Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 19

In der Kaplanenstube sassen die Historiker. Vor den kleinen Scheiben glänzte der schönste Weihnachtsschnee. Marianne schlüpfte geräuschlos türaus, türein mit rotem Wein von Unterterzen, der einen Stern wirft, mit dürren Birnen, Nusswecken, Zimtstengeln und schob dann wieder einen Büschel Reisig in den ungeheuren Kachelofen, aus dessen Bratrohr es von Wasserdampf und Apfelhülsen behaglich roch.

Aber die Männer steckten im tiefsten Mittelalter und spürten nicht, was sie assen und tranken. Uraltes ward gesichtet und gerichtet. Wo Erzherzog Sigismund zwischen den zwei Abteien übernachtete, blieb unentschieden. Carlo Borromeos Weg über Lüthun und Rindeln schien ausser Frage. Aber das Notker draussen am Stutz über dem Thurtobel aufwuchs, das wurde ebenso energisch behauptet als bestritten. Pater Odo war aus ethnographischen Gründen dagegen, Hobis schwankte, da dieser Name in unserer Gegend so spurlos verschwunden sei und sogar der heutige Notkersrain früher Burgrain geheissen, also eine schlaue unhistorische Wiedertaufe empfangen habe. Dr. phil. Eugen Dott stimmte fürs Thurgau, aber Eusebius zerrupfte sich fast sein Vogelnest vor Eifer und Überzeugung, dass der stammelnde weltberühmte Mönch nur ob dem Thurtobel und nur an diesem Fleck habe geboren werden können. Ein Professor aus St. Gallen und der evangelische Pfarrer von Uzli neigten aus Politik ihm zu. Sigi machte fleissig Notizen, aber musste sich sagen, dass die Wahrscheinlichkeit für Lustigern nicht wahrscheinlicher als für zehn andere Punkte im Umkreis sei und dass also seine Doktorthese auf sehr schwachen Füssen stehe. Der schwäbische Zimmermann verhielt sich am stillsten. Er trug einen krausen Bart um das ruhigste Gesicht der Welt und hörte fröhlich allem zu. Er allein griff auch zu einem Schluck Wein oder einer Schnitte Käse und sagte der Marianne, wie würzig ihre Zimtstengel geraten seien. Oft blickte er in den mondbeglänzten Schnee vor den Fenstern, und dann wusste man nicht, kam die Helle von draussen auf sein Antlitz oder kam sie von seinem Antlitz auf die Erde hinaus, dass beide so ruhig und mild leuchteten.

Die erlauchte Versammlung hatte in der engen Klause kaum ordentliche Ellenbogenbreite. Sie fand trotzdem gerade in dieser dumpfen, niedrigen Stube statt, um ihren Bewohner zu ehren, Eusebius Nuss, da er zwar keine Bücher geschrieben, aber den Bücherschreibern, die an der Sonne glänzen dürfen, hundert und tausend kleine feine Studien und Entdeckungen für ihr Werk geliefert und dabei bis zum heutigen siebzigsten Geburtstag immer zufrieden im Schatten gestanden hatte. Es sassen Freidenker, Reformer, glühende Orthodoxe und tiefgläubige Katholiken in diesem Trüpplein, aber sie machten dem Sprichwort Ehre, dass der ehrlichste Historiker auch der andächtigste und rücksichtsvollste Mensch ist. Alle liebten den niedlichen, raschen, zwerghaften Greis, der für die alte Zeit einen so grossen Blick und für das alte Geschehen ein so liebevolles Verständnis bewies.

Pfarrer Carolus hätte den Geburtstag seines Kaplans lieber im Pfarrhaus so recht pastoral-familiär begangen. Er dachte: ich verstehe das nicht, aber es ginge mir wider die Seele, mit so feindseligen Weltanschauungen gemütlich zusammenzusitzen und über einen Mann zu disputieren, der doch ein Katholik, ein Mönch, ein Heiliger, also all das war, wogegen ihre religiöse Gesinnung als gegen etwas Unrechtes Sturm laufen müsste. Gottlob, wiederholte sich Carl wohl zehnmal diesen Tag, ich verstehe das nicht.

