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Ungemütlich schritt Carolus Bischof mit vier Kirchenräten und dem Mesmer von Gons vom Bahnhöflein Batzig ins enge Flusstal hinunter.
Auf der hohen Lehne des jenseitigen Ufers, gestützt an die warmen, hellgrünen Hügel, wie sie nur das Toggenburg und Appenzell kennt, sah er seine zukünftige Residenz Lustigern in einem schwächlichen Sonnengeriesel stehen. Denn der nachmittägliche Himmel hing dunstig heiss nieder und dämpfte mit seinen Schleiern wohl die Junisonne, aber nicht die Junihitze.
Heimelig schob sich das Dorf im Gras und Obstlaub zusammen, eine Stunde von jeder Eisenbahnmöglichkeit und jedem Weltlärm entfernt, mit einer unwichtigen, schmalen, von Unkraut bewachsenen Landstrasse, einem klingenden Bächlein und bloss zwei Stickereifabriken, die dazu nur wie etwas breitere Wohnhäuser aussahen und weder qualmten, noch stark lärmten. Klein, aber mein, wollte Carolus sagen, aber verschluckte es noch zeitig.
Es verstimmte ihn ein wenig, dass gar keine Lustigerseele ihn am Batziger Bahnhöfchen erwartet hatte. Überdies wurde ihm dass Gespräch mit den Gonser Begleitern immer saurer. Was soll man sich noch hübsche Lügen vordrechseln, wenn jeder Teil merkt, wie froh der andere über den Abschied ist?
Je näher man dem Ziele kam, desto geläufiger wurde freilich die schwere Zunge der Oberländer. Aber sie mochten vom hiesigen frühen Heuet, von der helleren Farbe der Kühe und von den viel loser gebauten Häusern dieser Talschaft reden, einerlei, aus allem hörte Carolus die Freude der Gonser, ihren stetig mahnenden, warnenden, scheltenden Pfarrer endlich nach fünfzehn rumpeligen Jahren los zu werden.
O diese Gonserzeiten, besonders die letzten mit dem grausamen Zweifel: soll ich packen und gehen? Oder soll ich tapfer ausharren?
Wie oft war er noch spät, wenn nirgends als in den drei Wirtschaften die leider nicht auszulöschende Lampe noch Licht in die Mitternacht hinauswarf, durch den kleinen, steinharten Garten, in dem auch nur grober Salat gedieh, wie oft war er in die dunkle, alte, feuchte Kirche gegangen, hatte wie zum Protest sechs Kerzen am Hochaltar angezündet, um jene drei Kneiplichter zu übertrumpfen, war dann demütig auf der untersten Stufe niedergekniet und scharf mit seinem Gewissen zu Rate gegangen, ob es Feigheit und Flucht sei, der Einladung seines Bischofs ins stille, bequeme Lustigern zu folgen? Ob er nur aus Liebe zur Behaglichkeit, aus Sehnsucht nach Alleinherrschaft ... denn Lustigern ist dickkatholisch und rundum erzkonservativ ... aus Müdigkeit von all dem sieglosen Streit, der seine hübschen, pechschwarzen Appenzellerlocken am Ohr schon leis angraute und ihm ab und zu nachts oder nach einem Glas Mittagswein das Herz so beängstigend klopfen machte, kurz, ob er dem Fleische zulieb sich weg wünsche.
Dann aber reckte sich seine übermannshohe Gestalt, für die jede Gonser Stubentüre zu niedrig gewesen, dass es krachte, als trüge er einen Spangenpanzer. Sein runder, blutroter Kopf mit den grossen hellblauen Augen und dem eingehackten Kinn hob sich, die weissen Zahnschaufeln gruben sich in die breite, schöne Unterlippe, die einem Rosenblatte glich, die Locken starrten beinahe stachelig in die Höhe. Nein, nein, ich bin noch stark! Lieber schlafloser Krieg als schläfriger Friede! Der Bischof freilich spottete, ich richte hier mit meiner Gigantenfaust weniger aus als ein Zwerg mit dem kleinen Finger. Und Carl hörte den violetten Mann wie im Scherze, aber mit durchdringendem Blicke wieder sagen: Die Gonsernuss ist hart. Nicht das Horn des Stiers soll sie zerstossen, sondern das Mäuschen der Geduld muss sie aufnagen. Öffnen, nicht zertreten! ... Das war deutlich.
»Gehen Sie nach Lustigern,« ersuchte der Bischof mild. »Auch dort gibt es Nüsse zum Knacken. Aber doch minder harte! Wenn Sie mit ihrem Daumen und Zeigefinger sachte drücken, springt gleich der schönste Kern heraus. Probieren Sie’s! Ihre Nerven brauchen Ruhe, und Lustigern weiss nichts von Föhn. Sie werden schlafen wie ein Klausner. Wird es Ihnen dann mit der Zeit doch zu langweilig und schlafmützenhaft, gut, dann findet sich bald wieder ein Posten, wo Ihre zwei Meter sich recken können, ohne an jede Diele zu stossen ... Übrigens,« mit welchem Lächeln fügte Reverendissimus das bei! »... hat der wackere Ammann Cornelius Bölsch alldort zum mindesten auch Ihre zwei Meter. In meinem ganzen Bistum wird es keine Pfarrei geben, wo sich Kirche und Staat Hoheiten von solchem Massstab gestatten.«
»Was? wie?« stotterte Carolus und überhörte völlig den ironischen Ton, »zwei Meter misst der Ammann von Lustigern! Ist das möglich?« Und in diesem Augenblick lispelte etwas wie ein guter Instinkt ins Ohr: geh nicht!
»Zwei Meter und wohl auch ein, zwei Zentimeter darüber,« fuhr der Bischof, selber ein Riese, mit heiterer Bosheit fort. »Aber die Meter sagen gar nichts,« fügte er bei, indem er lustig über seine eigene Figur hinuntersah. »Gehen Sie ohne langes Besinnen aus dem wilden Gonsergebirge und ruhen Sie ihre herzklopfende Kampfnatur ein bisschen auf den Toggenburger Wiesen aus.« ... Unter der Türe sagte der Bischof noch: »Ich lade Sie zum Mittagessen ein, punkt zwölf Uhr. Eine Habersuppe, Rindfleische und Äpfel, das ist so mein Modus. Aber für Sie gibt es noch eine süsse Platte ... und übrigens, wenn Sie das Eingemachte lieben, so sind die Lustiger Wildzwetschgen weltberühmt, süss und sauer zugleich wie das Leben und Pastorieren ...«
»Wie ein Spielzeug hockt’s zusammen, dieses Lustigern,« störte der Gonser Präsident nun das Schweigen des Trüppleins auf. »Da kann ein Pfarrer ja sozusagen in den Pantoffeln amtieren.« Da er aber sofort fühlte, wie schlecht die Pantoffeln zu Carolus passten, lenkte er schlau weg: »Da unten am Flusse liegt freilich noch ein Weiler und weiter wasserab noch einer, sogar mit Kapelle und Schule, und freilich, der Wildberg dort drüben gehört auch noch, sogar mit der Rückseite und ihren Gehöften, ins Kirchspiel. ‘s ist doch umfänglicher als man beim ersten Blick meint, und recht hügelig! Ja, man braucht doch Stiefel.«
Da Carl immer noch keinen Bescheid gab, scherzte der Präsident gutmütig: »Also doch immer noch etwas Bergsteigen, Hochwürden, wie bei uns, nur nicht so ... so jäh. Bei uns ist es doch etwas zu schroff gewesen, Hochwürden!«
»Herr Eglas, seht, wo immer drei, vier Häuser beisammen stehen, gibt es schon Arbeit und Kummer genug,« erwiderte endlich mit abweisender Gebärde der Pfarrer. Er hatte es nie übers Herz gebracht, diesen Amtsmann, der ihm heimlich immer entgegengearbeitet hatte, daneben der plauderhafteste Nachbar gewesen war, mit dem Titel Präsident anzusprechen. Er betonte immer Eglas und dehnte dazu noch das a maliziös, wie es der Faulheit und Glasseligkeit dieses Mannes entsprach: E-gla-a-a-a-as. Dafür rächte sich der gar nicht dumme Eglas, indem er passend und unpassend die Hochwürden häufte und an den Kopf schleuderte, aber das Hoch dabei mit erhöhtem Ton aussprach und sich dabei auf die Fussspitzen stellte. Wie alle Messer und Bosheiten stumpf werden, merkten auch die beiden nach und nach nichts mehr von der Neckerei, die sie gewohnheitsmässig übten.
