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Man mähte das erste Gras, dieses grünste Gras der Welt, von der Thur zu den Vorbergen hinauf. Die Maurer verlangten Urlaub. Diesmal hatten sie recht. Keine Sense und keine Heugabel durfte in dieser Gnadenfrist der Junisonne feiern. Denn Mutter Erde wartet nicht, sie will rasch bedient sein, oder sie rächt sich.
Aber da Meister Edoardo Forni sich nur im toten Stein, nicht im wachsenden und reifenden Leben der Natur auskannte, so verweigerte er barsch die Unterbrechung der Arbeit am Turm. Da nahmen sich die Lustiger Gesellen den Urlaub selbst, und diese Niederlage des Baumeisters war auch eine Niederlage des Pfarrers. Denn er wollte vermitteln, als es schon zu spät war. Doch begriff er die Mähder wohl, beschwichtigte den Italiener, der in dieser heissen, trockenen Zeit am liebsten gebaut hätte, und bildete sich ein, das Ganze habe höchstens eine Spitze gegen Forni, nicht gegen ihn, wie er ja so still geworden war und geduldig das Keimen des Samens abwartete, den er so gerecht und bescheiden in jener Predigt ausgestreut und wohl aufgenommen glaubte. Eusebi freilich hörte mit seinen langen Historikerohren ein anderes Gras wachsen. Aber wozu Carl aufregen? Was kommen muss, kommt doch.
Hoch und reich fiel das Gras in langen Schwaden. Als nun das meiste verstreut am Boden lag und in der erstickenden Schwüle des Nachmittags wunderbar durch die lachende Landschaft zu weihräuchern begann, sammelte sich von Wyla herauf mit unheimlicher Eile ein rostfarbiges, dann immer dunkleres Gewölke, deckte auf einmal halbnächtig das Tal, und plötzlich toste der ganze Himmel. Ein Wirbelwind nur fünf Vaterunser lang schlug die Lüfte mit Millionen Fittichen wie von ungeheuern Vögeln und schien die Erde sozusagen von der Erde wegzufegen. Es splitterte und ächzte im Kirchturm und auf Dutzend Dorfdächern. Dann nach einem fiebrigen Flackern und Krachen aus allen Höhen ergoss sich ein Wolkenbruch so unvorbereitet über die Gegend, dass gross und klein entsetzt unter Dach floh und das halbdürre Heu dem Zorne des Unwetters überlassen musste.
Man setzte sich zum Vespern in die Südren statt unter einen Baum und guckte fleissig durch die Scheiben, da ein so jähes Gewitter auch jäh verpufft und ein kurzes Bad dem Heu wenig Futterkraft entzieht. Aber der Himmel ward nach und nach eintönig katzengrau, und der augenblickliche Wutanfall siechte in einen gehässigen dauerhaften Landregen über. Schonungslos flutete es die ganze Nacht und den nächsten Tag herunter, hellte dann am dritten Vormittag auf Augenblicke gen Osten einen giftigen blauen und schlauen Schlitz weit auf, so dass alles mit Rechen und Zinken hinauslief und die verwässerte Mahd umwandte. Aber sie roch schon ein bisschen nach Fäulnis. Indes nach einer Stunde schlug der Wind um, es brach aufs neue los, und diesmal regnete es nun von einem Tag in den andern ein zartes, silbernes, schleierhaft feines Geriesel, warm und schmackhaft, aber so alles bis ins Eingeweide durchdringend, dass drei Viertel der Heuernte zugrunde gingen. Das war ein Landesunglück so gut, als stürbe die Stickerei für einige Monate oder als verpestete eine Seuche die Viehställe.
In tiefer Verdrossenheit sass man in den Stuben, rauchte den stinkigsten Tabak, den es gab, und tobte gegen alles, was an dieser Plage keine Schuld hatte. Das einzige Lächeln in dieser Trübsal kam von einem unerwarteten Orte. Cornelius setzte im Bezirk eine amtliche Kollekte und von der Kantonalkasse eine Notspende durch. Zugleich fügte er aus der eigenen Truhe dreitausend Franken für die sechs am meisten betroffenen, hilflosen Familien hinzu. In diesen Tagen hätte man ihn trotz seiner zweihundert Pfund Leibesgewicht nicht nur im Bezirk, sondern im ganzen Kanton auf den Achseln lobpreisend herumgetragen.
