Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 6

Das Stubenvölklein fuhr, als ob es bei unrechten Dingen ertappt worden wäre, verlegen vom Tisch auf.

»Ich habe dreimal geklopft,« entschuldigte sich Carolus.

Langsam reichte ihm Corneli die Hand und bot ihm den Ehrensitz oben am Tisch, wo er selbst thronte. Aber das Mili musste den von einem Teppich wie ein Heiligtum überdeckten Armstuhl aus der Ecke daherrollen. Die ganze Majestät des Hausherrn kehrte in den Corneli zurück, als er gebot: »Den Armstuhl her! Cecili, eine frische Flasche vom Goldäpfler und das Kelchglas mit den Goldborten!«

Auf dem Tische lagen noch die Karten, die Kreidezeichen des Jasses und das Profil des Kaplans.

»O Sie alter Sünder,« grüsste der Pfarrer lächelnd den Kaplan, aber sah taktvoll über die Zeichen der Sünde hinweg. »Hoffentlich haben Sie auf Haut und Haar alles verspielt ... Und ihr da,« herrschte er gnädig die jungen Leutchen an. »Das ist doch das Mili und das der Künstler. Hab’ dich auf die Fünfe erwartet, rare Jungfer, aber,« fügte er gleich ehrlich hinzu, »auch ich war nicht zeitig zur Stelle.«

»Sofort wär’ ich jetzt gekommen, im Augenblick,« schoss das Mädchen ohne Zaudern wie eine Kugel ins Wort. »Ich wollt’ den Johannes mitbringen. Auf die Fünfe, ja, ... aber, da haben wir uns bei seinem Zeichnen vergafft.«

»Schon gut,« beruhigte der Pfarrer. Er bat den Ammann, neben ihn zu sitzen, rückte ihm so nahe, als ein Grosser einem Grossen kann, stiess nur mit ihm an und bei der zitterigen Hand und Stimme des Corneli begann eine unterdrückte Rührung in ihm wieder aufzusteigen.

Zwar beim Kranken auf dem Wildberg und im Altersheim hatte er nur Ungutes, Geiziges, Unterdrückendes von Corneli zu hören bekommen. Das fuhr ihm jetzt wieder wie eine blitzartige Repetition durch den Sinn, indessen man sich in der Ammannstube mit den ersten nichtssagenden Fragen und Antworten behalf.

Corneli habe den einzigen, sehr geweihten Sohn des Alberti, der durchaus nach den höheren Schulen dürstete, von diesem Wagnis, wie er sagte, fast mit Drohungen abgehalten, da er eine Hypothek auf dem Wildbergwäldchen jeden Augenblick künden konnte. So fesselte er den überschwellenden Jüngling an die Maschine, und der Bursche, der hell und keck wie eine Drossel gewesen, ward nun düster, menschenscheu, las nichts, spielte nicht, ging Sonntags zu keinen Gespanen, stickte, stickte und schlief, schlief, war eine Maschine, mit einem Rädchen zu viel, behauptete Corneli, aber beim Studieren wäre aus diesem Rädchen ein Rad geworden, das ihn und die Familie zermalmen würde. Carl hatte vor Grimm kaum recht zuhören können.

Sonst war es einsam und schön dort oben, wo das kleine, niedrige Haus im Winde stand, und auch das Stübchen mit seiner heimlichen Stiege in den Keller und in die obere Kammer atmete Gemütlichkeit. Aber die Alten hatten ihre liebe Not, die Zinsen für den magern Boden und den Wald zusammenzubringen. Nun litt der Vater am Magenkrebs, konnte fast nur noch dünnen Brei geniessen, las tags in alten Kalendern, ohne zu merken, dass er die gleichen Geschichten schon dreimal gelesen, und paffte und dampfte aus seiner Pfeife, so schädlich das war, vom Morgen bis zum Abend und selbst noch im Bett durch die schlaflosen Nächte hindurch. »Etwas muss der Mensch haben,« sagte er bitter, »und wär’s nur noch der Rauch vom Rauch. Nehmt,« zürnte er, »nehmt mir noch den Tabak weg, aber dann bettet mich nur gleich in die schwarze Kiste!«

»Wir sehen oft wochenlang keine Menschen hier oben,« erzählte die rührige, herrschende Frau mit zwei hüpfenden Mausäuglein im breiten Gesicht. »Und wir sind froh darum. Kämen nur keine! Mit ihnen kommt immer nur Ärger hinauf.«

»Da hätt’ ich also hübsch unten bleiben sollen,« spasste Carl.