»Aber, meine Herren,« bemerkte Carolus jetzt, »kommt Euch nicht auch der Lustiger Kirchturm dort drüben merkwürdig niedrig vor?«
Schon oft beim Hinauf- und Hinunterfahren durchs Toggenburg hatte er das Dorf über der Schlucht vom Eisenbahnfenster aus betrachtet. Aber nie war ihm dieser niedrige Turm aufgefallen bis heute, wo er ihn nun persönlich anging.
»Kaum über die Dächer guckt er,« lachte der Sigrist. »Nun, ein niedriger Turm hat auch sein Gutes.«
»Und das Zifferblatt,« meinte kritisch der Gonser Dorfweibel und zog ein Fernrohr aus der Tasche, ohne das er, der berühmte Gemsjäger und fast noch berühmtere Wilderer, nie aus der Gemeinde ging, »das Zifferblatt ist ganz abgeschossen. Man merkt nichts mehr von Farbe. Nicht einmal durch mein gutes Glas kann ich die Stunden lesen. Verschwitzt und verregnet sind Zeiger und Zahlen.«
»Da kommen Hochwürden ja in ein Land ohne Zeit und schier gar schon in die ewige selige Ruhe,« spöttelte der Präsident Eglas weiter, ihm das Fernrohr überreichend. »Da, seht selbst, beatus vir.«
Widerwillig und tief verärgert nahm Carl das Glas und äugte scharf über die breite Schlucht ins ferne Dorf hinüber. Mit Genugtuung bemerkte er doch einige kleine weisse und grüne und gelbe Fahnen, das breite Dach des Pfarrhofes und den alten hohen Giebel seines väterlichen Freundes Euseb Nuss. Aber der Turm, der fünfseitige Turm, dünkte ihn unerträglich niedrig.
Der jüngste, geistreichste, aber im Grunde auch der schlimmste von den vier Räten, der elegante Sekretär Emil Hobis, mischte sich nun ins Gespräch. Er war von den vier juristischen Semestern an der Universität als Gemeindeschreiber heimgeholt worden und arbeitete nun daheim seine Doktordissertation aus »Das Ungesetzliche in unserem Kirchenbehördenwesen«. Gleichzeitig war er in historischen Untersuchungen tätig und man erwartete längst ein Werklein von ihm: »Stammt unser grosser Notker von Lustigern ab?« Viele hielten das für seine Doktorarbeit.
Mit seiner langen griechischen Nase und seinem gebräunten, glatten Gesicht sah er aus wie ein prachtvoller junger Fuchs. Ohne selbst leidenschaftlich zu sein, verdrehte er doch allen Gonser Mädchen den Kopf. Es gab kaum eines, das nicht ein süsses, harmloses Abenteuer von seinem samtdunklen Schnäuzchen ersehnt hätte.
Zu dieser Gefährlichkeit kam aber noch die viel grössere, dass er erzliberal war, die Kirche nur noch an Allerheiligen und Ostern besuchte und bereits ins liberale Hauptblatt Artikel schrieb, die Witz und Feuer atmeten und unablässig in kirchliche Gebiete von delikater Natur griffen. Das verbitterte Carl nach und nach, der den Emil zum Ministranten gemacht, vielen Knaben vorgezogen und in vielen Disputen und Räten versucht hatte, den Studenten auf seiner Seite zu behalten. Emil Hobis schien absolut nicht, was man Herz oder Treue oder Pietät nennt, zu besitzen. Nur Anstand, äusserlichen, vollendeten, tadellosen Anstand! Er widersprach daher so selten als möglich ins Gesicht, aber gab auch nie etwas zu und entwand sich den oft groben Argumenten und Fäusten Carls wie ein Aal. »Dann bist du ja verloren, Armer,« sagte Carl einmal nach einem Disput mit brennenden Augen. Aber der verlorene Emil, unter der Türe sich höflich verbeugend und mit den langen weissen Zähnen lachend, war imstande, sanft zu antworten: »Ich werde Sie immer verehren, Herr Pfarrer. Bitte kommen Sie morgen zu uns zum Mittagessen! Vater hat einen Hasen geschossen und Mutter brät ihn nach dem Rezept Ihrer Köchin Peregrina. Sie würden uns allen Freude machen ...«
Aber Carl hatte ihm mitten im Satz die Türe vor der schönen Griechennase zugeschlagen. Asche und Salz sollte ich eher essen und Busstränen trinken, wenn es mir nicht gelingt, diesen Ungeratenen vor dem Abgrund zu retten ...
Es gelang ihm nicht, vielleicht schon darum nicht, weil er mit den Hörnern des Stieres kämpfte, während gerade hier das demütige Mäuschen der Geduld hätte lecken und nagen sollen. Ein kühles Verhältnis trat ein, von Seiten des Pfarrers noch mit Groll und Abscheu gemischt, während Emil mit der süssesten Unverfrorenheit, als ständen sie noch als Priester und Ministrant wie ehedem am Altar, dem Geistlichen begegnete, ihm Birnen und Wein ins Haus schickte und ihn unterwegs ehrerbietig-fröhlich anhielt und in ein munteres Geplauder zu verwickeln suchte, gerade als könnte der Mensch sich in zwei Wesen spalten, ein religiöses und ein weltliches und als könnte man das eine küssen und das andere tot treten. Emil könnte das, ich nicht, sagte sich Carolus. Ich bin entweder nur einer oder dann keiner!
Er merkte sofort mit Antritt des neuen Sekretärs, dass die Hindernisse seines Pfarrherrentums zahlreicher, die Opposition zielvoller, die Aktionen heimlicher, aber die Reibung schärfer und die ganze gegnerische Politik gescheiter und geregelter wurde. Er fühlte sich auf einmal, ohne recht zu erkennen, wie und wo, in seinen oft etwas kühnen Bewegungen gehemmt, und zum ersten Mal in seinem Leben begann er bei Handlungen zu zaudern, die er sonst immer mit herrlicher Sicherheit vollzogen hatte. Oft ertappte er sich dabei, wie er nach links blickte und rechnete, als ob er von dort eine Erlaubnis zu holen hätte. Nein, so durfte es nicht weiter gehen. Unabhängig wollte er bleiben, und gerade die böse Ahnung, dass der Feind immer stärker und er, Carl, ihm in seiner geraden Art immer minder gewachsen wäre, hatte zu allem andern den Entschluss ausgereift, nach Lustigern zu ziehen.