Aber dieses Unwetter brachte noch ein anderes Unheil. Jener Wirbelwind hatte in einem Stoss das Schutzdach weggeblasen, das die Maurer, ehe sie vor dem gefährlich nahen Blitzen aus dem Turm wichen, an die obersten Stangen befestigt hatten. Bretter, Pfähle, Leitern warf es auseinander und fuhr mit groben Fäusten ins lockere Mauerwerk. Dann goss es in den unfertigen, lotterigen, nun halb aufgebrochenen Neubau und in die Kalk- und Sandhaufen ebenso verderblich wie den Bauern ins Heu. Allerdings deckte Forni mit seinen beiden Getreuen nach und nach das oberste Fachwerk wieder notdürftig zu. Aber es war zu spät und nun erschreckend klar, welch geringes Material man verwendet und welch noch viel schlechtere Hand damit gewerkt hatte. Die tannenen Bretter des Alberti selig und die eichenen des verstorbenen Meinrad Eicher, ohnehin magere Knochen, verzogen und verbogen sich, bekamen beim ersten zarten Sonnenschein Risse und die Böden standen voll Lachen, während die Gerüstebretter vor Nässe so schlüpfrig wurden, dass man nur barfuss gesichert darüber schreiten konnte. Der Sonderling von einem Matthias hatte diese Laden in einer Anwandlung von düsterem Spass gehobelt, als gälte es einem Sarg, und wer nicht aufpasste, konnte sie leicht als seine Sargbretter betrachten.
Nach und nach sickerte das Wasser in den Unterbau hinunter, der Mörtel fiel wie Papierfetzen aus dem Gestein, die Blöcke zerbröckelten oder kollerten aus der Pflasterung, schräg über dem Zifferblatt gähnte eine armdicke Spalte auf, die Glockenstube stand voll Wasser, und eigentliche Bächlein rannen die Turmtreppe hinab. Dem Forni sträubte sich das Haar, als er nach acht Regentagen das heillose Unwesen genauer besah. Und doch liess dich in diesem steten Regnen, auch wenn die Werkleute sich nicht so entschieden geweigert hätten, einstweilen nichts Tunliches unternehmen. Behutsam stieg der Meister, die schwarzen Brauen zu einer einzigen Gewitterwolke zusammengezogen, die Stieglein hinunter und wollte dem Pfarrer die ganze Geschichte vor die Füsse werfen. Trug der doch auch sein Teil Schuld. Laie und ungestüm wie er war, hatte Carl auf Treu und Glauben das meiste Material selbst bestellt und war, da ein Pfarrer kein Holzer oder Steinmetz ist, natürlich von allen Seiten angeschwindelt worden.
Aber da schritt Carolus eben so weltverloren zufrieden mit einem Paten, einer Patin und säuglingtragenden Hebamme vom Taufbrunnen her aus der Sakristei, lächelte sich so seelenheiter in das Kind hinein und grüsste zum Forni hinüber so herzlich, dass der barsche runzelige Italiener es nicht wagte, in diesen Paradiesesfrieden zu fallen und den Bericht auf morgen verschob. Gerade so machte es Eusebi ja auch, verschieben, verschieben, bis er schliesslich urteilte, es sei eine unnütze Roheit, den in Frieden Gelullten aufzustören. Man lasse ihm diese Gnadenzeit, vielleicht schickt dann der Himmel doch noch einen seiner göttlichen Zufälle und wendet alles zum Besten.