Die Frau schlug erschrocken ihre kurzen Arme zusammen. »Ich hab’ doch gesagt, die Menschen ... die Menschen ...«

»Jawohl und ich bin doch auch so ein verflixter Mensch!«

»Nein ... ja ... aber anders! Mit Euch, Herr Pfarrer, kommt ein Stück vom lieben Gott zu uns ... Man darf doch so sagen? ... Ja, ein wenig Himmel! Mit den anderen ...«

»Der Teufel! ... sag’s nur,« warf heiser der Kranke in der Tischecke, den bei diesem schwülen Wetter noch fror, grob in die Stube hinaus. »Es sei denn, man bringe mir am Samstag meinen Beutel Tabak.« Dann blies er einen vollkommenen runden Kringel gegen die Diele.

Die Frau zuckte mit der Achsel gegen den Pfarrer: entschuldigt ihn! Laut sagte sie: »Wenigstens saure, saure Erde, Staub und Unruh, das wohl ...!«

Die Einfachheit dieser Sätze rührte, ja beschämte den Pfarrer. O ja, das will ich nie vergessen, nahm er sich vor, was diese Frau ebenso schön als ungeschickt gesagt hat. Ich will nur von Gott, nichts von Welt und Weltstaub in meine Herde tragen. Und er plauderte nun farbig und warm, wie er so gut konnte, erzählte, scherzte, lachte, lud den abwesenden dreissigjährigen Sohn, der zur Maschine verhärtet sei, auf Sonntagabend zu sich ein und füllte die engen Räume mit einer Art von heiliger Sorglosigkeit aus. Der Jeremi Alberti vergass sogar die Pfeife zu stopfen und fühlte ein Weilchen die hässliche Üblichkeit im Unterleibe nicht mehr.

»Ich werde Euch helfen, so gut ich kann,« versprach Carl. »Im Wäldchen sah ich ein paar schöne, alte, reife Eichen. Wie Türme schossen sie auf. Mein Kirchturm ist dagegen nur ein Krüppel. Vergebt sie noch nicht! Ich hab’ etwas im Sinn und kann sie besser als jeder Händler bezahlen. Wenn ihr euch nur noch ein paar Monate geduldet!«

Voll neugieriger Hoffnungen blickten die Eheleute den Sprecher an.

»Man sagt,« lenkte Carl ab, »es gebe jetzt nichts Besseres für den Magen als eine fein ersonnene Art Kunstwein. Darin sei Eisen, Ei und allerhand Zeug, was den Mensch brauch’, in einer so verdaulichen Weise zusammenstudiert, dass den schwächlichste Magen es vertrag’ und behalt’. Meine Peregrina trinkt täglich ein Schlücklein. Jeremi, probiert das einmal! Ich geb’ Euerm Sohn dann gleich ein Gütterli voll mit. Aber,« drohte er noch unter der Tür scherzhaft, »nur löffelweis zu nehmen!«

Von da stieg Carl die Rücklehne des Hügels hinunter in den tiefen Jochsattel, wo sich fast an gebirgig engem Fleck das katholische Lustigern, das viel grössere protestantische Uzli und das paritätische Lüthun zum Willkomm, wenn sie Frieden haben, zum Abschied, wenn sie zanken, die Hände reichen. Und auf diesem Dreiländerpunkt steht ein gemeinsames Altersasyl. Sein Hausvater mit einer traditionellen Selbstverständlichkeit, aber auch die überwiegende Mehrheit derjenigen, die in diesem uralten, oft geflickten, vielkammerigen Hause ihr Gnadenbrot assen, war protestantisch.

