Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 26

Das Lorli sah vom Schemel zum Heli empor, der hoch auf seinem Sitzbrett die Maschine mit der einen Hand in tosendem Auf und Ab hielt, während die andre auf der Vorlage nachzeichnend herumstach, auf dass mit allen Arten von Stichen und Punkten das genaue Bild in hundert Wiederholungen durch das Gewebe ziehe.

Das bleiche Mädchen mit den grossen dunkeln Augen, in denen so viel Kindlichkeit neben etwas Sonderbarem, Uraltem lag, liebte diesen Schemel. Es strickte, nähte, flickte da und bot dem stummen Heli stumme Gesellschaft. Er hatte sich zuerst daran gewöhnen müssen wie an eine Katze, die uns immer an die Füsse liegt. Nach und nach war ihm ohne diese Katze beim Arbeiten nicht mehr wohl. Ja, aus der Katze war für ihn ein Menschlein geworden, ein taubstummes zwar, ach, aber doch so ein feines, zierliches, warmes Menschlein mit Augen, wie er noch keine aus einem Gesichte hatte leuchten sehen. Und zum ersten Mal fühlte der Sonderling, dass es noch etwas Schöneres gibt als das Alleinsein.

Mit dem Instinkt eines Wesens, das einst viel Unruhe hatte essen müssen und daran schier verdorben war, fand Lorli im Tälerhause flink diesen stillsten, friedlichsten Platz, wohin es nach allen Geschäften oben in der Wohnung, so hurtig es nur konnte, zurückkehrte. Welch eine fromme Einsamkeit und welche Selbstgenüge lag auf dem unschönen Gesicht des Jünglings und machte es so viel anziehender als die meisten, o auch als des Johannes bildhübsches Antlitz. Wie gut verstand sie seine Worte vom Mund zu lesen! Er sprach so langsam mit ihr, und seine kleinen Augen redeten so gescheit, ach was, gescheit, – so innig zu jedem Worte, dass es für sie keine Kunst mehr, wohl aber ein wahres Entzücken war, ihn reden zu sehen. Sie stand dann vom Schemel auf, um ihm besser auf den Mund zu sehen und trat ganz nahe an ihn und nickte nach jedem Satze.

Aber so wohl ihr im Tälerhause war, eine feine Runzel war ungelöst wie ein Seidenknoten auf ihrer hohen Stirne geblieben. Nicht einmal Milis klares Auge bemerkte diesen sonderbaren Rest. Heli hatte ihn sofort erkannt und wenn Lorli ihn gar zu viel fragte, dann tupfte er mit seinem groben Finger auf dieses Knötlein und lächelte: Was willst du alles wissen; sagst mir ja auch nicht alles. – Sie tat dann mit dem errötenden Kopfe so, dass es nicht Ja und nicht Nein hiess, sondern etwa: Hab’ Geduld; wenn ich’s einmal sag’, dann sicher keinem andern als dir.

Aber es war nichts dabei als gesunde Kameradschaft. Erst als Heli immer dringlicher erzählte, was er alles so im Stillen für sich sehe, im dunkelsten Loch noch sehe, und was er daraus ersinne und wie dann glaublich nichts mehr fehle als ein Stift oder Pinsel, um das Gesicht darzustellen, erst dann begann ein wärmeres Interesse gegenseitig zu werden; gegenseitig, denn Heli ersah sofort aus dem Gesichtlein Lorlis, wie tief sie ihn begriff. Und sollte sie ihn etwa nicht begreifen, sie, die so vielerlei dachte und es auch nicht in die Welt hinausgeben konnte? die so viel Schönes in der Natur fand und so viel Tiefes an den Menschen entdeckte, und es niemandem zeigen durfte? Waren sie nicht beide Schicksalsgenossen, die ihr Bestes für sich behalten mussten, wo sie es so gerne aussäten und Ernten aufwachsen sähen?

Einmal sass Johannes kühl und froh wie immer bei ihnen. Er sollte nun bald nach München abreisen. Aber nicht für die Akademie, sondern zu einem berühmten Freskomaler trug er Empfehlungen in der Tasche. Heli bat ihn mit gefalteten Händen noch um eine Stickereizeichnung und schilderte ihm das Bild Zug um Zug: Tannen, ein prachtvoller Kuhkopf reibt sich am Genadel, ein Kälblein schmiegt sich an, fern durchs Geäst ein toggenburgisches Aplhüttendach und Kafeerauch in Kringeln darob; und alles so angeordnet, dass die Tannen den starken Rand der Bordüre, das gehörnte Haupt mit dem weichen Kälblein eine idyllische Erzählung ins tiefere Gewebe bildet und das Rauchgekringel die ganze Breite geradezu durchflockt und mit Heimatlichkeit und Alpfriede erfüllt.

Sieben-, achtmal versuchte Johannes, diesen Vorwurf aufs Papier zu bringen, und änderte wieder nach Helis Zusätzen, so dass nach und nach etwas Artiges entstand. Nur das Hüttlein wollte noch nicht recht in den Raum passen.

Fieberhaft hatte Lorli zugesehen, es bebte mit allen Fingern, nahm endlich den Karton, deutete hin und her, strich leise mit dem Stift an, wie die Dinge anders gestellt sein müssten, und während Johannes hochweise nichts begriff, ging dem Heli die Idee Lorlis klar auf und das Muster ward jetzt auch räumlich und vom Standpunkt des Gewebes aus, einer Bettdraperie, ganz ausgezeichnet gelöst. Nun machten die Brüder erstaunte Komplimente, aber Lorli entwischte, und erst als Johannes weggegangen, kehrte sie mit einer Mappe zurück und bot Heli Blatt um Blatt. Bei ihrer guten Pflegmutter, die Zeichenunterricht in einer Klosterschule gegeben, hatte sie täglich teils aus eigenem Genuss, teils um die Wohltäterin zu erfreuen, sich im Zeichnen geübt und ein grosses Geschick und für die kurzen drei Jahre auch einen grossen Fortschritt bewiesen. Dann hatte der Tod auch diese Freude wie vieles andere entblättert. Aber gerade darum hatte sie für Johannes gleich ein liebevolles Vorurteil empfunden, da Sigi von ihm als einem Kunstschüler erzählt hatte, der auf Tod und Leben male und zeichne.

