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Der Astralleib

Ein Dichter, der etwa im mittleren männlichen Alter stehen mochte, wir wollen ihn mit seinem Vornamen Anselm nennen, hatte seine Heimat, in welcher er lange gelebt, verlassen, und war nach Berlin gezogen. Seine Freunde hatten ihn gewarnt, sie hatten ihm vorgehalten, daß er gewöhnt war, am frühen Morgen in den Gatten zu gehen, auf das Jubeln der Vögel zu lauschen und eine Rose zwischen zwei Finger zu nehmen, der ein großer runder Tautropfen schwer aus den Blättern rollte, daß er am Nachmittag auf stillen Waldpfaden ging, die silbergrauen Stämme um sich, deren entfernte Kronen sich zu einem sonnengründurchschienenen Dach schlossen; daß am Abend ihn Freunde besuchten, mit denen er in der Hauslaube saß, im stillen Mondenschein Gespräche führend über Dinge, welche er liebte, indessen schwere Falter um die nächtlich duftenden Blüten des Gartens flogen, schwirrend über ihnen standen, und Honig saugten.

Wie es die Freunde vorausgesehen, fühlte sich Anselm bald einsam und unglücklich in seinem stickigen Zimmer, in der sinnlos treibenden Menschenmenge der Straßen und zwischen der leeren Gleichgültigkeit der Leute, mit welchen er bekannt wurde.

In dieser Verlassenheit trat er einem Manne näher, wir wollen ihm den Namen Perna geben, welcher etwa in seinem Alter sein mochte und unabhängig und gleich Anselm ohne Familienanhang mit einem, wie es schien, größeren Vermögen lebte, ohne eine Tätigkeit auszuüben.

Ein Freund besuchte Anselm und lernte Perna kennen; er blieb zwei Tage in Berlin und war viel mit ihnen zusammen; als er wieder abreiste, begleiteten ihn die beiden zum Bahnhof; und wie der Zug sich in Bewegung setzte, und er aus dem Fenster den Zurückbleibenden zuwinkte, die ihm grüßend erwiderten, da war ihm plötzlich, als müsse er im Fahren noch Anselm eine Warnung zurufen.

Die Beziehungen der Menschen zueinander sind im heutigen Leben meistens unsichtbar geworden. Das gilt vornehmlich von den Beziehungen der seelisch wertvollen Menschen, denn diese stehen fast alle außerhalb des großen Getriebes, welches eben nur mittelmäßige und gemeine Menschen gebrauchen kann. Die Beziehung zwischen Anselm und Perna ging auf nichts Dingliches; man kann etwa sagen, daß Anselm sich einsam fühlte, einen Menschen suchte, dem er sich öffnen konnte, und nun in seiner Vorstellung einen solchen Menschen schuf, den er mit dem wirklichen Menschen gleichsetzte; und daß Perna, wie so oft niedrige Menschen, einen Zug zu dem Höheren fühlte, das er in Anselm ahnte, ohne sich über seine Ahnung, ja nur über sein Ahnen, klar zu sein, daß er sich mit unbewußter Schlauheit durch Schweigen und Zustimmen dem Höheren anpaßte, und nun dumpf, halb mit Angst, halb mit Schadenfreude, ja mit Haß, erwartete, was denn endlich aus der Beziehung herauskommen werde. Nochmals gesagt: das ging alles im Unbewußten vor sich; im Unbewußten war Anselm ahnungslos und Perna erwartete einen Kampf.

Als die beiden vom Bahnhof nach Haus gingen, schob Anselm seinen Arm in den Arm Pernas; der Besuch des Freundes hatte ihn freudig erregt und beflügelt, und es war ihm, als müsse er jedem etwas Gutes antun.

»Weshalb haben Sie nicht geheiratet, Perna?« fragte er. »Sie sollten es noch tun, es ist nicht zu spät für Sie. Ich denke mir Sie mit Ihrem ruhigen, klaren Gemüt, mit Ihrem unbeirrten Verstand, mit Ihrem festen Willen und Ihrer vorzüglichen Gesundheit als einen ausgezeichneten Gatten und Vater. Es ist ein Unrecht von Ihnen, daß Sie als Unverheirateter leben; ein Unrecht gegen sich selber, denn Sie entziehen sich das höchste Glück; und ein Unrecht gegen uns, denn selten bietet ein Mann so die Gewähr wie Sie, daß er tüchtige und gute Kinder für unser Volk aufziehen wird.«

»Ich war verheiratet,« erwiderte Perna, indem sich seine Stirn in Falten legte. »Ich habe mich scheiden lassen.«

Betroffen zog Anselm seinen Arm zurück und sagte: »Entschuldigen Sie, ich wußte das nicht, ich hätte sonst nicht an die schmerzende Stelle gerührt.«

»Meine Frau hat mich ...«, Perna biß die Zähne in die Lippe. »Nun, ich habe mich wegen Ehebruchs meiner Frau scheiden lassen,« fuhr er fort.

