ haben, basta.« – Obwohl er hier jedesmal das Gegenteil erfahren hatte, ging eine leichtsinnige Vertraulichkeit über sein Gesicht. »Also ins Fussweglein!« Er schritt voran, den grossen Rucksack auf der Schulter, eine grüne Tasche mit der Violine über die rechte Achsel, mit Stecken, Schirm und einer Art Mappe unterm Arm.

Todmüde schleppte die Frau sich und ein anderes zehrendes Leben die zweihundert Schritte zum Dorfe vorwärts. Fiebrig stieg ihr die Übelkeit in den Kopf. Sie hörte das Klingen von silbernen Wasserstrahlen ringsum. Noch zehn Schritte über grünen Kirchenrasen empor, und man stände an der Röhre. Aber da war gerade die Schule aus, und der Pfarrer hielt vor dem Schulhause, wo er Katechese gehalten, mit den zwei Schullehrern noch einen gemütlichen Schwatz. Die Kinder jagten sich noch herum und spielten über den Platz.

Als das seltene Paar in den Plan trat, richteten sich alle Köpfe danach. Einige riefen: »Der Schül, der Schül!« Lehrer Peder zupfte den Pfarrer am Ärmel und flüsterte: »Wahrhaft, da ist er wieder, der Vagabund, und bringt noch ein Weib mit!« ... Aber hoch über alle Köpfe sah der Pfarrer mit Stahlaugen, umwölkten Brauen und einer bösen Witterung den Ankömmlingen entgegen. Wie der Leitbock einer gefährdeten Herde pflanzte er sich mächtig im Strässchen auf, horn- und stichbereit, während die Kinder im Gefühl eines Zusammenstosses sich neben und hinter ihren imposanten Pfarrer stellten.

Beim Anblick dieses Gewaltigen erschrak die ermattete Frau und suchte mit beiden Armen sich an ihrem Julius zu halten. Der zog den Hug zeremoniös lebhaft, lächelte gesellig und rief: »Willkommen, Herren und Freunde,« als ob er das Dorf empfinge und nicht das Dorf ihn.

»Was sind das für Spässe? Wer seid Ihr?« fragte der Pfarrer rauh. Tag für Tag hatte man ihm das Ohr vollgeredet von diesem Unband und seinen schlimmen Streichen. Er war längst gerüstet.

»Julius Täler, Musikus und Seilermeister, Bürger von hiesiger Gemeinde. Und hier mein legales Weib Siria ... Sie ist müde und hat Durst. Komm, Schatz, siehst den Brunnen dort oben!«

»Halt!« donnerte der Pfarrer, einen Fuss vorstreckend.

Lächelnd wandte der Musikant sich um. Aber in diesem Augenblick stutzte Carolus. Wieso durfte er Halt! rufen und zwei friedliche Fussgänger mitten im Wege behelligen?

»Haben Sie mich nicht verstanden?« fragte mutwillig der Schwarze. »Also: Bürger hiesiger Gemeinde ... und mein legales Weib Siria, ehemals Konzertsängerin. Was gibt es noch? Ist hier das Gemeindebüro auf offenem Platz?«

Konzertsängerin, legales Weib, Siria, Musikus, das schwirrte so böse um die roten Schnecken des Pfarrers und verband sich so unheimlich mit allem Bisherigen, was man von Julius wusste, dass Carolus sich nicht recht sammeln konnte. Mehr oder weniger hatte er an Klatsch geglaubt, und jetzt, ehe man sich vorgesehen, stand einem die Geschichte viel schlimmer, als man je geträumt hatte, schon vor der Nase und stank gehörig.

Wieder wollte Schül weiter. Seine Frau war völlig an seiner Brust eingesunken. Und wieder kommandierte der Pfarrer: Halt! Hier war der Feind, hier musste sogleich zum tödlichen Schlag ausgeholt werden.

Ringsum öffnete man die Fenster. Auf der Schwelle zur Ilge setzte sich das blöde Lisettli nieder, hielt die grosse Tasse voll Milch an beiden Ohren und staunte in den Vorgang.

»Halt oder nicht Halt,« rief Julius, »meine Frau wird ohnmächtig. Bringt ihr ein Glas frisches Wasser, Kinder!« Er hielt ihren Kopf so zart und feierlich an seiner Brust, als wär’s ein Heiligtum. »’s ist nur die Hitze und Müdigkeit, Schatz,« lispelte er.

Der Pfarrer hörte und sah nichts als diesen schwarzhaarigen, lachenden, gewissenlosen Feind. Er sah ihn wie ein Gewölke voll Fluch und Fäulnis übers Dorf kommen, und in tausend giftigen Schwefelstrahlen zuckte daraus eine Ansteckung von Unglauben, Spott, Unsittlichkeit, wogegen die Grippeseuche ein harmloses blaues Flöcklein war. Da drohte die Gefahr schon an der Schwelle der Pfarrei und wollte sich sündengrau in die stillen, braven Hütten ergiessen. Und er sollte dastehen und warten und schweigen, ein Mietling, kein echter Hirte seiner wolfumbellten Herde! Niemals!