Da befand er sich nun auf der Strasse ins neue Heim und mit ihm dieser unselige junge Mann als Anstandsbegleiter. Aber Emil Hobis war zu fein, um nicht die Gefühle seines bisherigen Pfarrers, diese zwiespältigen, zu verstehen. Er spürte, wie unpassend es sei, dem Seelsorger noch in der letzten Stunde den Tausch sauer zu machen.
»So ein Zifferblatt,« begann er mit klarer Stimme, »ist bald und lustig neu gemalt. Im Städtlein Wyla, so liess ich mir sagen ... man sieht es dort unten am Wald ... sollen sie als Zeiger einen grossen und einen kleinen Finger gegossen haben. Der grosse, schwarze, heisst Martha, weil er gar so ruchlos pressiere. Der kleine Zeiger wird vergoldet und soll der Finger der Maria heissen, da er mit einem kurzen, stillen Schritt das gleiche leiste, was der andere schwitzend und pustend mit zwölfen kaum fertig bringt. Meine Herren, ist das nicht hübsch gedacht?«
Der Pfarrer gab das Rohr zurück, riss den Hut vom nassen, schwarzen Krauskopf und war auf einmal ein andrer. Denn nun hatte er eine Aufgabe. Wohl nur ein Zifferblatt zu renovieren! Aber das dünkt ihn schon wichtig. So ein Zifferblatt ist der Stundenplan der Gemeinde, ihr Tagesheft, ihre Lebensordnung. Und dabei kann er etwas Neues erfinden mit den Zeigern, etwas so Gedankenvolles und Originelles wie die Kleinstädtler dort unten. So was tut er gerne. Und das ist erst der schlaue, kleine, leise Anfang. Denn so, wie er dasteht, ist dieser Turm unmöglich. Er duckt sich ja geradezu vor den Dörflern, dass es eine Schande ist. Was muss man vom Pfarrer denken, der einen solchen Kirchturm hat? Turm und Pfarrer sind doch die zwei Wächter der Gemeinde. Wie der Turm, so der Pfarrer. Ja, ja, das war der friedfertige, behäbige Dekan Eirich. Dem entsprach es völlig, einen so kurzen, bequemen, dicken Stumpf zu bauen, der sich nicht einmal in den ersten Wind emporwagt und vor Blitz und Donner einen tiefen Katzenbuckel macht.
Ehrensache, der Turm muss gehoben werden. Vielleicht um drei, sicher um zwei Stockwerke muss der Lupf geschehen ... Auch Carolus reckt sich in die Höhe und wieder kracht es, als wäre er geharnischt. Aller Unmut ist verflogen. Die Lustiger mit ihrem Turm von einem Ammann werden selber zuerst daran ihre helle Freude haben. Den Turm dort nur anschauen muss ihnen schon Kopf- und Rückenweh machen.
»Kennt Ihr den Corneli, Herr Sekretär?« fragte Carolus munter, indessen man rasch zur gedeckten, uralten Holzbrücke über dem Schluchtwasser hinunterschritt.
»Wie sollte ich nicht? Das ist ein schneeweisser Achtziger, aber bolzgerade, zwei Meter und etwas hoch und noch frisch im Kopf wie ein Knab.«
Der Pfarrer zuckte bei den zwei Metern leise zusammen.
»Ein grossartiger Kopf,« musizierte Emil fort und befeuchtete mit der Zungenspitze die trockenen Lippen, »aber leider die Batzen, die Batzen! Ihr werdet es erleben. Ungefähr so!« ... Er klob mit seinem Daumen und Zeigefinger den Hosensack fest zusammen. »Seht so!«
»Wieso denn?« verlangte der Pfarrer.
»Ich begreif ihn ganz gut,« erklärte Hobis rasch und flüssig. »Ein Waisenbub, ohne einen Rappen im Schnupftuch, verschupft und verdingt, man weiss, wie’s denen geht, aber gesund und hart wie ein Stein ...«
»Und frech und fleissig und gescheit,« warf der Präsident hinein.
»Er lehrte sich selber lesen und schreiben,« fuhr Emil Hobis fort. »Nachts unter dem Webstuhl oder im Bett. Dann politisierte er früh. Freut Euch, Hochwürden, er ist so schwarz und konservativ wie sein Kamin. Er könnte Euch noch übertrumpfen ...«
»Sprecht ihn mir nur nicht gleich heilig,« spottete Carolus. »Da käm’ der Lichtzacken vom falschen Ort.«
»Bald stand er wie ein Baum in der Partei und trieb eine tintenschwarze Politik. Er wurde Grossrat und hierzuland Führer. Damals ging es ja etwas rumpelig zwischen Konservativ und Liberal zu. Kulturkampf nennt ihr es. Nach grossem Auf und Ab siegten die Freisinnigen. Der Corneli kam für einige Wochen als politischer Sünder in Haft. Das gab ihm bis heute bei den Eurigen einen Glanz ums Haupt, noch blitzender als sein wahrhaftes Silberhaar.«
Die Kirchenräte nickten beifällig. Carolus atmete trotz des gelüfteten Hutes schwerer. Es war in diesem Augenblick eine Wohltat, wie das gesunde Rauschen des Flusses und sein nasser, kühler Hauch den schwarzbefrackten schwitzenden Herren, vor allem dem Pfarrer, erfrischend entgegenwehte. Grüne, mit Schaumkränzen versilberte Gebirgsfluten wallten da mächtig zwischen Granitblöcken das enge Bett hinunter. Jenseits stieg mit dem Strässchen ein steiler, wundervoll dunkler Tann den Hang zur Landstrasse empor.
»Eben kam die Stickerei ins Land,« erzählte der Sekretär weiter. Er allein schwitzte nicht und atmete so leicht wie ein Vogel bergauf. »Corneli griff zur goldenen Stunde zu. Er baute eine kleine Fabrik, zahlte kleine Löhne, lieh Maschinen in die Häuser, lebte wie aus einem Kaffeelöffel und gewann wie aus einer Schöpfkelle, ward reich und reicher, verkaufte dann das Geschäft, als es nur noch nach Silber roch und begnügt sich jetzt mit seinen Renten und seiner Majestät im Dorf und Bezirk.«
»Majestät,« lachte der Präsident. »Vorab Geldsäckelmajestät!«
»Nein, Herr Präsident,« betonte Hobis ernst, »es ist mehr, es ist wirkliche Majestät!«
Dieses Wort Majestät tönte unbehaglich in die fast kreisrunden, kleinen Ohren des Pfarrers. Immer dunkler wurden sie vom Blutzudrang. Die Gonser Kinder kannten diese roten Schnecken gut und berechneten darnach exakt, wie man durch die Katechese fahren werde.
Majestät! In diesem urfrommen Dorfe drohten Gefahren, die Carolus im unkirchlich lauen Gons niemals kennen gelernt hatte. Dunkle Ahnungen stiegen wie ferne Gewölke in seinem gehärteten Schädel auf, und es brauste und toste etwas in ihm hinter den Schläfen und Ohren bis in die Haarspitzen empor. War sein dickes Appenzellerblut so in Wallung geraten? Oder war es der gequälte, grimmige Bergstrom, über den man jetzt gerade durch die gedeckte Holzbrücke schritt, wo denn mehrmals zwischen zwei lotterigen Brettern die grünliche schaumdampfende Gischt durch die Ritzen heraufglitzerte und ihren wilden Schnauf durch die Hosenstösse hinaufblies, dass einen kitzelte und gruselte.