Forni aber musterte am folgenden Morgen nochmals alles gründlich. Es schien ihm minder schlimm als am gestrigen grauen Abend, obwohl das Regenwasser ganze Lachen bildete und in kleinen Stürzen von Brett zu Brett und selbst die hölzerne Turmtreppe zusammen mit Steinchen und Kalkgeriesel hinunterplätscherte. Auch war die oberste Mauer einwärts gebogen, und dann und wann kollerte ein gehöriger Block aus den zerfressenen Gesimsen, blieb aber glücklicherweise zwischen den Stämmen stecken. Forni war ein zwerghaftes, dürres, federleichtes Männchen und achtete es wenig, dass die Böden unter seinen Sohlen manchmal so merkwürdig nachgaben. An den Hügelrändern guckten lange Streifen des lang entbehrten blauen Himmels hervor, und ein starker Wind tummelte sich in den Zinnen. Es gibt gutes Wetter, dachte der Italiener, und morgen können wir wie neu an die Sache. Denn ich reisse alles herunter, was nicht ganz solid gemauert ist. – Er bestellte die zehn Lustiger Arbeiter auf den nächsten Vormittag.
Aber in der Nacht erwachte er von einem ungeheuerlichen Weltlärm. Wolkenbruchartig prasselte es wieder nieder. Der Wind pfiff, das Gerüst stöhnte, und der blecherne Hahn auf der Ilge, wo Forni sein Quartier hatte, kreischte in seinen rostigen Gelenken hin und her. Türen gingen auf und zu, und die ganze Nacht ging es im Gasthof treppauf treppab. Am Vorgen sah Lustigern wie ein Schlachtfeld aus. Dächer waren halb abgedeckt, Ziegel über alle Wege gesät, die Fensterläden aus den Angeln, Scheiben zerschlagen, die Geranienstöcke – o wie lieben die Lustiger die Geranien, besonders die hellfarbigen wie Kinderblut! – lagen in Scherben auf der Gasse, die Gärten waren verwüstet, alle Weglein lagen voll Äste und zerblätterten Dahlien, mächtige Tümpel hatten sich zwischen den Gräbern des Friedhofs gebildet, und das Bächlein zwischen Pfarrer und Kaplan war einige Stunden hindurch ein Riese geworden, hatte Häge verschlissen, Äcker verschlammt und unter Cornelis Gehöfte die breiten schönen Wiesen über dem Thurtobel in einen sumpfigen See verwandelt. Das Turmgerüste jedoch schien von unten nur ein wenig schlaffer um den Bau herum zu hängen als gewöhnlich, doch war eine Sturzflut die Bretterböden hinuntergegangen, hatte die Glocken fast ersäuft und die Stiegen nochmals verschwemmt. Am Fuss des Turmes lag ein Wirrsal von Stein, Sand, Kalk und zerspellten Hölzern. Das musste doch alles von da oben herabgekommen sein.
Immer mehr Volk strömte frühmorgens auf den Platz und besah die Schäden und gaffte zum Turm empor und wartete, bis der Meister Forni mit seinen sehn murrenden Gesellen kam und langsam und umsichtig in das schwierige Gebäu emporstieg. Zuhinterst ging der unheimliche Matthias, durch die Zähne pfeifend.
