Heinrich Federer
Papst und Kaiser im Dorf
Heinrich Federer

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Kapitel 4

Es kamen vierzehn stille Tage, mit jenem leichten, lauen, dann und wann von einer kleinen Sonnenneugier durchlöcherten Sommerregen, der so süss und seidengrau über die Dörfer hinten in der Landschaft niederträufelt, auf ihre Obstbäume mit den noch harten, grünen Birnen- und Äpfelverheissungen, und von Laub zu Laub melodisch niederklingt, dabei aber den Kaminrauch vom Vesperkaffee nicht aufsteigen lässt, so dass er sich geduldig wie eine blaue, dünne Fahne über den Giebel hin- und herschlängelt und zuletzt im Nass ertrinkt.

Der Pfarrer ordnete sein grosses Haus. Anno 1799, unter Pfarrer T. Clamor Brütsch, dessen geschwärztes, rauhes, fast zu fürchtendes Porträt im obern Gange hing, war der Bau zum Teil abgebrannt. Carl richtete die Studierstube nicht mehr wie seine Vorgänger, den einzigen Clamor ausgenommen, ins Eckzimmer zwischen Friedhof und kleine Baumwiese, sondern ins andere Eck gegen die Kirche, den Gasthof Ilge und die Strasse vom Kirchplatz zur hochgiebligen, uralten Kaplanei hinauf.

Dann sah er die Kirchenbücher ein, musterte den Sakristeischatz, notierte sich jeden Rostflecken und jeden zerrissenen Spitzen. Auf der Empore hatte er die Orgel gründlich examiniert, Pfeife auf Pfeife, und der alte Lehrer und Organist Peder staunte, wie oft ihm eine Taste richtig klang, während Carolus schmerzlich aufzuckte und ins Heft schrieb: »¾ zu hoch, ½ zu niedrig in der Stimmung.« Er wischte mit dem Finger über das hohe Chorgestühl, zeigte ohne ein Wort, aber mit einem blauen Blick, der eine ganze Strafpredigt enthielt, die feine, graue Staubschicht und strich sie dem Sigrist, ohne eine Miene zu verziehen, an den Bart. »Wenn das der Herrgott muss von Euch leiden, könnt Ihr es auch von mir leiden,« sagte er hart.

An den Abenden nach vier Uhr vollzog er seine kurzen Antrittsbesuche zu den Dorfgrössen, wobei er die Frauen viel gütiger behandelte als die Männer. Aber vir diesen Anstandsvisiten hatte er täglich drei, vier Krankenstuben und Armenwohnungen heimgesucht, Erbauliches erzählt, die Kinder herzlich aufs Knie genommen, getröstet und gesegnet und mit seinem tiefen, stubenfüllenden Lachen das gesamte Hausvolk erschüttert und beglückt. Aber es war ein Lachen der Gewohnheit, wie ein andrer hüstelt oder mit dem Finger schnalzt; es kam aus der Kehle, selten von Herzen; es war keine Falschheit dabei, sondern diente als freundliche Politik, um Gemütlichkeit und Behagen zu verbreiten, auch wenn Carl selbst im lachenden Moment herzlich wenig Spass verspürte.

Es wurde auch vom flinken Volksauge mit frommem Gefallen bemerkt, dass der neue Pfarrer immer einen Silberbatzen in der Tasche führte, um da und dort zum geistlichen auch einen kleinen materiellen Segen zu spenden, und doch wusste man, dass die Bischof von Haus arme Leute waren. Auch den Messknaben hatte er sofort den Lohn verdoppelt, aber sie auch genötigt, das Latein silbenrein und langsam am Altar auszusprechen. »Seid doch stolz,« sagte er diesen Buben, »dass ihr Latein reden dürft wie die alten Römer und grossen Kirchenlehrer. Hört ihr nicht bei diesem ‘Per omnia saecula saeculorum das Heldenschwert sausen und den Mantel des Papstes Leo zu Rom im Winde rauschen?« – Das hörten die Knaben nicht. Aber geheimnisvoll schön erschienen ihnen nun doch diese vorher so kalt heruntergeleierten Verse und sie sprachen sie mit einer ängstlichen Genauigkeit und mit einem gewissen Stolz aus, besonders wenn die andern Buben von weitem zuhörten.

Auch im alten Schulhause, das Carl schon am zweiten Tage von Türe zu Türe durchspazierte, gefiel ihm manches gar nicht. Öfen rauchten, die Säle waren überfüllt, die Aborte spotteten aller Gesundheit und das Unterrichtszimmer unter dem Hausdach war ein finsterer Käfig. Doch die Gesichter der Kinder schienen fröhlich, die beiden Lehrer gesund; nächstens komme ein Brunnen in jeden Gang; es war also zu leben. Später musste auch hier etwas geschehen, aber jetzt geht allem voran der Turm. Zuerst der Bannerträger, dann mit Eile und Weile die dahinter marschierenden Bataillone!

