Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 22

Der Saal im »Silberfisch« füllte sich. Das Gasthaus stand im Unterdorf, im Augenbereich des Corneli, und dennoch von allen Wirten war dieser der einzige treue Carolinger.

Klein sind die Stuben der Dorfwirtschaften und es bleibt ein ewiges Rätsel, wie elastisch sie dennoch werden können, wenn Hunderte Platz finden, wo man auf Dutzende rechnete. Da wird ein Tisch über den andern gestellt, da eine Wand ausgehoben, da der Vorflur hinzugequacksalbert. Immer noch winden und keilen sich neue Gäste ein, wo vorher gesagt wurde, keine Stecknadel schöbe sich mehr dazwischen.

Längs den Fenstern lief eine Holzterrasse. So wurden denn die Scheiben und die beiden Türen ausgehängt und von der Strasse Holztreppen emporgeführt, damit der »Altmodische Abend« sich dort in reichem Laternenschein, unter dem freien, föhnigen Märzhimmel präsentieren könne. Die ganze Länge des Saales mit den neugierigen Kopfreihen hatte so das Spiel vor sich. Und von der Strasse aus konnte das weitere Volk gratis zusehen.

Man hatte Kostüme von St. Gallen kommen lassen. Johannes und Sigi wurden dringend zur Teilnahme gerufen. Die zwei hübschen Jünglinge durften in dem alten Grossvaterreigen nicht fehlen. Auch Mili und Lorli mussten sich zu den Figuren des Spieles hergeben. Dem Schül ward ausdrücklich gesagt, dass man seine Mitwirkung nicht dulde. Denn eines Tages hatte Siria einen Zettel und Pfarrhaus geschickt: Obacht! Mein lieber armer Tollkopf hat etwas vor!

Auch Carolus hatte etwas vor. Nach dem Spiel wollte er die alte und die neue Zeit in kurzer Rede vergleichen, die Lustigkeit von damals und die Lustigkeit von heut. Und da wollte er die heutige maskierte und tanzende Fastnacht in ihrer ganzen Blödigkeit zeigen. Sowie er nur zu reden begänne, würde ein gewaltiges Lichtbild vorgeführt, Rethels grausige Darstellung der Pest am Karneval, wo die blaugedunsenen Leichengesichter aus den heruntergefallenen Larven grinsen. Das war der Augenblick, um von allen Pfarrkindern das Gelübde abzunehmen, dass sie fürder zu keiner Tänzerei mithelfen wollten. Denn wenn auch keine Leibespest drohe, die viel schlimmere Seelenpest hocke ihnen sofort auf dem Nacken.

Übrigens solle man das Wort Pest nicht zu laut aussprechen. Die Grippe habe man erloschen gewähnt, nun mit dem ersten Föhnlüftchen lebe sie wieder auf. In der Stadt wüte sie bereits ärger als im Sommer. In Uzli notiere man schon doppelt so viele Sterbefälle. Hier kenne Carl nur einen einzigen verdächtigen Fall, aber wer könne für die Zukunft garantieren? Ob man zwischen Totenkerzen nun wirklich noch den Mut zum Tanzen hätte? – Und dann wollte er ihnen vom Turmbau erzählen, ihre Neugier locken, ihre Begeisterung wecken und ihnen sagen, was das auch Geld und schöne Arbeit ins Dorf bringe. Er wollte sagen, wer einen Wagen oder ein Pferd oder einen Stier habe und wer damit helfe, Sand und Steine und Holz zuzuführen, wer aus seinem Wäldchen einen Baum schenke, aus dem Thurtobel Sand heraufhole, kurz, in irgendwas mithelfe, sei dann ein halber Erbauer des Turms, ja, sei ein Tänzer des Herrn, er tanze mit Leib und Seele jenen Höhen entgegen, unde veniet auxilium, woher alles, alles Heil komme. Mit einem brausenden Sursum! wollte er schliessen.

Der Abend kam. Mit ärgerlichen Augen hatten Corneli und Cecili von ihren Scheiben aus verfolgt, wie da auf der nahen Terrasse Lampions aufgesteckt, Tannenkränze um die Stangen gewunden, hellfarbene Teppiche über das Geländer hinuntergehängt wurden und wie dann und wann eine seltsam gekleidete Person in hohen Hauben und buntem Kamisol, von den Gassenkindern umgafft, im Silberfisch verschwand. Torheit! schimpfte die Greisin ein über das andere Mal, aber konnte nicht vom Fenster lassen. Narrenstücke, betonte Corneli sehr ernst. Aber wartet nur, ihr Sorglosen! – Der Pfarrer will den Bock zum Gärtner machen. Den Teufel treibt man nicht mit dem Teufel aus. Das sollte so ein hoher Theologe wissen. Immer wieder sah er nach der Uhr.

Um halb acht ward es dunkel, die verkleideten Paare sammelten sich im Hausgang. Auf dem Balkon fiedelte schon Lehrer Peder und zwei fixe Pfeifer und eine Schlagzither spielten mit ihm zusammen langsame, schrittmässige Weisen. Eine gewisse Feierlichkeit lag in der Luft. Der Saal war drückend voll, unten in der Gasse starrte es schwarz von Köpfen und Mützen.