In dieser Sturmnacht, die im ganzen Schweizerland ein übles Andenken hat, etwa um die Zwei, hatten zwei Männer in Lederjacken und Mützen eilends an der Pfarrhausschelle gerissen und Carolus heftig gebeten, ins Altersasyl zu kommen. Jene alte Frau, die ihre Zimmerschwester so gütig das rote Kissen gegen ein noch röteres tauschen liess, nicht sieben, siebenmal siebenmal im Tage, habe bei diesem Föhndruck eine Herzschwäche bekommen und verlange dringend nach den Sakramenten. Der Pfarrer solle entschuldigen. Sie hätten ja dieses grausame Unwetter nicht gemacht und auch die Herzschwäche der Alten nicht verursacht, meinte der eine naiv; der andere schwieg. Carl schrieb der Peregrina einen Zettel auf den Küchentisch und marschierte dann, das Allerheiligste im Brustbeutel, einen wachstuchenen Mantel und eine solche Kapuze über sich werfend, den beinahe lebensgefährlichen Weg durch Wald und Höhen empor zu Eugen Dotts einsamer Anstalt. Es krachte in den Buchenkronen und toste in allen weiten Lüften und riss, sobald man in eine Wiesenlichtung kam, einen fast rückwärts zu Boden. Man musste durch neugeborene Bäche waten und über Gruben setzen, ohne einen Schritt vor sich zu sehen. Denn die Laterne des Vordermannes blendete mehr, als sie führte. Kein Tier, kein Vogel war hörbar. Auch die Männer versuchten kein Wort. Der Wind hätte ihnen Laut und Atem verschlungen. Carolus betete zum Herrn der Stürme, den er doch so gütigstill an seiner Brust fühlte, dass er nicht nur die Lüfte, sondern auch die Herzen reinige und überall Frieden mache. Er hatte nicht lange, aber gut geschlafen, glaubte sich frischer als je und hatte seit Wochen, nachdem er alle Sorge auf den Herrn geworfen, eine köstliche Sammlung und Gelassenheit des Herzens genossen. Neben den täglichen seelsorgerlichen Arbeiten hatte er einmal gründlich seine Bibliothek geordnet, einen Bücherrodel ausgezogen und war dann in den Bekenntnissen des Kirchenvaters Augustin stecken geblieben. Diese ausserordentliche Seelengeschichte nahm ihn so gefangen, dass er sich ein Heft voll Notizen daraus machte. Dann nahm er seinen Liebling Chrysostomus her und vertiefte sich in dessen pastorale Schriften, Reden und vor allem in das Leiden und Lieben dieses gloriosen Griechen. Dem Pfarrer war, es wehe eine neue Zeit um ihn, als er diese uralten Bände las, und er musste sich jetzt oft Gewalt antun, um nicht wie Eusebi ein »Bücherschmecker« zu werden.
Jetzt nach so viel Stuben- und Buchgeruch tat dem Riesen dieser Sturm, der die andern fast wie die Bäume zur Ende bog, innig wohl und füllte seine Lungen mit der alten Tapferkeit. Hundertmal beim Riechen und Schmecken dieser herben Wetterluft, diesem gesunden Duft einer Neugeburt der Erde, sagte er sich heimlich: Carl, jetzt wird nicht mehr im Winkel gehockt und gefaulenzt, jetzt wird gearbeitet!
Erst im Flur des Verpflegungsheims, als man die Überkleider wegwarf, erkannte Carl den jungen Dott als einen der Begleiter und schüttelte ihm stumm dankend die Hand, weil er, der Andersgläubige oder vielleicht im Sinne Carls sogar Ungläubige, so viel Ehrfurcht vor dem Seelenbedürfnis der Sterbenden bewiesen habe. Aber gleich meldete die Zimmermagd, sie glaube, die Greisin sei verschieden. Sie glaube, schalt Carl, was heisst das? und lief mit Eugen ins Krankenzimmer. In der Tat war es schwer zu sagen, ob diese leise lächelnde, noch immer rotbackige Greisin tot sei oder nur schlafe. Man hielt ihr den Spiegel vor den Mund; Atem, Puls, Wärme des Leibes war nicht mehr wahrnehmbar. Nein, diese lächelte nicht mehr ins Diesseits zurück, die lächelte geradeswegs ins bessere Jenseits hinein.
Es blieb Carl nichts übrig als niederzuknien und zum Schöpfer und Vollender aller Seelen für diese eine, dem Staub entwichene zu beten. Aber dem Pfarrer schien im Anblick dieses heitern, fast lustigen Totenbildes, es sei nötiger, für die Lebenden um dieses Lächeln zu beten, und da auch Eugen neben ihn niederkniete und die Magd und der Hausknecht, von denen ein jedes etwas anderes in anderer Weise glaubte, aber im Halbdunkel unseres Daseins sich bewusst oder unbewusst nach dem gleichen Sternenglanz der Ewigkeit sehnte, so sprach nun der Pfarrer jenes grossartigste und allgemeinste aller Gebete vor: das Vaterunser. Und wenn je ein Gottvater in den Höhen war und seinen schönsten Namen aus den Tiefen gnädig aufnahm, muss es in dieser Nachtstunde gewesen sein, in diesem fernen, wind- und waldumbrausten toggenburgischen Altersheim.