Die sechzigjährige Haushälterin Peregrina war seine Tante mütterlicherseits, eine schwächliche, gute Jungfer, die erst Klosterfrau hatte werden wollen, aber das Frühaufstehen um keinen Preis ertrug. Sie brauchte daher auch bei Carl immer eine Aushilfe und war nun vom Zügeln her halbkrank geworden. Carl dachte ein arme, braves Mädchen vom Dorfe zu dingen, aber erst nach reiflicher Umschau und mit bedächtiger Auslese, denn was für ein Rock im Pfarrhof, so nahe dem Priester und der Kirche schalte, galt als eine Sache grösster Gewissenhaftigkeit. Die beiden geduldeten sich einstweilen, so gut es ging, bis der rechte Fund gelungen wäre.

Recht oft kam unterweil die Kaplanenköchin Marianne herüber, eine derbe Fünfzigerin, und kochte wenigstens den z’Mittag. Sie riet dem Pfarrer, doch ja das Mili des verstorbenen Täler anzufragen, bevor das Mädchen sich anderswohin verdinge. Ein so beherztes, kluges, hausmütterliches Geschöpf von kaum achtzehn Jahren gebe es im ganzen Kanton kein zweites. Carl solle nur die Ilgenwirtin fragen, bei der das Mili oft, wenn unerwartet ein Schwall Gäste ins Haus stürme, ein Ämtlein für vier Hände und vier Füsse versehe. Es frage sich nur, ob das Jüngferchen nicht fest auf dem Tälerhause sitze, mit den zwei Waisenbuben zusammen, und die sonderbare Familie zusammenhalte. Einem solchen Ding, das schon einen Flaum unter die Nase kriege, als ihre ehemaligen Schulgespanen erst davon träumten, sei alles zuzutrauen.

So redete sie und bot einen Teller Gerstensuppe mit herumschwimmenden, buttergerösteten Brotwürfelchen der bettlägerigen Kollegin. Indem diese Löffel auf Löffel appetitlich hinunterschlürfte, aber heimlich vor den Löchern zitterte, die sie im Ankenhafen vorfände, wenn sie morgen wieder aufgehen sollte, denn die Suppe glitzerte von Fettaugen, trat der Pfarrer mit langen, knarrenden Schritten ins Zimmer und fragte: »Jungfer Marianne, saget mir doch, was heisst das?« Und er schleuderte dreimal mit der Rechten aus der Linken etwa aufs Tischchen nieder, als wäre es etwas Entscheidenden.

Die Peregrina im Bett erschrak zuerst, dann als Carolus’ blaues Auge eher scherzhaft blickte, lächelte sie. Zwischen solchen zwei Aufregungen pendelte ihre Ergebenheit für den Neffen ewig hin und her und liess sie selten selbständig werden. Ganz anders war Marianne, kurz, bündig, ihrer gewiss. Sie schnürte den Schürzenbändel wie einen Militärgurt so schneidig um die Lenden. Und gerade so stramm und geschlossen war ihr Wort. Was niemand sich anerziehen und niemand um Geld erkaufen kann, das seltene Geheimnis der Selbständigkeit, die keiner behelligen darf, besass sie, ohne je darüber nachgedacht oder darum geschwitzt zu haben, mit jener Selbstverständlichkeit, wie der Stern funkelt oder der Dorfbach bergab läuft. Selbst Carolus redete unwillkürlich ganz anders zu ihr als zur Tante, ja selbst als zu Mariannens Prinzipal, dem Kaplan Euseb Nuss.

»Wie?« fragte Marianne mit kühlem Spasston. »Zeigen Sie noch einmal!«

»So,« erwiderte der Pfarrer, »seht, so!« Und ohne Mariannens Spott in den braunen Augen zu bemerken, schmiss er nochmals mit Zeigefinger und Daumen der Rechten etwas aus der linken Hand und warf es dreimal auf den Tisch, krach, krach, krach!

»Jaso,« sagte Marianne und schnupfte gemütlich eine Prise in ihre Quetschnase. »Der Eusebi,« sie nannte ihren Bruder nie anders, »ist da unten vorbeigegangen!«

»Der Eusebi!« brummte der Pfarrer.

»Was sonst? mein Bruder, der Kaplan! Oder?«

»Gewiss,« antwortete Carl mit einiger Überwindung. »Aber wir sind gewohnt, dem Geistlichen das Hochwürden oder doch das Herr zu schenken. Aus Respekt! Der Herr Eusebius ... das würde Ihnen wohl den Mund nicht verbrennen, oder?«

»Paperlapa,« schrie Marianne aus ihren harten, braunen Runzeln heraus. Sie war kleingewachsen und reichte dem Pfarrer nur bis zum Ellbogen. Aber wie sie so mannlich dastand und paperlapa sagte, schien es, als müsse man zu ihr hinauf-, nicht hinunterblicken.