Dem jeweiligen Pfarrer von Lustigern lag es ob, die katholischen Gäste zu pastorieren. Gewöhnlich wussten die frühern Kilchherren nicht einmal, ob dort zur Zeit überhaupt Katholiken hausten, bis dann vom nicht sehr gewogenen Hausvater plötzlich einmal ein Bote in den Pfarrhof sprang und schrie: schnell, die Frau so und so sei am Sterben und begehre soeben die Sakramente. Man müsse sich sputen ... Und nun gab es ein Gehetz und Gewirbel und der schweissgebadete Priester musste froh sein, wenn er noch knapp vor dem letzten Atem mit dem Armen hatte ein sakramentales Wort reden und einen göttlichen Trost in die fliehende Seele hatte werfen können.

Das kühle, fast feindliche Verhältnis zwischen dieser Anstalt und dem Lustiger Pfarrhaus wollte Carolus als guter Hirte in ein höfliches und dienstfertiges umwandeln. Er wollte jede Woche einmal auf so weitem Weg die paar Katholiken hier aufsuchen und ihnen jeweilen eine religiöse Übung, sich selbst aber eine regelmässige Kontrolle über die grauen, greisen Schäflein verschaffen, die er hier, sozusagen nur in einem Anbau seiner Hürde, beherbergen durfte und die ihn darum nur um so nötiger hatten. Vielleicht mit der Zeit würde die Asylkommission und sein Bischof ihm gestatten, hier in einem kleinen, saubern Lokal sogar die heilige Messe zu feiern, damit diese Verlassenen in den letzten Tagen ihres Erdenwandels nicht halb verhungern und verdursten müssten, so getrennt vom Wunder- und Gnadenleben, in dem sie doch einst familienwarm aufgewachsen waren.

Carl vertraute auf den Zauber seiner persönlichen Erscheinung und seines beredten Umgangs und vor allem im rechten Augenblick auch auf eine glückliche Idee. Er hatte sich nicht verrechnet. Zwar konnte er nur mit dem dreissigjährigen Sohne des Hausvaters reden, einem studierten, sozialen Kopfe, Doktor phil., der seit kurzem für den schwerkranken Vater das winkelreiche Haus leitete. Dieser bekannte sofort ehrlich, je öfter die Pfarrer zu ihren Schäfchen in die Anstalt kämen, um so lieber sei es ihm. Denn vom geistlichen Wohl hänge doch das leibliche wesentlich ab, und er möchte gerade, dass seine greisen Mietleute immer lachten und spassten und sich recht daheim fühlten. Dieser junge, farblose, ernste Mann mit einer merkwürdigen, senkrechten Furche die Stirne hinunter zur Nasengrube zeigte dem Pfarrer dann die neu getäferten Kammern, die ausgebrochenen grössern Fenster, die hellen Lärchenböden und in jedem Stüblein einen Blumenstock und einen bequemen Lehnstuhl mit einem feuerroten Sitzkissen.

»Das wird ein schönes Geld gekostet haben?« fragte Carl, »so einen Rumpelkasten bequem und fröhlich machen?«

Der Dr. phil. erzählte nun, dass sie den Corneli aus der Kommission wegwählten, weil er mit seinem angesehenen Nein die nötigsten Ausgaben verhindert habe. Das ist Luxus! Wir haben es einst nicht halb so gut gehabt! Mit solchen Argumenten habe er die ältern Herren regelmässig geangelt. Es sei dann eine lustige Fastnacht gewesen, wie man diesen Alten wegschob. »Soll ich« ... Doch der Pfarrer wehrte zartsinnig ab. Er mochte über seinen Gegner nichts Unfreundliches von einem Nichtkatholiken hören.