Er wartete denn auch, bis der Uhrzeiger auf die Sechs zeigte, wo die Sitzung beschlossen und der Abschied nahe wäre. Dann brachte er das Opfer und läutete an der Kaplanei. Er grüsste die Herren, tat allen Bescheid, nur mit Hobis stiess er das Glas nicht an, tat vielmehr, als wäre dort, wo der Glatte sass, ein Loch. Trotzdem brachte der frischblütige, riesenhafte Gegenwartsmensch eine muntere, sozusagen aktivere Stimmung unter diese Vergangenheitsknechte. Und wie er ein Seitenfensterchen öffnete, dass die Winternacht mit ihrem herben Aroma erlösend in die Stubenschwüle schlug, so schufen auch seine fröhlichen Bemerkungen über den heurigen Winter, über sein Lustiger Völklein, über die Weihnachtsvorbereitungen und ein paar Witze, die er jüngst im Unterricht vom Kindermund gepflückt hatte, geradezu einen frischen Puls und Atem in der kleinen Gesellschaft. Inzwischen hörte man Schlitten- und Pferdegeklingel vor dem Hause. Der Pastor von Uzli, der St. Galler Professor und Dr. Emil Hobis stiegen ins Gefährte, während Pfarrer Carolus den Übrigen vorschlug, zusammen in dieser lichten Nacht den viertelstündigen Spaziergang zum Notkersrain zu machen. Himmel und Erde standen mit solchem Winterzauber vor den Gästen, dass auch die drei im Schlitten wieder ausstiegen auf Gefahr, damit noch den letzten Zug in Uzli zu verpassen. Man schlüpfte also in die Mäntel, nahm den Stock und focht sich in einer wunderlich guten Stimmung durch den hohen Schnee des Feldwegleins zum Dorf hinaus gegen die Tobelhöhe hinauf. Der Mond schimmerte scharf und herrisch über die schwarzen Tannen und die weisse, mächtige Landschaft nieder. Er zündete bis in die Schlucht hinunter, wo die Alpengewässer wie eitel Silber langsam und schläfrig zwischen den Felsen sich vorwärtswälzen, dem bleichen, sagenhaften Norden zu. Schon hatte man das Dorf unter sich. Es schien sich im Monde geradezu zu sonnen, so behaglich ruhten die dunkeln Häuser mit ihren weissen Dächern nebeneinander und dehnten sich katzenwohlig gegen die Lichtseite. Die weite, gewellte Ebene feierte die gleiche Nachtstille. Ihre Wälder, ihre sanften Anhöhen, ihre dunkeln Bacheinschnitte, ihre Gehöfte mit einem schwachen Stuben- oder Kammerlicht und ihre dürren Obstbäume, die, wie Gedanken und Sehnsüchte, vereinzelt im weiten Schnee standen, das alles war von der Träumerei des Mondes übergossen und wurde, je ferner es gen Norden hinab ging, um so milder und märchenhafter. Man meinte in einen weiten, reichen, lautlosen Traum zu schauen.

Der kleine Jubilar schritt mit dem Schwaben voraus. Pastor Nietlis von Uzli hatte mehrmals umsonst versucht, mit Carl anzubinden und ging mit Hobis ohne sichtliche Erquickung. Zuhinterst folgte der Pfarrer mit Dr. Dott. Am obersten Wegrank, wo alle Wanderer nicht anders können, als die Schlucht in ihrer schönsten Tiefe und Breite zu betrachten und der blitzenden Welle in die fernen Fluren hinaus zu folgen, bis gegen das Städtchen Wyla, das mit vielen hundert Lichtlein dennoch so matt durch den Mondschein da herauf grüsst, an diesem Wegrank, wo Carolus vor einem halben Jahr ganz allein und mit Schaudern auf die anders waldige Ranftseite gesehen hatte, zwang es ihn mit einer plötzlichen seltsamen Erinnerungsmacht, wieder zum Waldhüttchen des Matthias Minz zu blicken, und beinahe stockte ihm der Atem. Wieder standen dort sechs abgehobelte, ungestrichene Bretter, vier lange und zwei kurze an die Hauswand gelehnt und schnitten im Mond eine entsetzlich grelle Grimasse. Carl fühlte es kalt an seinen Haarwurzeln zerren, er musste einen Moment stille stehen, da sich alles um ihn herum drehte. Das war ein Sarg, offenbar, wie damals. Wo gab es denn zur Stunde eine Leiche? Wem galt das?

»Herr Doktor,« sagte er und kehrte sich mit Gewalt ab, »nie kann ich vergessen, was Sie mir vom Roten erzählt haben. Oft probier’ ich’s nun auch, etwas Rotes ins graue Leben zu bringen, aber viel zu selten. Ach, man wird nie recht rot und warm, bis plötzlich der Tod vor einem steht, Ade!«

Eugen Dott begriff nicht sogleich. Auch Carl selbst nicht. Er hatte nur etwas sagen müssen. Aber jetzt kam der Pfarrer von Uzli herzu und zeigte ins weite Land: »Liegt unser Ländchen hier nicht wie in weihnächtlicher Sehsucht da? Überall Schnee und nichts als Schnee. Aber er liegt so wunderbar da wie ein Garten und mir ist, es müsste jetzt durch die Lüfte ganz leise singen: Es ist ein’ Ros’ entsprungen – Sie singen doch in ihren Kirchen dieses uralte Lied auch? Und aufs Wort, ich meine, aus diesem weissen Schnee müssten jetzt bald, heut nacht oder morgen, so wunderbare Rosen hervorkommen ...«

»Rote, rote, schöne rote Röslein, nicht wahr?« erwiderte Carl mit ungestümer Freundlichkeit. »Rosen der Liebe und Treue ...« Ach, wie ungeschickt redete er. Gar nicht aussprechen konnte er, was ihn so ergriff.