»Da seht den alten Geizhals,« rief Fluori, der Gonser Maurermeister, der sich bisher still seinem Tabakpfeiflein ergeben hatte. »So viel Holz hat Lustigern! Die Tannen wachsen ja hier fast ins Wasser hinein, und,« erhob er seine Stimme, da die Begleiter vor dem Flussgeheul nichts verstanden, »und nicht einmal den Boden hier füttert man gerechtens aus. Jetzt seht dieses Loch! Nachts könnte einer mir nichts dir nichts drin das Bein brechen. So wird es wohl auch mit der Feuerwehr, der Wasserversorgung und der Brandversicherung stehen ...«
Was Spritzenhäuschen und Brücke? der Turm, der Turm! dachte Carolus. Ihn ärgerte der Corneli, aber fast noch mehr dieses kleinliche Geschimpfe über ihn.
»Bei ihnen brenne es nie, behaupten die Lustiger. Stankt Ambrosius lösche mit seinem Mantel jedes vorwitzige Zündhölzchen. Das ist mordsbequem!« witzelte der Präsident und spionierte über die Gesichter, die nun aus dem Brückendunkel heraustraten, ob man lache und ob er mitlachen dürfe.
Jedoch niemand lachte. Es ging jetzt mit einer Abkürzung durch das Wäldchen in steilen Schleifen empor.
»Meine Herren,« begann plötzlich mit auffälligem Nachdruck der Pfarrer, »geraten da wunderlich in den Legendenstil. Mein Kompliment! Aber gar nicht Legende, sondern nüchterne Wahrheit soll es sein, dass Cornelius Bölsch jeden Morgen, so Sonntag wie Werktag, in seinem Kirchenstuhl zur Messe kniet und abends mit Frau Cecili den Rosenkranz betet. Das ist die Hauptsache, und da sind er und ich ja eines Sinnes.«
Der Sekretär, auf den die Kameraden sogleich hilfesuchend schauten, sprang geschmeidig ein. Obwohl ihn Carl längst nicht mehr in der Kirche gesehen, fuhr sich dieser Fuchs seelenruhig über den glattgekämmten Scheitel und sagte: »Der Corneli! Auf seine Art ist er ein frommer Mann, das steht über allem Zweifel. Aber auf seine Art, man verstehe!«
»Es gibt nur eine Art,« entschied Carolus hart, und schürzte unwillig seine rosenblättrige Lippe. »Wie haben die Herren doch ihren Katechismus verlernt!«
»Ich meine so,« begütigte Hobis flink, »Wir, lieber Herr Pfarrer, sind Euch zu wenig kirchlich gewesen. Das war gewiss arg!« Er lächelte charmant an seinem Samtschnäuzchen hinunter. »Aber Corneli ist Euch vielleicht zu kirchlich, und das könnte Euch am Ende noch ärger werden ...«
Verblüfft stand Carolus unter einer niedrigen Tanne still. Die Räte blinzelten sich verstohlen zu: das traf! Der Präsident riss übermütig ein paar Nadeln vom Ast und steckte sie zwischen die Zähne. Die heisse Luft liess ein wunderbares Aroma von Harz aus dem müden Baume schwelen.
»Wir liessen Euch in Kirche und Sakristei schalten, als wäret Ihr der Herrgott selber,« erklärte das elegante Herrchen weiter. »Um die Opferstöcke und Paramente, die Glocken und Kerzen, um Euere Litaneien und Katechesen haben wir uns nicht gekümmert. Ihr floget in Euern Meisterpredigten von einem Heiligen zum andern, vom milden Johannes zum zornigen Paulus, frei wie, entschuldigt, aber wirklich frei wie ein Spatz. Ihr schimpftet über uns, schluget mit der Faust aufs Kanzelgesimse und nanntet uns oft katholische Eiszapfen. Sagt selbst, ob ich wahr rede!« ... Warum reizt er mich, dachte er. Jetzt muss ich’s sagen.
In den Räten stieg ein warmes Lachen auf. Der Sigrist, der hundertmal derb gescholtene, hielt die Hand vor den Mund und tat, als gähne er. Aber der Pfarrer stand wie gebannt auf dem gleichen Flecke, und so sehr es um seinen Mund zuckte, er konnte nur horchen und horchen. Das war wohl die Abrechnung. Diese Gonser, die er trotz und alledem mehr liebte, als er selbst wusste, wie taten sie ihm im Scheidestündlein noch weh!
»Sicher haben wir Euch Verdruss gemacht, weil wir nicht mehr Interesse an all dem erzwingen konnten,« gab Hobis höflich zu. »Nun gebt wohl acht, Herr Pfarrer, der Corneli hat vielleicht zu viel Interesse. Am Eiszapfen kann man sich ein bisschen erkälten, aber am Feuer kann man sich ganz gehörig verbrennen ...«
»Das stimmt! Jawohl das stimmt!« nickten die Räte. »Aber gehen wir vorwärts! Es rückt schon gegen halb fünf.«
Mechanisch trat Carl aus der Tanne heraus bergauf, aber blickte starr und wortlos über die Köpfe unter ihm, dem Riesen, vor allem auf den Fuchsenscheitel des schlanken, quälenden Jünglings nieder, den er fast mit einer Hand aufraffen und in den breiten Rockärmel zum Schnupftuch schieben konnte. Wie lockte es ihn, das zu probieren!
»Den Corneli interessiert, was für Wachs und wie viel Wachs Ihr an den Altären verbraucht, wo Ihr den Messwein kauft, welche Glocken Ihr zieht. Er ist furchtbar ... kirchlich,« half Eglas, der Präsident nach.
»Kirchlich, das ist hier nicht das rechte Wort!« platzte endlich Carolus heraus.
»Was ist es denn anderes?« fragte Hobis sogleich sehr ehrerbietig. »Wenn er Euch noch mit achtzig Jahren das Leiterchen zur Uhr hinaufklettert und im Gehäuse reguliert und so nebenbei sagt: o drei, vier Jahre lang sieht man diese Ziffern noch deutlich genug. ‘s wär Luxus, jetzt schon mit Farbe dranzugehen ...? Und er guckt Euch in die Schubladen, sagt, wo man die Stolen und Chorhemden am billigsten ausbessern lässt, welcher Spezereihändler am günstigsten Weihrauch verkauft und so weiter ... Er ist über und über katholisch, hat eine Nase wie ein Kirchenvater. Vielleicht, Herr Pfarrer, werdet Ihr nun manchmal milder als früher über die Eiszapfen von Gons denken, wenn der Corneli der Pfarrer des Pfarrers sein will und Euch dabei das Temperament überheizt ...«
Die anderen Räte nickten wieder: akkurat so ist es. Der Mesmer schneuzte sich schadenfroh ins Nastuch. Carolus schien Mühe zu haben, all die Bosheit Löffel für Löffel zu schlucken. Aber plötzlich lachte er laut auf. »Ihr ungeschickten Diplomaten! Eigentlich sollte ich gleich den Absatz drehen und zu Euch nach Gons zurückkehren. Das hättet Ihr reichlich verdient. Das wär’ die rechte Spitze auf Euern stumpfen Stiel. Aber ich merk’ wohl, Ihr wollt mir Gons zum Abschied noch ein bisschen illuminieren, indem Ihr Lustigern finster malt.«
»Im Gegenteil, Hochwürden,« keuchte der Präsident, dem der Aufstieg nun doch stark ins Fett fiel, »wir wünschen Euch ein ... ein helles Lustigern ... ein ... ein lachendes Lustigern, wirklich ein Lustiges ...«
»‘s wird auch wie jedes noch so kleine Paradies seine Schlange haben,« versetzte Hobis scherzend, »vielleicht nur eine Ringelnatter oder Blindschleiche. Aber so ganz ohne Kampf, Herr Pfarrer,« ... er musterte den Goliath munter von den grossen Schuhen bis hoch zum runden Apfelkopf hinauf ... »gebet es nur zu, würd’ Euch die Woche fast zu langweilig.«
»Ein wenig Essig gehört auf jeden soliden Mittagtisch,« meinte Eglas.