Die beiden gingen eine Weile still nebeneinander her. Dann sagte Anselm: »Ich will nicht so gefühllos sein, Sie mit Fragen und Ratschlägen zu belästigen; daß mir Ihr Geschick nahe geht, das wissen Sie, und Sie wissen auch, daß Sie an mir stets einen Freund haben werden, der Ihre Angelegenheiten im Herzen und im Gehirn trägt. Aber ich glaube, ich muß Ihnen etwas Allgemeines sagen. Jeder Haß ist ein Unrecht; er macht uns schlechter; er wirkt aber ganz besonders schädlich auf unsere Seele, wenn er sich gegen jemand richtet, dem wir einmal in Liebe verbunden waren. Ich weiß ja nichts von Ihrem Schicksal. Aber wenn Ihre frühere Gattin einer Leidenschaft folgte: denken Sie, daß wir alle Leidenschaften unterworfen sind, daß wir oft ihnen folgen müssen und unrecht handeln müssen; und daß ein großherziges Verzeihen des Betroffenen das Unrecht aus der Welt schafft und den Verzeihenden selber auf eine höhere sittliche Stufe hebt, vielleicht auch den, dem verziehen wird, wenn er nämlich der Mensch dazu ist.«

Perna hielt den Schritt zurück, sah Anselm kalt und feindselig an, fragte trocken: »Wofür halten Sie mich?«, dann zog er seinen Hut und ging; Anselm blieb bestürzt zurück.

Am nächsten Tag bekam er einen Brief von Perna. Er hatte in einer augenblicklichen Geldverlegenheit ein kleines Darlehen von dem Bekannten erbeten; Perna schrieb ihm nur in kurzen Worten, er brauche Geld und bitte ihn, das Darlehen, sobald es ihm möglich sei, zurückzuzahlen. Anselm wurde peinlich berührt durch den Brief; er besorgte sich sofort den Betrag und schickte ihn mit einer Entschuldigung an Perna.

Es vergingen einige Tage; Anselm las während des Mittagessens verloren in einer Zeitung; seine Augen fielen auf eine Nachricht, daß Perna auf der Straße einen Tobsuchtsanfall gehabt habe und in eine Irrenanstalt eingeliefert sei.

Vielleicht war die Art, wie er sich gegen Perna benommen hatte, nicht sehr klug gewesen im gewöhnlichen Sinn des Wortes; man wird es deshalb wunderlich finden, daß Anselm hier plötzlich einen merkwürdigen seelischen Scharfblick zeigte: es war ihm klar, wie durch eine Eingebung, daß die Krankheit Pernas mit der Scheidung, mit seinem Haß und mit seinem Benehmen gegen den mahnenden Freund zusammenhing. Er bedachte sich, was er tun könnte; aber es schien ihm das beste, sich zurückzuhalten.

Nach etwa einem halben Jahr erhielt Anselm einen Brief von Perna aus einer Irrenanstalt, in welchem Perna bat, daß er ihn besuchen möge; es war nichts von den häßlichen Vorkommnissen zwischen ihnen berührt.

Anselm wurde zuerst zu dem Arzt geführt und über seine Erinnerungen befragt. Er erzählte das wenige, das er wußte; der Arzt nickte mit dem Kopf und teilte ihm mit, daß Perna die ersten Monate in seiner Zelle getobt habe, indem teils seine geschiedene Frau, teils er selber, Anselm, seinen Geist zum größten Teil beschäftigt habe. Er habe Anselms Namen immer geheult in einem eigentümlichen Ton, der ihnen allen im Ohr gewesen sei und habe auch grausige Phantasien ausgesprochen, wie er ihn und seine frühere Frau auf eine gräßliche Weise ermorden wolle. Nun war der Kranke seit einigen Wochen ruhiger geworden. Der Arzt sagte, man könne nicht wissen, ob der Besuch nicht vielleicht günstig wirke; auf jeden Fall aber bitte er, ihn nicht über einige Minuten auszudehnen, da er auch ungünstig wirken könne.

So betrat Anselm das Zimmer des Kranken. Perna erhob sich, schritt ihm entgegen und reichte ihm die Hand; er war sehr mager geworden; dann lud er ihn zum Sitzen ein und begann von selber zu erzählen, er sei krank gewesen an einem schweren Nervenleiden, er befinde sich jetzt aber in der Besserung und hoffe in einiger Zeit die Anstalt verlassen zu können. Alles, was er sagte, war verständig und nüchtern; er machte auf Anselm einen ruhigen, vielleicht etwas schweren Eindruck. Anselm erhob sich nach der Anweisung des Arztes bald, verabschiedete sich und versprach, bald wiederzukommen. Perna wünschte von ihm noch Bücher besorgt; es waren Bücher mystisch-sittlichen Inhalts.