»Lassen Sie mich mit Eusebi nur so weiterfahren. Er möchte es selbst nicht anders. Bruder ist Bruder auch mit Chorrock und Rauchmantel. Aber wenn er auf der Kanzel steht oder am Altar, dann denk’ ich gar nicht mehr, ob Eusebi oder Carl oder was, das ist der Priester des Herrn! Hingegen wenn er mit mir Erdäpfel schält oder wenn ich ihm die Knöpf’ an die Weste nähe, die er beim Lesen immer wieder wegwimmelt, als wären’s Kirschen zum Essen, das ist er mir halt wieder der Eusebi.«

»Gut, gut, Ihr steht das wie ein etwas zu kurz geratenes, aber wohlgeschliffenes Messer. Da nehm’ ich mich wohl in acht,« versetzte der Pfarrer mit Verdruss und Hochachtung zugleich. »Aber nun, wie ist das? Ich rief dem Herrn Kaplan, als er ohne Stock dorfab zog, vom Fenster aus, wohin er wolle, ob er nicht einen Schauf lang zu mir heraufkomme. Aber er lachte und grüsste und machte die drei Zeichen das: krach, krach, krach!«

»So verstehen Sie doch,« lachte Marianne, »heut ist’s Donnerstag. – Nun liegt Ihr aber ordentlich ab,« wandte sie sich an Peregrina, klopfte ihr das Kissen zurecht und deckte sie bis zu den Schultern. »Um vier Uhr komm ich und koch Euch einen Kaffee, der bis zum Himmel duftet. Denn Eusebi isst auswärts. Du bleibst liegen, Peregrina!« wiederholte sie gebieterisch.

»Was ist mit dem Donnerstag?« fragte Carl ungeduldig.

»Keine Schule nachmittags, kein Unterricht, dem Eusebi der leichteste Tag in der Woche. Und der schönste, sagt er. Er habe vom letzten Sonntag noch ein wenig Sonne am Rücken und vom nächsten Sonntag schon einen ersten Glanz voraus ... Sind Sie nicht, Herr Pfarrer, auch an einem Donnerstag zu uns gekommen?«

»An einem Mittwoch!, aber dummes Zeug, ... das.«

»Schade, Sie hätten absoluti an einem Donnerstag kommen sollen.«

»Dem Herrn Pfarrer,« tönte es jetzt schwächlich, aber unendlich liebreich vom Bette her, »sind alle Tage gleich lieb und schön.«

»Brav, Peregrina, so was Treffliches hast du schon lange nicht mehr gesagt. Jetzt hast du dein Mittagsschläfchen verdient. Gute Ruhe!« Und Carl winkte der Marianne und schritt voraus in den Gang.

»Aber der Sonntag, hätt’ ich gemeint, wär’ doch der allerfeinste Tag für den Priester,« gab nun die Kaplanenköchin zurück und schlüpfte dann mit Teller und Schüssel lautlos und schnell wie ein Wiesel über die Schwelle.

»Der Sonntag, ja natürlich, das versteht sich doch,« antwortete der Pfarrer draussen. »Der ist ausser Konkurrenz. Aber nun sagt mir doch ...« und wieder begann er mit den schmeissenden Händen.

»Einfach so!« betonte Marianne und lief rücksichtslos mit dem Geschirr gegen die Küche, so dass der geistliche Riese ihre Worte gleichsam wie zugeworfene Almosen hintenher auflesen musste: »Alle Donnerstage geht Eusebi zum Ammann und da jassen die drei, der Corneli, die Cecili und der Kaplan, und nehmen das Zabig zusammen, mit Eierröhrli oder Birnenbrot, und machen sich etwas Kurzweil. Was ist schon allezeit so gewesen.«

»Jassen, alle Donnerstage, mit dem Corneli ...« resümierte der Pfarrer bitter.

»Und ich bin froh. Da verluftet mein Bruder wenigstens einmal in der Woche. Sonst bring’ ich ihn ja nie aus den Büchern und dem Geschreibe weg. Er würd’ mir vergrauen ohne den Jass. Er trinkt ja sozusagen nichts, raucht nicht, schnupft nur, geht nie in die Ilge und macht keine Besuche, wenn es das Amt nicht fordert. Da stoss’ ich ihn dann, sogar wenn er Schnupfen hat und es alle Zuber vom Himmel leert, am Donnerstag zu den zwei Achtzigjährigen. ‘s tut auch denen gut!«

Sie schob die Küchentüre mit dem Knie auf, glitt hinein, knixte hübsch über der Schwelle: »Hochwürden, empfehl’ mich!«

Carl ging im Gange knarrend auf und ab. Das Jassen! Nun der Bischof liebte es nicht, aber verbot es auch nicht. Im Seminar hatte man freilich Schellegoggi und Eichelass in den Bann getan und die besten Professoren hatten zu Würzburg, Eichstädt und Freiburg ihre Theologen vor diesem Zeit- und geistfressenden Spiel gewarnt. Damals, im idealen Studieren und Streben! Aber jetzt, im Dorf, zur guten Kurzweil, statt eine Zigarre rauchen, das ist etwas andres.

Und der alte Euseb ist völlig harmlos dabei. Man denke, er spielt mit zwei Achtzigern und gewiss nur um des Kaisers Bart oder um den Heiligenschein unsrer Bundesräte! Der Corneli würde einen verspielten Zwanzigräppler Tag und Nacht nicht verschmerzen. Nicht wegen dem Nickel, sondern wegen dem Unsinn. Nein, das gab dort nichts als unschuldige Aufheiterung.

