Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 1

Es war ein gewöhnlicher Mittwoch im Juni. Aber Lustigern, das so einsam in den gemähten Toggenburgerwiesen zusammengenistet sitzt, trug den Sonntag im Gesicht. Niemand arbeitete, alles steckte im dunkeln Rock. Mit Ausnahme des Tälerhauses, wo der Witwer Marx schon tagelang am Sterben liegt und zwischen Werktag und Feiertag nicht mehr unterscheiden kann, haben alle hölzernen Wohnungen ihre Scheiben geputzt, den Türsöller gescheuert und etwa ein Eibenkränzlein am mittlern Fenster ausgehängt. Kirche, Pfarrhof, der Gasthof zur Ilge und das Schulhaus lassen überdies eine grünweisse Fahne vom Dachgiebel flattern und beim uralten Egidihaus, wo das Dorf an der Landstrasse sich allmählich auflöst, ward ein Triumphbogen aus Tannenreis über die Strasse gewölbt. Zwei bemalte Tafeln hangen daran, die eine nach dem Dorf zurück, die andere vorwärts in die Felder gekehrt.

Denn der neue Pfarrer Carolus Bischof zieht heute in seinen Sprengel ein. Darum gucken die hundert und hundert kleinen Fenster und Augen von Lustigern so neugierig auf die Strasse.

Da aber der Täler seit dem Gehirnschlag vor vier Tagen stumm und lichtlos im Bett liegt und nach nichts mehr fragt, mochte auch das alte Rumpelhaus nicht glänzen. Seine Fenster schauen wie blind in den Tag, die Haustüre ist geschlossen wie ein Mund, der nichts mehr reden kann, und nur der dünne, graue Rauch, der dann und wann langsam aus dem Kamin kriecht, sagt, dass dich noch ein Odem in diesen Wänden lebe.

Mehr, man hört aus der Tiefe des Hauses noch ein Keuchen und Rasseln, dumpf, mühsam, mit Zwischenpausen, wie das Atemziehen eines Kämpfenden. Das ist der Heli, der eine der Tälerbuben, der im Keller an der gewaltigen Stickmaschine sitzt und bedächtig die Arbeit dort fortführt, wo der Vater mitten im schönsten Muster sie aufgeben musste. Eine Wespe schwirrt gerade von der Blütendolde. Der Alte hatte noch den silbernen Flügel mit zwei Stichen erhascht und war dann wortlos vom Sitzbrett gesunken. Heli flog nun schon mit dem schlanken Insekt durch die blaue Luft. Ganz glücklich war er über dem Gelingen.

Das eine Geschwister, Johannes, sass indessen am Schiefertisch in der Stube, weitab vom Bett des Sterbenden. Er war achtzehnjährig, mager, bleich von Natur, aber gesund, mit einer schönen, weissen, langen Nase und langen, zarten, unbäuerlichen Händen. Schmale Augen, von einem kalten Kieselgrau, mit Wimpern schwer und schwarz wie sein Kopfhaar, gaben diesem Jüngling ein vornehmes, erlesenes Aussehen.

Am ersten Tage hatte er geweint, am zweiten vor sich hingestiert, am dritten fing der Sterbende schon an, ihn zu langweilen, und heute nahm er immer wieder die Kreide neben den Jasskarten vom Fensterbrett und probierte das spitzige Profil mit den gespannten Backenknochen und dem verzogenen Mund zu zeichnen, so wie es dort, in der gegenüberliegenden Stubenecke, aus den Kissen emporragte. Plötzlich stand das Mili vor ihm, das so unhörbar alle Türen öffnen konnte. Schnell wischte er das Bild von der Platte. »Aber Johannes!« tadelte das grosse, schmucke Mädchen, »so was, statt zu beten! Komm lieber in die Küche, der Kaffee ist parat.«

Johannes schnitt ihr eine gleichgültige Grimasse, aber folgte sogleich in die weite dunkle Küche und setzte sich voll Appetit zum Vespern hin.

»Essen muss man halt doch,« lehrte Mili leise. »Nimm da!«

»Was, Küechli hast Du gebacken? und ich soll nicht zeichnen?« Johann fuhr mit dem weissen kleinen Finger über die schöne Nase hinunter.