Carl und Eugen sassen nachher in der untern Stube beisammen. Carl musste lächeln. Inzwischen waren auch die Sofas, die Tischteppiche, Lichtschirme rot geworden, und um die weisse Teetasse, die der Doktor phil. bot, aber Carl wegen der heiligen Messe abschlug, ging ein dreifacher purpurroter Streifen und ward in roten Buchstaben versprochen:
Vom Morgenrot zum Abendrot Schlag’ ich allen Kummer tot!
Die beiden plauderten vom Sterben, vom Zufriedensein, vom Sichhineindenken in den Sinn der andern, der gegnerischen, vom Glück, das man nicht im eigenbrödlerischen Für-sich-Alleinsein suchen soll, weil es dann ein enges, kleines Glück würde, sondern im Zusammensein mit und für alle andern, wodurch das Glück sich vervielfache, ins Ungeheure wachse, beinahe himmlisch werde, wie schon Plato herausgeschnüffelt habe, ... indem der Heide Christum vorausahnte, fügte hier Carl rasch hinzu. – Sie plauderten vom Begreifen aller Bosheiten und waren einzig gegen die Selbstgerechten böse, aber auch diese könne man schliesslich begreifen und ihnen verzeihen, ... als es plötzlich vom obern Boden laut aufschrie. Der Pfarrer sah betreten den Doktor an. »Nachwehen,« sagte Eugen lächelnd. »Die Frau da oben träumt und schreit noch dann und wann.« – Vor drei Wochen sei sie mit Gewalt hierher spediert worden. Sie sperrte sich mit Händen und Füssen und spie um sich. Sie wäre lieber in Schmutz und Liederlichkeit stecken geblieben und zählte fünfundsechzig Jahre. Sie ass nicht, trank nicht, bekam Krämpfe. Eugen stellte ihr rote Rosen auf den Tisch, das gefiel ihr ein bisschen. Aber dann grölte sie wieder und kehrte sich gegen die Wand. Da sagte Eugen: »Wissen Sie auch, gute Frau, dass wir Sie lieber haben als alle andern hier? Viel lieber!« – »Dürft ihr das?« spottete sie. – »Ja, das dürfen wir. Viele brauchen sehr wenig Liebe und ihr Herz ist schon übervoll davon. Aber viele wie Sie, liebe Frau, haben ein grosses Herz und einen grossen Herzensdurst. Und die brauchen darum auch eine grosse Liebe.« – Eugen merkte, dass sie gepackt wurde von diesem Überfall. – »Es wäre also wie bei einer Maus und einer Kuh. Die Kuh muss viel mehr saufen, um den Durst zu löschen. Kuhmagen, Kuhherz!« – »Ja, genau so,« sagte Eugen willig. – Da stutzte sie, aber schickte ihn sofort zum Zimmer hinaus. Unterdessen brachte man ihr die roten Pantoffeln, ein rotes Fusskissen und ein schönes rotes Schultertuch. – »In Gottes Namen, Herr Pfarrer, ich leide vielleicht an einer Art Rotsucht, aber sie macht mich und alles um mich glücklich. Diese Prachtsfarbe tat auch der Frau wohl. Sie zankte noch eine Weile und war sauer wie Sauerampfer und tat uns vieles zuwider. Aber immer sagte ich: Tut, was Ihr wollt, aber lange könnt Ihr’s so nicht treiben. Ihr habt ein zu grosses Herz, und wir lieben Euch zu herzlich. Ihr könnt uns zuletzt nicht widerstehen.