Der Corneli verliess die Stube fast nie mehr als am Morgen zur Messe und abends etwa zu einer der seltenen Gemeinderat-, Kirchenrat-, und Schulratssitzungen, wo er bisher überall unantastbar und felsenfest den Vorsitz führte. Denn er hatte Mühe im Gehen. Die Knie versagten und der Atem gebrach, da sein Haus zu unterst im Dorfe stand und es zur Kirche, Ilge und Schule ziemlich stieg. Seit einiger Zeit musste er nüchtern in die Messe gehen. Auch nur mit einem Schluck Milch oder einem Brocken Brot vorher verhielt es ihm den Atem unterwegs.

Er steckte sich dann eine Pfefferminze in den zahnlosen Mund und zumitten der Messe holte er eine harte Brotrinde aus dem Gurt und lutschte daran, um nur etwas in den leeren Magen und Kraft für den Heimweg zu bekommen. Wie eine langsame, feierliche Maschine, Schuh um Schuh, im völlig gleichen Tempo, bei der Kreuzung mit der Landstrasse und wieder beim Jürghaus verschnaufend, so ging er zur Kirche mit der Pünktlichkeit der Uhr und brauchte für den dreiminutigen Weg eine geschlagene Viertelstunde. Die Dörfler am Weg stiessen ihre faulen Schulkinder aus dem Bette, wenn sie seinen hohen Schatten an den Fenstern vorbeitasten sahen, und schrien: »Auf, in die Socken, ‘s ist höchste Zeit, der Corneli geht schon vorüber.« Das alles wusste der Pfarrer seht wohl und er erinnerte sich, wie er sogar eines Morgens dem Corneli auf halbem Wege begegnete und sah, dass der Ammann die bläulichen Lippen vor Energie und Anstrengung ganz in den Mund zog, wie seine Nasenflügel sich weiteten und wie es in seinem gesunden Auge ungeheuerlich kämpfte und blitzte vor Arbeit. In einer Eingebung seines guten Herzens hatte Carl den Ammann warm unter dem Arm gefasst und gesagt: »Darf ich Euch ein bisschen stützen? Mit Euern Jahren, Herr Ammann,« hatte er vornehm hinzugefügt, »nehm’ ich’s dann auch gern genug von jedwedem an.« Ach, wie schön wäre es gewesen, die beiden Riesen des Dorfes Arm in Arm zur Kirchen gehen zu sehen! Welche Erbauung fürs ganze Dorf! Welche Befreundung zweier sich immer noch so fremder Herzen! Aber nein!

Corneli hatte das als Mitleid empfunden. Das traf ihn. Alle Energie seines streitbaren Lebens, wo jeder Ziegel auf dem Dach und jeder Napoleon im Sack hartnäckig erfochten war, bäumte sich gegen diese Hilfe des ... ja, in Gottes Namen ... des Mannes auf, in dem er den Gegner gerochen, ehe er ihn nur gesehen.

Mit einem fast unwilligen Ruck machte er sich los und keuchte mehr, als er sagte: »Nicht ... nicht ... das nicht! Ich kann ... noch allein, ich bin noch eigner Herr und Meister!« Er fühlte nicht, dass sein blosser Anblick ihn jämmerlich Lügen strafte. Aber auch ohne die zwei Buben am Gassenranft, die das Paar anglotzten, fühlte er das eine, dass seine Abwehr zu salzig werde. Er wollte nicht verletzen. Mit zitterndem Arm ergriff er den Ellbogen des Pfarrers, lächelte sein bleiches Lächeln, das wie schwache Sonne über Schnee erschien, drehte sich aus seiner Steifheit halb um und sah erst jetzt seinen Nachbar recht an. Und nun erschrak er. Die grossen blauen Augen gegenüber waren feucht, und es zuckte und dunkelte darinnen wie bei einem Kinde, das einen Schrei verhält. Ein schmerzliches Beben ging durch das blühende Gesicht des Geistlichen, aber dann erstarrte alles auf einmal.

»Hochwürden,« bat Corneli langsam und ökonomisch Schnauf und Wort berechnend, »ich danke zum Schönsten. Sie meinten es gut. Ich danke nochmals. Aber ich darf nicht anfangen mit Stützen und Krücken, sonst ist unsereiner glatt geliefert. Sehen Sie, nicht einmal einen Stock nehme ich mit. Wenn ich dann neunzig hab’, ist’s noch Zeit dazu. Nur keinen Führer, solange man sich selbst führen kann ...«

Entgegenkommend wollte er sein hartes, schwarzes Auge in die blauen tauchen. Er fühlte etwas, das ihn geheimnisvoll zum Rivalen zog, und einen gnädigen Augenblick lang schien es beiden, als triebe ein Engel trotz allen Widerständen sie nahe Brust an Brust, und als müssten sich jetzt ihre Seelen finden. Jetzt oder nie mehr! Aber da rief einer der Buben deutlich dem andern vorauslaufenden nach: »Und ich wett’, der Ammann ist um den Fingernagel grösser, ich wett’ mein Sackmesser an dein lumpiges!«

Die Erstarrung und Fremdheit von vorher überzog den Pfarrer wieder. Mit einem Male führte er sich wieder fest im Panzer.