»Ich meine die Liebe zur Wahrheit. Sie war einst in Juda so mächtig und alle unsere germanischen Winter haben sie auch bei uns nicht töten können.« Und indem sich der evangelische Pastor innig an Carl lehnte, sagte er leiser: »Ach, wir sind und bleiben doch Geschwister im Herrn; einmal fallen auch die gesonderten Stuben zusammen und es wird weit und einig. Freund Nachbar, gestern sind zwei katholische Kinder in mein Haus gezogen, Waisen, Verwandte meiner Frau. Ich schicke sie Euch morgen in Eure Weihnachtsmesse; sie freuen sich so sehr darauf. Dürfen sie dann bei Ihnen übernachten? Es geht nicht gut an, dass sie lange bei mir bleiben. Aber solange sie in meinem Hause sind, sollen sie Ihre Seelsorgskinder sein. Entzückend, wie diese zehn- und elfjährigen Geschwister das Ave Maria beten.«

Carl drückte seinem protestantischen Nachbar die Hand. Er wusste keine Antwort. Man brach jetzt durch die Hecke in tiefen Schnee ein. Mit vierzig Schritten langte man auf dem tannenumstandenen Uferkopf an, von wo es schwindelnd ins tiefe Flusstal niederging. Hier, zwischen Brombeer- und Distelgesträuchen und kurzem Wacholder gab es noch breite Klötze von altem Gemäuer, Trümmerhaufen, Spuren von Gräben. Der Luftzug fuhr hier Scharf vom Tobel herauf. Er hatte den Platz fast vom Schnee reingescheuert. Man zog den Kragen hoch, stand nahe zusammen und fühlte das Geheimnis einer zwölfhundertjährigen Vergangenheit reich und schwer aufs Gemüt fallen. Dabei schritt man den Platz ab, suchte die Grundrisse zu entziffern, den Hauptturm vor allem festzustellen und fragte sich, ob der junge Notker wohl auch in solchen Nächten oft in die Weite hinausgeblickt und das Vergangene und Zukünftige so sehnsüchtig in seiner Seele verarbeitet habe.

Einer fehlte in der Gesellschaft. Als man am Tälerhaus vorbeikam, entschuldigte sich Sigi, da er hier Grüsse zu entrichten hätte. Er werde bald nachkommen. In der Stube fand er Mili und Siria allein auf dem Ofenbänklein. Sie hatten kein Licht gemacht. Der Mond schien ihnen besser als die kärgste Lampe ins Gesicht. Siria hatte das alte Lustigern Weihnachtslied gesungen: »Schlaf wohl, du süsser Himmelsknab.« Sie hatte es gegen das Tannenbäumchen gesungen, das auf dem Tisch stand und schon mit Obst und Kerzlein auf morgen behängt war. Unten am Stamm lag im Kripplein ein wächsernes Christkind und streckte den kleinen Arm heraus. Mili schien noch mit auf dem Knie gefalteten Händen dem Gesang zu lauschen, als Sigi bereits eine Weile auf der Schwelle stand. Zauberisch sah die alte Stube aus, mit den Winkeln voll Dunkel und der Mitte voll silbernem Kirchenglanz. Und die zwei hier schienen wie Engel.

Von was hatten sie noch eben geredet? ach, von dem, was alle Herzen in Mondscheinnächten plagt, vom Lieben. Siria überschwoll vom Lob auf Julius. Niemand wisse, was für ein tiefes, liebes Herz er habe. Er zeige es zum Trotz nicht. Er schwadroniere und tue verkehrt, aber wenn er allein sei, weine er über sich. Sein Lebtag sei er ohne Freund gewesen. Immer habe man an ihm genörgelt oder ihn von sich geschüttelt, wenn er noch so kindlich bat: Halte mich! und gesagt: Du passest gar nicht zu uns. So habe man ihn in die Welt hinausgejagt und die Welt habe ihn weiter gejagt, dass er nie mehr recht zur Besinnung kam. Und da sei er denn so geworden, wie er jetzt sei: ein Schwätzer und Lärmer, ein Trinker und dummer Scharmusizierer; aber im Grunde sei er noch so edel wie damals, als er sie aus dem Elend gerissen habe. Der Pfarrer wolle ihn durchaus zum Dorf hinaus haben, weil er sich nicht kirchlich trauen lasse, zu viel in den Häusern musiziere und zu böse Witze mache. Und sie wolle der gleiche Pfarrer heilig machen und irgendwo in eine Anstalt unterbringen, obwohl man doch deutlich sehe, dass Julius dann aus aller Ordnung geriete und sie beide doch mit Leib und Seele zusammengehören. Sie wenigstens lebe und sterbe mit ihrem Schül. Und so schön und tröstlich die Gebete des Pfarrers seien, wenn sie dann wieder an solche Unbarmherzigkeiten denke, werde ihr das süsseste Ave Maria versalzen. Man sage doch, Gott tue nichts als lieben, und sie, Siria, liebe auch und Julius liebe, und da könne es doch nicht so schlimm stehen, wie der Pfarrer meine.

Mili hörte und hörte nicht. »Du bist eben eine ganz gehörige Heidin, liebes Tantchen,« sagte sie und fuhr ihr über die Hände. »Der Pfarrer weiss genau, was er tut. Er denkt auch an das Lieben, aber er möchte es so hoch und schön wie das Morgen- und Abendrot machen zu Gottes Füssen. Das unsere klebt immer noch zu tief am Staub.«