Da gab es aus Lorlis Ferien in Engelberg nun auch Tannen und gehörntes Vieh und rauchende Berghäuschen in der Mappe. Weil es dunkelte, traten die Zwei unter das hohe Fensterchen, hielten, ohne etwas zu denken, die Köpfe beim Beschauen zusammen, schlugen sich den Arm um und verglichen das eine und andere, und Heli fand, wie viel mehr Kuh und Tanne und Alpe das von Lorli als das von Johannes Gezeichnete sei. Du musst wieder zeichnen, wiederholte er bei jedem neuen Blatt. Warum hast du das versteckt? Und er tupfte auf die kleine Furche in der Stirne: war es das? O nein! Sie schüttelte das Haar. Das ist es nicht.

Es kamen Lämmchen, die zur Hütte trabten, Bäche, die sich aus dem Wald ergossen, auch steife Köpfe und geschmacklose Ornamente. In einem kleinern Hefte wilderte es von jungen Einfällen. Das war jedenfalls Lorlis geheimes Skizzenheft. Sie liess ungern darin blättern. Plötzlich stiess Heli auf einen Kopf, fast knabenhaft noch im Profil, von griechischer Eleganz und Klarheit, aber mit einer ungestümen, begehrlich aufgeworfenen Lippe. Lorli errötete und wollte das Heft wegnehmen. Aber Heli hielt es fest wie ein Mann und blätterte herrisch weiter und traf immer wieder auf dieses zauberische Gesicht, wo Edles und Schwüles gefährlich ineinander flossen. Jetzt wurde es auch ihm zu viel. Er gab ihr die Mappe fast bedrückt zurück und zeigte nochmals zaghaft auf das Knötlein in der Stirne. Und obwohl nun feuerrot, hielt das Mädchen die Frage aus, schlug ihre grossen Augen nicht nieder und nickte ein festes Ja.

Und trotzdem, von da an waren sie befreundeter als je. Lorli zeichnete wieder. Vom sichern mechanischen Strich des Johannes war nichts in ihr. Sie zögerte und zauderte und lebte mühsam mit. Aber in jedem Zug atmete etwas und redete etwas, das es bei Johannes nicht gab. Sie übte sich nun, wie nur hitzige Mädchen von siebzehn Jahren es können, um sicherer im Nachbilden und Formen zu werden. Das waren die schönsten Nachmittagsstunden, wenn Heli ein Weilchen sein Getöse unterbrach, vom Brett niedersprang und zu ihr auf einen zweiten Schemel sass, um ihrem Stift zu folgen, ihm den Weg und die Seitensprünge anzugeben, und wie sie zusammen an der Skizze verbesserten, ihr dies, ihm jenes Passendere einfiel und Heli oft noch im Moment, wo das Ganze wie eine geöffnete Blüte im Lichte stand, durch einen kleinen gemütvollen Einfall ihr noch jenen Duft und jenes seelische Aroma gab, wodurch die Blume eigentlich erst Blume wird.

Seltsam war nur, dass diese hübschen, in Einzelheiten wohl noch ungeschickten Bildchen absolut nicht in den Geist der Stickmaschine passten. In alte Kalender, in Märchenbücher, an die Wand einer behaglichen Winterstube gehörte das. Aber fürs Industrielle war es zu duftig, zu frei, zu seelenhaft. Die Nüchternheit des Johannes fehlte.

»Wir bringen auch das noch fertig,« ermutigte Heli, »nur Geduld! Aber unser Herz wollen wir dabei nicht verkaufen.«

Und so lebten sie tiefer ineinander als Mili je mit Johannes. Immer glänzte ein feiner Schweiss auf dem denkseligen Gesicht des Heli, und Lorli wischte ihn mit ihren feinen städtischen Tüchlein ab, wie der »Helibär« auch dazu brummte. Das war die einzige Liebkosung, wenn man so will. Sie drückten sich nie die Hand, boten sich nie die Wange, dachten an keinen Kuss, da ihre Seelen sich täglich viel feiner küssten, als die feinsten Lippen vermöchten.

»Hier ist es so still wie in einem Wald,« sagte Mili, wenn es einmal aus seiner Geschäftigkeit heraus in diesen Frieden hinunterstieg. »Und die zwei Drosseln pfeifen nicht einmal, wie’s doch im tiefsten Wald sein müsste,« log sie fröhlich hinzu. Denn nur zu gut wusste sie, wie es hier unten geheimnisvoll konzertierte.

Nein, die zwei Leutchen liessen sich von niemand beunruhigen, und die wilden Gerüchte vom Dorfe her trafen sie nicht anders, als ob es sich um einen Kampf im hintersten Asien handelte. Freilich, dann und wann tauchte der Name Carolus aus diesen fernen Staubwolken auf, und Lorli horchte mit mitleidvollem Herzen auf. Denn es bewunderte diesen prachtvollen Mann, der ihm die goldene Gastlichkeit seines Kinderglaubens wieder erschlossen hatte. Aber es, mit seinem seltsamen, fast weissagenden Blick, sah nichts Glückliches an ihm, der ihm doch das Glück gezeigt, nichts Friedliches, der ihm doch den Frieden gewiesen hatte, im Gegenteil, er war ihm ein unendlich Bemitleidenswerter, ob er singe, lache, siege, einerlei, genau wie an jenem Fastnachtabend. Lorli sah etwas Düsteres, Tragisches über diesem königlichen Krauskopf, und darum wurde es immer seltsam traurig, wenn es nur das Wort Carolus hörte.

»Lass ihn doch machen,« scherzte dann Heli behaglich. »Der ist gross genug. Der haut sich schon allein durch. Der würde dich gehörig abkanzeln, wenn er dein Mitleid merkte. Dein Mitleid würde er bemitleiden. Sieh da,« lachte er und drückte seine zwei kleinen Augen zu zwei winzigen Lichttropfen zusammen, »Jetzt red’ ich bald so gescheit wie der Sigi.«

Aber wie gewisse überempfindliche Menschen selbst hinter dem Ofen noch den Wind, der draussen tobt, in den umpolsterten Gliedern fühlen, so spürte Lorli, ohne auch nur etwas Sicheres zu vernehmen oder zu verstehen, den furchtbaren, reissenden Rhythmus, in dem sich die Ereignisse um den tapferen Pfarrer abspielten und zur Krisis drängten, in ihrem Innern leise mitschwingen. Und wie man nun durch die doppelten Scheiben in den Tumult hinausäugt und die armen Wanderer unterwegs bedauert, aber sich dann noch enger an den Ofen drückt, so seufzte Lorli manchmal für seinen vergötterten Helden, aber schmiegte sich gleich doppelt innig an Helis Sitz und war doppelt froh, dass dieser kein Held war.