»Aber jeder Mensch braucht doch ab und zu einen Führer,« sagte er mit erzwungener Höflichkeit. Dabei ging er einen Schritt voraus und lüpfte wie zum Abschied das schwarze Käppi. »Geführtwerden ist so ehrenhaft als führen.«

»Das glaub’ ich nicht,« versetzte Corneli nun auch ganz trocken. »Beim Führen ist mehr Ehre.«

Der Pfarrer schüttelte den Kopf. Es summten ihm die Schläfen. Ja, der will führen, nicht geführt sein. Aber bin denn nicht ich der Hirte und er eines der Schäflein? Habe ich den Stab und Auftrag oder er? »So geh’ ich denn meinen Schritt und Ihr den Eurigen,« schloss er kurz, »So wird es wohl das Beste sein.« Und er lief mit seinen grossen heftigen Schritten gegen die Kirche, um sich auf die heilige Messe vorzubereiten. Aber dieses letzte Sätzlein lief ihm sonderbar nach. Er musste es leise wiederholen, und immer ahnungsvoller erschien ihm, er habe ein Urteil auf Leben und Tod für sie beide ausgesprochen ... Jeder seinen Schritt! ... Es wird sich zeigen, wer besser marschiert. Zusammen geht es nicht, das ist nun klar. Aber wie ein Stein lag ihm dieser Entscheid auf der Brust. Er hätte ihn noch nicht aufgeben sollen, das wäre alles von selbst gekommen. Eine Wolke von dunkeln Vorgefühlen strich über seine Stirne. Und doch war nichts geschehen, kein übles Wort gesprochen. Sonderbar, diese Unklarheiten! In Gons wusste er immer, ob Krieg, ob Frieden. Hier wusste er keins von beiden. Es dünkte ihn wie eine bange, faule Dämmerung von einem zum andern und wirkte viel entnervender als eine helle flotte Schlacht.

Carl suchte sich damals in der Sakristei beim Anziehen der Messgewänder all dieser Gedanken zu erwehren und hob den blank vergoldeten Kelch aus dem Kästchen, legte die schimmernd weisse Hostie auf die Patene und dachte, was das besage: ein Kelch voll Blut, voll Schweiss, voll Leiden, voll Opfer für die undankbare, aber so hilflos leidende Menschheit. Ein Kelch der Bitterkeit, um Jubel zu bringen; ein Todeskelch, um Leben zu schenken. Ach, Heiland, und dieser Corneli ist doch bloss ein kleiner Essigtropfen in meinem viel zahmern Opferbecherlein. Und nichts von Pilatus und nichts von Herodes! Und da tu ich schon, als könnt’ ich’s nicht trinken ... O du Allheiliger, Erfinder und immer wieder Finder der Liebe, Herr und Heiland, lass mich dieser deiner Liebe nicht verloren gehen! Lass mich warm bleiben, o lass mich warm bleiben! ... Und Carl schüttelte sich wie einer, den es fröstelt.

Er las vom Wandkalender den Tagesheiligen: Cornelius ... Was? jawohl, Cornelius, Papst und Märtyrer! ... Des Corneli Namenstag? Das ist ein Zeichen! Gratulieren werd’ ich ihm nun nicht, aber dieses Opfer will ich ihm ganz allein widmen. Vielleicht passt es nachher doch noch, Glück zu wünschen ... Und Carl freute sich wie ein Kind auf das heisse Seidenrot der Messgewänder, das ihm der Sakristan nun anziehen werde, als bade er sich da völlig von allen Kälten und Frösten der Eigenliebe los. »Rot, Mesmer, rot,« gebot er und wandte sich in der schneeigen Albe nach dem Manne um.

Aber da stand der bärtige Mesmer gleichgültig da, eine pechschwarze Kasel und Stola auf dem Arm, alles furchtbar, erschreckend schwarz. Kalt leuchteten die Silberborten aus dem düstern Stoff. Es wehte wie Tod und Grab aus ihnen dem heissatmigen Pfarrer entgegen.

»Rot, Mesmer, sag’ ich,« wiederholte der Pfarrer leiser. »Was soll schwarz? Fröhliches Rot haben wir ... Märtyrerfest ... Cornel ...«

»Nein, es gibt heut ein Totenamt, wie Ihr selbst am Sonntag von der Kanzel verkündet habt,« schlürfte der Sigrist aus seinen vielen Zahnlücken hervor.