Sie seufzten beide. Das vom Morgenrot zu Gottes Füssen hatte der Pfarrer buchstäblich so gesagt. Er hatte das Mili ins Studierzimmer genommen und es gebeten, von Johannes zu lassen, ihm nichts als Schwester zu sein. Er habe ein heiliges Amt und dürfe sich jetzt nicht mit einer Liebschaft die Kraft zersplittern. All sein Denken und Lieben gehöre jetzt der Kunst. Er sei ja sonst ein lauer Mensch und bei keinem Kameraden und keinem Mädchen heiss geworden wie die andern. Erst die Malerei habe den Funken aus ihm geschlagen. Der gehöre Gott; den dürfe das Mili nicht für sich beanspruchen. Wenn Johannes dann später noch einen zweiten Funken übrig habe, gut! Aber so wie er den Johannes kenne, diesen Fischblütler, könne er es nicht glauben. Eine Braut habe Johannes darum nicht nötig. Er besitze schon eine Frau, die hohe Kunst. Aber eine Schwester und Dienerin könne er gut brauchen. Und das sei nun ihr Beruf, sich dazu recht gerecht und gut zu machen. Warum sie jetzt weine? Ach, sie dummes liebes Gänschen! Sie werde vielleicht später viel bitterer weinen müssen. Jeder Mensch müsse opfern, jeder! auch sie! Sie solle jetzt ein wenig in die Kirche knien, am Altar der schmerzhaften Madonna unter dem Kreuz. O da, vor diesem grossen Schmerz, vergingen einem alle kleinen Schmerzen.

Das Wort des Priesters war ihr Gotteswort. Aber seit Carolus Pfarrer war, hatte dieses taubenweisse Seelchen doch mehrmals zu argwöhnen begonnen; man könne wohl den Priester vor sich sehen, aber nur den Menschen hören: so im Kampfe mit Cornelius, auf dem Schulhausplatz, als Siria in den Rasen fiel, und jetzt in der Sache mit Johannes. Warum soll Johannes ein Künstler Gottes sein? Er ist doch gar nicht fromm, betet gerade, was er muss, tut weder Gutes noch Böses. Wie kann einen solchen das rechte warme Lieben kleiner machen? Im Gegenteil, alles würde schöner, grösser, kräftiger an ihm. Und warum liess man ihn nicht Stickereizeichner werden? Da lag sein Talent; alle, die nüchtern urteilen, misstrauen ihm in der Malerei. Sein Ambrosiusbild soll ja nichts als eine Nachahmung sein. Der Corneli sagt geradezu, er werde ein Pfuscher und sein Leben sei auch schon verpfuscht. Ja, liesse man ihn im Dorfe, bei ihr! Dann käme alles recht! – Aber auch so, ich lass’ ihn nicht los! Ich lass’ ihn nicht los! Dem lieben Gott nehm’ ich ihn nicht weg, aber mir ebenso wenig.

Sie schrieb ihm nur kurz und bat sogar, er möge auf Weihnachten nicht kommen. Es lohne sich nicht wegen ein paar Tagen. Jetzt, da Sigi so unerwartet in die Stube brach, stiess sie einen leichten Schrei aus. Denn sie dachte nichts anderes, als Johannes halte sich hinter ihm versteckt und springe plötzlich lachend herein. Nach der ersten Überraschung wollte sie die Hängelampe anzünden. Siria entwischte plötzlich. Da blies Sigi dem Mili vorweg das Zündhölzchen aus und bettelte: »Sei so gut und lass uns in diesem Mondlicht ein paar Minuten plaudern. Gleich muss ich zur Burg hinauf.«

Er hatte das Halbdunkel so nötig wie sie. Die letzten Tage hindurch, gestern in der Eisenbahn, heute beim Notieren der Notkerdiskussion hatte er eigentlich nichts als vor diesem Augenblick gebebt. Er wünschte ihn wild herbei und verwünschte ihn wieder ebenso wild in die entlegenste Ferne. Er fühlte, dass er dieses Mädchen unwiderstehlich suchen müsse. Vielleicht war es eine verrückte Liebe, eine Liebe zückend und verzückend wie ein Blitz; vielleicht war es ein Irrtum: einerlei, das wusste er, dass er noch nie in dieser bedrückenden Art empfunden habe, solches Fordern und Sehnen, solche Demut und solche Angst. Alles Herrische war zerschmolzen, er fühlte nur Hingabe. Er fragte nicht, was nachher komme. Er dachte wohl, nichts komme nachher mehr. Seine Hand in ihrer Hand, sein Mund an ihrem Mund, sein Leben in ihrem Leben, etwas Weiteres, was noch folgen könnte, gab es nicht. Sie könnten schon zu Ostern heiraten. Warum nicht? Er studiert weiter und kommt alle Samstage heim. Und sie kommt auf Wochen und Monate zu ihm nach Zürich. Warum geht das nicht?

Aber das sind alles Seifenblasen, wenn sie nicht will. Und darum zittert er so, weil er jetzt, in der nächsten Minute schon erfährt, ob sie will oder nicht.

Im Sommer hat sie deutlich genug gezeigt, dass sie nichts von ihm will. Oder war es nur Schein? Aber der Abschied von Johannes unter der Ilgenlampe mit der Bosheit gegen ihn? Vielleicht auch nur Schein? Und dieser Johannes, der nie von ihr redet, sicher fast nie an sie denkt, mit zwei Bleistiftzeilen die Wäsche heimschickt!

Doch das alles heisst nichts. Aber das heisst etwas, dass Frau Ida ihren ersten Gang aus dem Krankenzimmer zum Pfarrer für ihren Sigi tat. Er hat alles aus ihren Briefen erraten. Wie er verloren gehe ohne eine gute Braut, wird sie geklagt haben; wie das Mili allein Macht über den Spitzbuben besitze; wie der Johannes mit seiner Kunst dadurch ganz und gar für den Pfarrer gerettet wäre. Und Carolus wog den Kopf in der Hand und sann und studierte und sagte, er mische sich nicht in solche Dinge. Aber mit dem Mili müsse man freilich reden. Und nun gab die geduldige Frau Ida dem Prinzen ein Zeichen, er solle auf Weihnachten kommen und seine Doktorarbeit zum Vorwand nehmen und es beim Bäsi nochmals versuchen. Bescheiden, nur einen, zwei Schritte! Dann zu Ostern wieder einen Schritt, und so fort; nur keinen Zoll zurückkrebsen!