In bunten Fräcken und weiten Röcken, mit Zöpfen die Männer, mit gebänderten Haarkronen die Frauen, die in Haube, die im Schleiertuch, die in Perücke, einfache Dörflerinnen in der Sonntagtracht und aufgeputzte Bürgersfrauen mit Kettlein und Seiden, so füllte es rauschend den Hausflur und wartete auf die Glocke zur Vorstellung.

Mili stand da als die grösste der weiblichen Rollen, hoch, steif, feierlich, eine Ratsherrin oder Vögtin von 1720. Lorli dagegen hatte als Soldatenfrau zu gelten, deren Gemahl als französischer Hauptmann im Urlaub weilt. Der Pfarrer wollte absolut, dass Johannes diesen Hauptmann, Sigi den gewichtigen Senator darstelle. Selbst im Spiel wollte er den Johannes nicht mit dem Mili vermählt sehen.

Bei den Proben sprachen sie wenig mitsammen. Das stumme Lorli redete sozusagen am meisten.

Sigi machte kleine Spässchen nach rechts und links und wurde von den Jungen über alles bewundert. Aber gegen Mili tat er sehr ernst und was er redete, das merkte sie bald genug, war alles so besonnen und tüchtig, während Johannes nur lachte oder eine Gewöhnlichkeit von den Lippen brach. Die Ratsherrinnen, wie du eine bist, erzählte Sigi etwa, haben eine Stunde nach dieser steifen Toilette daheim wieder im gröbsten Küchengewand Brotteig gewalkt oder den Hühnerstall ausgemietet. Das war eine Rasse! Schreiben konnte keine, aber die Lieslara, die berühmte von Wyla, hat ihrem Manne sogar die alten Urkunden und Gesetzrodel erklärt.

Mili musste zuhören, ob sie wollte oder nicht.

So oft sie nur konnte, versuchte sie sich in ein Gespräch mit Johannes zu retten. Und er lächelte und antwortete lau wie immer. So etwas lieb Verwöhntes, kindlich Selbstsüchtiges guckte stets noch aus ihm. Aber es fiel Mili doch auf, wie schal eigentlich sein Geplauder und wie unaufmerksam er selbst dabei war. Er schimpfte über die Zeichenschule und sagte, auch der Pfarrer finde, er solle sich nicht nach ihrer Schablone abmartern. Und Mili hätte gerne gesagt: aber deine Schablone ist ja noch viel enger. Johannes werde weit! – Er schien ihr weder älter noch reifer zu werden, immer der kühle Knabe von früher zu bleiben, während aus dem beweglichen Sigi etwas duftete wie von einem jungen, reifenden Pflaumenbaum. Johannes war immer der gleiche, hübsche, grüne Busch, etwa ein Haselnussbusch, aber junges Laub und immer nur Laub; von Nüsschen keine Rede. Ach, wie viel hatte sie an ihm und in ihm gesehen, was gar nie dagewesen war. Log denn eine erste, unberechnete Liebe so?

Umgekehrt, wie hatte sie Sigi unterschätzt! Gewiss, seine Lippen brannten noch immer unheimlich dunkel, und es schwefelte und phosphoreszierte aus seinen Augen zeitweise und der Zickzack seiner Brauen sah immer noch abenteuerlich aus. Jedoch, wie viel ruhiger er redete, wie viel gescheite Sammlung lag über seinem Gesicht! Er berichtete ihr fast nur von seiner kranken Mutter. Er habe ihr aus der Heiligenlegende vorgelesen, drei Abende hintereinander. Ihr zulieb! O wie sie nachher flink und froh einschlief. Aber dann tat er es auch sich zulieb. Denn so viel Wunderliches und gewiss auch fromm Erfabeltes darin stecke, trotzdem, was das für Menschen gewesen seien! Wie die denn doch über die Alltäglichkeit den Kopf weit hinausgereckt haben! Und wie gesund sie waren! Welche Nerven! Nein, nein, das sei denn doch, lache wer lachen mag, des reiflichsten Überlegens wert. Da sei eine Nonne von Töss, also eine Schweizerin zwischen Zürich und Lustigern. Die habe das erste deutsche köstliche Büchlein verfasst, als Freundin des Heinrich Seuse, des grossen Mystikers, vor sechshundert Jahren etwa!

Hat Johannes je so geplaudert?

Sie mussten sich dann bei den Proben an den Fingerspitzen fassen, wie zwei Planeten umeinander kreisen, Verbeugungen machen, sogar Arm in Arm sechs Schritte vor, drei Schritte rückwärts stolzieren. Sie war zuerst beklommen dabei. Aber Sigi missbrauchte die Gelegenheit nicht. Seine Hand war fest, ganz anders als der schwächliche Händedruck des Johannes, sein Ellbogen war sicher, Männlichkeit sang aus jedem Schritt. Das imponierte ihr. Er floh nichts, er suchte nichts bei ihr. Sie konnte eine herzliche Hochachtung nicht unterdrücken.

In diesen Tänzen löste sich das Paar immer wieder auf, spielte bald neckisch, bald feierlich allein und verband sich dann wieder, und jedesmal, wenn Sigi dem Mili seine Fingerspitzen reichte und sie sich berührten, schien es der Jungfer, es seien eher brennende Kerzen oder sengende Sonnenstrahlen als gewöhnliche Finger, was da in sie hinüber zuckte und ihre grosse, standhafte Jungfräulichkeit durchwärmte.