»Der Arzt,« fuhr der Dr. phil. fort, »hat geradezu behauptet, dass wir während der Grippe vor zwei Jahren nicht die Hälfte Särge gebraucht hätten, wenn im Haus nur die Abtritte, die Luft und Wasserzufuhr gebessert worden wären und man dem Licht mehr Einlass gewährt hätte. Aber der Bölsch sagte: ich bin achtzig, ich werde wohl neunzig, und doch hab’ ich viele Jahre in einem Keller, der eher ein Morast war, gewoben und noch heute hab’ ich den Stall und seine Düfte neben meiner Schlafstätte ... Herr Pfarrer, dieser zähe, alte Neinsager ist ein Radschuh für jeden gesunden Fortschritt. Sie werden es schon noch erfahren ...«

Carl blickte abseits, aber ein wahrer Abscheu würgte ihn vor diesem Corneli. Hat er denn nicht einmal vor einem Menschenleben Respekt? Und das auf dem Wildberg Vernommene grollte drohend in diese neuen Anklagen. Das wäre noch schlimmer, ein junges Bäumchen knicken, Herrgott, es wird doch nicht alles wahr sein!

»Es ist Ihnen unangenehm,« bemerkte Eugen Dott, der Dr. phil., »lassen wir das Thema! Sie denken nun vielleicht: wozu aber sogar herrschaftliche Stühle und dazu mit so roten, hübschen Kissen. Ich bitte Sie, dieses Kissen ist mir furchtbar wichtig.« Mit geübtem Dozententon spann er weiter: »Das Alter will nichts mehr als einen stillen, guten Hock. Das Kind springt, der Jüngling marschiert und ficht, der Mann steht, steht stattlich und fest auf dem Posten, aber der Greis sitzt. Nicht?« fragte er, die Wangen leicht gerötet und selig, als hätte er in dieser einfachen Darlegung etwas gedeutet, das vor ihm keinem eingefallen war.

Carl Bischof lächelte zustimmend. Der Mann gefiel ihm.

»Und nun muss ich ihm das Sitzen wenigstens bequem machen, denn wie er sitzt, so denkt und so lebt er. Sein Dasein hängt förmlich von seinem bessern oder mindern Sitzen ab. Darum soll er sein Kissen haben. Und rot muss es sein. Alte Leute lieben keine Farbe so wie das Rot. Ich machte die Probe, zeigte Grün, Blau, Lila, aber alle Finger wiesen nach dem Rot, nur ein verwitterter Kauz zeigte auf Geld, denken Sie, gelb! Aber der ist nicht normal.« Herr Dr. Dott fuhr im Zickzack über die Stirne.

»Das klingt ja ganz seltsam,« versetzte Carolus, »und eigentlich doch so natürlich. Was weiter?«

»Seit meine alten Zeisige nun diese roten Kissen haben, seh’ ich auch rötere Gesichter, kein Spass, Herr Pfarrer, man lacht mehr, seufzt weniger, tut friedlicher. Nicht wegen dem Rot, das ist und bleibt doch nur eine Farbe, aber wegen all dem, was dieses Rot als geschickter Schlüssel im Menschen öffnet, auslöst, so dass verhockter Trödel und Staub auseinanderstiebt, und Edles und Inniges, was unter solchem Schutte lag, wieder aufstehen und wirken kann ... O es ist schön!« sagte Eugen Dott leiser, in einer Art von selbstvergessenem Jubel, und strich sich wie geblendet über die Augen.

»Ich freue mich, heute so einen verständigen Mann kennen gelernt zu haben,« bekannte Carl und suchte die Hand seines Führers.

»Eine alte, griesgrämige Judith keifte immer mit ihrer Zimmergenossin, der geduldigsten im Haus, einer Katholikin – Herr Pfarrer, mein Kompliment. Seit sie das rote Kissen hat, ist sie wie gewechselt. Nur dass sie immer meint, das andere Kissen sei noch röter und siebenmal im Tage mit der Clara Höfler tauscht. Jetzt geb’ ich ihr noch einen roten Kniewärmer und rote Finken, dann ist sie selig ... Aber nochmals, das sind alles nur äussere Behelfe,« gestand Herr Eugen Dott wie erwachend aus seinem roten Himmelreich und viel ernster im Ton. »Das beste Rot kommt von innen, von dem, was der Mensch glaubt und liebt. Und da,« der Dr. phil. verbeugte sich, »ist mir der echte Geistliche ... verstehen Sie! der Gei ... st ... liche ... immer willkommen, der katholische von Lustigern, der evangelische von Uzli und der Reformer von Lüthun. Wenn sie nur das echte Rot besitzen, will sagen, wenn sie nur dem Geist dienen, sonst wären sie ja schon mit ihrem prachtvollen Namen Lügner und hiessen besser als irgendwer Leibliche, Materielle, Staubknechte ...«