Carolus fuhr völlig zusammen. »Ja, richtig,« sagte er noch leiser. »Für den hochwürdigen Herrn Pfarrer P. Clamor Brütsch ... Ihr habt recht. Was soll das P. heissen? Sein Bild im obern Hausgang ist mir täglich ein grösseres Rätsel.«

»Pius war er benamst, aber Clamor taufte er sich selber. Das soll doch heissen Geschrei oder? ... Von allen Pfarrern, so unser Dorf noch eine Erinnerung hat, ist er der einzige, der immer im Krach gelebt hat. Die andern waren stille, fromme Männer. Sie waren gesund und wurden alt bei uns und schliefen sozusagen am Friedhof ein ... Aber der!«

»Was denn?«

»Der hatte keine Ruhe. Die ganze Nacht brannte das Licht in seinem Zimmer im Pfarrhof. Und tags war er doch auch immer auf den Sohlen. Er stellte alles auf den Kopf, verstehen Hochwürden, in besten Treuen ... Er hat das Pfarrhaus gebaut, so unvernünftig dicke Mauern ... und die Kaplanei, alles Eichen ... die Kapelle in Schwarzenboden. Er traf’s gerade in die grossen Kriege vor hundert Jahren ... Revolution, Franzosen, Russen, Östreicher, was weiss ich ... Helvetik sagen sie in der Schule, und dann der Näpi ... Das fremde Militär hat uns bald gefunden. Aber der Clamor hat eine Dorfwehr aufgestellt, sogar eine kleine Kanone gekauft, oben beim alten Schloss eine Schanze aufgeworfen, Pulver und Waffen kommen lassen ... er hat mit den Östreichern, sagt man, heimlich konspiriert ... alle Gemeinderäte waren dagegen. Es gab Streit von Haus zu Haus und in jeder Stube ein Für und Gegen. Und doch hat er nichts als Wohltat zu Tür und Fenster hereingeschoben ... aber wie ein Kommandant, friss oder stirb! Verzeihung, aber es gehen da Geschichtlein um ... Zuletzt zündeten ihm die Feinde den Pfarrhof in einer Nebelnacht mitten im Winter an. Clamor habe gerade eine Verteidigung an den Abt in St. Gallen geschrieben ... das Papier mit den Brandflecken soll noch im Archiv aufbewahrt sein, geschrieben wie mit einem Säbel! ... Und so schrieb er und schrieb, hört nichts, merkt nichts, bis es im Gang hellauf kracht und ihm die Türe raucht. Eine Haushälterin hatte er nicht, kochte selber. Stieg und Gang sind wie ein Ofen. Mit dem Papier, der Kasse und seinem Rosenkranz in der Faust tut er einen Satz zum Fenster hinaus in den Schnee, fällt übel, kann nicht mehr aufstehen, zählte schon fast siebzig, wird erst nach langem in Ohnmacht gefunden und stirbt am Lungenstich in drei Tagen. In der Kaplanei drüben. Er habe bis zum letzten Schnauf gepredigt und kommandiert mit irren Sinnen und sei mit Geschrei in die Ewigkeit gefahren. Er hat sich auch selbst die Grabschrift in die Kirchenmauer geschnitten: Er clamor meus ad te veniat ... Und auf den 16. Herbstmond hat er eine Jahrzeit gestiftet, das ist eben heut ... Er soll auch,« fügte der Mesmer zögernd bei, »manchmal den Pfarrherren nachts ins Studierzimmer spuken ...«

Carolus, immer noch im Gange auf und abschreitend, erinnert sich lebhaft, wie er dem Mesmer zuhörte, und dann, als geschehe die Totenfeier für ihn selbst, mit einem kalten Schauder ins schwarze Messkleid schlüpfte. Aber am Altar, bei den uralten und urgewaltigen Klängen des Chorals, der tröstenden Orgel, der Süssigkeit des Kelches und seinem erhabenen Amt, Himmel und Erde zu versöhnen, vergass er das Vorige, sang mit tiefer Majestät, breitete die Arme machtvoll aus, sah sich vom Altar in die Tiefen der Unterwelt ... ad inferos ... hinuntersteigen, den lärmenden, leidenden Clamor an der Hand nehmen und zu den silbernen Schwellen des Himmels geleiten. Clamor kehrte sich noch unter dem Portal um, grüsste, lächelte, dankte und verschwand dann im Überlicht. Und schon hörte man seine Gewaltstimme von innen, aber nicht mehr barsch und rauh, sondern wie die wohlgestimmte, unterste Basspfeife im Osterchoral. Er aber, der Carl Bischof, verneigte sich und kehrte bescheiden die Wolkentreppe hinunter ins Grau des Alltags zurück.

Als er dann nach der Messe mit dem Weihwasserwedel das Schiff hinunterschritt und das wenige Werktagsvolk segnete, da spritzte er einen vollen Schwung des geweihten Wassers in der Richtung, wo steil und hoch mit rasch bewegten Beterlippen der ungeheure Corneli stand, und gratulierte doch noch leise, aber seltsam: et benedicat te et humiliet te, princeps! ... Was? was? korrigierte er sich sogleich empört über den Einfall. Brüder sind wir, es gibt keine Princeps und Herrn im Glauben an den Herrn Jesus Christus und seinen Priester!

An das alles erinnert er sich jetzt voll Unruhe, und geht, ohne es zu merken, immer rascher und knarrender den Holzgang auf und ab ... Und der Kaplan! ... Er lächelte noch im Vorbeigehen ... und sie jassen ... und ihnen ist seelenwohl ... und ich ...