Wärme! Danach hatte sie sich den ganzen Winter gesehnt! Erst jetzt, da ihr Idol weg war und sie nicht einmal mehr ihr Feuer an diesem lauen, egoistischen Kauz anzünden konnte, da sie nicht einmal mehr eine Täuschung zum Warmwerden benutzen konnte, erst jetzt fühlte sie wie alle sinnlich gesunden, blutwarmen Menschen den Frost der Einsamkeit und Verlassenheit um sich. Das war Schnee, der frieren machte, gegen den kein Stubenofen, nur eine rechte Liebe helfen konnte. Und da sah sie täglich die Siria, eine Heidenheilige, wie Mili sie heimlich nannte, arm, ehrlos, geplagt und dabei doch so warm, weil in einer tiefen, echten, unzerstörlichen Liebe mit Julius lebend, ihm alle Fehler verzeihend, sein schwächlich Gutes wie ein Kleinod verehrend und nach allen seinen Seitensprüngen von ihm doch immer wieder als seinen Herd und Halt, seinen Glauben und sein Hoffen, als sein Einziges und Bestes auf Erden gesucht.

Ach, wenn doch mich jemand so suchte, dachte sie oft und erschauderte bei der süssen Vorstellung bis ins Innerste ihrer keuschen Weiblichkeit. Sigi? Hat der so gesucht? so? Nein, das glaubte sie nicht. Und jetzt, so gemessen, so munter, so korrekt, nochmals nein, jetzt sucht er sie erst nicht mehr.

Wenn er redete, sah man seine tüchtigen, aber leider ganz gelben Zähne. Diese Raucherzähne hatten sie früher immer widerlich berührt. Jetzt gefiel es ihr im Gegenteil, wie er nach jeder Behauptung die Zähne fest zusammenhackte, als gäbe es da nichts mehr zu sagen, als sei es unumstösslich. Und wie oft hatte sie über sein zischendes T und D gespottet, da er mit der Zunge irgendwie anstiess, und wie hatte sie jene Kameradinnen ausgelacht, die gerade diesen Fehler schön fanden und deren Brüder das T auch so scharf zu schnitzen versuchten. Und jetzt, wenn er sagte: der Tanz da, der geht tadellos! dünkte es sie selber charmant, wie diese zischenden T und D gleich Messerchen aus dem übrigen Wort schnellten.

Hinter seinem linken Ohr bemerkte sie jedesmal nach einer gewissen Drehung eine sonderbare rötliche Schwellung bis unter die weisse Perücke, die er mitsamt dem Zöpflein elegant trug. Fast wie ein rostiger Brandflecken war es. Ob das weh tue, fragte sie. – Schon etwa, gab er zurück. – Woher? – Einmal nach dem Haarschneiden, eine Infektion, ein Pilz. Er habe schon alles mögliche versucht. Es könne ihm das Haar vom halben Kopf wegfressen. – Und Brennesselwasser? – Er lachte. – Alles Haar verlieren, das wäre ja schrecklich! Sein schönes, haselnussbraunes Haar, oh – Dann würdest du mich gar nicht mehr anschauen, he? – Ich? Ich liesse es gar nicht so weit kommen, sagte sie energisch, aber biss sich sofort auf die Lippe. – Was tätest du denn? fragte er und das grüne Gefunkel begann in seinen Augen zu spielen. – Ach, wir schwatzen Dummheiten. Probiere doch Brennesselöl! – Das war das keckste, was sie zusammenplauderten. Aber Mili dachte damals, sie würde dieses Gebresten schon wegbringen, koste es, was es wolle, habe doch die heilige Elisabeth Pestbeulen einfach nur so weggeküsst. Sogleich wurde sie blutrot. Küssen, wegküssen, täte sie’s auch? aus Heiligkeit? O Gott, aus süssester, bösester Weltlichkeit! Weg mit diesen Grillen! Ja, ja, da sieht man, wie das Tanzen unsereinen auf tolle Gedanken bringt. Sogar dieses pfarrherrlich geschützte, altväterische Grossvater- und Grossmuttertanzen!

Johannes plauschte und lachte mit allen Mädchen. Aber Sigi redete wenig. Dem Lorli kam er überaus freundlich entgegen. Immer hatte er Stift und Papier für sie bereit. Dieses Jüngferchen mit den grossen grauen Samtaugen und dem Mund wie eine volle Kirsche war sicher das glücklichste Wesen hier. Von allen geliebt und geschirmt erlebte es hier, was es in der Stadt nie gefunden, Ruhe, Unabhängigkeit und allenthalben Beliebtheit. Es zappelte wie eine junge Katze herum, tanzte mit mehr Melodie als alle, die das Aufspielen hörten, und kümmerte sich weder um Sigi noch um Johannes viel. Es schien, als finge es erst an, eine früher verwehrte hübsche Kindheit nachzuholen.