So bauten die beiden unbewusst in diesem alten Webkeller an einem Bau des gemeinsamen Glückes, während seit Wochen drunten im Dorf am Turme der Sprach- und Seelenverwirrung, wie Corneli es nannte, gemauert und gezimmert wurde. Zwischen Kalkgruben, Sandhaufen, Beigen von gutem Granit und Hölzern und Brettern sah man den Pfarrer fröhlich wandeln, sich den langen Rock beschmieren und mit Gesell und Meister hoffnungsfroh plaudern. Der Bauherr Forni war ein Italiener, der alles zu machen verstand, Brücken, Fabriken, Dämme, Kaminschlote, Mietkasernen und Strassen durch felsiges Gelände. Warum sollte er nicht auch einen Kirchturm strecken können? Er hatte dem Pfarrer einst in Gons den Friedhof tüchtig renoviert und eine wackere Totenkapelle an den Turm angegliedert. Seitdem besass er Carls volles Vertrauen. Bis im Herbst wollte er das Werk hier unter Dach und Fach haben, nur bedang er sich vom Pfarrer gute Arbeiter aus. Er selbst brachte nur zwei mit. Denn Carl wollte den Gewinn am Turm vor allem seinen Pfarrkindern zuhalten. Es hatten sich viele vor Ostern gemeldet. Burschen, die ein bisschen schreinern und pflastern können, gibt es ja in jedem Dorfe mehr als genug. Als nun aber ernstlich begonnen wurde, zogen sich die solidern Elemente zurück. Was sich da noch feilbot und einstellen liess, war niedern Schlages. Aber Carl in seiner gehobenen Stimmung sah nur noch Gipfel und Zinnen und nichts von dem, was dunkel und böse in den Tiefen herumschlich. Er ahnte nicht, dass eine Menge seiner Parteigänger nur schon durch die Übergabe des heimatlichen Baues an einen Tschinggen statt an den Kirchgenossen und Zimmermeister Weibel sich empört von ihm wandten. In der Tat wäre Weibel mit seinen fast genialen Anlagen und seiner genauen Kenntnis von Land und Leuten der Sache mindestens so gut wie Forni gewachsen gewesen. Jetzt wurde er ein gehässiger, witziger Feind des ganzen Unternehmens.

Die angelobten Fuhren von Holz und Stein wurden pünktlich geleistet. Aber über das Versprochene hinaus gab es keinen Span noch Kiesel. Jedoch auch das bemerkte Carl nicht. Und ebenso wenig schwante ihm das geringste, dass die überwiegende Männerwelt der Gemeinde seit dem erfeilschten Fortgang des Schül und noch mehr seit dem enthüllten Ambrosiusbild und den Ohnmachten des alten Dorfhauptes sich von Carls Eigenmächtigkeiten ein für allemal abgekehrt hatte. Was viele in Angst und Bettschwäche unterschrieben hatten, je nun, das war geschrieben. Sie wollten den Turm nicht hindern, aber auch nicht den kleinen Finger für ihn rühren. Zu mächtig hatte es auf sie gewirkt, wie der riesige Ammann vor dem Portalbild zusammenbrach. Sie alle erinnerten sich der Predigt jenes jungen Eiferers am Kirchenfest und taten einen Eid, dass dieses Fresko den Corneli für Zeit und Ewigkeit strafen sollte und wie unchristlich das war! Obwohl man zeitlebens auf den alten Geldprotzen und Geizhals geschimpft hatte, schwenkte die Fahne des Dorfhasses und der Dorfliebe sofort um, als der Greis solche Schläge erlitt. Auf einmal war er ein besorgter Patron des Dorfes, ein fester Halt und Schutz gegen moderne Frechheiten, ein Erhalter des guten Alten, ein Schirmer der Bürger und ihrer Rechte, ein frommer Mann, der selbst den Priestern, wo sie weniger als Priester sein wollten, den Drohfinger hob. Hundert Geschichtlein von seiner harten Kindheit, seinen Leiden und Mühen beim Weben, seinem Kampf und Gefängnis, seinen Stiftungen und einem Testament, womit er Lustigern herrlich bedenken würde, gingen wie Fliegen zu allen Türen und Fenstern hinein, und was das Wahrste und Echteste am Greise war, wovon aber niemand wörtlich sprach, die absolute Reinheit und Ehrlichkeit seiner Amtsführung mehr als ein halbes Jahrhundert lang, das erfüllte alle, die Schimpfer und die Lobhudler, mit der gleichen heimlichen Ehrfurcht. Und dass diesem hohen verdienten Achtziger nun an der Schwelle der Ewigkeit die letzten Tage noch so verbittert und versauert wurden und gerade von dort, von wo sie versüsst werden sollten, das machte jetzt bei gründlichem Überlegen immer böseres Blut. Der Kaplan ist doch schon über zwanzig Jahre hier und der beste Freund des Corneli geblieben. Da kommt dieser Carl und gleich teufelt es los wie Katz’ und Hund.

Von dem allem wusste Carl nichts. Er hatte den Corneli zwei Wochen lang nie mehr in der Kirche gesehen. Das war für alle so ungewöhnlich, wie wenn plötzlich ein Altar oder die Kanzel gefehlt hätte. Aber Carl dachte, das sei die Folge jenes Schwächeanfalls am Ostertag, und Peregrina, die natürlich die lautere Geschichte von A bis Z kannte, wagte ihren Herrn nicht aufzuklären.

Pünktlich mit dem ersten Beilschlag am Werk war der Protest des Ammanns im Namen »einer geregelten Kirchenverwaltung« erschienen. Ein kurzes, ruhiges, würdiges Wort, womit die Eigenmächtigkeit eines solchen Verfahrens als verfassungswidrig bezeichnet und alle Verantwortung auf den Urheber geworfen wird. Auch dem Bischof, der übrigens nach Rom gepilgert war, wurde der Protest übersandt. Dann ging er durch einige Zeitungen, mit boshaften Ausfällen gegen die pfäffische Herrschsucht glossiert. Daran war der gerade Cornelius unschuldig. Er hatte ein Exemplar dem Pfarrer, eines dem Protokoll der Kirchgemeinde, ein drittes dem kantonalen Administrationsrat und eines dem Landesbischof zugestellt, und es war gegen sein vornehmes Empfinden, dass einige Dunkelmänner die Erklärung abschrieben und an alle Fahnen- und Kreuzstangen der Kirche, sowie dem Standbild des heiligen Ambrosius an den Bart klebten. In Carolus stürmte es; aber er war diesmal Diplomat und tat, als sähe und höre er nichts. Und so sprach man nach kurzem auch nicht mehr davon.