»Pst, pst! leiser!« Marianne steht mit feuchter Schürze und einem Teller in der Hand auf der Küchenschwelle und macht ein sehr strenges Gesicht. »Jetzt lassen Sie mir die Peregrina doch schlafen, Sie Pfarrer Clamor!«

»Was, was?« drängt er aufblitzend an die alte Jungfer heran. »Was heisst das?«

Marianne lächelt durchs ganze, kleine Nussschalengesicht. »Nichts für ungut, das ist hier fast ein Sprichwort. Wenn einer zu laut macht, so schimpft man ihn Pfarrer Clamor. ‘s soll so einer einst hier geamtet ...«

»Gut, gut! Ich gehe jetzt ... Ihr habt recht, ich lärme ein bisschen stark. Krankenbesuche will ich machen, da werd’ ick schon von selbst leise. Guten Tag, Jungfer Marianne, und habet Dank für alles.«

Sie wirft ihm ein Äuglein der Demut und Entschuldigung nach. Denn sie verehrt diesen gewaltigen Priester um so mehr, je schärfer sie ihm widerspricht. Lautlos schliesst sie die Küche. Carl geht auf den Fussspitzen zur Türe der Peregrina, öffnet verstohlen, die Alte hebt die Lider, er tritt ein.

»Nur einen Augenblick! Aber du solltest längst schlafen.«

Peregrina lächelt. Wenn er mich liesse! denkt sie.

»Ja, ja,« sagt sie willig, »nun schlaf ich gewiss ein.«

»Du, die Marianne, was sagst du zu dieser ... dieser ...? Sie hat ein starkes Maul. Und der Kaplan sagt also ... und sie duzen sich ... und wer weiss, vielleicht nach Jassregel duzen sich auch der Ammann und der Eusebius und sogar die Cecili. Und deine Marianne findet das alles recht ... du?«

Das gebrechliche Geschöpf im Bett sah zuerst ängstlich auf den Neffen. Dann wagte sie: »Aber sie kocht gute Suppen und wisset, Herr, so wie sie einem das Bett zurechtlegt, so zum Aufsitzen, das ist ...«

»Suppe, Bettmachen, das kannst du auch, Pellagrina,« scherzte Carl.

»Nicht so gut, nein, so nicht! Wisset, Herr, das ist eine gesunde, wie ein Baum, und immer lustig. Ja, sie mault ein wenig, sie sollte nicht so ... so ...«

»Lass nur!«

»So schier wie ein Mann, ja, wie ein Geistlicher dreinreden. Aber sie meint es gut. Denkt, sie hat ihr Vermögen, ein recht schönes, schon zum Voraus ...«

»Schon recht, Pellagrina. Aber was mach’ ich jetzt? Ich bin ganz in die Sätz’ gekommen.«

»Ein Mittagsschläfchen,« bat die Tante, zum Voraus sich vor der Antwort zusammenduckend.

»Heiliges Wetter, jetzt bist du neunzehn Jahre bei mir und weisst, dass ich nie tags aufs Ohr lieg’. Bin froh, wenn ich nachts Ruh find’. Was plagst mich also immer mit dieser Dummheit? Weisst denn nichts Gescheiteres?« Und der sehr intelligente, sehr energische Riese beugte sich mit wirklicher Sorge zur alten Jungfer hinab und wiederholte: »Was tu ich also?«

»Vesper und Komplet ...«

»Jetzt bin ich wirklich nicht in der Stimmung. Bei jedem Psalmvers hörte ich die Jasskarten dazwischenhauen ... Stöck, Stich oder so was.«

»Dann macht ein paar Krankenbesuche! Im Altershaus hinterm Wildberg seid Ihr ja auch noch nie gewesen und wolltet schon immer. Und auf dem Wildberg dachtet Ihr doch gestern den alten Alberti zu besuchen, wenn es nicht so gewittert hätte, den Alberti, der den Magenkrebs hat und dem sein Bub so hell gewesen sei und jetzt kaum noch reden könne ...«

»Hast recht, hast ganz recht, Perlegrilla!« sagte Carl mit aufsteigendem Humor.

»O was erfindet Ihr da schon wieder Neues!«

»Das ist mir jetzt so ohne Denken herausgerutscht und tönt ganz famos. Eine Perle bist, Tantchen, und Grillen hast, weisst, mit der Suppe der Marianne und mit dem Mittagsschläfchen etcetera.«

Peregrina lächelte glücklich aus ihrem ungeheuren grauen Haarstrudel heraus. Ihre wässerigen Augen glänzten. Schon fühlte sie sich besser.