Als nun Sigi nach allen diesen Intrigen dem Mili gegenüber sass und das artige Gesicht mit den scherzhaften Augen, der geschnäbelten Oberlippe und dem Goldflaum im milchigen Mondschein bald heller hervortreten, bald wieder eher verschwimmen sah, dasselbe Gesicht, das ihn seit Monaten wachend und schlafend überall bedrängte und sich durch keine noch so blendenden Gegenspiele vertreiben liess, dieses stille, einfache, dörfliche und für ihn doch so einzigartige Gesicht, da fühlte er, dass er nicht einen oder zwei geduldige Schritte tun und dann wieder stillestehen könne. Hier galt es Sturm, alles oder nichts!

»Mili,« griff er heftig an. Aber im selben Moment sah er, wie sie ihre Hand abwehrend gegen ihn erhob. Da liess er die Stimme fallen und sagte nur noch leise: »Plage mich nicht so!«

Sie schien weiss wie Schnee zu werden bei diesem rührenden Wort. Es klang doppelt rührend aus dem Munde dieses Menschen.

»Was tu’ ich denn?« fragte sie endlich; »du lässt mir ja keine Ruhe.«

»Was du tust? Das will ich dir sagen. Seit ich dich an jenem Abend im Juli auf dem Bänklein gegrüsst habe und du mir nicht einmal ein Ei wie dem Johannes gabst, seitdem hab’ ich immer Hunger. Ich spasse nicht. Hättest du mir lieber das Ei, zwei, drei Eier gegeben, vielleicht wär’ ich satt geworden. Aber damals bin ich hungrig weggegangen. Verstehst du, was ich meine? Immer, immer, jede Stunde, hab’ ich nun Hunger und Durst nach dir!«

Er rückte im Eifer näher, sie wich nicht zurück, sondern sah ihn energisch an.

»Du willst sagen: Mädchenfresser, he? So einen Spitznamen trage ich ja da herum. Nicht wahr, das willst du sagen?«

Trotzig schüttelte sie ihren Scheitel. Er flimmerte wie Gold im Mondlicht; wie ein goldener Helm, glatt dem Kopfe angegossen und nur hinten bei der Zopfkrone zu einem Schnabel aufgezwungen. Aber dieser enge Guss nach vorne und dieser Schwung nach hinten machte den Eindruck von etwas Hartem und Gewappnetem.

»Was man da herumbietet, ist nichts als Dorfklatsch. Ich bin ein Student wie die andern, vielleicht etwas frecher und bübischer als viele, und habe drum mehr Glück. Ich gefalle den hübschen Mädchen, und ich wär’ ein Esel, wenn die hübschen Mädchen mir nicht auch gefielen ...«

Wieder hob das Mili die Hand.

»Tu mir nicht wie eine Heilige! Ist das etwa ein Schaden? Gefallen heisst nicht lieben. Und das kann ich dir sagen, geliebt habe ich noch keine Rose, wenn ich schon gerne an roten und weissen gerochen habe. Was wahr ist, sollst du auch wissen. Aber dann bist du mir in den Weg gekommen und jetzt weiss ich, was Lieben ist.«

Mili wollte aufstehen. Sigi herrschte es beinahe wütend an: »Bleib, ich geh’ im Augenblick. So lange wirft du mich doch aushalten, oder?« Er merkte wohl, wie das Mili immer trotziger in seinem goldenen Helm dasass und er sich von einem ungeschickten Wort zum andern die Lage nur immer verschlechterte. Aber zum Teufel, der Augenblick war mächtiger als er.

»Ich weiss nicht, was hinter meinem Rücken abgekartet worden ist: der Pfarrer steckt dahinter, aber nicht aus Liebe zu uns. Und meine Mutter macht vor lauter Güte Dummheiten. Das soll Dich nicht genieren, es geniert mich auch nicht. Wir zwei müssen uns verstehen, das ist alles.«

»Hör’ auf,« schrie das Mili endlich, »‘s hat gar keinen Zweck.«

»Auf Ehr’ und Seligkeit, kannst du mich nicht lieben?« schrie auch Sigi auf. »Bin ich dir nicht schön genug? nicht reich genug? lieb’ ich dich etwa noch nicht genug?«

Beide sprangen gleichzeitig auf und massen sich mit den Augen. Das Mili stand so stramm wie er.

Es sagte langsam: »Du weisst ganz gut, dass ich dem Johannes gehöre. Du bist mir als Vetter mehr als recht, aber der Johannes war immer mein Liebster.« Das letzte flüsterte sie beinahe, und sogar der Mondschein tat ihr jetzt weh.

»Der Johannes?« flüsterte nun auch Sigi. »Der nie an dich denkt.«

»Meinetwegen, so denk’ ich an ihn.«

»Der dich grad so viel und so wenig liebt wie diesen Ofen.«

»So will ich ihn dafür zweimal lieber haben.«

»Der lieber andern Mädchen nachläuft.«

»Sigi, jetzt lügst du.« Unangreifbar schön und stolz ging sie zur Türe.