Man hatte den alten Helm vom Turme genommen. Das musste jedes Kind voraussehen, dass sonst nicht weitergebaut werden könnte. Aber trotzdem, als nun das liebe graue Spitzdach mit dem Silberkranz abgedeckt, das Gerippe entblösst und die noch so starken Schrägbalken abgehoben wurden –- o wie lange widerstanden sie! – da dünkte es die zartern Dörfler schier eine Entweihung. Die stärkern griffen an den Stangen und Latten herum und sagten: Herrgott, wie schade um das alte Werk! Seht, welche Balken, alles Eichen, fester als Eisen! Das hätt’ noch Jahrhunderte gedauert. – Wirklich, wie Totengebein lag es jetzt herum und machte traurig, wo man es leb- und ziellos herumliegen sah.

Das frische Material war gewiss nicht so gut. Aber das neue Stockwerk rückte um so rascher in die Höhe. Nur klagten die Maurer, das Gerüste sei zu lose und unsicher gebaut, zu recht für Tschinggen, die wie Katzen durch das Stangenwerk klettern. Sie aber bekämen fast Schwindel und könnten an manchen Stellen nicht fröhlich zugreifen.

Umgekehrt behauptete Meister Forni, die Hiesigen arbeiten schlecht und faul, ein einziger ausgenommen, der Matthias Minz, der ihm wirklich prächtige Bretter, nur etwas zu glatte, schmale, fast sargmässige schneide. Mehrmals habe er den Kalk dieser Faulenzer ausgeschüttet und sie das Gemauerte wieder abbrocken lassen, so lästerlich schlecht sei da gewerkt worden. Carl mahnte zur Geduld, schärfte den Einheimischen gewissenhafte Leistung ein und fand, dass es trotz diesen kleinen Unebenheiten famos ins Blaue emporrücke. Er sah heiter ins Kommende.

Wenn das katholische Kollegium, das ist die höchste kantonale Behörde über das sämtliche Kirchenverwaltungswesen, im Frühherbst in der Hauptstadt zusammenkommt, dass ist der Turm fast fertig und das Verlesen des Protestes wird zugleich mit einem sanften Rüffel des Präsidenten und vielleicht mit einem ungnädigen Spruch des Bischofs vor der schlank gemauerten, schwalbenflughohen Tatsache verhallen.

So dachte Carl und liess sich eines Abends mitten unter den Arbeitern am Portal zum Vespertrunk nieder. Er hatte ein Fass dicken, halbschäumenden Barbera bekommen und bot jetzt einige Liter des lombardischen Saftes herum.

Der schwere, süffige Trunk löste die Zungen, und Lienhard, der Strassenmeistersohn und schlaue Feldmesser, ward durch das kameradschaftliche Gebaren des Priesters verwegen und fragte: »Wisst Ihr, Herr Pfarrer, warum unser Turm fünfeckig ist? Überhaupt, wer kann’s am besten erklären? Dem leer’ ich ein volles Glas von diesem Schwarzwein.«

Es gab gute Antworten. Der Forni sagte: »Man nannte euch Lustiger landauf landab Vierschröter. Da wolltet ihr zeigen, dass ihr auch Fünfschröter seid.« – Carolus meinte: »Sonst liebt man überall das Gerade; nur ihr habt immer einen Rest, der nicht aufgeht, ihr wollt die Ungeraden sein.« – Einer, der aus den Alpen kam, erklärte, er habe mehrere solche Kirchtürme an gefährlichen Lawinenhalden gesehen, das fünfte Eck gegen den schlimmen Absturz gerichtet. Und in der Tat war auch der hiesige Turm so gestellt, das die dritte Kante gegen Südwest, die fünfte gegen Nordost sah. Wind und Sturm fochten ihn stets von diesen zwei Seiten an. Indessen mit der Glockenstube begann der Turm viereckig zu werden, und dieser Wechsel gab dem Gebäu etwas Launisches und Zopfiges.

»Ihr habt alle falsch,« erwiderte Lienhard mit weinnassen Schnauzborsten; »sogar unser gelehrter Pfarrer. Das Geschichtlein hab’ ich vom Spätzlibauer, dem alten Mesmer, so vernommen: Als man an die Fundamente ging, waren Pfarrer und Ammann im Streit, beinah wie heute, und der Pfarrer wollte nur noch vier, statt fünf Kirchenräte gelten lassen, um im Rat die Oberhand zu behalten. Vier bändigt man eher als fünf. Schliesslich sagte er: so viele Herren Räte als der Turm Ecken hat! Denn eckig ist dieser Rat sowieso. Da ergab sich der Ammann willig drein und dachte, ich will dir schon für Ecken sorgen. – Aber am Abend kam der Geistliche zum Baumeister und sagte: ›Für siebentausend Gulden baut Ihr; ich biet’ Euch achttausend. Dafür müsst Ihr das Fundament achtseitig machen und das Dorf täuschen, als ob es einen achteckigen Turm gäbe. Sobald die Grundmauern aus dem Boden gucken, müsst Ihr zwei und zwei Seiten immer in eine einwärts zusammenschmelzen, wie das vom Achteck zum Viereck leicht geschieht. Es wird dann in den vier neuen Seiten, immer in der Mitte, ein Ansatz vorstossen, wo jedesmal ein Paar zusammentraf. Diesen Ansatz führt Ihr noch einen Meter hoch über die Erde, als wären doch acht Ecken und knöpft ihn dann plötzlich ab, so dass sie eine Art Sockel bilden. Abgemacht!‹ Und aus irgendeinem Privatsäckel schob der geistliche Fuchs dem Architekten gleich eine Tausenderrolle zu.

Aber der Ammann roch die Falle, als er die acht Seiten im Plane sah. Acht Räte will der Geistliche nicht, sondern vier. Er dividiert also, sobald er ins Licht damit rückt, durch zwei. Und rasch begab sich der Ammann zum Baumeister und befahl, zehn Seiten statt acht in den Grund zu mauern und im übrigen nach dem pfarrherrlichen Rezept zu verfahren. Er bekomme dann zehntausend statt siebentausend Gulden für das Gotteshaus, ja, er könne die drei Rollen Goldes gleich einstecken. Und so geschah es. Es gab also fünf Räte, aber mindestens zehn Prozesse, bis schliesslich der Architekt dem Pfarrer als Schmerzensgeld für den fünften Kirchenrat die Tausend zurückgeben musste. Mich freilich dünkt, er hätte sie nicht zurückgeben sollen. Der Pfarrer war im Unrecht.«

Dem widersprach Carolus wohlgelaunt und es wurde eine Weile darob hin und her gestritten, bis plötzlich der gleiche angriffige Lienhard verschmitzt zum Pfarrer rief: »Ihr hingegen hättet euch vom Corneli nicht lumpen lassen, gegenteils habt Ihr ihn ordentlich an Nas’ und Ohr genommen.« Zugleich zeigte er auf das Ambrosiusbild über ihnen an der Portalfront.