»Weisst du, was ich auch könnte? Wenn ich jetzt so blitzblank dem Corneli in die Stube fiele, in den Jass hinein?«

»Oh!«

»Was oh? Es lässt mir doch keine Ruh’! Wenn ich’s dann selbst seh’ und erleb’, ist’s auf den Minutenschlag überwunden. So mal’ ich mir alles doppelt dick aus.«

»So geht, wenn Ihr meint ... aber ...«

»Beim Installationsessen ging’s gar steif her und bei der ersten Anstandsvisite war auch nichts als Eis. Aber jetzt bei Eierröhrli und Most und dem Schellegoggi fänden wir vielleicht den Rank. ‘s kommt ja leider so viel auf die Umständ’ an. Und da wär’ ja noch der Kaplan dabei, der Grossvater Frie-d-e, Frie-do-lin und liesse es zu keinem scharfen Disput kommen. Was meinst?«

Die Alte schüttelte das Haar von sich, forschte ihn mit ihren kleinen, grauen Augen aus, und es kam etwas Festes und Klares in ihr mattes Gesicht. Sie sagte: »So geht doch lieber nicht! Ich seh’ keinen Vorteil darin. Geht über den Wildberg. Bis Fünfe seid Ihr Zurück und dann kommt ja das Mili, das Ihr bestellt habt. Es könne vor fünf Uhr nicht abkommen, hat es gemeldet.«

»Amen, Amen. Dann bin ich also in zwei Stunden zurück und schau’ mir mal dieses berühmte Hexlein an. Schlaf jetzt! Die Marianne macht dir dann um die Vier den Kaffee und behält mir vielleicht auch noch etwas übrig, wenn ich recht brav bin.«

»Carl, Carl!« entschlüpfte es der Tante.

Er aber war schon draussen, und in fünf Minuten sah man ihn, das rote Nastuch um die Stirne schwenkend, den steilen Hügel emporeilen. Aus Regenwolken erschien die Sonne plötzlich fast weiss wie Kreide und blendete und erhitzte heillos, wo es noch eben kühl gewesen. Ihr eitles Spiegelbild prunkte aus jedem nassen Baumblatt, aus jeder Pfütze, von jedem gesenkten, schwerbetropften Grashalm. Und ein Gekreisch der Vögel begann, ein Schwatzen, Verleumden, Zanken und Liebtun, als wäre Spatzenkirchweih und Alt und Jung halb betrunken. Je höher es ging, desto weiter wurde die Aussicht. Links sah man ins gewellte Thurgau, und der Fluss vom hiesigen Tobel blinkte dort im freiern Gelände bei jeder Schleife fast revolutionär und foppte: he du, jetzt geht es in die Welt, pack mich noch, wenn du kannst! Aber im Hintergrund stieg ein fernes Berggewirr auf. Und die schönste Hoheit am nördlichen Ende, wie ein Turm verspreizt, liess einen graugelben feinen Duft um ihren Leib nebeln und hob nur lässig ihr greises, breites Gedankenhaupt in den Himmel. Dieser Berg stand nicht, er sass, sass schon Jahrtausende gelassen in seinem Felsgestühl und dachte und wartete und dachte wieder und zeigte keinen Hauch von Ungeduld. Das war der Säntis, dieser Salomon der Berge.

»Grüss Gott,« sagte Carl zum vielgipfeligen Gebirge im Osten: »O ihr lieben konservativen Landsleute, ihr bleibt noch im Alten, Soliden wie ich. Der Fluss dort, dieses ausgelassene Wasser, ist ein erzradikales Geschöpf, will immer Neues und kennt keine Vernunft noch Pietät fürs Gestrige und Vorgestrige. Je ungehemmter, je besser. Nur zu! Dich verschluckt ein noch grösserer Radikalinski, der Rhein dort unten. Und so fresst ihr euch selber auf, und der letzte Radikale wird wieder konservativ, wenn es ins alte, ewige Meer geht. Zuletzt bleibt doch nur das Konservative ... Und Gott,« der Pfarrer lüpfte begeistert den Hut, »ist das Konservativste, was es gibt. Das Konservative ist das Ewige. Nicht wahr, ihr Berge, du alter Säntis, ihr bleibet mir standhaft. Lasst die Bäche davonlaufen und die Vögel wegfliegen und die Menschennester zu Füssen erwachen und erlöschen wie Kerzen, was macht’s? Da läuft und verläuft, fliegt und verfliegt, flackert hellauf und ist nirgends mehr. Das sind Moden. Ihr aber seid nicht Moden. Ihr gehört schon ins Ewige, seid Gottes granitene Schemel. Nach euch kommt nur noch die Sonne, die liebe Herrgottslampe, und dann sogleich er selber, unser Gott. Ja, ja, alles, gar alles muss zuletzt konservativ werden, wenn es zu Gott will.«

Er setzte sich am Prügelweg auf einen Eichenstumpf, öffnete das Brevier, aber war nicht imstande, ordnungsgemäss die Vesperpsalmen zu beten. Da schloss er das Buch wieder und rezitierte auswendig im Angesicht der Berge und Ebene den vor Freude tausendzüngigen Canticus trium puerorum mit dem Benedicite montes et colles und jubelte dabei immer lauter in die Sträucher, Steine, Äste und Vögel hinein. Und Jass und Marianne und der um einen Fingernagel grössere Gemeindeammann waren in den Schauern des Ewigen spurlos untergegangen.


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