»Ah bah,« erwiderte der Pfarrer mit einer gewissen, tapferen Selbstüberwindung, »der Corneli kniet in die Bank, er betet, er beichtet und kommuniziert, er hört meine Predigt, mit einem Wort, er ist ein guter Christ. Das ist denn doch der Punkt, und alles andere wird sich schon machen. Aber gerade das, werteste Herren und Räte, hat uns in Gons gefehlt und uneins gemacht.«
Hobis lächelte, die andern sahen zu Boden.
»Im übrigen,« spann Carolus weiter, »er ist ehrlich, ich bin’s auch. Da muss man sich im tiefsten Stockdunkel sogar finden.«
Man gelangte nun auf die Höhe, am Notkersegg, in die breitere Landstrasse. Das Dorf sah man schon nahe unten in den Wiesen. Nach fünf Minuten lief der Weg in die ersten Häuser. Aber kein sterbliches Bein war nah und weit sichtbar.
Links von der Strasse lag ein überwuchertes Gemäuer in den Stauden, gerade über dem Tobel, woher das Stöhnen des Flusses bis hinauf drang. Die Räte hörten Hobis zu, der beweisen wollte, dass hier der berühmte Notker geboren worden. Eglas aber zeigte weiter nach unten zur schroffen Käferwand, wo die Lustiger in einem fürchterlichen Maikäferjahr ganze Säcke voll gefangenen Ungeziefers zum Tode, wie sie meinten, zum neuen Leben, wie die Käfer gleich zeigten, in den Fluss hinunterschüttelten.
Davon hörte Carolus nichts. Denn rechts lief der Tann noch über der Strasse in weitere Höhen und da, in einer engen Wiesenbucht, an einem Hüttlein, standen sechs Bretter, wie der Pfarrer sie so gut kannte, zwei bereits tief schwarz bemalt, die vier längeren noch blank. Aber auch hier stand kein Mensch umher. Wie oft hatte Carl solche Sargbretter gesehen! Aber jetzt, zu solcher Stunde, in dieser Stille und Einsamkeit, griff es ihm schaudernd an die Seele. Ist das der erste Gruss?
Er lief schneller und mischte sich mit den Räten ins Gespräch, bis dieses dunkle Bildchen verschwunden war.
»Wo stecken doch meine Pfarrkinder?« sagte er laut. – Fürchten sie mich schon? fuhr er insgeheim fort. Wieder stieg ihm der Unwille auf und beengte und kratzte ihn in der Kehle. Und wieder überwand sich der Priester und dachte an die ersten dach- und gastlosen Apostel auf ihrer Mission und bat Gott innerlich um Verzeihung, wenn ihn jetzt ein eitles Gefühl angekommen sei. Er wollte nichts als Gottes Ehre und Liebe. Der Himmel solle ihn schlagen, wenn er nur einmal damit die eigene, blöde Ehre verwechsle. Er möge ihm Opfer, Arbeit und Leiden hagelweis senden. Dafür sei er, Carl, doch Seelsorger geworden. Zum guten Hirten himmelan wolle er dieses Dorf führen, und sich selbst damit. Und bei diesen tiefen, ehrlichen Gedanken fingen die blauen Augen an zu lodern, und die herrlichen kurzen Locken wogten in die Höhe, und ein Glanz kam über die heisse Stirne, man musste an einen Makkabäer denken, der auf Jerusalem zuschritt.
Der Turm allerdings, in der Nähe scheint er noch niedriger als von weitem. O ja, den lupfen wir gut drei Stockwerke empor. Sursum corda, sursum!
Dieses sonore geistliche Wort aus der täglichen Messe packte ihn wie ein Windstoss. Sursum, empor, empor!
Was reden und denken wir da so Kleines in einer grossen Stunde? Sursum! Das will ich ja, du weisst es. Alles zu dir empor, o Gott! Die Hände dieses ganzen Dorfes da, seine müden Stickeraugen, seine spitzen Gehirnchen, die Seelen vom Kind zum Greis, alles, aus dem Staube in deine selige Freiheit führen, und mich, deinen unwürdigen Diener mit ihnen: für das leb’ ich, für das sterb’ ich, für das ist mir kein Schweiss zu viel. Sursum! Und, ja, wie alle Stirnen sich zu dir emporheben, so auch dieser Duck- und Murrkopf von einem Turm. Drei Stockwerke strecken wir ihn. Surs ...
Mitten im Wort erscholl urplötzlich, als hätte der Turm gemerkt, dass es um ihn ging, die schwere Ueliglocke.
»Jetzt endlich wird’s. Man hat Euch gesehen! Man läutet, man kommt!« sagten die Kirchenräte durcheinander und knöpften eilig ihre Fräcke zu. Der Sekretär glättete fröhlich sein Schnurrbärtchen und die Krawatte. Der Mesmer öffnete die Handtasche und entfaltete den prachtvoll gespitzelten Chorrock und eine goldverbrämte, weissseidene Stola für den einziehenden Pfarrer.
»Aber!« rief der Präsident vorwitzig. »‘s ist eine Glocke, immer die gleiche! Merkwürdig.«
»Gerade wie ein Sterbezeichen tönt es,« murmelte der Mesmer und bot dem Carolus Bischof zum letzten Mal das schneeweisse Chorhemd. »Ja, sicher, jetzt setzt die Glocke aus ... Loset, loset, sie beginnt wieder.«
Ganz sachte, als trüge es Ängsten und Gewichte an den Sohlen, rückte das Gonser Trüpplein vor.
»Noch einmal, hört! Also das dritte Mal. Ein Mann ist gestorben. (Für Frauen wird zweimal, für Männer dreimal angeläutet.) ... Sollte etwa der Corneli? ... in den Achtzig, denket. Das erlischt wie ein Zündhölzchen ...«
»Und darum,« wob Eglas die Ahnungen des Mesmers weiter, »kommen sie uns nicht entgegen, gehen wohl noch erschreckt in den Dorfgassen, die Käuze!«
Dem Pfarrer fielen wieder die sechs Bretter ein. Welch ein Empfang!
»Nein doch, Ihr spinnt,« widersprach der Jäger, sein Glas am Auge. »Dort wo die Strasse einen Ellenbogen macht, wimmelt es ja ganz schwarz von Volk. Vor den Bäumen am Eck konnten wir es nicht eher sehen.«
Ja, nun sah man es von Auge. Einwärts der Zellwigfabrik und der drei, vier Vordorfhäuschen, an einer Wegschleife, starrte ein Kreuz und eine weisse Fahne über hundert und hundert Köpfen in die Luft. Jetzt sah man auch den Triumphbogen und eine Gestalt im weissen Chorrock darunter.