Wie konnte er da noch eine Frau sehen, die vor Durst hinsank, einen Mann sehen, der nur noch für diese Frau und ein unsichtbares Drittes Aug’ und Ohr hatte, eine Liebe sehen, die aus diesem Staube von Armut und Schmutz noch einen göttlichen Widerschein schlug?

Er regte sich in seiner ganzen stattlichen Majestät, der Panzer knirschte, die Augen loderten und die Stimme flog wie ein Gewaltsvogel über den weiten Kirchhügel: »Julius Täler, was kommt Ihr, unsern Dorffrieden zu stören?«

Frauen stürzten nach Wasser, der Angedonnerte verzog das blasse Gesicht zur Grimasse und blickte mit fieberhafter Spannung bald zur Frau, bald zum Pfarrer.

»Gerade den Frieden will ich hier holen,« versetzte er.

»Und den Unfrieden bringen!« wetterte der Pfarrer, gestochen von allen Gerüchten über das ganz gewissenlose, heidnische Leben dieses entfremdeten Dorfkindes. »Habt Ihr einen Beruf? Den Beruf zu betteln, zu strolchen, zu schwindeln. Aber hier sind alle fleissige, brave Menschen. – Habt Ihr ein christlich Weib? Eine Aufgelesene, ohne Segen und Sakrament! Aber hier weiss man nur von der Ehe am Altar! ... Habt Ihr Ehre? In Schuldbetreibungen und Arresten liegt Ihr, entlehnt und gebt nicht zurück, faulenzt, sauft und habt geholfen, euern braven Bruder Jeremi in Armut und Tod zu stürzen ...«

»Herr Pfarrer,« plapperte der Mann, endlich doch niedergedonnert, vom zusammenlaufenden Volk umgafft, das stöhnende Weib immer noch ohne einen Schluck Wasser im Arm, »Herr Pfarrer, wo habt Ihr ihn beerdigt, meinen guten, gutesten Marx?«

Das war der Moment, wo Sigi das Mili rief. Es sah zum Fenster hinaus, begriff sofort, stürzte die Treppe hinunter, sagte dem Lisettli: »Komm schnell mit der Milch! Schütt’ nicht aus!« – und lief den Rasen hinunter zu den ärmsten Zwei.

»Kehret um, in dieser Minute kehret um!« scholl es vom aufgeblähten Munde des Carolus Bischof. »Tut keinen Schritt vorwärts! Kennet Ihr das furchtbare Wort vom Ärgernis? Vom Mühlstein am Hals und Versenken, wo das Meer am tiefsten ist? Ihr bringt den Skandal. Gehet, gehet!«

»Und meine Frau lasst Ihr sterben, grosser Christ Ihr!« brüllte es jetzt aus dem schwarzen Zipfelschnauz hervor. Denn auf einmal reckten sich ein Dutzend Arme mit Gläsern und Tassen, Wasser, Wein, Most ... Sie schläft ... sie stirbt ... tot ist sie, klatschte man durcheinander. Aber über alle scharf und hell drang Milis Stimme: »Lisettli, flink!« Und widerspruchslos nahm sie das ohnmächtige Weib an sich.

Und das blöde Ilgenmädchen mit den stieren, aber für das Mili so begeisterten Augen trat herzu, lallte etwas vor Freude, wie: »Kein Tropf’ verschütt’, Milmili!« hob hoch seine Ohrlappentasse mit der dampfenden Milch und lachte und kicherte wunderlich froh, als Mili die Frau Siria mit einem kühlen Essiglappen an den Schläfen netzte, die Tasse an die Lippen zwang, und rief: »Lisettli, gutes, deinen Löffel noch!«

Langsam setzte sich das Mili mit der Frau auf den Rasen, der schon viele Blumen, aber noch nie eine solche Wunderblume erlebt hatte, legte ihr Haupt an die Brust, streichelte und blies ihr sanft ins Gesicht und löffelte ununterbrochen von der Milch ein. Da öffnete das fremde Weib seine grauen, wunderbaren Augen, staunte, lächelte, trank weiter und schloss dann wieder die lang bewimperten Lider.

Der Pfarrer zwischen den Lehrern und furchtsamen Kindern stand da wie erstarrt. Erst jetzt sah er das Persönliche und menschlich Erbarmungswürdige der Szene. Der Richtermantel, mit dem er dahergerauscht war, schien ihm auf einmal, sowie er das lächelnde Närrlein mit der Ohrlappentasse bemerkte und »kein Tropf’ verschütt’!« hörte, völlig unangepasst; er rollte ihn leise und beschämt zusammen, schlüpfte in den gewöhnlichen Bruderkittel und sagte dann nicht mehr so laut, noch erhaben: »In Gottes Namen, geht in Eure Stuben und ruhet Euch fürs erste aus! Ich will Euch wahrlich nicht böse. Der Friede des Herrn mit Euch! Reden wir später miteinander! Aber weh’ Euch, wenn Ihr unser sauberes Taubennest besudelt!« ... Mit grossen Schritten, die Arme von sich gestreckt, ging er eilig dem Pfarrhof zu.


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