Geistreich, dachte Carolus. Aber die Gleichstellung der drei versauerte ihm ein bisschen den Vortrag. Es gibt denn doch verschiedene Rot. Immerhin, dieser junge Mann war kein Hetzer, wie sein Vater es gewesen. Eine reine, kluge Ehrlichkeit lag auf seinen sanften Lippen. Er hatte Respekt vor etwas Ganzem.

Zuletzt, nach allem Zeigen und nach einem herzlichen Gruss bei den drei katholischen Insassen, wo Eugen den Pfarrer taktvoll allein liess, wollte er absolut, dass der Pfarrer noch seinem Vater Guttag sage, eben dem Hausvater, mit dem durch fünfzig Jahre alle Lustiger Pfarrherren offen oder heimlich in Fehde gestanden. Carolus machte ein halbes Dutzend Ausflüchte, denn er empfand einen geradezu unbesieglichen, ihm selbst unerklärlichen Widerwillen zu jenem fanatischen Hasser aller, die nicht orthodoxe Protestanten waren, ohne einen amtlichen Anlass in die Kammer zu treten. Aber Eugen gab nicht nach und der Pfarrer ergab sich drein.

Der Hausvater befand sich im hellsten Punkt des Zimmers, halb sitzend, um besser zu atmen, zu Bette, sah fahl, bläulich und aufgedunsen aus und hatte neben sich ein Fenster offen, in das ein Zwetschgenbaum schaute und von irgendwoher ein tiefes Bienengesumse musizierte. Hals und Wangen waren seltsam grau, die weissen Haare nass, die Arme dick, selbst die Finger noch wie kleine Würstchen, so geschwollen. Offenbar stand er in einem weit fortgeschrittenen Stadium der Wassersucht. Mit einem giftigen Blick traf er auf den Mann mit seinem blühenden Überschuss von Gesundheit. Alles, was so schrecklich gesund war, verletzte ihn schwer.

»Vater, der Pfarrer von Lustigern beehrt uns.«

Der Kranke nickte höflich, ohne die geballte Hand, die er in die Decke verknüllt hatte, zu bewegen. Eine ungeheure Wut, um jeden Preis zu leben und diese Krankheit von sich zu schütteln, glühte aus den alten, katzengrauen Äuglein.

Merkwürdig, kaum hatte Carl den Patienten erblickt, so waren alle unangenehmen Gefühle, wie er sie noch eben empfunden, wie weggeblasen. Nur ein ungeheures Erbarmen mit diesem zähen Greis blieb übrig. Er kam ihm wie ein Ertrinkender vor, der ans Ufer emporklimmt, aber immer wieder in die Flut zurückfällt, da die Wände nirgends eine Handhabe bieten. Er probiert wieder und wieder, und die helle Verzweiflung vor den grünen Untiefen schaudert aus seinen Augen; aber alles ist umsonst, er ist nicht zu retten.

Carolus fühlte diese Verzweiflung wie mit einer Inspiration. Er beugte sich mit der ganzen, unschuldigen Bläue seiner Augen herunter und sagte ergriffen, wie sehr er sich gefreut hätte, den Leiter einer so schwierigen, paritätischen Anstalt ausser Bett begrüssen zu können. Beim Wort »ausser Bett« huschte etwas über das geschwollene Gesicht wie Licht und Schatten nacheinander.