Hastig küsste Carl die Stola und schlug sie über die Schulter. Der Corneli tot? Seltsam krabbelte es ihm übers Herz. Ob er wollte oder nicht, er tat den Atemzug leichter als noch eben. Aber sogleich überzog es ihn dunkelrot bis in die Schnecke der Ohren vor Scham. Weg, weg! Das war nicht ich, beschwor er seine Seele. Das kam ungewollt. Das ist der ewige Feind und Hadergeist gewesen. Aber mich trifft’s nicht. Der Corneli soll leben. Ich will ihm die Hand wie einem Bruder drücken. Wir wollen uns befreunden und lieben ... Schön ist’s ja nicht gerade, dass sie mir zum Willkomm die Totenglocke schwingen. Eine Stunde später hätte nichts verfehlt. Aber paperlapa! Im Tode sind wir alle gleich, der Corneli, ich und du, unbekannte Seele, die du da eben aus meiner Pfarrei in die grosse Ewigkeit entschlüpft bist, noch eh’ ich dich segnen konnte.
Halb aus Gewohnheit, halb aus Drang zeichnete der Pfarrer ein majestätisches Kreuz über die Dächer und den niedrigen Turm und die Hügel, als wollte er sein voreiliges Pfarrkind noch erhaschen und für die Ewigkeit mit seinem pfarramtlichen Zeichen stempeln.
»Sei es, wer es wolle,« erklärte er zu den verdutzten Genossen, »nötig hat es jede Seele, die ins Gericht Gottes zieht.« Dann zog er den Hug ab und begann ein Vaterunser vorzubeten. Sein ergreifender Ernst packte auch die Begleiter. Mit einer Feierlichkeit und lauten Stimme, deren sie sich in Gons geschämt hätten, beteten sie mit und eilten dabei rasch, mit dem Pfarrer inmitten, der harrenden Versammlung zu.
Indem sie noch beteten, fing im obersten Schalloch des Turmes das scherbelige Kinderglöcklein zu klimpern an. Nach kurzem Stammeln mischten sich viel sachter eine zweite und dritte Glocke wie ältere Geschwister ein. Das war der Jost und die Anna. Dann kamen Vater und Grossvater, der Ambrosi und der Ueli mit tiefem Bass. Und alle plauderten nun wie eine Familie von frommen Riesen zwischen Himmel und Erde: wie schön diese Vesperstunde sei, wie warm begrüsst der edle Gast, wie wohl betreut nun wieder das verwaiste Dorf, wie leicht die Erde, wie nah der Himmel, wie gut und stark der Herr über allem. Und der alte Ueli, der vor fünf Minuten noch geklagt hatte: zum Tod entschlafen, zum Tod entschlafen! ... jubelte jetzt mit viel flinkerer Zunge: zum Leben erstanden, zum Leben erstanden, zum Leben erstanden! Es wirbelte wie ein himmlischer Rausch durch die Lüfte, und Pfarrer und Räte, umspült und durchgeistet von dieser Musik, ohne ihre Schritte auf dem groben Strassenkies zu merken, gelangten nun, sie wussten selbst nicht wie, zum Egidihof, wo der Ammann schon von weitem den Zylinder zog, aber wie eine Säule um keinen Zoll vom Fleck wich.
Carl Bischof grüsste zuerst seinen alten Bekannten, Freund Eusebius, mit einem raschen Händedruck. Dann aber konnte er weder das Volk überschauen, noch den Kindern zuwinken, noch sonst etwas tun. Er musste zu jenem Mächtigen schreiten, der drei Schritte von ihm seiner harrte. Es zog ihn mit dem Zauber der Gefahr, der Neugier, der Bewunderung hin.
Bleich wie immer, bewegungslos, erstorben jedes Lächeln vor steifem Ernst, sah Corneli den gewaltigen Kirchherrn mit grossen, blauen, suchenden Augen auf ihn zukommen. Jetzt standen die Oberhäupter Gesicht gegen Gesicht, jetzt reichten sie sich die ungleichen Hände. Heiss war die rote Pratze des Pfarrers. Leichenkühl das weisse, zierliche Händchen des Ammanns. Und über die verwegene, durstige Liebe, womit Carolus diesen Greis überfluten wollte, kam es plötzlich wie Ebbe. Alles Blut wich zurück, und ein Frösteln durchschauderte ihn. Er reckte sich, so mannlich er konnte, und sagte so innig er’s noch herausbrachte: Pax tecum! ... und dann nochmals weitum grüssend: Pax vobiscum! . . : der Friede sei mit Euch!...
Eine atemlose Pause entstand. Der Kaplan verpasste den Moment. Da kam es ganz allein von der fahlen Lippe des Corneli leise, aber deutlich: et cum spiritu tuo! und der Friede sei mit deinem Geist und Wesen! Der Ammann hatte für sich und für die Majestät der ganzen Gemeinde geantwortet.
Die Schulkinder begannen jetzt ihr Lied. Aber so hübsch es klang und so elegant der Schulhausschlüssel dazu taktierte, das vielhundertäugige Volk achtete nur auf die beiden Riesen in der Strassenmitte, wie sie mit den Häuptern einander zu überragen suchten und wie einer dem andern tief durchs Auge in die Seele zu blicken und zu fragen schien: wer bist du? Was willst du mir sein? Weiche Hand oder Faust, Kuss oder Fluch? ... O sag es doch!
Nicht satt konnten sich die Leute an den Zweien schauen und einen gegen den andern ehrfürchtig abwägen. Es war wirklich schwer zu sagen, wer grossartiger dastand. Der Corneli glich einem Schneeberg, so hoch und so kühl, der Pfarrer eher einem dunkeln Vulkan mit rötlichem Gipfelschein. Jener totblass und starr, berührte schon die Ewigkeit mit dem eisigen Scheitel; dieser mit seinem blutroten Apfelgesicht und der frischen Lippe schien erst recht ins hohe Leben zu lachen.
»Der Pfarrer ist noch um ein Haar grösser als der Ammann,« flüsterte der Lustiger Mesmer bedenklich zum Ilgenwirt.
»Du irrst,« erwiderte dieser. »Musst auf die Achseln sehen, das entscheidet. Da reicht der Pfarrer nicht heran, er hat nur den längern Hals und das aufgebäumte Haar. Das ist Schein. Er ist weiss Gott um einen Gedanken kleiner. Recht so!« schloss der leicht liberalisierende Gasthofmann.
»Übergross sind jedenfalls beide, ein hübsch Gewicht für unser kleines Nest,« hörte man hinten spassen. »Jetzt kann der Franzos oder Schwab oder Tschingg kommen, mit solchen Generälen schlagen wir sie eins zwei drei ins Tobel hinunter.«
Auf das Lied sollte die Ansprache des Kaplans folgen. Diese Begrüssung war zwischen Ammann und Eusebi hin- und hergerutscht, da keiner von beiden das öffentliche Wort leicht führte, um schliesslich auf dem Buckel des Nachgiebigeren hangen zu bleiben. So hübsch Eusebi über einen historischen Casus plaudern und aus fliessendem Stegreif etwa die Echtheit des Testaments Heinrichs VI. dartun konnte, so geistreich trocken er im Gespräch spasste und andere in die Enge trieb, sobald das Wort offiziell wurde, von der Kanzel oder einem Festplatz aus bedingt, stotterte der gelehrte Mann, mühte sich beschwerlich um den Ausdruck ab und knisterte mit der Linken am Manuskript im Brustschlitz herum, ohne es doch hervorzuziehen, wobei er die rechte Hand ein wenig ausstreckte, wie einer, der geben möchte und nicht weit genug damit reicht.