»Die Ilgenwirtin, die Bas, hat uns gestern einen Hafen Butter geschickt. Wir haben ja die letzte Zeit nie recht gegessen. Weil der Vater nicht mehr isst, sollen wir dann auch nicht mehr essen?« Sie warf den blonden Kopf zurück und ihr helles, seidendünnes Stirnhaar floh wie Silberwölklein empor.

»Küechli backen statt beten,« schalt Johann lachend und verarbeitete schon das dritte Gebäck mit seinen geraden, weissen, streng geschlossenen Zähnen. »Könnten wir lieber auch dem Vater einige mitgeben auf die ewige Reise! hast nicht mehr probiert, mit ihm zu reden? dich hat er noch am längsten verstanden.«

Johannes schüttelte leicht den Kopf. »Der Kaplan hat ja gesagt, der Vater merk’ und versteh’ nichts mehr, wir sollen ihn ganz in Ruhe lassen. Er steh’ mit Gott in guter Ordnung und wolle nichts mehr von der Welt hören. Komm du jetzt zu mir in die Stube. Hie und da hat er eine schrecklich lange Weile nicht mehr geschnauft ...«

Das Mili brachte dem Heli, der schon die zweite Wespe packte, das Kaffeekrüglein mit vier Küechlein in den Stickkeller. Sorglich besah sie die Arbeit und warnte: »Wenn du’s verdirbst! Lieber Gott, denk, was dann?«

Heli lachte sie nur gutmütig an, verzehrte rasch seine Portion und stickte weiter. Das Jüngferchen fühlte sich hier überflüssig, wusch das Geschirr ab und setzte sich dann neben Johannes auf die Fensterbank in der Stube. Sie sann nach, was noch zu ordnen wäre für den möglichen Fall, dass Marx noch heut stürbe. Jedesmal wischte sie böse die Zeichnung aus, die der Bruder auf dem Schiefer probierte. Schliesslich öffnete Johannes missmutig ein Fenster, um gegen das Dorf hinunter zu horchen. Man sah nur die vielen magern Birnbäume und dahinter den Kirchturm seinen unschönen, niedrigen, müden Kopf in dem schwülen, dünstigen Himmel eher senken als heben.

»Was hat die Ilgenfrau gesagt?« schimpfte Mili. »Schnell das Fenster zu! Schau, da hast schon wieder solches Geschmeiss hereingelassen!« Sie schlüpfte zum Bett, ungeachtet Johannes sie ängstlich zurückhalten wollte, und fing mit lautlosem Schwung zwei Fliegen nacheinander, die sich aufs dünne Haar des Sterbenden gesetzt hatten, ohne es auch nur zu streifen.

Wieder sassen sie beisammen. Johannes liess Milis Hand nicht mehr los. Beide langweilten sich und Mili wünschte heimlich, dass Johannes wieder zeichne oder das Fenster öffne oder sonst was tue, worüber sich schelten lasse. Dabei ruhte ihr tiefbraunes Gesicht mit ebenso braunen Augen in einer mütterlichen und doch auch wahrhaft kindlich verliebten Wärme auf dem hübschen Burschen.

Der bewegungslose Mann in der Ecke hiess im Dorf der wittlige Wittlig, weil er zweimal eine Witwe geheiratet hatte, zuerst die Martha Beat, ein undörflich feines Geschöpf aus der Stadt, aber bettelarm und sorglos. Sie hatte ihm den dreijährigen Johannes mit dem rabenschwarzen Wirbel ins Haus gebracht; dann die apfelrote, laute, kluge Ruth Rack, die rechts den Heli, links das Mili und einen Haufen Klugheit und Phantasie dazu in die Ehestube führte. Heli hatte die Phantasie, Mili die Klugheit geerbt. Aber es herrschte eine rasche Sense im Tälerhaus. Zwar, dass die Beat starb, begriff man. Ihre zarten, bleichen Hände und ihre schwachen Füsse hatten nie recht Besitz vom Tälerheim ergreifen können. Minder verständlich war, dass zwei Geburten der starken Frau Rack missglückten und sie selbst bei der zweiten in Blut und Schweiss verschied. So blieb ein Witwer mit drei Kindern zurück, die nicht die seinigen und von denen nur Heli und Mili auch Geschwister waren.