Der Pfarrer verstand keinen Deut, bis der Feldmesser zudringlicher meinte: »Das da oben seid doch Ihr und der andere ist der Corneli. Bei Gott, das ist ein Trumpfass und doch möcht’ ich’s nicht ausgespielt haben ...«

Jetzt ging ein dunkler Schatten über die kneipende Gesellschaft, am dunkelsten über das Antlitz Carls. Es wurde fast violett.

»Ihr habt einen ganzen Liter Barbera im Kopf, sonst könnten Ihr nicht solchen Unsinn plappern,« zog der Pfarrer los. »Packt euch an die Arbeit!«

»Gar nicht beduselt bin ich. Todklar weiss ich, was ich sag’. Den Corneli habt Ihr da oben gestraft!«

Carl erhob sich und gab das Zeichen zum Aufbruch. Der Meister Forni lachte in den Bart: da siehst, was für ein Maul deine Zöglinge haben; aber die Hände rühren sie nicht so toll.

Immer zuversichtlicher ward der Arbeiter. »So sagt,« schrie er, »sagt uns ins Gesicht, ob Ihr nicht an euch und den Corneli gedacht habt, als ihr das Bild bestellt habt. Saget doch, Herr Pfarrer!«

Carl wurde noch dunkler, die zwei Schaufeln gruben sich heftig in die Unterlippe, er schwieg.

»Seht, Ihr schweigt,« triumphierte der Halbtrunkene. »Alle seht ihr, wie unser Pfarrer schweigt. Aber auch, wenn Ihr sprächet, gälte es nichts. Denn den Corneli hat dieses Bild zu Ostern fast getötet. Dreimal ist er von Sinnen geworden. Euere Schuld ist’s nicht, wenn er noch lebt und in die Kirche geht.«

Der Pfarrer stand da und meinte, eine Lawine gehe über ihn, eine Lawine von Scham, Not und Bitterkeit, wogegen die fünfte Kante des Turmes nichts half. Das Kraushaar sträubte sich fachlich auf und der Schweiss rieselte allenthalben daraus hervor. Einst ja, aber längst nicht mehr, hatte er dem Fresko diesen rachsüchtigen Sinn gegeben. Aber eben einmal doch.

Und Corneli hat nur diesen einen Sinn verstanden und behalten. Er konnte nicht anders. Also daher jene Ohnmacht zu Ostern, daher jenes furchtbare: Zurück! Daher die zwei Wochen Fernbleiben von der täglich besuchten Kirche. An allem war ich schuldig. In der Tat, wenn Corneli nicht mehr aus seinem Entsetzen erwachte, was bei seinen Jahren so nahe lag, wäre ich der Mörder dieses Greises, wenn nicht der vorsätzliche, so durchaus der roh fahrlässige Mörder. Gott im Himmel, wohin gerat’ ich?

Nochmals erhob er die Hand und deutete der Gruppe, sie solle zur Arbeit zurückkehren. Dann verschwand er wortlos in der Kirche.

Merkwürdig, wäre Carolus nicht mit gebogenem Rücken sozusagen ins Kirchendunkel geflohen, hätte er sich vielmehr in die Höhe gereckt, den Grossmäuligen scharf in die Fäuste genommen, geschüttelt und verächtlich von sich geschleudert, wahrhaft, er hätte die irdische Partie des Kampfes gewonnen, und unermesslich wäre der Respekt vor ihm gestiegen. So aber, da er nicht einmal den Schein einer Lüge wagte, verlor er und gewann dafür etwas Unbezahlbares, das Recht auf Gnade.

Im Dorfe aber lief es wie Feuer herum, dass der Pfarrer auf das freche Maul des Lienhard nichts zu entgegnen wusste, dass er sich nicht reinigen formte, dass er verstummte und wie das böse Gewissen wegschlich. Und die Männer fühlten sich nun in ihrer strengen Ablehnung der pfarrherrlichen Willkür aufs frömmste gerechtfertigt, kamen sich sozusagen als Richter ihres bisherigen Richters vor, und der Kamm ihrer Selbstgerechtigkeit schwoll ihnen hoch über das Gehirn hinaus. Vergessen war alles Grosse, was Carl in kurzer Zeit an ihnen, ihren Kindern und Kranken und Verängstigten getan. Sie sahen nur Anmassung und Streitlust und geistlichen Luxus in seinem Gehaben und bedauerten, dass gerade sie, die tugendhaften Lustiger, diesen und keinen anderen Pfarrer bekommen hatten. Wenn man nur wüsste, wie sich seiner entledigen und wieder einen stillen, sanften Seelsorger bekommen ähnlich den hochseligen Zyrillus Zelblein oder dem Eusebi!

Der Unmut über das Herrentum dieses Priesters und die Widersetzlichkeit gegen seine Überhebungen wuchsen unbewusst wie Gras und erreichten nach und nach eine hohe Rebellion der Geister. Man hätte es nicht ungern gesehen, wenn ein Krach in der Kasse oder im Bau das Werk hätte stocken und schliesslich den braven Turm wieder den alten Helm aufstülpen lassen. Carolus wurde plötzlich wieder wie ein Fremder im Dorf empfunden. Alle früheren, längst vergessenen Misshelligkeiten mit ihm traten jetzt blutfrisch und gewaltig aufgebauscht wieder in Erinnerung, vor allem manche etwas rauhe Predigt, die Beichtstuhlgeschichte, das heillose Geldsammeln in eine unkontrollierbare Kasse, dieses Betteln besonders am Kranken- und Sterbebett, selbst bei ganz mittellosen Leuten, der Hader mit dem Corneli, die Missachtung des Kirchenrats, die Ambrosiuspredigt, die kühnen Worte am Ende der Kirchgemeinde, die ausnehmende Gunst der Frauen, der Überfall im Löwen mitten im Tanz, wo er die besten Bürger wie Schulbuben abkanzelte, der Feldzug gegen Schüls Geige, bis er sie endlich mitsamt den beiden Leutchen, als wären es Poststücke, kalt abwertete und nach Zürich spedierte, dann dieser Turmbau so ganz aus Selbstherrlichkeit heraus, dies alles vor einem fertigen Jahr! Was würde erst in zehn Jahren geschehen! Nein, es war übergenug. Man müsste an den Bischof gelangen. So kann es nicht weitergehen.

In der Tat, die Luft um den Pfarrer war wie von Elektrizität geladen. Es brauchte nur noch ein Fünklein, und eine furchtbare Entladung konnte folgen.