Das ging so sechs, sieben Tage. Nun wohnte eine beschränkte, mürrische Witwe nebenan; die redete mit niemand und das war ihre beste Art. Da sahen wir nun, wie die Rosa, so hiess die neue, bei der Witwe sass und ihr Hunderterlei vorplauderte und sie zum Lachen machte. Das hatten wir andern alle zusammen nie vermocht. Wir wunderten uns. Aber wir sollten noch Besseres sehen. Die Rosa half der andern, die das nie recht fertigte und uns doch nicht hinzuliess, die Haften im Rücken ordentlich schliessen und die Schuhe schnüren. Wie das geschehen konnte, gerade von jener da und gerade an dieser hier, das bleibt uns eines der vielen roten Rätsel der Liebe. Der Geist, sagt Ihr, Herr Pfarrer, und das ist doch einfach die Liebe, weht, wo er will. Jetzt ist die Rosa unsere sonnigste Alte, weiss unerschöpflich Anekdoten und Spässlein auszukramen, unterhält die ganze graue Gesellschaft bei Tisch und nur ab und zu im Schlaf wie vorhin entfährt ihr noch etwa ein Schrei. Das sind Nachwehen, sagt mir die gescheite Frau, Nachwehen der Geburt. Es war doch eine Zangengeburt! Und sie lächelt scharmant. O wir haben sie furchtbar gern.«
So warme Dinge erzählte Eugen und hielt den Pfarrer, so oft er aufstehen und heimgehen wollte, auf dem Stuhl zurück, da es ja ein Unding sei, bei diesem Sturm vor Tag auch nur hundert Schritte zu wagen, Und er erzählte neue Geschichten, und Carl fühlte wieder einmal, wie die Liebe um und um die gleiche ist. Die Rechte an der Brust, wo das Sakrament ruhte, flüsterte er: Hörst du’s? Freue dich, du stiller, verborgener und doch so einziger Welteroberer, o göttliche Liebe, freue dich! Dein, dein ist alles.
Nach und nach jedoch, beim leisen gleichtönigen Reden Eugens fiel er mit dem Haupte auf die Rücklehne und schlief ein. Eugen legte eine rote Plüschdecke über seine Knie und hätte ihn bis in den längsten Tag hinein schlafen lassen, so mächtig und zugleich so kindlich schlummerte dieser Riese im Stuhl. Aber als das Tosen draussen gegen sieben Uhr aufhörte und die Sonne voll Unschuld über seine Güsse spielte, erwachte Carl gerade von dieser auffallenden Ruhe, er, der Sturmvertraute.
Er erschrak und lief, so rasch es ging, gegen Lustigern zu. Es war zum Staunen, welche Furchen das Wasser durch das Gehölze gezogen, was für Baumkolosse mit zerschmetterten Armen über den Weg lagen und wie zerschunden und zerfetzt die schönsten Eichen dastanden. Ihn brannte nach den Ausblick ins Dorf hinunter. Als er nun wieder einen gewaltigen Stamm umging, der vom Waldrand über das Strässchen in die Wiese hinausgestürzt war, die Rinde aufgerissen, die Krone geknickt, das Laub schon blass und kraftlos, da befiel ihn plötzlich ein Bangen für seinen Turm, ein Bangen, wie er es noch nie empfunden hatte. Umsonst betete er einen Psalm nach den andern, rief den Allgütigen um fromme Gelassenheit an, gebe es, was es wolle, liess sich ins Ohr flüstern: lass sein! Gott ist dein Turm. – Wenn solche Bäume brechen, ist auch dein Turm nicht ungeschoren geblieben, raunte ihm ein Dämon flink ins andere Ohr. Carl rannte vorwärts, schwitzte, schnob, zerriss sich den Mantel und ward von den Stiefeln bis hoch ins Gewand hinauf mit Kot bespritzt, bis er endlich aufatmend vom nächsten Rank ins Dorf hinunter blickte und den Turm mit dem Gerüste wie immer dastehen sah. Ja, in diesem frischgewaschenen Morgenlicht lachte er ihm munter wie noch nie entgegen. Ihm schien, man arbeite sogar, er entdeckte etwas von Formen und Bewegungen im Gerüste und freute sich darob kindlich. Der Wind wird da wohl heillos herumgeschustert haben, aber sieh, wie lustig geht man ins Zeug. Er meinte sogar Stimmen zu hören, Rufe, Axtschläge und klappernde Bretter. Die Braven, lieber Gott, wie die gleich die Schäden beheben!