»Der, der,« schrie Sigi, unfähig, sich zu meistern, ihr nach, »der in dieser Stunde mit einem siebzehnjährigen Gof in meiner Stube auf dem Sofa sitzt und Zettelchen hin und her schreibt und seinem Christkind verliebte Augen macht ... der, der!«

»O Jesusmaria!« rief das Mädchen und rannte hinaus.

Eine Weile stand Sigi mitten in der leeren Stube und blickte wie geistesabwesend zum wächsernen Jesulein unter dem Weihnachtsbaum, das so freundlich einladend den Arm nach ihm streckte. Dann schlug er sich vor den Kopf und sprang um Hause hinaus. O ich Elender! Nun hab’ ich alles verdorben! schrie es in ihm, während er, ohne auf Gräben und Häge zu achten, im tiefsten Schnee gegen den Notkersrain watete. Er wusste nicht, was er dort noch suchte. Aber er musste jetzt durchaus in diese halbgefrorenen Massen hineinstampfen, ganze Schollen in das eisige Mondlicht hinaufschleudern und die ungeheure Spannung austoben, in die er sich seit Wochen hineingelebt und die er soeben, statt klug zu lösen, zu einer unerträglichen Höhe gesteigert hatte.

Die Herren standen in einer Gruppe am äussersten Abhang. Aber nur eine Stimme sprach. Sigi kannte diese seltsame Stimme nicht. Sie tönte nicht laut, aber wundervoll sicher und klar und erreichte in dieser reinen Winterluft sein Ohr, als spräche man neben ihm. Er hörte die schwäbisch gedehnten e und das behagliche s am Schluss: habens, sehens ... und das gwest statt gewesen. Nie hatte ihm dieses Schwäbeln gefallen. Aber jetzt klang es so eindringlich warm, schlüpfte so süss ein, musizierte so weich und hell und es lachte ein kleiner lustiger Kobold aus jedem e und s so unbesieglich, dass nicht bloss alle Männer um den redenden Schreiner, sondern er, der unselige, verkrachte Jüngling selbst, auf das Wort acht geben und alles andere hinter den Rücken werfen musste.

Sigi setzte sich auf einen Hagbalken, horchte, die rotgeränderten, fiebrigen Augen weit aufgesperrt, rutschte weg und tat wieder ein paar Schritte näher. Niemand beachtete ihn, niemand beachtete auch nur den Zimmermann. Man hatte genug mit seinem merkwürdigen Wort zu tun. Es war, als steige die fromme Nacht selbst von den Toggenburgerhöhen herab, walle von den nordischen Ebenen herauf und knie sich hier herum nieder, dem Wind, dem Fluss, selbst dem Geflacker der Sterne Schweigen gebietend, damit keine Silbe verloren gehe. Und doch redete bloss ein gewöhnlicher Schreiner!

»Ich habe nie gezweifelt, dass der wunderbare Dichter hier geboren sei. Sechsundzwanzig Jahre alt war ich, als ich mit dem Felleisen diese Strasse hinunterwalzte und hier im Gras bei so schönem Rundblick Zehrung hielt. Aber ich war nicht allein. Ein behender kleiner Geistlicher forschte da im Getrümmer herum und setzte sich endlich zum Gesellen und erzählte, dass auf dem Platz, wo wir sässen, der Meister des ›Mitten im Leben sind wir vom Tod umgeben‹ seine Kindheit verlebt habe. Das rührte mich. Denn kein Sang war mir von stirb an so vertraut. Ich wusste nur, dass einer dieses Lied erfunden hat, da er vom Fenster aus zusah, wie Zimmerleute über ein schwindeliges Tobel Seile und Bretter warfen und eine lebensgefährliche Brücke machten. Auf mich, der auch oft an hohen Gerüsten schafft, machte das Eindruck. Nun aber erzählte mir der liebe Kaplan hier, dass der Sänger Notker heisse, Notker Balbulus, weil er gestottert habe. Himmel, dachte ich, jenes Stottern war mehr wert als tausend glatte Zungen. Er sei ein Ritterssohn gewesen, lustig und beherzt, aber das Stottern habe ihm überall den Weg versperrt, zu den Höfen, zu den schönen Mädchen, zu den singenden Gesellen, zu den Soldaten und Räten. Da sei er dann wohl oft hier gesessen auf der Burgmauer und habe dem Tannenbrausen zugehört und der Thur da unten und der Musik der Winde um den Turm, und dann habe es auch in ihm angefangen zu musizieren. Die Lippen habe er hart verschlossen, weshalb man auch meinte, er sei fürchterlich streng; aber das habe er nur getan, weil er fürchtete, die Melodien, wie sie in seiner Seele auf und ab harften, nicht verhalten zu können und mit seinem Stammeln zu verunglimpfen. Zu diesen Melodien habe er Gedichte gemacht. Da hätten sich die Eltern seiner noch mehr geschämt als vorher über das Stottern und ihn ins Kloster nach St. Gallen geschickt, in die Schule, und gehofft, er komme nie mehr heraus.«

»Nein,« protestierte jetzt Eusebius’ nüchterne Stimme, »nein so ... so ...« er wollte sagen: so unhistorisch, »so schön hab’ ich’s Euch nicht erzählt.« »Still, still! Lasst ihn!« bat man.