Unter den Tänzen gab es einen einzigen etwas stürmischen, den Jakoberhops, den der Pfarrer eigens dem Sigi mit dem Mili vorbehalten hatte. Er rührte von einem sagenhaften Toggenburger, Jakob Bolzer von Ebni; der soll Wunder von Reigen und Verschlingungen, Marsch- und Kontretänzen und Galoppaden gewirkt haben. Aber im Gedächtnis war nur der Jakoberhops geblieben. Die Dame blieb dabei erst stehen, drehte sich dann leise, die Hände in die Hüften gesperrt, während der Herr in zierlichen Verneigungen und Kreisen um sie herum gaukelte, wie eine leichte Kolonne um eine Festung. Aber aus dem Geflatter wurde ein festes Schreiten, ein prachtvolles Vorhalten der Arme, ein trotziges Spannen der Knie, endlich ein eigentlicher Sturm um die weibliche Burg. Im gleichen Takt drehte die Dame sich rascher, geschickt jedes Einhaken des Feindes in die Ellbogen durch Wiegen und Schwenken des Oberkörpers verhindernd. Dann musste Sigi in die Ecken zurückfliehen, noch stürmischer nahen, noch heftiger um die Schöne wirbeln, bis seinem Arm endlich doch der Griff gelang und das Paar nun Arm in Arm einen heitern Hopser rundum vollführte. Bei den letzten Akkorden sollte der Herr die Dame an den Ellbogen in die Höhe halten »wie einen schwebenden Engel«. Das unterblieb hier auf Carolus’ Wunsch.

Bei diesem Galopp nun fühlte sich Mili jedesmal wider Willen aufgeregt. Es schien ihr nicht mehr Spiel, sondern gültiges Tun. Jede Bewegung Sigis passte ihr, sie atmete im Takt mit ihm, fühlte sich sozusagen eins mit ihm. Jedesmal nach dieser Probe war sie für den übrigen Abend befangen und blies nicht nur von der Schwüle im Saal den Flaum der Oberlippe unaufhörlich auf.

Unverkennbar, das Weib regte sich jetzt mächtig in ihr. Aber wenn sie dann wieder auf Johannes blickte, wie gerade jetzt beim langen Stehen und Harren im Hausgang, wie er so zart, leichtsinnig, harmlos dastand, unvermögend, etwas anderes ausser sich wirklich zu lieben, so schrecklich arm an Seele, dann überwallte sie das alte Schwestergefühl, nein, vielmehr eine wahrhaft mütterliche Empfindung, sie müsse sich diesem lieben armen Wesen opfern, es womöglich ein bisschen erwärmen und bereichern, ihm ganz Freundin und Dienerin sein, wie der Pfarrer riet. Niemand habe das so nötig wie gerade Johannes. Er freilich wisse es nicht. Umso hilfsbedürftiger sei er.

Endlich schellte die Hausglocke. Die Paare traten aus der Wirtschaft auf die Strasse und stiegen die Leiter zur rot und gelb erleuchteten Terrasse empor. Ein Gemurmel des Staunens ging durch den Saal und über den Strassenplatz. Denn das war wirklich ein schmucker Auftritt, diese alte Zeit in Amt und Militär, in Haus- und Festtracht, im Aufputz von Arm und Reich, Befehlenden und Gehorchenden. Alle stellten mit ihrem Kostüm gesetzte Leute von vierzig, fünfzig Jahren vir, Sigi und Mili sollten sogar Enkelvater und Enkelmutter sein. Aber die weichen, ungefurchten Gesichter spotteten der Verkleidung. Sie taten wie Grosseltern, aber fühlten wie Grosskinder, diese altmodischen Spieler.

Unter atemloser Aufmerksamkeit vollführten die Gruppen ihre würdigen Figuren. Es klappte famos. Tanzblut! lobte Eusebius, aber verbiss sogleich den weiteren Satz. Bald sah das Spiel aus wie eine unterhaltliche Promenade, bald wie ein ernster Marsch, bald wie ein Geflitter und Geflatter von Komplimenten, ein schalkhaftes Versteckensspiel, ein Schmollen, Necken, Verzeihen, eine Koketterie alter Eheleute. Man trippelte, tänzelte, schwang sich herum, doch immer mit leichter Berührung der Fingerspitzen, immer mit Einzelspielen, wo es heftig wurde, und grosser Ruhe, wo man zusammenging. Aber zauberisch war in der Farbenglut der Lampions dieses Auf und Nieder der alten Tage anzuschauen, dieses Schwenken und Neigen und glückselige sich Zerstreuen der Gruppen und wieder sich in heiterer Geschlossenheit Finden. Und etwas von dem Frieden und der poetischen Genügsamkeit jenes Jahrhunderts schien sich über alle Zuschauer zu legen. Auch die schlichte Musik passte dazu. Alles atmete Harmlosigkeit, liebenswürdige Zerstreuung und Unschuld.