Noch tiefer beugte sich Carl zum Leidenden und nun, da er den Atem und die Angst, sozusagen das entsetzte Herumflattern dieser armen Seele, in sein Gesicht hinein spürte, überkam ihn etwas, wofür es keine Vorbereitung und keine Absicht gibt. Er sah, wie der Kranke plötzlich sich gleichsam mit dem ganzen Gewicht seiner Verzweiflung an ihn hing. Er sog den Brand dieser Augen, die nur noch ihn sahen, den Schrei dieser Lippen, die nur noch ihn riefen, den heissen Dampf dieser Lebenswut und Lebensnot, die ihn wie eine letzte, allerletzte Hoffnung umkrampfte, in sich ein und fühlte sich mit dem Hilflosen auf eine unerklärliche Weise verbunden. Dieser harte, kalte Greis, der so vielen Toten den Sarg bestellt und so oft den Wärter ungeduldig aus der Sterbekammer geklopft und gefragt hatte, wie lange das denn da drinnen noch dauere, merkte jetzt, wie ungeheuerlich das eigene Sterben ist. Vielleicht, wenn er jetzt nochmals auflebte, würde er mild, weich, väterlich und stürbe dann einmal im Guten dahin. Den Pfarrer überschattete auf einmal die Erinnerung an das Evangelium von der Totenerweckung durch Christus, vom Aufseufzen des Heilandes, von der göttlichen Urmacht über alles Sein und Nichtsein. Wie eine visionäre, zwingende Gewalt kam es über ihn. Auch er seufzte tief auf, sein grosses Auge ward nass, aber von Wundern leuchtend, er legte den Zeigefinger auf den ihn unverrückt Anstarrenden und geheimnisvoll Verstehenden und sagte dann mit einer Kraft, von der er fühlte, dass es nicht die seinige war: »Bruder, heilet Euch selbst! Werdet gesund! Gott hat Euch diese Macht gegeben. Ich weiss es, ich muss es sagen ... Glaubet es auch, glaubet es ...«

Dr. phil. Eugen Dott wurde blass und trat einen Schritt zurück. Der Kranke verzog das breite, bläuliche, fettige Gesicht, in dessen Spannung alle Runzeln untergegangen waren, zu einem unsagbar winzigen, feinen, hässlichen Geriesel von Lächeln. Aber es war eine selige, gläubige, seelenschöne Hässlichkeit.

Noch tiefer, so dass er ihn fast berührte, neigte sich Carolus nieder, immer unter dem gleichen ungeheuren Druck, dessen fast widerspenstiges Werkzeug er war, und keuchte wie aus einer unendlichen Wahrheitstiefe und Wahrheitsgewissheit herauf – »So ist es, das geschieht ... und Bruder ... dann bitt’ ich ... seid dann gut!«

Erschöpft und über sich selbst erstaunt erhob er sich nun. Es schwindelte ihm, alles schwankte vor ihm auf und nieder, er suchte die Türe. Ihn dünkte, es wolle ihm über etwas ganz Grosses die Brust schmelzen, seine eisenharte, gepanzerte Brust. Er vermochte keinen Gruss zu sagen, stürmte die Treppe hinunter und zum Tor hinaus wie ein Schlafwandler, und als er sich endlich klar und frech am Kopf lackte, um eine Erklärung über das Erlebte zu finden, befand er sich schon wieder hoch oben am Hügel in den Tannen, und ihm schien jetzt durchaus, er habe überhaupt nichts selber getan, er habe nur gespürt, wie ihn ein Gewaltiger in die Faust nahm und mit ihm machte, was er wollte.

Ist das Schwäche? Oder Stärke? fragte er sich. Macht es das neue Klima, dieses am Mittag so weiche und schwüle und am Morgen und Abend so herbe Lustigerklima? oder die sonderbare, nervöse Rede des Dr. phil. mit so viel Rot? Oder was? ...

Aber eine berauschende Fröhlichkeit durchbrauste sein ganzes Wesen. Er merkte, dass der Abendwind anfing, in die Äste zu greifen und immer stärker von den Kronen hinunter ins Land zu rauschen. Seine Seele orgelte mit. Lehnstühle mit Kissen, ja, und Sitzen und Ruhehaben, jawohl ... und dieser Kranke wird gesund, und wenn ihm das Herzwasser schon bis in die Kehle gestiegen wäre ... er will’s, er kann’s ... er hat die Gnade ... und so könnte man alle sieben Himmel spalten. Und dieses schöne Rot ... und wie er lächelte, wie ein Kind ... nie sah ich so himmlisch lächeln ... Er konnte noch nicht Liebe zeigen, er probierte es erst, es tröpfelte mit diesem Lächeln langsam heraus ... Ach wie lieb’ ich ihn! Küssen hätt’ ich ihn da mögen ... ob er auch ein noch so bitterer Pfleger war. Was wusste er, wie’s Kranksein schmeckt!