Perna verblieb in der Anstalt noch fast ein halbes Jahr, während dessen ihn Anselm oft besuchte. Die beiden sprachen hauptsächlich über sittliche und religiöse Fragen, und Anselm merkte, daß Perna seine geistige Kraft auf diese Gedanken wendete. Nie hatte er den Eindruck einer Erkrankung. Nur, als er das letzte Mal in der Anstalt bei ihm war, sah ihn Perna plötzlich seltsam an und sprach zu ihm: »Halten Sie es für möglich, daß sich unser Astralleib bei unsern Lebzeiten von uns trennt?« Anselm wurde beunruhigt; er erwiderte, daß es besser sei, sich derartige Fragen nicht zu stellen, daß wir von solchen Dingen nichts wissen können, und daß solche Begriffe, wie der des Astralleibes, doch im Grunde keiner Wirklichkeit entsprechen, sondern nur eine Hilfe sind für unsern unzulänglichen Verstand; denn der kann nie aus dem Umkreis der Bilder hinausgehen, welche er durch das gewinnt, was wir Wirklichkeit nennen. Perna schüttelte den Kopf und sprach: »Es wäre doch sehr merkwürdig, wenn es uns gelingen könnte, daß wir durch eine sittliche Anstrengung unsere eigentliche Seele in eine höhere Welt bringen könnten, und wenn ihr niederer Teil dann zurückbliebe.«

Perna wurde entlassen und zog wieder in seine alte Wohnung. Das Verhältnis zu Anselm war enger geworden. Perna sprach zu ihm: »Was Sie mir an jenem Abend sagten, als wir uns das letzte Mal vor meiner Krankheit trafen, war richtig. Mein schlechterer Teil sträubte sich gegen Ihren Rat und beging dann die lächerliche Kleinlichkeit mit dem Geld. Ich weiß, daß Sie, um den herkömmlichen Ausdruck zu gebrauchen, mir verziehen haben. Ich wollte aber das noch einmal ausdrücklich sagen, damit alles klar ist zwischen uns; denn wenn auch das Wort nichts gutmachen kann, es kann wenigstens eine Tatsache feststellen. Ich werde meiner früheren Frau verzeihen; noch nicht jetzt, ich kann es noch nicht; in einigen Wochen werde ich es können.«

An einem Abend erzählte Perna: »Ein Diener aus der Anstalt, der mir oft behilflich war, ist eben bei mir gewesen. Er hat mir etwas Merkwürdiges berichtet. In dem Zimmer, welches ich bewohnte, werden noch immer jene Rufe und Schreie gehört, die ich in meiner Krankheit ausgestoßen habe. Ich weiß nichts von ihnen; was ich damals getan, ist nicht in mein Bewußtsein übergegangen. Ich soll besonders Ihren Namen in einer eigentümlichen Weise gerufen haben, und vor allem diese Rufe sollen es sein, die man in dem Zimmer noch hört. Es hat nicht wieder belegt werden können, trotzdem der Arzt – Sie wissen, er ist kein sehr tiefsinniger Mann – natürlich an den Spuk nicht glaubt; aber die Kranken, welche in das Zimmer gebracht werden, sollen in solche Aufregung geraten, daß man sie nicht dort lassen kann.« Anselm schwieg befangen bei dieser Erzählung, denn er spürte, daß etwas Schlimmes in der Seele Pernas vorging. Perna fuhr fort, mit einem lauernden Blick auf Anselm: »Sie können sich denken, daß mir der Bericht sehr merkwürdig gewesen ist. Ich habe an den Arzt geschrieben, daß ich bitte, auf einige Tage aufgenommen zu werden; ich will in dem Zimmer wohnen. Es ist mein Astralleib, von dem die Spukerscheinungen herrühren.«

Anselm wußte, daß es keinen Zweck hatte zu widersprechen. Er schwieg; das Gespräch wendete sich auf Gleichgültiges, stockte bald, und die beiden trennten sich.

Nach einigen Tagen bekam Anselm die Nachricht von dem Arzt, daß Perna, wahrscheinlich in Vorausahnung eines neuen Anfalls, freiwillig in die Anstalt zurückgekehrt sei, indem er sein altes Zimmer verlangt habe; noch in der ersten Nacht sei der Anfall eingetreten, und zwar unter solchen Umständen, daß eine Heilung voraussichtlich ausgeschlossen sei.


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