Langsam und beruhigt schritt er nun weiter. An einem Schuppen war das Dach weggehoben, auf den Fohren die Schornsteine und Dachtraufen niedergerissen. Die Leute flickten schon eifrig daran. Weiter unten gegen das Dorf klatschte der Boden ganz verwässert unter jedem tritt von Carls gewaltigen Schuhen. Aber er war getröstet und gelangte fröhlich in die obere Dorfgasse hinab.
Inzwischen war Meister Forni unter Brummen und Ächzen mit seinen Mannen durch ein wahres Getrümmer und nasses Geschiebsel in die Glockenstube gelangt; die halbe Decke war eingesunken, drum hatte es so sonderbar matt geläutet, diese Zungen hatten zu viel Wasser gelappt. Von da ins obere halbfertige Stockwerk zu steigen war eine gefährliche Arbeit. Es ging leichter durchs Gerüste empor, obwohl auch hier vieles aus den Schrauben gerissen und zerfetzt war und jeder Gusstritt auf dem glitschigen Bretterboden höchste Vorsicht erheischte.
Wär’ doch da alles zum Teufel, fluchten die Arbeiter insgeheim. Ruhig, mit seinem schwarzen Lächeln auf den hölzernen Gesicht und überaus sicher, sprang nur Matthias Minz über die Laden. Der Grimm des Forni über all die Pfuscherei von Menschen und Element schwoll immer höher an, je deutlicher sich der ganze trostlose Ruin enthüllte. Tränen sprangen wie kleine harte Kristalle aus seinen Südlandaugen. »Nix ist solido, alles futsch, bestia maledetta; viel slimm als neu maggen! O diaboli voi, o ladroni, alles da capo!« schrie er zu den Lustigern, die sich mit beiden Händen im Gestänge haltend ins Gerüste hinausschwangen. Maledetti voi! Das Heillose war, dass vom Wasser und Unrat auch der alte Turm bis tief hinunter beschädigt war. Kurz, man stand da, wo zu Anfang, nein, noch viel weiter zurück: man hatte eine Ruine abzutragen, bevor man wieder aufbauen durfte.
Das überwältigte den Italiener. Er überlegte in dieser wütenden Sekunde nicht, wie viel die Unvernunft der Natur, wie viel die Untauglichkeit des Pfarrers als Geschäftsmann, der Betrug der Lieferanten und seine eigene Schwäche, sich immer wieder überreden und einschläfern zu lassen, an dieser Zerstörung Schuld trug. Er dachte auch nicht an die viel verhängnisvollern Folgen für Pfarrer und Dorf, er sah nur die Zerstörung selbst, wie eine persönliche Arbeit, die ihn ohnehin nie gefreut, ihm Tag und Nacht verbittert hatte und nun faul und lotterig dastand, nicht wie ein Kind, das noch nicht stehen kann, es wirb ja bald stehen können –, sondern wie ein Greis, der im nächsten Moment nicht mehr stehen kann. Nun war sein Kropf voll. Er sprang klein und behend wie ein Gespenstermännchen ins wackelige Gerüste hinaus, er musste sich Luft machen. Und da der nächste der Feldmesser Lienhard war, sein giftigster Geselle, der ein schadenfrohes Grinsen schlecht verhielt, da blitzte die nervige Hand des Italieners auf und klatschte links und rechts eine ungeheure Ohrfeige um den verblüfften Kerl. Lienhard schwankte, liess die Stützen fahren und wäre unfehlbar das Brett hinaus in die Tiefe geglitten, wenn ihn nicht fünf, sechs Hände noch gepackt und aufgerissen hätten.
Jetzt ging da oben, wo man dem Himmel so viel näher zu sein glaubt, eine wahre Hölle los. Die Lustiger streiften die Ärmel auf und rotteten sich, so gut es auf diesem schwanken Fechtboden ging, gegen den Meister drohend zusammen. Lienhard stürzte sich wie eine Wildkatze auf den kleinen Forni, beutelte ihn an der Gurgel hin und her und schlug ihm mit der Faust wie mit einem Hammer auf den Schädel. Die beiden Italiener entzogen ihnen ihren kleinen Edoardo mit Not, griffen instinktiv nach dem Gürtel, wo kein Messer steckte, fletschten die prachtvollen Zähne, aber mussten sich begnügen, mit grandiosen Flüchen den bewusstlosen Meister in die Mauern hineinzuschaffen.