Marx Täler war ein gescheiter Mann mit einer überhohen Stirne und tiefen grauen, etwas schwermütigen, aber eigensinnigen Augen gewesen. Ja, er hatte geradezu an einem sonderbaren hartnäckigen Stolz gelitten, doch ja immer etwas anderes als die andern und vor allem gerade das zu tun, wovon die Leute ihm abrieten. Er gab den Viehstand auf, als andere damit vorteilhaft begannen, und fing mit der Stickerei an, als das halbe Dorf sich dieser unbeständigen Industrie begab. Eine Bürgschaft kurz nach der zweiten Heirat, womit er seinem Bruder Julius, einem Landesbummler und Nichtstuer, gegen alles Abraten seines Paten, des Gemeindeamtmanns Cornelius Bölsch, unter die Arme greifen wollte, brachte ihn um das kleine, bitter zusammengesparte Vermögen von fünftausend Franken. Immer tiefer sank er in Geldnöte. Die Schuldbriefe stiegen um ein Prozent und lasteten schwerer als die Steinklötze des Schieferdaches auf seinem Heim. Selbst das klopfende Herz des Hauses, wie Frau Ruth die Stickmaschine gelobt hatte, atmete und pochte zu einem guten Teil für fremdes Leben. Und seit dieses blitzend schöne, eiserne Ungeheuer von Pfändern und Zinsen beschwert war, dünkte den Täler seine gewaltige Musik nicht mehr rein. Wie oft und gerne ging der müde Mann nun wieder von der Maschine weg zur einzigen Geiss im grossen Stall, um sich am Gemecker ein bisschen zu unterhalten!

Die Schulden und Sorgen, die exakte, augen- und nervenverderbende Arbeit, das feuchte Sticklokal, der immer knappere Tisch, der rasche Tod beider Frauen, an die er sich in seiner spröden Sonderlingsart erst angewärmt hatte, dann die hochmütige Abgeschlossenheit gegen fremden Rat und nachbarliche Zutraulichkeit, vielleicht auch etwas Ererbtes, da der Schlagfluss auch seinen Vater und Grossvater hingerafft hatte, das alles vermochte den Mann schon mit achtunddreissig Jahren aufs Sterbebett zu werfen, ohne dass er einmal recht gesund oder krank, recht froh oder verzagt, recht heiss oder kalt gewesen wäre. Seine Stirne war jetzt grauweiss wie alter Kalk, das Auge ohne Blick, seine Seele bettelte wohl schon an den Schwellen der Ewigkeit um Einlass zur nie gekannten Demut und Ruhe. Und die jungen Leutchen vorne am Fenster fühlten es sehr wohl, dass dieser wehrlose, arme Mann, den sie Vater genannt hatten, obwohl er es nie gewesen, jetzt nicht einmal mehr mit diesem Namen zu ihnen gehörte. Wie er da lag, war er ihnen schon fremd und ferne.

Gestern war Mili einen Moment vors Dorf gegangen, um am Bächlitobel Huflattich zu sammeln und dem Vater kühlende Aufschläge zu machen. Dort in einer Tannenlichtung gegen die Strassenhöhe zu steht das jämmerliche Hüttlein des Mathias Minz, eines Holzers. Der bärenstarke Mann sägte gerade schöne, lange Bretter. Da kam ihr in den Sinn, bei diesem düstern und gemiedenen Sonderling bekäme sie vielleicht den Sarg viel billiger als beim richtigen Dorfschreiner, und sie erkundigte sich darum. Sie wurden sogleich einig. Mathias mit seinem schwärzlichen Lächeln führte sie ins Jungesellenstüblein und suchte nach einer Schnur, indessen sie sofort nach ihrer saubern und tätigen Art einen Lumpen aufgriff und den Staub von den Möbeln wischte. Darüber ward Mathias so wohlgelaunt, dass er versprach, den Sarg an den Ecken gratis zu versilbern. Er nahm dann das Mass an ihr. »Vater reichte mir nur bis an die Ohren und war auch viel schmächtiger,« betonte die kraftvolle Jungfer. »Ich mach ihn doch, als wär er für Euch,« gelobte Mathias, »grösser und breiter« ... »Warum denn?« bat sie. »Es ist nobler, ein langer und etwas breiter Sarg ist immer nobel.«

Diese Vorausbestellung machte ihr nachher Gewissensbisse. Darf man einen Sarg machen lassen, ehe eine Leiche da ist? Nun aber, wo der Vater so fern und fremd in der Ecke lag, verlor sie jegliches Bedenken und war froh, dass dieses schwarze Geschäft schon geordnet war.