Und der Corneli! Der ewige Kopfschüttler und Neinsager, was weiss er, wie es Schwachen zumute ist ... Er war ja immer ein Starker! Was weiss er vom Elend derer, die sich einfach nicht helfen können ... Er konnte sich immer helfen! ... von den Ungeschickten, die keine Energie haben und denen kein tapferer Stern leuchtet ... was weiss er in seiner Felsenhaftigkeit davon? Noch niemand hat ihm gezeigt, dass Kraft nicht alles kann, dass viel neues viel besser ist als viel Altes. Dass man das Bessere so wenig aufhalten kann als dieses Bächlein neben mir. Zehntausend Corneliriesen könnten nicht einmal dieses Bettelwässerlein verheben, abwärts zu fliessen.

Oh, er ist gewiss gut, nur blind. Und wenn der Wassersüchtige dort noch gesund und weitherzig wird, so kann auch der Corneli noch weitäugig werden ... Ich bin jetzt im rechten Schwung. Es läuft mir alles nur so vom Herzen. Jetzt müsst’ ich reden können mit dem Corneli. Soll ich’s nicht nutzen? So wie ich bin, lauf’ ich jetzt gleich in seine Stube ... Und mit raschen Schritten, das Dunkle Haar vom Wind und von der innern Bewegung aufgewirbelt, nahm er bei der nächsten Verzweigung der Strässchen den kürzern Weg, bog um den Hügel und sah bald das Dorfnest behaglich wie eine schlummernde Katze in sich selbst verhaspelt und versponnen ... und den niedrigen, feigherzigen Kirchturm leider auch dabei.

Das sag’ ich ihm, heut hab’ ich Gnad’. Da darf man nicht zaudern. Überraschend muss es kommen wie alles besonders Gute.

Wie er dann aber durch die Hinterdorfgasse hinabmarschierte, um nicht von der Ammannstube schon zum voraus bemerkt und verschluckt zu werden, da ernüchterte seine Begeisterung von Schritt zu Schritt. Diese Enge zwischen schiefen, fleckigen Hauswänden, das schlechte, verbröckelnde Gemäuer der Hinterseite, die schmalen Gässchen, schlechten Zäune, unebenen Fenster und die Finsternis dahinter in den Stuben, die vielen nicht etwa von den Jahren, nein von der Arbeit verbrauchten Frauen, die er am Gallusbrunnen waschen sah, mit spitzen Ellbogen, schwachen Augen und wenig und zerfasertem Haar, und sogar der magere Rauch, wie er vom frühen Nachtessen schon aus einigen Kaminen fast wie ein Zeichen ungenügender Sättigung, fast wie Hunger, hervorquirlte und sofort im Wind zerfloss, statt eine blaue Danksäule gegen Himmel zu dampfen, das und der ungeheure Giebel des Cornelihauses, der alles übergipfelnd und erdrückend hinter den andern Häusern und über sie weg in die Abendluft ragte, das liess den Schwung des Pfarrers immer schwächere Fittiche schlagen, bis er an der Tür stand und am liebsten ungeklopft davongelaufen wäre. Was bin ich doch für eine Fahne! tadelte er sich. Ich überlasse nun alles meinem guten Schutzgeist. Er Pochte, hörte drinnen lachen, rufen, schuhscharren, das ärgerte ihn. Er klopfte wieder, ein drittes Mal und öffnete dann energisch. Und nun sass er oben am Tisch und fuhr sich an die Stirne, ob er nicht eine grosse Dummheit begangen habe, jetzt, gerade jetzt, bei seiner erhabenen Stimmung vom Altersasyl her, in diesen kleinlichen Spiel- und Scherzknäuel hineingerannt zu sein.


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