Noch eh’ das völlig erreicht war, fiel der Haufen neuerdings über die Italiener, das ganze Gerüste bebte, und sicher, hätte sich nicht jeder ums eigene Leben oft mit beiden Armen an den Latten halten müssen, es wäre zu einer mörderischen Rauferei gekommen. Überdies stellte sich jetzt Matthias breit und ungelenk, aber fürchterlich stark vor die Brüllenden. Stumm, ohne Befehl, ohne Bitten, stand er einfach vor sie hin und schaute sie mit seinem dunkeln Sarglächeln an. Und das wirkte. Es gab eine Pause. Die zwei Tschinggen konnten ihren caro Maestro langsam den Turm hinuntertragen.
»Ich weiss, was ich tue; weg mit dem Schwindel!« schrie Lienhard wie rasend, riss ein Brett los, das nur noch lose an einer Schraube hing und schleuderte es hinunter. Gleich antworteten aus der Tiefe grelle Rufe, man stob auseinander. Wieder platzte ein Brett nieder, ein Balken folgte; jetzt flogen Hämmer, Beile, Sägen hinunter, Kübel voll Wasser, Steinblöcke. Wie Besoffene hantierten die Wilden da oben, als hackten sie in einem Baume die Äste weg, schüttelten und rüttelten und sahen nicht, wie sie sich selbst den Boden unter den Füssen wegzogen.
Der Kaplan las eben die Halbachtuhr-Messe. Er hörte bei seinem schwachen Gehör dennoch etwas Ungewohntes vor der Kirche und beim Lavabo, wo ihm der Messknabe die Hände mit Wasser begoss, lispelte er: »Was ist los? Ruf den Sigrist!«
Der Bub im weissen Röcklein, längst wie auf Dornen, flog hinaus, auch die wenigen Kirchgänger liefen zu den Türen. Als Eusebi sich zum Orate Fratres gegen das Volk wandte, lispelte noch eine alte Frau halblaut aus ihrem grossbedruckten Andachtsbuche. Aber hinten in seinem Ammannstuhle stand auch noch der gewaltige Cornelius, liess nichts vom Gejohle da draussen an sich kommen und antwortete sehr deutlich das: Suscipiat Dominus ... der Herr nehme dein Opfer an!
Der Haufe um den Turm vergrösserte sich, am Ilgenfenster rief die tolle Bas’ Ida wilde Fetzen von Gedanken hinaus, tat ein Gekicher, schloss und öffnete das Flügelchen wieder und spuckte hinaus. Aber niemand achtete auf sie. Sigi schlief nach seiner Gewohnheit tief in den Tag und erwachte erst jetzt vom Rumor, sah in den Scheiben hinaus, verstand, tat ein paar Schritte wie ein junger Tiger auf und nieder, zog dann ruhig die Festtagskleider an, kämmte sich sorgfältig, salbte das Haar, spritzte sich kölnisch Wasser auf die Hände, besah kritisch die Bügelfalten der Hose, schob dann etwas Dunkles in die Tasche und eilte schön und kühn wie ein Siegesjüngling hinunter ins Gedränge, das, in die Hunderte gewachsen, von den verschiedensten Empfindungen wie von sieben Winden hin- und hergepeitscht wurde. Man lärmte empor: »Seid ihr alle toll geworden? Wo ist der kleine Tschingg? Der Pfarrer heraus! Polizei! Corneli!« – Andere schrien: »Gottes Gericht!« und bekreuzten sich. Frauen beteten und flohen, Kinder weinten und schoben sich näher. Dann befahlen welche: »Man steige hinauf und werfe die Buben hinunter!« ... »Was nützt das alles?« ... Und dann stockte allen wieder vor starrer Verblüffung die Zunge, und sie staunten, wie das nur plötzlich im stillen, frommen Dorfe zu solchem Aufruhr kommen konnte.