Als daher kurz nach jenem Vespertrunk Eduard Forni vier Arbeiter, darunter jenes Grossmaul Lienhard, davonjagte, weil sie so miserabel mittaten, als wollten sie mit dem Turm nur ihren Spott treiben, da entstand im Nu eine drohende Gärung im Dorf. Einige Dutzend Männer rückten vor die Kirche. Der »Tschingg« sah sich benötigt, die italienischen Ersatzmänner, die bereits mit roten Schärpen und Polentakesseln eingerückt waren, sofort heimzuschicken und die vier Gesellen wieder einzustellen, wollte er nicht einen ernsten Skandal gefährden. Forni selbst war mehr als einmal auf dem Punkt, den ganzen Bau mit Verlust aufzugeben. Nur die Rücksicht auf seinen treuen Patron liess ihn beharren. Aber das neue Stockwerk über den Glocken freute ihn nicht, so elegant es von unten aussah. Stein, Sand, Kalk, Zement, alles schien ihm nur so hingehudelt. Einzig das Holz- und Sparrenwerk war solid, weil eigenhändig von ihm und dem Matthias ausgeführt. Ungern wie auf etwas Unsicheres baute er nun den zweiten, letzten Stock auf und hob inzwischen schon die alte Glockenstube in das vollendete neue Geschoss, zehn Meter über das bisherige. Aber immer gab es Widerwärtigkeiten mit den Lustiger Arbeitern und merkwürdig, der Pfarrer mischte sich nicht mehr darein und, sooft er nun kam, war immer etwa Fremdes an ihm, beinahe als wäre er Gast, nicht Wirt des Turmes.

Man behautet heute noch, Carolus sei erst durch die Katastrophe, die wir nun rasch schildern müssen, aus dem Geleise seiner bisherigen energischen Wehrhaftigkeit geworfen worden. Das ist nicht wahr. Eusebius weiss das besser. Als an jenem Abend Carl aus der Kirche trat, bleich, verhärmt, das Haar zerrauft und schon heftig gegen den Wirbel hinauf ergrauend, da war er gewiss schon nicht mehr der muntere, kraftstrotzende, selbstgewisse Mann von früher. Wohl ging er sofort stramm und ganz aufrecht zu Eusebi hinüber und kehrte auch sehr aufrecht in seinen Pfarrhof zurück. Auch sein Bass in der Kirche scholl keine Note schwächer. Dennoch war es nicht mehr der gleiche Carl. Er gab nichts auf, sah täglich dem Bau nach, kletterte trotz Schwindel und Herzklopfen noch oft in die untern Gerüste empor, tröstete und ermutigte den Forni und verteilte grosse Trinkgelder unter die Werkleute. Aber er brannte nicht mehr dabei wie früher, seine Stirn leuchtete nicht mehr sonnig und die rosenblättrige Lippe blutete nicht mehr vor Eifer. Es geschah alles erst, streng, ruhig, amtgemäss, ohne Schwingen und Schweben. Der Turm schien nur noch ein Ziel des kühlen Verstandes, nicht mehr der brausenden Gefühle zu sein. Aber niemand merkte das als er selbst, Eusebius und der scharfe Meister Forni.

Damals, nach jener herzpackenden Anrempelei, in der vesperlich stillen, tiefsonnigen Kirche, von Schatten des Todes umweht, er wusste nicht seines oder des Cornelius Todes, damals hatte Carl sich gründlich in die Abgründe seines Wesens versenkt, richterlich untersucht und in der Kaplaneistube hatte der weise Eusebius nachher schonend mitgeholfen, und ein Turm war wirklich gestürzt, ein Turm von Eigensinn, Rechthaberei und verhüllter Selbstglorie, und das alte echte Wesen des Mannes quoll wieder kindesfrisch und kindeslauter aus den Rinden oder Verwachsungen des Alters hervor, und es konnte ein neues Blühen geben. Nicht was du wolltest, sagte der kleine Eusebi mild, war ungut, o im Gegenteil! aber wie du es wolltest, das war vom Übeln. Aber jetzt gibt es kein Zurück. Mach fertig, was du begonnen hast, aber dann beginne nichts mehr ohne zwei Genossen in die Regie zu nehmen, Gott als Chef und deine Pfarrkinder als stille Teilhaber.

Dem Ammann, das stand fest, musste eine schöne Genugtuung werden. Aber wie, ohne Chorrock und Stola in den Staub zu ziehen? Das, was über Carls Person stand, das Priesteramt und die Priesterautorität, durften dabei nicht verunglimpft werden. Nicht der Priester, der Mensch in Carl musste büssen. Am liebsten wäre er im ersten Sturm seines Herzens zum Corneli hinuntermarschiert, hätte sich tief vor ihm hingekniet, ihm alles herzlich und herzhaft bekannt und ihn um ein mildes Gericht gebeten. Ja, er hätte sich nicht gescheut, das Fresko zu übertünchen und auf so reuigem Grunde ein gütigeres Bild hinmalen zu lassen, etwa Heinrich den Zweiten, den famosen heiligen Kaiser, mit dem Bamberger Dom in der Hand und der Römerkrone im blonden Sachsenhaar. So eine Figur würde gewiss den Corneli bei jedem Messgang heiter stimmen und alle Theodosiuserlebnisse vergessen machen. Ein Laie, man bedenke doch, das Gotteshaus fest in den zehn Fingern, so recht wie ein Kirchenpräsident des Mittelalters!

Aber das geht nicht, widersprach Eusebi und streichelte dem Riesen, der wie zur Beichte vor ihm kniete, die verstrubelten und verschwitzten Krausen wie einst dem wilden Buben glatt. Dann streifte er lächelnd den Ärmel auf, zeigte auf einen matten Fleck und sagte: »Weisst du noch damals? Begeisterung soll nie weh, immer wohl tun!«

Wie ein Knabe schluchzte Carl in die Knie des unvergleichlichen Lehrers hinein.