Johannes konnte vor Langeweile Knie und Ellbogen nicht stille halten. Einmal blickte er gegen die Wanduhr, ob es bald gegen Fünfe rücke, wo er die Ziege füttern wollte. Einmal zog es ihn in den Stickkeller, um zu sehen, wie Heli mit seinem Muster zurechtkomme. Denn er selbst hatte es auf den Karton gezeichnet und der Stickmeister Weber hatte den Stempel aufgedrückt, dass es zünftig sei, will sagen, man dürfe es wie jede andere Vorlage für alle jene Sticktücher verwenden, die nachher in London und Newyork den Glanz der Millionäre mehren.

Das war der letzte Stolz im Leben des Tälers gewesen.

Aber Mili liess den Bruder nicht los. Rasch zog es einen Strang aus der Schublade und bat Johannes, die Arme zu strecken, damit sie das Garn auf den Raspel winden könne. Es gäbe ja Strümpfe für ihn. Geduldig gab er sich her und bog sich melodisch mit seinen schönen Händen und schlanken Achseln dem kreisenden Faden voraus und dachte dabei an das Wort des Arztes: euer Vater hat einen zähen Lebensfaden ... Aber einmal muss er doch aufhören, sagte sich Johannes unbedenklich; so lang wie dieses Garn kann er doch nicht mehr sein. Selbst der Strang hier nimmt mit jeder Schleife ab. Er sollte sterben, sobald hier die letzte Runde abgewickelt ist. Er leidet ja unnütz, log er sich vor; ich kann ihm nicht helfen. Und ich sitz überflüssig da und sollte doch in die frische Luft hinaus, zum Pfarreinzug. Ja, dorthin gehör’ ich mit vollem Recht. Ich habe doch die Inschriften und die Engel am Portal und die Hände am Triumphbogen gemalt. Gewiss hat man alles schief gehängt. Ich sollte wenigstens nachsehen, wie es sich ausnimmt. »He, pass doch auf!« flüsterte das Mili; »du verwirfst mir den Haspel ... ‘s ist nun gleich abgewickelt« ... Die Engel sind gut geraten, schwärmte Johannes weiter, der Kaplan hat sie selbst gerühmt und rühmt sonst nicht bald. Nächstens probier’ ich einen Teufel mit Horn und Huf und Zacken, wie der Heli mir geraten hat ... dann ein Christkind mit der Weltkugel ... die will ich dann vergolden, das es heillos glänzt ... dann unsern Kirchenpatron ... ah, so einen Bischof, wie Heli sagt, gross, seidig, der Mantel weit über den Boden, die Inful mit Edelsteinen, der Krummstab vergoldet und über dem Kopf, meint Heli, eine Taube, ganz versilbert ... und dann nach so einem Ambrosi ... Glanz, Glanz, Glanz ...

»Johann, Hannes, hast du’s gehört?« schrie das Mili und zerrte an ihm. »Schon wieder hat es gekracht in der Bettstatt ... oder im Vater selber ... Schau, schau, was ist das? ...«

Johannes hielt noch immer die Arme gespannt, obwohl der Klüngel aufgewunden in Milis Hand lag. Erschreckt sprangen beide ans Bett, horchten, suchten, aber fanden nichts Lebendiges mehr, und sahen den Vater doch auch nicht anders als vorher daliegen. Nur dass er jetzt fast noch stiller und der Blick zersprungen war.

Da rannte Johannes schreiend und mit überfluteten Augen aus der Stube zum starken Heli hinunter. Mili aber zündete eine Kerze an, kniete ab und betete mit ihrer klaren, kindlich-hausmütterlichen Stimme ein lautes Vaterunser dem Verschiedenen in die Ewigkeit nach.

»Und du bist doch der Ältere,« brummte Heli gutmütig und trug den Johannes eher als er ihn führte die Kellersiege hinauf. Doch wenige Minuten später lief Johannes schon wieder fröhlich zur Kirche hinunter, um das Totengeläute anzusagen und womöglich noch den Pfarreinzug zu erleben.


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