Ganz anders als bei den Proben ward es dem Mili hier auf dem offenen Plan zumute. Jetzt ward ihm Wilfried ernst. Es kannte kein Spiel von solcher Bedeutung, es ward ihm Wirklichkeit und Wahrheit. Streng hielt es sich an Sigi fest, innig verbunden fühlte es sich mit ihm und beim Jakoberhopser, wo sie beide allein spielten, zwei so prächtige Menschenbilder, da sträubte es sich nicht lange, klammerte sich warm in den Armgriff des Partners, galoppierte mit entzückten Augen um die Bühne, verneigte sich begeistert und ward gar nicht überrascht, nein, sie hatte es selig geahnt, als Sigi, genau wie Mili vom Spiel in die Wirklichkeit gerissen, gegen alle Vorschrift und Probe, beim Schlussakkord Milis Ellbogen in seine hohlen Hände fasste und ihr ganzes fröhliches irdisches Gewicht hoch über sich hinaus in den funkelnden Sternhimmel hob. Alles klatschte, alles rief bravo, bravissimo, selbst Carolus schluckte das Gesetzwidrige, ja, vielleicht Gefährliche des Vorgangs und schlug seine Riesenhände ein paarmal zusammen. Am Ende, dachte er, glückt es doch noch! Und rasch flog sein Auge zu Johannes und Lorli oder wie er die Stumme taufte, zu Dorli. Aber von allen hundert und hundert Augen ringsum lachten diese vier schönen Augen am vergnügtesten und ehrlichsten dem Jakoberpaar entgegen.

Unten im Ammannhaus befahl Corneli um diese Zeit herum hart: »Cecili, zieh den Vorhang für, man kann vor dieser Appenzellerkilbi nicht einmal mehr die Legende lesen.« Cecili, mit einem Ohr gegen das Fenster lauschend, las weiter die Erzählung von den vierzig Rittern: »Und da die Soldaten dem Götzen nicht wollten Weihrauch spenden, liess der römische Präfekt sie auf den gefrorenen See hinausführen und nackend ins Eis halb vergraben. Aber am Ufer brannten Feuer und wartete man mit gastlicher Tranksame für den, der von der Marter übernommen das Zeichen zum Abfall gäbe. Will’s Gott, sagten die Ritter, sind unser vierzig ins Eis gegangen und harren aus und gehen unser vierzig auch in den ewigen Sommer des Christushimmels ein.«

Vom »Silberfisch« scholl neues Klatschen. Auch Corneli hörte nur noch mit halbem Ohr dem Heldentum jener Miliz von Sebaste am fernen Schwarzen Meer zu. Aber sein Ohr lag nicht am Fenster, sondern an der Türe, wo der Bote des Kreisamtes, so spät es war, mit Ungeduld erwartet wurde. Aber als ein neuer Jubel losbrach, wandte er sich unwillig zur Frau und sagte: »Die hätten eher eine Abkühlung nötig. Will’s Gott schick’ ich ihnen noch den rechten Eisheiligen.«

»Aber ein ganz junger Soldat,« las die Frau weiter, »hielt den Frost nicht aus und wie ihn auch die Kameraden baten, nur noch ein Viertelstündchen sich zu gedulden, das Schlimmste sei ja überstanden, sprang er dennoch aus den eisigen Schollen dem warmen Zelt und dem lebendigen Tod des Heidentums zu. Ach, klagten die übrigen, nun fehlt einer in der runden Zahl, wie beschämend ist das für uns! – Aber sieh, im gleichen Schnauf kam ein heidnischer Wächter hergelaufen und bat: wo ist der Platz des vierzigsten? Ich will mich hineinsetzen und mit euch sterben und selig werden. Denn ich sah vom Ufer her neununddreissig goldene Kronen auf euern Häuptern und die vierzigste schwebte leer in der Luft. Vielleicht, dass ich ihrer gewürdigt werde. Ein Gott, der solche Helden hat und solche Kronen verschenkt, muss der wahre Gott sein. Und so starben die vierzig Ritter und fuhren im Glanz der Unsterblichkeit gen Himmel. Frommer Leser, merke...« Es klopfte. Dampfend vor Schweiss und Kälte rumpelte der Expressbote des Bezirksammanns mit dem versiegelten gelben Brief herein, auf den Corneli so sehnlich gewartet hatte. Eine wahre Sonne von Zufriedenheit ging beim Lesen über dem verärgerten kalkweissen Antlitz auf. Eigenhändig schenkte er dem Boten zweimal ein scharfes wärmendes Nusswasser ins Schnapsbecherchen und steckte ihm noch einen Zweifränkler in den Sack: »Den Frack, Frau, und den Sonntagshut!« befahl er. »Ihr, Simeli Battist, begleitet mich in die Wirtschaft. Ihr könnt dann bei mir übernachten.«

»Was ist denn los?« fragte Cecili wunderlich, reichte Hut und Stock und schlug dem Gemahl eine dicke Schärpe um den Hals. »Nichts sagt er einem; sitzt neben mir und krümelt Brotrinde und nickt in die Legende hinein und zerplatzt mittlerweile schier vor Geheimtuerei. Manndli, Manndli!« drohte sie scherzhaft und guckte in das Schreiben. »O was? Jaso! Und solches darf ich nicht wissen? Nein, jetzt werd’ ich ernstlich bös. Pack’ dich, Schlimmer! – Sagt, Simeli Battist, ist er nicht ein Schlimmer? So schneeweisses Haar und so ein schwarzes Herz beisammen! Geht, geht, das wird eine Tusche geben dort oben! Gäb’ viel, könnt’ ich das mitansehen.«

Langsam und sorglich, das Kuvert am Herzen, stiefelte der Greis am Arm des Simeli in die Nacht hinaus.

