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Der Striegel

Der Regen, welcher in den wälderbedeckten Bergen fällt, der tauende Schnee, werden von dem moosigen Boden aufgesogen; die Flüssigkeit sickert zwischen Steinen und Wurzeln in die Erde, sammelt sich hier in unterirdischen Kammern, und kommt in klaren, stillen Quellen wieder zutage. Das Wasser der Quellen rinnt zwischen Felsen und unter Büschen talwärts; in der Talsohle sammelt es sich zu einem kleinen Bach, der sprudelnd und spritzend weiter abwärts gleitet, bis er sich mit einem größeren Wasserlauf vereinigt. Auch diese Wasserläufe gleiten weiter zu Tal, vereinigen sich ebenso mit anderen Läufen, und wo das Gebirge aus der Ebene aufsteigt, da geht endlich Fluß und Strom in die Ebene über.

Die Kraft des talwärts gleitenden Wassers kann von den Menschen ausgenutzt werden zum Treiben von Rädern, welche ihre Bewegung dann einem Betriebe übertragen. Die einfachste dieser Einrichtungen ist die Mühle, bei welcher der Bach ein Rad in Bewegung setzt, um die Mühlräder zum Mahlen von Getreide zu treiben. Wie verwickelt auch andere mit Wasser betriebene Werke sein mögen, man kann sich ihr Wesen immer klarmachen, wenn man an das Mühlrad denkt, auf dessen Brettchen das Wasser fällt, an die Welle, welche durch den Mittelpunkt des Rades geht, und an die Kraftübertragung durch Treibriemen und kegelförmige Zahnräder; und wenn man daran denkt, daß der Müller das Wasser fassen muß, daß er es nicht ungeregelt, wie es nach Regengüssen oder in trockenen Zeiten zufällig im Bach kommt, auf sein Rad leiten darf; sondern daß er ein Wehr hat, durch welches er den Zufluß auf sein Rad nach seinem Bedürfnis ordnet.

In den meisten Gebirgen wird Bergbau getrieben, und seit den Urzeiten hat man die Kraft der Wasser im Gebirge benutzt für die bergbaulichen Arbeiten. Hierzu sind nun große Anlagen geschaffen. Wenn man für die Gruben, in welchen das Wasser die Erze aus der Tiefe hebt und die Bergleute auf der Kunst herauf und hinab befördert, und für die Pochwerke, in welchen das Erz durch Wasserkraft zerkleinert wird und aus dem klar gepochten Schlamm durch das Wasser der edle Schlick aus dem unedlen Berg herausgeschlemmt wird, wenn man für diese Anstalten und ihre Nebenbetriebe das Wasser herleitet, so muß man freilich verwickeltere Anlagen machen, wie der einzelne Müller für seine Mühlsteine braucht. Das Wesentliche dieser Anlagen besteht darin, daß man den Ausgang der Täler, in welchen das Wasser niederrinnt, durch einen Damm aus rasenbekleidetem Mauerwerk absperrt, in dessen Mitte über dem Abzugsgraben sich der Striegel befindet. Das Wasser rinnt, und steigt am Damm hoch, verbreitet sich nach hinten, und füllt die Tiefe des Tales aus bis zur Höhe des Dammes, über den es dann hinabstürzen würde, wenn man es so hoch steigen ließe; dadurch würde es den Damm aber in ganz kurzem zerstören, denn das herabstürzende Wasser würde die Steine, aus denen er gebaut ist, fortreißen. Man läßt es auch nicht so hoch steigen, sondern regelt den Stand durch den Striegel. In der Mitte des Damms und unten auf der Sohle des Tales befindet sich der Abzugsgraben; dieser ist durch ein Scheid geschlossen, so daß das Wasser nicht hinaus kann, wenn man nicht will; wenn man will, so geht man oben auf dem Damm zum Striegel. Die Ketten, in welchen das Scheid hängt, sind hier an einer Welle befestigt. Sobald man mit einem Hebebaum in die Löcher dieser Welle greift und durch Niederdrücken die Welle sich um sich selber bewegen und dadurch die Ketten sich auf ihr aufrollen läßt, sobald man also den Striegel zieht, wie der Ausdruck lautet, hebt sich unten das Scheid und das Wasser kann ausströmen.

Das durch den Damm abgesperrte Stück Tal, welches dergestalt mit Wasser angefüllt ist, nennt man Teich. Mit dem Wasser dieses Teiches nun betreibt man die Bergwerke. Zum Frühling, wenn der Schnee getaut ist und alle Quellen sprudeln, füllt sich der Teich. Der Striegel wird immer gerade so hoch gezogen, daß dauernd so viel Wasser abläuft, als man für den beständigen Betrieb braucht; durch die nachfließenden Quellen wird das abfließende Wasser ersetzt. In sehr trockenen Jahren freilich sinkt der Spiegel im Lauf des Sommers sehr; wenn im Frühjahr plötzliches und scharfes Tauwetter eintritt, dann steigt der Spiegel sehr schnell, und man muß den Striegel während des Steigens ganz hoch ziehen, damit das Wasser nicht über den Damm spült.