»Auch jetzt musst du die Begeisterung zügeln, darfst nicht schon wieder ins Gegenteil übertreiben. Ein Missetäter bist du nicht. Es nützte auch keinen Deut, dem Ammann in die Stube zu rumpeln. Er würde dir vielleicht nicht einmal öffnen oder dich nicht ausreden lassen, dir den Rücken kehren und nun seinerseits ein Unrecht tun. Mit Gefühlsüberschwang erreichst du bei diesem nüchternen Realitätenrechner gerade das Gegenteil von dem, was du so heiss möchtest. Überlegen wir einmal ruhig, was das Beste wäre.«

Wie unvergesslich blieb dem Eusebius zeitlebens die Pause, die nun eintrat! Voll Gläubigkeit, beinahe schon wieder mit einem blauen Lächeln seiner Augen guckte Carl in der gemütlichen Stube herum, wo auf dem Fensterbrett die grosse gefleckte Katze Zülli einer Fliege behaglich zusah, wie sie näher und näher an der Scheibe heruntergaukelte und sich gar nicht bemühte, da ihr der Braten ja von selbst ins Maul fliegen wird. Das Pendel der leierförmigen Barockuhr tickte heiser hin und her; im grossen Bauch eines Kristallglases schwammen elegant die Goldfische herum, und der Spruch auf dem Ofen: Wärme dich und wärme! tönte so verschmitzt wie nur je. In der anstossenden Küche hörte man ein seltsames Hüsteln und Schneuzen und Hin- und Herfegen. Eusebi kannte das. Seine Marianne wollte das Weinen verheben. Hatte sie doch den von ihr heimlich vergötterten Mann immer langsamer ans Haus kommen sehen, mit einem Antlitz wie Zerstörung, und sogleich vieles verstanden. Aufs Servierbrett stellte sie nacheinander ein Gläschen Enzian, ein Gläschen Magenbitter, eine Kanne dampfenden Kaffee, ein Becherlein Burgunder. Alles und jedes wollte sie anbieten und liess am Ende doch alles stehen. Da musste ein anderer Spiritus helfen.

Carl hatte sich an den Tisch gesetzt und bemerkte erstaunt einen ungeöffneten Brief mit dem Stempel der bischöflichen Kanzlei. Fragend tupfte er Eusebi, der still in seine Brille hineinstarrte. »Tu ihn nur auf!« flüsterte Eusebi; »ich hab’ schon mehrere solche Papiere und weiss den Text auswendig. Es wird heissen: überred’ den Carolus fürs Heiligberger Stift!« – Carl riss auf und las laut:

»Hochwürden! Unser z. Zt. in Rom weilende Hwst. Bischof hat Ihrem H. H. Pfarrer Carl Bischof die Beichtigerstelle auf Heiligberg angeboten. Seine Gnaden fanden es der Überlegung wert, ob Ihr Prinzipal aus den immer widrigern Verwicklungen in Lustigern, woran seine Methode doch nicht ganz schuldlos ist, sich nicht am ehesten durch Übernahme dieses ruhigen, nervenstärkenden Postens ...«

»Hm, nervenstärkend!« Beide Geistliche mussten lächeln.

»... nervenstärkenden Postens, der auch seinem Temperament für eine Weile überaus zuträglich wäre, loslösen ...«

»Kanzleistil,« seufzte Eusebius schalkhaft hinein. »Hat der Satz noch keinen Schwanz?« – Aber Carl machte missmutig ein Pst! Diese Zeilen duldeten keine Witze.

»... loslösen und das Schlichten des verworrenen Garns einer neutralen, kühlen Hand überlassen sollte.

H. H. Pfarrer hat einen ausweichenden ...« das ist nicht richtig, einen abschlägigen, verbesserte Carl ruhig –, »um nicht zu sagen abschlägigen Bescheid erteilt ...« ach so, jetzt sagt er’s auch, lispelte Carl und schlug sich ruhig auf den Mund.

»Aber inzwischen haben sich die Verhältnisse in der Pfarrei verschlimmert, Proteste und Beschwerden laufen bei uns ein. Wir sind über die Lage von beiden Seiten genau unterrichtetet und Reverendissimus befahl uns, es während seiner Abwesenheit nicht zum Äussersten kommen zu lassen, sondern mit seiner Vollmacht im Notfall energisch vorzugehen. Sie möchten wir nun noch vor weiteren Schritten um Ihr Urteil bitten und zugleich, wenn Ihr Gewissen damit einig geht, Sie ersuchen, beim Pfarrer in Ihrer klugen, liebevollen Art einzuwirken, das er es über sich bringt, einen stillen Abschied zu nehmen und zu günstiger Stunde, ohne jegliches Aufsehen, ins Frauenkloster zu reisen, dessen Pfründe wir hierzu einstweilen noch offen halten. In dieser Entsagung und unfeierlichen Verabschiedung möge der lb. Pfarrer eine geeignete Busse für seine zu laute, zu herrische Pastoration sehen!«

»Schau, schau,« bemerkte Carl erbleichend, »bei Nacht und Nebel soll ich verschwinden!«

»So schreibt nur einer in der Pfalz,« spasste Eusebi. »Wir sehen, das ist unser künftiger Bischof. Aber gib einmal acht: würdest du mit Stab und Mitra nicht den gleichen Stil und Stecken gegen uns Priesterlein wenden?«

Carl umarmte seinen alten Freund. »O wie du mich kennst, besser als ich mich selbst.«

»Ja, Gott schütze uns vor deinem Krummstab! Da würden wir böse gekrümmt,« scherzte Eusebi weiter, da er sah, wie der Riese neben ihm am Briefe würgte.

Mühsamer las Carl: »Das unbestritten viele Gute, das Ihr Prinzipal unter Einsatz seiner ganzen Person dem Dorfe erwies, aber das unter sotanen Umständen sich nicht entsprechend auswirken konnte, wird um so reichere Früchte tragen, je gehorsamer und demütiger er sich in unsern Vorschlag fügt. – Sie, Hochwürden, wiewohl wir gut wissen, wie alt und gebrechlich Sie sind und wie unlieb diese Verfügung Ihnen ist, müssten vorläufig als Verweser amtieren, da Sie uns trotzdem z. Zt. als die passendste Persönlichkeit erscheinen. Wir geben Ihnen einen jungen rüstigen Kaplan als Gehilfen ...«

»Ich gratuliere,« sagte Carl mit zitternder Stimme zu Eusebius, »Herr Pfarrer von Lustigern!«

Aber der erhob sich entsetzt. Seine ganze Figur mit den fuchtelnden Armen, den fliehenden Füssen, der von der Nase gerissenen Brille und dem aufgeblähten Vogelnest war ein einziger Protest.

»Es ist das beste!« brachte Carl hervor; »und doch, und doch, so sollte keiner fortgehen, der so guten Willens war wie ich.«

»Nein, niemals, du gehst nicht weg, Carl,« entschied Eusebi und spreizte wehrhaft die kleinen schwarzen Hosenbeine auseinander. »Hast du irgendwo an dir und andern etwas zu verbessern, so hier. Ein Heiliger in den Tannen und Mauern von Heiligberg nützt uns zehnmal weniger, als wenn der nämliche hier im Dorf um Vollkommenheit ringt.«

Carl atmete auf. Ach, trotz allem, wie ungern ginge er weg! So schwer, ja unmöglich schien es ihm plötzlich, wie dass man einen Atemzug nicht vollenden soll. Er hatte ja so unendlich viel Klarheit und Selbsterkenntnis und Liebe an diesem einen Abend gewonnen! Ihn dünkte, er überschwelle davon und er könne, ja, müsse es in ununterbrochener Segensfülle über seine so lieben, bösen und wieder lieben Schäflein ausgiessen.