Im Gasthaussaal war es indessen merkwürdig still geworden. Die »altmodischen« Spieler drängten sich neugierig an die Fenster, was denn da drinnen geschehe. Sieh da, an der Schmalwand wurde ein gewaltiger Karton entrollt, und den Lippen, die eben noch gejauchzt hatten, entfuhr ein entsetzter Schrei. Rethels Pest mitten in der Fastnacht! Fliehende, sterbende, gestorbene Festleute, Fackeln, verworfene Masken, Kränze, zerschmetterte Becher, das Grinsen der Agonie überall, bleierne Todesluft und inmitten seiner Grausen der musizierende, sieghafte, erbarmungslose Knochenmann selbst.

In die atembeklemmende Pause fiel nun wie schwerer Glockenschlag das wohlerwogene Wort des Pfarrers vom Totentanz, wie er auf alten Bildern steht und wie er in einem andern geistigen Sinne heute durch die Menschheit walze und galoppiere, Sünde vorne, Sünde hinten. Wie anders ehrbar und gesund und augenschön die alte Zeit, die sie eben gesehen, ihre Füsse und Arme bewegt und ihr Herz lustig gemacht habe! Wieder klappere das Gerippe in der Nähe, wieder dräue die Grippe. Das könne einen heitern Totentanz abgeben, einen Walzer zum Friedhof. Hoch die Beine! Wer beginnt als Erster, Zweiter und Dritter in die Gräber zu tanzen?

»Wäre man in der Kirche statt hier im Wirtssaal, ich würde im Antlitz Gottes, im Gehör und Gesicht euerer frommen Ahnen, unter dem Geflacker des ewigen Lichtes vor euch allen niederknien, eure Knie umfassen und euch um euerer Seel’ und Seligkeit willen beschwören, keine Tanzgeige mehr in eure Stuben aufzunehmen, keine Sohle mehr zu einem Hopser zu schwingen, dieser lasterhaften Narrheit zu entsagen und reinere Freuden zu suchen. Ich würde nicht aufstehen, vor keinem einzigen Schäflein aufstehen, bis es seinem Hirten dieses Gelöbnis abgelegt hätte und wenn ich vor Knien und Harren wund würde ...«

Ein Schaudern rieselte allen den Nacken hinauf.

Er wisse alles, wie man Hintertürchen und Fenster diesem faulen Zauber bald da, bald dort öffnete. Er wisse wo, wann, wie oft, wie lange. Aber er wolle nicht mehr davon reden, es über den Rücken werfen und vergessen, wenn mit diesem heutigen Abend, mit diesem würdigen Tanzgruss aus der biederen Väterzeit alles Tanzen in der Pfarrei aufhöre. Er wolle ihnen allen schönere Vergnügen schaffen, und eines vor allem: den Turmbau.

O wie schilderte er jetzt das hohe Werk in hohen Worten, wie malte er die Gerüste und Seile, die prachtvollen Axt- und Hammerschläge, die Fuhren mit schellenbehangenen Rossen, den rauchenden Kalk, das Klettern und Pflastern und wie der Gottesbaum Tag für Tag höher wachse, den herrlichen Stamm immer stolzer gen Himmel recke und Donner und Blitz als Gottes liebe Gesellen grüsse. Wie von solchem Wipfel ihre ganze Heimat überschaut und der Gesang der Stunden von allen Nachbardörfern gehört und bewundert würde. Und was das für ein Arbeiten und bewegliches Leben und Geldverdienen gäbe und wie es keinen Rappen koste und der hohe, feste Turm uns alle zugleich befestige und erhöhe. Wir alle würden dann auch im übrigen Tagwerk frischer, mutiger, himmelnäher sein, der Dorfgeist würde edler, der Blick für Verdienst und Fortkommen und Gedeihen des Dorfes weiter und schärfer. Aus Spatzen würden wir Falken.

Es klang wie ein Märchen, so unwahrscheinlich schön und doch so glaubhaft, und bezauberte alle, und Carolus hätte triumphiert, wenn er mit dem vogelhübschen Vergleich niedergesessen wäre. Aber da sagte er noch, man möchte ihm nun mit erhobenem Arm das Handgelöbnis leisten, weder zu Hause noch in den Wirtschaften fürder zu tanzen. Wären auch alle willens gewesen, und einen Augenblick stand es auch so, so widersprach doch die zeremoniöse Art des Armhebens dem nüchternen Sinn der Dörfler. Den Ältern kam die Feierlichkeit eher kindlich vor. Carl überlegte nicht, dass an einer kleinen Förmlichkeit ein grosses Wesen scheitern kann. Auch fühlte jeder instinktiv, dass die hochherzige Freiwilligkeit damit in eine Art Zwang übergehe; aber Zwang wirkt auf den Schwung der Gefühle erkältend wie Frost, ganz besonders beim raschen, elastischen Untertoggenburger.