Ah bah, dachte er jetzt, Zettel hin Zettel her, ich weiss nicht einmal, wie ich den ersten Satz gehobelt hab’. Wozu solch Gedrechsel? Ich tu’, als ständ’ der Junge unter meiner Stubentür und also heimelig red’ ich ihn an ...
Und mit Todesverachtung zog er die Linke aus dem Schlitz, womit aller Zusammenhang mit dem Offiziellen aufgegeben ward, stupfte die Brille zurecht, hüstelte, lächelte dann zum Pfarrer hinüber und begann:
»Hochwürdiger, lieber Seelsorger unseres Dorfes Lustigern ...«
Sofort hörte das Murmeln und Raunen in der Menge auf. Verwundert blickte Carolus auf. Ah, der Friedensrufer! Will er mich etwa auf seine milde Art gleich in der ersten Stunde einseifen. Aufgepasst!
»Seien Sie uns von ganzem Herzen willkommen! Wir Lustiger sind unberedte und etwas steife Menschen in Publico. Für Feste haben wir kein Talent. Nicht einmal eine Blechmusik bringen wir zusammen. Und so könnte es einen, der nur so obenhin über uns wegschaut, beinahe bedünken, als ob wir die schöne, heilige Wichtigkeit dieser Stunde nicht recht spürten« ... Das sei ein Sälblein, dachte er listig, für unser Totengeläute! ...
»Aber Sie,« fuhr der Kaplan fort, »sind nicht gewohnt, aufs Äusserliche zu schauen. Und wahrhaftig, hier tun Sie gut daran. Unser Volk ist viel mehr wert, als es scheinen will. Es kann nicht flattieren und städtische Komplimente machen. Aber im Geiste hat es schon lange die Arme weit geöffnet, um seinen neuen Hirten zu empfangen, den Gottgesandten, dem es das Grösste, was es besitzt, seine liebe Seele, anvertraut.«
Die leise Stimme des Redners wurde sicherer und lauter, das Volk drängte sich näher, der Pfarrer sah gespannt auf die Lippen seines alten Lehrers, den er seit der Primizpredigt nie mehr gehört hatte, und dem Eusebius wurde sozusagen von Satz zu Satz lustiger zumute. Ringsum schien ihm alles nur noch wie eine grosse Stube und Stubentapferkeit erfüllte ihn und liess seine Zunge leicht wie eine muntere Hausschelle gehen.
»So nehmen Sie, Hochwürden, diese Seele, wie sie Ihnen an der Schwelle des Dorfes entgegenkommt und Sie leise, aber hundertfältig in diesem Augenblicke aus meinen geringen Worten grüsst, nehmen Sie diese Seele väterlich an sich und geben Sie ihr, was Ihres hohen Amtes ist ... die Milch der Belehrung, den Wein der religiösen Begeisterung, das ewige Wasser ... das ewig-fliessende Quellwasser ... des Heiles ...« Nein, nein, staunte er erschrocken über sein eigenes Wort in sich hinein, da verlier’ ich mich ins Rhetorische ... einfach, um Gotteswillen, einfach, sonst bin ich geliefert!
Er streckte die rechte Hand suchend und etwas mutlos aus und fühlte eine plötzliche Öde, eine Art Stillstand im munter begonnenen Fluss der Rede und wusste auch deutlich, wie banal es so weiter gehe:
»Gehorsam, wie es uns ziemt, wollen wir dem Stab des Hirten folgen. Gerne wollen wir den Tadel annehmen. Vom mühsamen Amt des Seelsorgers wollen wir, was an uns ist, möglichst viele Dornen abbrechen und zum Blühen mithelfen, so viel Blut- und Atemwärme in uns ist.« Ah, nun geht es wieder ... Er hörte eine Scheibe am Egidihaus klirren, da fiel ihm das Bild dort oben ein, kühn glitzerte seine Brille, Gott, das ist ein Engel von Einfall! ... Weit über die Köpfe blickte er empor und rief:
»Da oben an der Wand,« er zeigte empor und alle Schulkinder, als sägen sie es zum ersten Mal, sperrten die Augen mächtig auf und folgten dem Finger des Redners, »da oben hat vor zweihundert Jahren ein Lustiger ein schönes Bild gemalt. Er hat sonst noch viele Tafeln und Mauern geschmückt, irre ich nicht, auch in Ihrer Gonser Kirche einen heiligen Heinrich mit dem Merseburger ... nein doch, mit dem Bamberger Münster,« ... Himmel, was dozier’ ich da? Ach, er hätte sich im Geiste am Ohr reissen mögen. Da hatte er sich wieder in seine Schrullen verrannt ...
»Man kann das verregnete und verblasste Bild nicht recht entziffern,« begann er frisch, »aber ...«
Nun sah auch Carolus an jene nüchterne Holzwand über die sechs Kreuzfensterchen hinauf und suchte es möglichst Mild zu entschuldigen, dass sie alles so vergilben und verwettern lassen, diese guten, faulen Leute. Das muss mir bald aufgefrischt werden ... Dabei konnte er aber doch eine leise Ergriffenheit nicht abschütteln. Das kleine Männchen im Chorrock redete gar so traulich auf ihn ein. Mit einem waren auch alle Gesichter im Volke heller, frischer, sozusagen melodischer geworden. Es war, als schiene etwas Sonne aus allem heraus, was da körperlich und dunkel herumgestanden hatte.
»Aber ein graues Tier kann man noch erkennen und eine hohe Gestalt darauf mit einem Lichtschein ums Haar und ringsum etwas wie Händeschütteln und Winken und Küssewerfen und Zweigestreuen, wenn man scharf zuschaut. Kurz und gut, ‘s ist Palmsonntag und der Heiland reitet in seine grösste Pfarrei hinein, ins mächtige, reiche Jerusalem. Und alles ruft: Hosanna und Lebehoch und Gebenedeit, Gebenedeit!«
O sapristi, fiel es jetzt wieder wie eine Wolke über den leuchtenden Gedanken, o saperlott, wo renn’ ich mich wieder hinein? Was mach’ ich nun mit dem Kruzifige! ans Kreuz! fünf Tage später? Charfreitag, potz heiliger Ambros! ...
Blitzschnell schoss das unter dem Vogelnest des greisen Redners hin und her, indessen er zum Glück sehr langsam sprach und so immer zwischen Idee und Wort ein Ruhebänklein für den Moment der Not und Verlegenheit fand. Gewöhnlich gab ihm dann sein flinker Witz eine Auskunft, dass er gleich wieder aufstehen und ohne Schaden weitermarschieren konnte.
»So,« versuchte Eusebius sich zu retten, »so ziehen Hochwürden nun in unser kleines, nicht gar glänzendes Jerusalem ein. Wir schwingen freilich keine Palmen ... ach, hier in Lustigern wachsen ja nur Stechpalmen und Holzäpfel,« spasste er in die Kinder hinein ... »Wir singen auch keine Psalmen, nicht einmal einen Esel ... einen Esel ...«
Jetzt buffte und schneuzte und spritzte es unter den Kindern. Einem grossen Knaben sogar, es war der Täler Johannes, dem man es nachher schwer verübelte, eine Stunde nach Vaters Tod schon so leichtsinnig geschrien zu haben, einem Knaben also entschlüpfte geradezu eine helle Scholle Gelächter. Dem Kaplan hingegen rieselte es kalt durch die Schläfen, aber er konnte den Esel nicht mehr in den Stall zurückbinden.