»Aber er kam gewaltig heraus. Nicht, wie sie meinten, etwa um zu freien und zu erben, kam er auf diese Burg zurück. O nein! Als Mönch, als Sänger, als Dichter, als Gottestrunkener sprengte sein herrlicher Geist das Kloster und breitete sich über die ganze Welt deutscher Lippe aus. Die Psalmen wurden in allen Kirchen nach seinen Noten gesungen, seine Lieder füllten die Herzen, die Bischöfe und Kaiser knieten vor ihm ab, er war nach und nach nichts als Melodie geworden, Melodie Gottes, und sang damit alle Menschen voll. Sein ›Media Vita‹ hat Hunderttausenden Mut gemacht, über den Tod rechts und links zu lachen und über das Brücklein, das Glauben und Lieben heisst, ganz getrost zu wandeln. Dieses Lied macht bescheiden, weil wir alle klein, und macht stolz, weil wir alle auch wieder gross sind. Ich höre darin weinen und jubeln in einem. Alle Abgründe des Lebens deckt es auf, und zeigt auch auf alle seine Gipfel. O ja, dieser Notker muss hier geboren sein, wo er stets dieses Tobel gähnen, aber sogar die dümmsten Vögel, geschweige denn seine geschickte Seele heil darüber hinfliegen sah. Wenn man nur vertraute!

So erzählte mir euer Eusebius und nahm mich zum Mittagessen in seine Kaplanei und gab mir ein Büchlein über den grossen Heiligen mit. Über zwanzig Jahre sind es seitdem. Inzwischen hörte ich, der Dichter stamme vom Schloss Elgg oder von einem Gehöft bei Goldach oder von Konstanz. Und das wäre ja gleich, woher er kam, wenn er nur kam. Nicht Bethlehem hat das Weihnachtskind, das Weihnachtskind hat Bethlehem gemacht. Viel lieber als das habe ich die Gedichte des gottestrunkenen Mannes studiert und habe seine Weisen aus alten Büchern gelernt. Aber ich kam nie weit. Schon im Media Vita blieb ich hangen. Ach, ihr Freunde, Himmel und Erde, Zeit und Ewigkeit, alles, alles ist drin. Es gibt da völlig genug für Leben und Sterben. Und man wird zufrieden dabei. Man bekommt von der grossen seligen Harmonie des Notker etwas ... Aber, ei wohl, ich schwatze da und schwatze und täte besser schweigen. Wischen wir lieber da vom Mauer ein bisschen Schnee und sitzen hin über die heillose Schlucht und denken uns fromm in die Tage Notkers zurück und beten und schweigen!«

»Redet! Redet fertig!« riefen der Pfarrer von Uzli und Dr. Dott. Alle andern nickten und schoben sich noch näher. Sigi war dem Sprecher fast unter den Bart geschlichen. Dieser meinte, der Junge friere und schlang den rechten Arm um ihn und hielt ihn warm und während des Sprechens immer wärmer an sich.

»Glaubet mir, wenn ich das Media Vita vor mich hinbete, sitze ich wie jetzt an einem greulichen Tobel und sehe ein Brücklein schwanken und rechts und links winkt der Tod. Und ich weiss, so ist es vor tausend Jahren gewesen und heute noch exakt so. Aus dem Bodensee haben sie gestern eine Leiche gefischt, als ich ins Dampfboot sprang; zwischen Romanshorn und Frauenfeld ward ein junges Weib überfahren, und heute morgen lasen wir doch die Zeitungsdepesche, dass acht Personen unter einer Lawine erstickt sind. Sie kamen gerade vom Taufessen. Media vita in MORTE sumus. Und immer sah ich den prachtvollen Mönch, die Lippen zusammengebissen, aber das Herz voll Musik, am Ranft sitzen und den Brückenbau beobachten, wie der Geselle auf Brettern über der Schlucht hängt und dazu pfeift und ein Becherlein leert und vielleicht eins zwei drei wie ein Stein hinunterrast und zerschmettert. Aber Notker lächelt. Er sitzt fest am Ufer; und wenn er selbst übers Brücklein muss und die Bretter krachen, lächelt er noch. Denn er hat eine Melodie in sich, die trägt ihn wie Engelsflügel. Dieses Singen und Versinken in Gott trägt über alle Abgründe. Gott müsste stürzen, sollte ich stürzen. Aber Gott kann nicht stürzen.«

Sonderbar, verwegen, allen Mischmasch durcheinander, aber schön, wie er’s sagt! dachte Carolus. Dr. Dott leuchtete in Schwärmerei. Der Uzler Kilchherr schloss die Augen. Sigi blickte zum Gesicht über ihm empor, wie ein Christusgesicht kam es ihm vor. Der Schwung des Redners, an dessen Brust er klebte, begann sich ihm in einer Art von musikalischem Rhythmus mitzuteilen. Ihm war, als löse sich viel Altes, Verhärtetes in ihm auf.

»Das sind, denk’ ich, die grössten Männer, wenn sie uns so an Gott festheften, wie sie selber am Ewigen hafteten. Mehr können sie und wir nicht wollen.

Aber ich habe jetzt geschwatzt und immer geschwatzt und es doch nicht sagen können, was ich fühle. Ach, würden einem doch die Sterne da oben helfen, mit ihren Millionen goldenen Lippen. Was vom Himmel ist, kann nur vom Himmel gesagt werden!