Indessen wäre die Gewalt des Pfarrers wohl auch diesem Hindernis gewachsen gewesen. Aber da rief eine helle Stimme von der Strasse herauf durchdringend klar: »Aber Herr Pfarrer, wie wollt Ihr verbieten, was die heilige Schrift hundertmal erlaubt?«

Alles sah totenstill auf den Pfarrer, dem eine purpurne Blutwelle jählings übers Gesicht schoss. Ein paar Akkorde auf der Geige schwellten empor, dann ging es hurtig weiter:

»Ich könnte Euch hundert Stellen zeigen, wo die Kinder Gottes tanzen. Kein Fest, wo man nicht zum Reigen musiziert. Selbst der Heiland erzählt Geschichtlein, wo zu fröhlicher Gasterei die Spielleute gerufen werden. Und David tanzte vor der Bundeslade, und sogar die Priester tanzten im Tempel. Niemand darf den Tanz in Bausch und Bogen verdammen. Er kann gut, er kann vom Übel sein, aber er ist uns in den Leib geschrieben. Seit Adam und Eva haben die Menschen immer getanzt. Es ist Natur.«

Schnell, wie auswendig gelernt, aber auch wie mit eleganten Hammerschlägen folgte sich hart und fest Satz auf Satz und fiedelte immer eine tänzelnde, verräterische Begleitung dazu.

Kein Auge wandte sich vom Pfarrer. Wer hat ihm je so widersprochen, gleichsam Kanzel gegen Kanzel? Was wird er entgegnen? Wie er die Farbe wechselt, der Riese, und sich an die Stuhllehne klammert. Gibt es da viel zu widerlegen. Der Schül redet fürwahr recht gescheit. Seht, seht, jetzt geht Carolus ans Gesimse. Er nimmt den Handschuh auf. Gebt alle acht, das wird grossartig.

»Ihr selbst,« fuhr es unten fort, ohne viel Pause zu schenken, »Ihr selbst, Herr Pfarrer, habt soeben einen Tanz gezeigt. Getanzt muss also werden. Jede Zeit hat ihre eignen Tänze. Aber dass noch anders als nur so zierlich wie eben von unsern Grosseltern getanzt wurde, das kann man in den Chroniken des Landes lesen. Ich habe ein Buch mit vielen Kupfern über das Tanzen daheim. Kommt und schaut einmal an, wie man auch immer gewirbelt und gehopst hat, zwei und zwei. Der Walzer ist uralt. Er hiess nur anders. Solche kann man nicht aus der Welt schaffen. Wenn Euch, Herr Pfarrer unsere jetzigen Tänze nicht gefallen, gut, so gebt uns andere. Aber tanzen muss der Mensch ...«

Einiges Lachen, einige leise Bravos tauchten aus der dunkeln Gasse. Der Geiger spielte wieder, etwas lauter, doch wundersüss und wunderheiss, mit einem unwiderstehlichen Vierviertelstakt. Man konnte nicht anders, man musste Ohr und Sinn öffnen, man musste fröhlich werben, man musste mit den Füssen dazu taktieren oder mit den flachen Händen aufs Knie trommeln. Der Pfarrer schwieg wie vor den Mund geschlagen. Wenn er doch redete! Inzwischen wuchs der Zauber der Geige, er hatte etwas so Bezwingendes, dass selbst im Saale viele mit Schuh und Kopf dem Tanzrhythmus folgten, unsicher mitsummten, ja, dass bereits ein Pfeifer und der Zitherschläger auf der Terrasse leise auf ihren Instrumenten mitzuspielen versuchten.

Immer lauter schwoll der Lärm. Des Pfarrers Schweigen galt als Schuld, der ganze Saal im Blick auf Rethels Schreckensbild schwang mit der Musik mit, das ganze Volk tanzte im Herzen bereits nach Julius Tälers Teufelsgeige. Und wo noch eben dem Carolus die verdammenden Worte so brunnenklar vom Munde geflossen, dünkte ihn jetzt auf einmal eine solide Antwort in diesen wetterwendischen Leichtsinn hinein eine ungeheure Schwierigkeit. Aber er durfte nicht wie ein feiger Hund sich in die Ecke ducken. Er musste wie ein treuer Hund und Wächter des Herrn so laut bellen, dass alle die Gefahr kannten. Wenigstens das. Seine Adern schwollen, seine Kraushaare sträubten sich, seine Lippe blutete und seine blauen Augen lohten auf. Zum Kampf, zum Kampf! Munda cor meum et labia mea! flüsterte er leise das Gebetlein vor dem Evangelium.

»So antwortet mir doch, Hochwürden,« rief es im singenden Takt der Geige. »Ihr habt mich von Eurem Feste ausgeschlossen. Da schaue ich denn von der Gasse zu und von der Gasse, im Namen der lieben treuen Dorfgasse, rufe ich Euch zu: antwortet!«

Wahrhaft, jetzt klatschte die Gasse, rief Bravo, brauste auf wie ein zügelentledigtes Ungeheuer. Carolus, jetzt!

Aber in diesem Augenblick rief eine rauhe Stimme von der Strasse: »Platz da, der Ammann!« – Und sogleich folgten die dünnen, trockenen Worte Cornelis: »Gebet Raum, ihr Lärmbande ihr!« Sofort ward es so still, dass man die langsamen Tritte des Greises von Stufe zu Stufe und das Krachen der Diele hörte. Was bedeutet das? Carl fühlt, dass seine Sache eilt.