In meiner Heimat gibt es einen Teich der beschriebenen Art, welcher drei Viertelstunden im Umfang hat. Man kann sich denken, daß der Damm sehr lang und hoch sein muß; man geht fünf Minuten von einem Ende zum andern. In der Mitte steht das Striegelhaus. Das Scheid, welches den Abzugsgraben sperrt, ist naturgemäß sehr stark und breit und wiegt viele Zentner; es hängt in langen eisernen Ketten; und so müssen gewöhnlich vier Mann den Striegel ziehen. Die Aufsicht über den Teich und das zu ihm gehörige Netz von kleineren Teichen und von Gräben hat ein Grabensteiger. Zur Zeit, als die folgende Geschichte vorfiel, zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, war das ein Mann namens Pfennig, ein Riese von Wuchs und Kraft.

In einer Frühlingsnacht trat unerwartet starkes Tauwetter ein; der Schnee zerging, wie Zucker im Wasser; dann kam ein strömender Regen, wie sonst nur im Sommer ein heftiger Gewitterregen kommt, der kurze Zeit anhält. Am Tage vorher hatte es noch dicht geschneit, in großen Flocken, die sich weit hinlegen, und es war kein Windhauch gegangen. Auf den Fichten im Walde lag Schnee, vielleicht zwei Fuß hoch. In den strömte nun der Regen und machte ihn schwer. Die Bäume bogen sich und splitterten, mannsdicke Stämme wurden mit den Wurzeln aus dem Boden gerissen, sie fielen übereinander und türmten sich haushoch. Ein Lärmen war wie von Kanonenschüssen und Gewehrfeuer durch das Stürzen, Brechen und Splittern.

Die kleine Ortschaft lag etwa eine halbe Stunde weit unterhalb des Dammes im Tal. Rings um die niedrigen Häuser dehnten sich die Wiesen, sie zogen sich zu beiden Seiten noch bis zur halben Höhe die Berge hinauf, dann stand da der Hochwald. Wie das Donnern des Schneebruches kam, da schraken die Leute aus dem Schlaf auf, fuhren schnell in die Kleider, öffneten die Fenster und sahen hinaus. Sie riefen sich über die Straße zu, aber keiner konnte den andern verstehen vor dem fürchterlichen Getöse.

Plötzlich wurde in dem höllenmäßigen Heulen, Sausen, Klatschen, Brüllen, Splittern und Krachen ein neuer Ton gehört, ein langsam beginnendes und aufsteigendes Grollen, das mit einer Art von Klatschen endete, immer wieder langsam begann, anstieg und in Klatschen abschloß. Niemand wußte, was der Ton bedeutete. Plötzlich gellte eine Stimme über den Marktplatz: »Die Kühe los! Der Teich!« Ein einziger Schrei erscholl. Alle Leute stürzten in die Ställe; die Kühe waren unruhig, brüllten, stießen um sich, drückten die Leute an die Wand, die Leute fluchten, liefen mit dem laufenden Vieh; alles eilte dem linken Berg zu, welcher der nächste war, und kletterte keuchend, das Vieh zerrend, schreiend, jammernd, den Berg hoch.

Der Striegel des Teiches war nicht gezogen, denn es hatte niemand das heftige Tauwetter erwarten können; nun war aus tausend und abertausend Quellen, Rinnseln, Gossen, Läufen, Bächen das Wasser in den Teich gestürzt; der Spiegel war in kurzer Zeit gestiegen; als der Regen nachließ, machte sich ein Sturm auf, der das Wasser vor sich hintrieb, gerade gegen den Damm; das war der Laut gewesen, den man im Dorf hörte. Wenn der Damm brach, dann stürzte das Wasser über die Ortschaft; es riß die Häuser fort, verschlemmte die Wiesen und besäte sie mit Steinen; es wälzte sich weiter und vernichtete stundenweit das ganze Tal mit Menschen, Vieh, Häusern und Wiesen. Und der Damm mußte brechen, denn niemand konnte wagen, zum Striegel zu gehen.

Die Leute standen auf einer Abflachung des Berges, so hoch, daß sie über dem stürzenden Wasser waren, wenn es kommen sollte. Die Kühe, Ziegen, Schweine waren unter sie gemengt, sie liefen, brüllten, meckerten, grunzten und quiekten, rissen die Leute um und schleiften sie hinter sich her. Einige Menschen fluchten und schrieen; einige suchten das fliehende Vieh wieder einzufangen; Kinder weinten, Frauen trösteten sie jammernd; eine Familie, Vater, Mutter und drei Kinder, knieten im nassen Schnee und sangen mit gefalteten Händen ein Kirchenlied, ein Greis saß in seinem Lehnstuhl, der ihm gerettet war, klagte über seine nassen Füße und fragte neugierig, weshalb man hier draußen sei.