Sofort schweig’ ich, nur eines muss ich noch korrigieren. Ich habe gesagt, es sei einerlei, wo Notker aufgewachsen. Aber auf diesem merkwürdigen Platz zwischen Fluss, Gehügel und Ebene, muss ich doch denken, der grosse Mann könne nur hier geboren und zur Musik gelangt sein. Dieses Thurtobel da geht durch alle seine Lieder und dieser Höhenwind und diese Einsamkeit und dieses Eilen, Eilen aller Wasser dem Frieden Gottes zu. Ja, hier füsselte das Büblein herum, hier träumte der Jüngling, hier begann die Melodie. Mich dünkt, dieser Boden ist mehr als historisch, er ist heilig, und alle harmonielosen Menschen sollten hier die Schuhe lösen und um Harmonie, um Gottverbundenheit beten. Noch mehr, ich möchte die alte Notkersburg aufbauen mit den Mauern und Sälen und Zinnen und dem Schlosskapellchen, genau wie es damals grau ins graue Mittelalter sah und wie der stotternde Notker es bewohnte. Vielleicht war es auch nur ein Turm, ein breiter, strammer, hoher Turm. Wenn nur der stände! Türme, hohe weltausschauende Türme sind etwas Herrliches ...«

»Ah ...« entfuhr es Carl überrascht.

»So ein Turm müsste hier stehen, weit über die Tannen und Felsen sichtbar, mit einer seligen Turmstube und einem Turmglöcklein. Und sicher Notker käme und bewohnte ihn wieder und zöge am Seil und läutete und dichtete und betete zum Fenster hinaus, wir alle sähen und erlebten seinen Genius und würden gut und eins.«

O für diesen Turm will ich schon sorgen, beteuerte Carolus für sich. Ob hier, ob an der Kirche, das ist gleich. Und eine Notkerstatue soll über der Uhr stehen und dem Volk neben der irdischen Zeit die Ewigkeit deuten.

»Türme sollen wieder in die Welt, grosse solide Finger zum Himmel, wie Notker so ein Riesenfinger ist. Und der Glaube und die Liebe sollen daran bauen, sogar verschiedenes Glauben und verschiedenes Lieben soll daran bauen, alles was glaubt, alles was hofft, alles was liebt, bis es beim gleichen Glöcklein und beim gleichen Helm und Spitz zusammenkommt ...«

»Wunderbar!« sagte der Uzler Pfarrer.

»Ich freilich,« sagte der Schreiner plötzlich mit ganz anderer Stimme und aus aller Verzückung in ein demütiges Lächeln verfallend, »Ich wohne in einer zweihalb Meter hohen Butik und schnitzle an einer ganz niedrigen Hobelbank und muss den Kopf tief bücken, um nicht am Türrahmen anzustossen. Aber gerade darum habe ich so eine Sehnsucht nach hohen Türmen. Ach verzeiht, ich hätte wirklich nicht reden sollen.« Er lächelte wieder wunderlich einfältig und sah wie ein Kind vom einen zum andern. Dabei machte er sich von Sigi los und lächelte ihm noch ganz besonders ins Gesicht, als wollte er sagen: Halte dich an einen mächtigen Turm, Knabe. Ich bin selbst noch viel zu wenig Turm.

Gut hast du geredet, dachte Carl wieder, sehr gut. Ich will die Turmbaukasse unter das Patronat des hl. Notker stellen, das ist der rechte Türmer und Wächter.

Sigi jedoch fühlte bei diesen eigentümlichen Worten und Blicken des Zimmermanns und gar, als er von seiner Sehnsucht nach hohen Türmen sprach, jene alte hitzige Erregung wie bei der Erzählung der punischen Kriege oder wie bei einem ehrgeizigen Prämienbewerb oder wie beim kantonalen Schützenfest, als ein ziemlich junger Mann vor das Volk trat, alles unermesslich klatschte, eine Helvetia ihm den Lorbeer ins Haar legte und im selben Moment ein Kanonenschuss donnerte. Damals wurde ihm heiss und kalt, er fühlte Tränen und hätte das Leben geopfert für eine Minute solchen Triumphes. In diesem Augenblicke fühlte er ganz Ähnliches. Mit einem Schlag ekelte ihn das bisherige Leben an, dieses Spielen, Gaffen und Liebeln, diese bittersüsse Knabenhaftigkeit. Nirgends war ein Turm, nicht einmal ein Türmchen zu sehen. So konnte es nicht bleiben. In Kleinlichkeiten, immer unter zweihalb Metern, wollte er nicht leben. O Gott, etwas Grosses! einen Turm, und sollte es ihn das Leben kosten!

Es wurde später behauptet, der Schreiner habe vor der Rede zu tief in den Kaplanenwein geblickt, er sei ein Schwärmer, er höre sich selbst gerne und habe das ganz Gleiche schon oft gepredigt. Sigi wurde wütend, wenn man »solchen Mist« schwatzte. Nie konnte er das vom Mondschein und vom eigenen Seelenfrieden verklärte Gesicht des Schreiners vergessen, wie es bei jedem Satze sich hob und senkte wie unter einer unhörbaren Musik, und wie der krause Bart im Luftzug wehte und, je nach der Stellung des Redners, bald dunkel leuchtete, bald wie Silber rieselte, und wie es warm um die Brust dieses Mannes war, und wie sein Herz gewaltig geklopft hatte. Er hätte nie geglaubt, dass es ein solches Herzklopfen gäbe.


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