»Ihr Leute, höret,« donnert er zum Fenster hinaus. Aber da ist schon alles in die Gänge gestossen, die Treppen heraufgestürmt, füllt alle Ecken und Winkel. Carl wendet sich in den Saal. Auf der Schwelle steht der leichenhaft bleiche Gewaltige. Ehrfurchtsvoll macht man Platz. Corneli winkt nur mit dem Finger. Grabesstille!

Er entfaltet das Papier und liest hart, heiser, anstossend und doch allmächtig: »Infolge neuerlicher heftiger Verbreitung der Grippe mit bösartigen Begleiterscheinungen und zahlreichen Sterbefällen haben vom Moment der Bekanntmachung an alle politischen und geselligen Versammlungen, besonders jedes öffentliche Tanz- und Fastnachtsvergnügen zu unterbleiben, angesagte widerrufen, angehobene abgebrochen zu werden. Zuwiderhandlung wird mit Geld bis zu fünftausend Franken und mit Gefängnis bis zu einem Jahr unnachsichtlich gebüsst. Die Gemeindebehörden sind von Fall zu Fall ermächtigt, die Schulen bis auf Weiteres zu schliessen. Es wird empfohlen, die Gottesdienste am Sonntag auf ein Minimum von Dauer zu reduzieren. Je besser diesen Vorschriften nachgestrebt wird, um so rascher dürften sie wieder aufgehoben werden. Der Bezirksammann Schöll.«

Corneli liess sein heiles Auge über den vollgepfropften Saal schweifen und sagte: »Kraft solcher verkündeter Verordnung löse ich hiermit die Versammlung hier auf und bitte alle, sogleich und möglichst stille nach Hause zu gehen. Gute Nacht, Hochwürden! Gute Nacht, liebe Dorfgenossen!«

Er wandte sich. Alle Macht dieses Hauses und dieses Volkes hing an ihm. Wie ein Schulkind streckte Carl den Finger und bat: »Nur noch ein Wort!«

Aber Corneli stieg streng die Treppe hinunter, und das Volk würgte sich zu allen Türen und Fenstern hinaus ihm nach.

»Nur eine Minute, eine einzige Minute,« bettelte Carl und suchte die Nächsten zurückzuhalten. Umsonst, in wenigen Minuten war die vielköpfige Masse spurlos wie Wasser zerronnen.

Alles zerrinnt mir, überkam es Carl, alles, alles. Ist es nicht besser, ich resigniere? Der Bischof hat mir um Weihnachten einen Wink gegeben. Die Klosterfrauen von Heiligberg brauchen einen Beichtiger. Carl sann und sann, sah dann vom Tische auf und fand sich allein im Saal. Auch die Terrasse war leer, Stille ringsum. Gemütlich brannte von der Ammannstube her die Öllampe die Strasse herauf.

Aber unter der Türe wartete der kleine bescheidene Silberfischwirt, zeigte auf die Tische mit den halbgeleerten Gläsern, den Tellern voll Honigkringel und Mailänderli und den Flaschen Bier und Wein, die noch voll standen. »Fast niemand hat bezahlt,« jammerte er. »Dreissig Paar Schweinswürstchen sind bestellt und zwölf Portionen Schinken. Da rief einer: Grippe! und alles liess man unberappt stehen und rannte davon. Welch ein Schaden! Wie komm’ ich wenigstens auf meine Kosten, Herr Pfarrer? Ein Familienvater ...«

»Stellt mir die Rechnung morgen, ich zahle alles.«

Tief knickste der Kleine. »Sie sind immer gut mit uns, Herr Pfarrer, und da macht man es Ihnen so schlecht!«

»Wieso schlecht?« fuhr Carolus auf. »Ein Narr hat geredet, da spitzten sie die Ohren; denn die Narrenschelle tönt so spassig. Aber wenn sie einmal genug genarrt sind, kommen sie schon von selbst zum Verstand und damit zu ihrem wahren Freund zurück. Habt nur keine Angst!« Und indem er sich so für sein untreues Dorf wehrte, wurde er wieder voll Vertrauen und dachte: was Frauenkloster, totenstille Gänge, Bücher, Bücher und frommes Geflüster und vergitterte Fenster und gar keinen Bass unter fünfzig Nonnenflötlein. Das ist nichts für mich. Hier steh’ ich und fecht’ ich zu Ende.

Aber er ging zehnmal schwerer die zwei Treppen hinunter, als er sie emporgestiegen war. Eine schwere Niederlage lag ihm doch in den Beinen. In der Nacht draussen war es still. Alle Fenster und Türen waren verschlossen. Einsam wollte er die finstere Dorfstrasse zur Kirche hinaufwandern. Da huschte etwas aus dem Dunkel, klein, graziös, grossäugig und schneebleich, sah ihn mit einem wundervollen Kinderblick an, beugte sich nieder und küsste andächtig seine Hand. Dann verwehte es ebenso unhörbar im Dunkel. Wie ein Nachtpfauenauge, dachte Carolus. Mit einem Schlage fühlte sich der Pfarrer wieder wie beschwingt. Er hatte begriffen: für die ganze Pfarrei, die verblendete, hatte das taubstumme, kluge, tiefe Mädchen soeben Genugtuung geleistet.


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