Der Regen hatte ganz aufgehört, aber nun fegte der Sturm noch fürchterlicher das Tal hinunter, daß Frauen und Kinder umstürzten, Männer sich aneinander festhielten, das Vieh von neuem unruhig wurde. Das unheimliche Geräusch des langsam ansteigenden Grollens mit dem abschließenden Klatschen wurde immer heftiger.

Plötzlich stand die riesenhafte Gestalt des Grabensteigers Pfennig unter den Leuten. Er trug einen schweren Hebebaum auf der Schulter, an dem sonst zwei Mann ihre Last hatten. Seine Frau warf sich ihm kreischend entgegen, er schob sie fort; sie schrie: »Er will den Striegel ziehen.« Eine tiefe Stille kam plötzlich, und aus der Dunkelheit, die ihn schon verschlungen, hörte man noch seine ruhige Antwort: »Wem die Kuh gehört, der packt sie beim Schwanz.«

Da war es, als ob ein Befehl kam; alle Menschen knieten plötzlich nieder in den nassen Schnee und fielen singend in das Kirchenlied ein; sie sangen: »Ach bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesus wert.«

Der Grabensteiger ging mühsam mit seinem schweren Hebebaum im Sturm, der ihn immer umwerfen wollte, auf dem schmalen Fußsteig, der in drittel Höhe des Berges zu dem Damm führte. Die halbe Stunde Weges wurde ihm sehr lang; er war in Schweiß gebadet, als er ankam.

Aber schon bevor er den Damm erreicht hatte, konnte er sich nicht mehr aufrecht halten vor dem Sturm; er ließ sich nieder und kroch auf allen Vieren, den Hebebaum hinter sich herziehend.

Der Sturm trieb auf der weiten Fläche des Teiches eine große Welle in die Höhe und jagte sie vom äußersten Ende bis zum Damm; und wenn sie klatschend anschlug, dann bog sich der Damm. Schon stand das Wasser so hoch, daß der Schaum der anklatschenden Welle über den Grabensteiger fortflog, als er oben auf dem Damm weiterkroch. Er beeilte sich, wie er konnte, denn bei jeder neuen Woge bog sich der Damm, bei jeder konnte er brechen. Aber wenn er sonst zwei Minuten bis zum Striegelhaus gebraucht hatte, so brauchte er jetzt gewiß zehn Minuten, denn er mußte nun wie eine Schlange auf dem Bauche gleiten; selbst den Kriechenden hätte der Sturm gepackt und in den Grund geschleudert.

Endlich hielt er sich an einem Balken des Striegelhauses fest. Er schloß die Tür auf, von der Seite, damit die aufschlagende ihn nicht quetschte, und drückte sich in das Häuschen, seinen Hebebaum nach sich schleppend.

Nun stand er darin und setzte das eisenbeschlagene Ende des großen Baumes in ein Loch der Welle: der Baum stand schräg nach oben; er sprang hoch, packte ihn, und es gelang ihm, ihn niederzuziehen. Träge bewegte sich die Welle, rollten sich die Ketten auf, und schon klang an sein Ohr das Rauschen des unten ablaufenden Wassers. Der Hebebaum war unten, der Haken an der Welle, der sie festhielt, schnappte ein, er steckte den Hebebaum in das nächsthohe Loch und zog wieder.

Schwer war das Ziehen, und nicht nur Arbeitsschweiß floß an dem Mann nieder, sondern auch der kalte Angstschweiß, denn er wußte nicht, ob seine Kräfte reichen würden, das Scheid hoch genug zu bringen; aber das Rauschen verstärkte sich, er brachte den Hebebaum wieder hinunter und den Haken zum Einschnappen.

So geschah es noch mehrere Male, bis das Scheid unten über die Hälfte hochgezogen war; nun drückten die Wasser nicht mehr so stark dagegen und das Ziehen ging leichter; dergestalt wand er es ganz hoch. Aber als der Haken an der Welle zum letztenmal einschnappte, da stürzte der große Mann auch ohnmächtig um neben seinem Hebebaum, der noch in der Welle steckte.

Die Grabenknechte waren mit in der harrenden Menge; sie hatten sich zusammengestellt und sahen sich verlegen an. Die Frau des Steigers ging auf sie zu, spuckte vor ihnen aus und rief: »Pfui, ein Knecht, der seinen Steiger den Striegel ziehen läßt.« Der eine sagte zu den andern drei: »Die Frau hat recht, ich gehe nach«; nun folgten ihm die andern, murrend und unwillig.

Als sie in das Striegelhaus traten, erhob sich der Steiger gerade von seiner Ohnmacht. Sie zogen den Hebebaum aus der Welle. »Sch ... kerle,« sagte der Steiger zu ihnen, wendete sich und kroch aus der Tür, zurück zu den harrenden Leuten.


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