»Ja, nicht einmal ein Maultier,« beschönigte er nun, immer frecher werdend, den guten Esel, »hätten wir zum Eintritt unseres geistlichen Obern satteln können. Aber wozu auch ein solches Tier zu Hilfe nehmen? Mit zu langen Ohren? Wo wir mit unserem scharfen Toggenburger Gehör so fein hören, dass man sagt, wir vernehmen den Donner vor dem Blitz ...« Ein leises Auflachen des Volkes begleitete diesen Witz. »Und wozu ein Tier mit so langsamen Füssen, während wir vom Unterland wegen unserer Flinkbeinigkeit so berühmt sind, dass man in Sankt Gallen auf unsere Reklamation wegen schlechter Postverbindung jedesmal antwortet, wir hätten ja nicht nur die Eisenbahn, sondern sogar den Telegraph und das Telephon im Leibe ...« Wieder ein leichtes Geplätscher von Lachen, zu dem sich auch Carolus, aber nicht sehr willig, herbeiliess.
»Wozu also Zwischenträger, da wir Sie, unsern lieben Hirten, am liebsten gleich auf die Schulter nähmen, wenn es nicht gar so unzeremoniell aussähe, und ins Dorf trügen ...« – plötzlich schattete es feierlich über dem Köpflein des Sprechers – »gerade wie Sie nun oft eines unserer Schafe auf die starke Achsel heben und in die warme Hürde tragen werden.«
Das war ein Meistersatz gewesen. Gross leuchteten die Augen des Pfarrers ihr mächtiges, etwas scharfes Himmelblau über die Herde und er nickte zweimal voll Ergebenheit ... Jetzt muss ich schliessen, dachte Eusebius glücklich, sonst verderbe ich mir den ganzen Gewinn.
»So ziehen wir denn unter Hosanna ins Dorf, zur alten, treuen Mutter, der Ambrosikirche. Wenn sie hundert Zungen hätte, könnte sie doch nicht inniger jubeln, als sie mit ihren alten fünf Glocken jetzt jauchzt: Hosanna, Hosanna, Hosanna!«
Eusebius hatte im Taumel das Kruzifige, das ihn einen Augenblick beunruhigt hatte, ganz vergessen. Aber ein anderer dachte daran.
Eine kleine Pause entstand und da geschah etwas Mächtiges, das kein Lustiger je vergessen wird. Gütig, aber sehr ernst warf plötzlich der dröhnende Bass des Pfarrers das Wort in die Stille:
»Hosanna! Schön! Und wo hast du das Kruzifige, lieber Bruder? das ihm doch wie ein Schatten folgt, wo?«
Dabei sah er die Ratsherren, die in schwarzen Mänteln hinter dem Ammann standen, den neuen Mesmer, die Chorknaben, Lehrer und Sänger, das weite dichte Feld von barhäuptigen Köpfen und vor allem das stille, kühle, regungslose Gesicht des Corneli fragend an. »Das Kruzifige, lieber Bruder in Christo?«
Und er trat auf das kleine, graue Männlein zu, drückte ihm beide Hände und etwas Feuchtes leuchtete aus seinen Gewaltsaugen. »Wo hast du das, Eusebius? Das gibt es doch überall.«
Das war die erste Stimme und das erste Wort, das die Lustiger von ihrem neuen Pfarrer bekamen. Die grosse Menge verstand das nicht genau. Aber ein Schauer ging doch über alle Rücken, als hätte man einen prophetischen Vorwurf gehört. Die eingezogenen bläulichen Lippen des Corneli bebten leise. Der Kaplan jedoch, von einer seltsamen Inbrunst ergriffen, schüttelte des Pfarrers Hände hitzig auf und ab und rief: »Nein, nein, wir wissen es wohl, dass nach dem Palmsonntag der Charfreitag kommt, ja, dass jede Woche einen Freitag, vielleicht einen Charfreitag hat, einen Dorn, einen Nagel, einen Rutenhieb, ein Kreuz ... Aber das ist ein Tag wie die andern, nicht eine Minute länger, und auf jeden, auf alljeden Charfreitag folgt auf dem Fusse Ostern, und nicht etwa bloss der Ostersonntag, dazu noch der Ostermontag und der Osterdienstag und die Freude schlägt den Kummer dreimal tot.«
»Du Unverbesserlicher!« brummte Carl Bischof dem Rufer lächelnd ins Ohr.
»Und nun wollen wir nicht umsonst die Glocken so hitzig und stürmisch rufen lassen,« forderte der Kaplan überlaut. »Folgen wir ihnen zur Kirche, und gib uns du, neuer, guter Kirchherr, dort deinen ersten Hirtensegen!«
»Gleich hier tu ich’s, auf diesem Platze, beim ersten Zusammentreffen. Kniet nieder, meine Pfarrkinder,« befahl Carolus mit majestätischer Stimme. »Benedicat vos omnipotens Deus Pater et Filius et Spiritus Sanctus!« Und ein ungeheures Kreuzzeichen fuhr über die grosse, zur Erde geneigte Herde. Dann stiess der Segnende seinen Stock laut auf die Strasse und rief: »Zum Sankt Ambrosi jetzt ... Gott und den Heiligen die Ehre!«
In wenigen Minuten war der denkwürdige Platz leer. Aus den fernen offenen Kirchenfenstern hörte man Orgel und Kirchenlieder schallen. Da raschelte aus dem Haselbusch am Egidihaus, worein er sich nach dem schrillen Auflachen geflüchtet hatte, der schlanke Johannes lächelnd hervor, trat an den Bogen, prüfte seine gemalten Händesymbole. Er wurde leicht gerötet, hob sich auf die Zehen, funkelte köstlich mit den kalten Augen und begann, die Hände in die Weichen gepflanzt, ein neues, lautes, köstliches Lachen. »Verkehrt, verkehrt gehängt. O wie drollig!« Und er überpurzelte fast vor Lachen.
Da schob sich aus einem Fensterchen in der Höhe eine runzelige Frau über’s Sims hinaus und rief scharf zu ihm hinunter: »Hast deine Grütze verloren? Dummer! So ein Malbub! ... Ich will dir lachen über ein heilig’ Bild ... Bring lieber nächstens deinen Farbenhafen und streich’ mir des Herrn Heiligenschein und den Tempel und den Esel wieder scharf auf die Wand! So dass es wieder einem frommen Helgen gleicht. Verstanden! Ich geb’ dir einen nagelneuen Fünfliber dafür.«
»Abgemacht, Totzbarbara, ich komm,« gab der Jüngling zurück. Noch immer zuckten ihm die Lippen.
»Hat man nicht deinem Vater soeben das End’ geläutet?«
»Ja ... ja, schon!
«Und du bist schier gar froh! ... So gottlos lachen! Aber ... aber!»
«Weiss nicht ...
»Was weisst nicht?«
»Hab’ ja auch geweint, Totzbarbara. Weiss einmal nicht, was gescheiter ist ... Mir ist halt wohl ... ich leb’ noch ... ich ...«
Die Alte schüttelte verständnislos den Kopf. Johannes lief weg und fing, als er sich ungehört glaubte, ein fröhliches Pfeifen an. Alt und Jung begriff sich auch in Lustigern nicht mehr gut.