»Weisst du, was ich nach St. Gallen schreibe: Carl Bischof sitzt mit Verlaub und Respekt gesagt auf seinem Pfarrstuhl fest und lässt den widrigen Wind abflauen, denn es ist wirklich nur wetterwendischer Wind. Hingegen bittet Eusebius Nuss hiermit um die stille Sinekure. Er ist halbblind, halbtaub, gichtisch und möchte die paar Atemzüge, die ihm noch bleiben, in so einem sorglosen, frommen Hause tun, unter einigen interessanten, leider noch nicht ganz bereinigten historischen Dokumenten ...«

Mitten im Dunkel dieser Stunde mussten die beiden einander erquickend ins Gesicht lachen.

Gottlob, die Herren lachen, sagte sich Marianne, schob das Häubchen zurecht und trug mit einer wortlosen Verbeugung das üppige Trinkbrett auf. Dann verschwand sie mit unsichtbar gleitenden Pantoffeln und gespreiztem Rock, wie eine schwebende kleine stumme Glocke.

»Nein, bleiben wir ernst,« bat Carl und schluckte vom Magenbitter. »Du sagst, die ganze Mannschaft der Pfarrei sei gegen mich.«

»Ja, aber die Frauen, die in solchen Dingen feiner fühlen, sind im stillen alle für dich und die Kinder auch. Und was heisst dann noch, die Männer seien gegen dich? Die Männer ohne Frauen und Kinder! Gibt es überhaupt ein richtiges Dafür- und Dagegensein bei unserem Mannsvolk? Nein, dies Für und Gegen im Persönlichen sind bei uns Unterländlern nur sogenannte ‘bessere Augenblicke. Das ist,« eiferte der Historiker immer energischer, »keine Charakterlosigkeit, keine Unstetigkeit, es ist vielmehr eine schöne, vielleicht ab und zu gefährliche Elastizität, da man ebenso rasch vom Recht zum Unrecht abschwenken mag wie umgekehrt vom Unrecht zum Recht. Aber zuletzt sieht das letztere. Einige Vorwitzige nennen uns deswegen falsch. Aber stehe das Wort, so hat es nicht entfernt etwas mit Judasfalschheit zu tun. Es ist die Falschheit, die in unserem mangelhaften Sehen und Begreifen liegt, die Falschheit unseres Verstandes, des flinken, einbildungsmächtigen, neugierig nach allen Winden sich wendenden Untertoggenburger Verstandes, der dann ohne langes Grübeln jetzt dies, jetzt das als das Bessere betrachtet. Gerade weil es ihm das Bessere scheint, wird er falsch und wirft das frühere Bessere weg. Das Herz aber ist treu. Was ihm der Verstand als das Bessere vorlegt, packt es sogleich und innig. Jetzt meint Lustigern, dein Weggang sei das Bessere; nach vier Wochen wird es schwören, dein Hierbleiben sei noch besser. Denn inzwischen hatte es Zeit, falsch zu werden, das heisst seinen Verstand zu reinigen. Ein Tag lehrt eben den andern. Nicht nur hier, auf der ganzen Welt ist das Männervolk so. Ich habe nicht umsonst fünfzig Jahre den Charakter in der Geschichte studiert. Immer ist die Menschheit in Hosen so gewesen. Aber die Frauen nicht. Die stillen, guten, echten Frauen in den Stuben nicht! Sie sind die leise, aber feste Politik der Welt. Und darum sag’ ich, was bedeutet es viel, wenn die Männer einen Augenblick deine Gegner sind! Wenn nur das stille, standhafte Herz der Frauen zu dir steht. Die Männer kommen von selbst wieder. Sie sind nicht, wie sie meinen, die Führer, sie sind immer die heimlich Geführten. Und erst die Kinder! Du gibst ihnen ab und zu trotz dem kantonalen Verbot Ohrfeigen und hast sogar einen greulichen Hosenspanner auf dem Gewissen. Aber diese Kinder würden dich doch mit hundert Kusshändchen festhalten, wenn sonst alles an dir zerrte und risse ...«

»Diese Rede darfst du nicht drucken lassen, Eusebi, die Männer würden dich steinigen in einem solchen besseren Augenblick,« scherzte Carl. – Aber dennoch, wie hatte er bei dieser Musik der kaplänlichen Worte aufgehorcht! Wohl meinte sein feines Gehör, es zittere ein leiser Misston hindurch. Aber er wollte ihn überhören. Wusste er doch, dass Eusebius ein so ehrliches und wohlgestimmtes Instrument war.

So beschloss Carl zu bleiben. Aber am nächsten Sonntag würde er von der Kanzel dem Cornelius öffentliche taktvolle Genugtuung leisten. Eusebius nahm ihm das Gelöbnis ab, dass er diesen wichtigen Passus der Predigt ihm vorher zeige und allenfalls korrigieren lasse und dann ohne ein Mehr oder Weniger wortwörtlich so ins Volk hinunterschicke. Später wollte man dann auch über »die Kasse ohne Kontrolle« mitsammen etwas Geschicktes ausmachen. Jetzt nicht, nicht alles auf einmal! ... und die Antwort in die Pfalz einstweilen stunden, bis man mit Tatsachen erwidern könne.

Wohl zuckte es in Carl einigemal rebellisch auf, als ducke er sich unnötig, mache sich zu gering, raube sich selbstmörderisch Recht und Freiheit. Aber dann dachte er an den zitternd an der Türe pochenden, an den todbleich zusammenbrechenden Corneli, an sein schreckliches: Weg! zurück! und beugte sich sogleich wieder zum Schemel der Demut nieder. Doch konnte er es nicht hindern, dass ihn in seiner Kammer hernach eine grosse Ernüchterung und Niedergeschlagenheit überfiel: Aber kann ich das alles auch leisten? Kann ich mein Wesen so bändigen? Kann ich mir so Laub und Blumen abschneiden, wo ich doch meine, es sei gerade das Schönste an meinem Baum? Und steh’ ich dann so entblättert und geknickt da, wird man noch mit Achtung zu mir aufschauen und Schatten und Frucht von mir wollen?


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