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Die Fabrik

Vor den Toren einer deutschen Mittelstadt lag eine Fabrik, welche Nippesfiguren aus Metall herstellte: Schiller, Goethe, Kaiser Wilhelm, Bismarck, Hindenburg, Zwerge, Hunde, Pilze, Vögel und sonst noch allerhand Gestalten. Die Fabrik hatte sich aus kleinen Anfängen entwickelt. In den sechziger Jahren hatte an dem Ort ein Zinngießer namens Maier gelebt. Damals verdrängte das Porzellangeschirr endgültig das Zinn von den Tischen und aus den Schränken; Maier war ein anstelliger Mann, der allerlei Geschicklichkeiten besaß, und er hatte auch den Scharfblick, um zu sehen, daß die Zinngießerei keine Zukunft mehr hatte. Das Zink, welches die Form verhältnismäßig gut ausfüllt, wurde billig in großen Mengen hergestellt; Maier machte die ersten Versuche, indem er ein Bild von Napoleon dem Dritten formte, welcher damals allgemein beliebt war, und in Zink abgoß. Der Abguß erhielt einen Anstrich, so daß er aussah wie aus Bronze. Der Gegenstand – man nennt das »Artikel« – gefiel den Frauen, welche die Käuferinnen solcher Waren sind, die Herstellung war sehr einfach, so daß den Händlern ein für die damaligen Zeiten hoher Gewinn zugebilligt werden konnte, und so kamen denn schnell Bestellungen über Bestellungen auf den Napoleon, daß Maier schon nach einigen Wochen sich einen Arbeiter annehmen mußte, nach Jahresfrist fünf Leute in Lohn halte, und außer dem Napoleon noch König Wilhelm goß und einen Storch, der ein Wickelkind brachte, nach zwei Jahren ein kleines Fabrikgebäude baute, und als er Ende der achtziger Jahre als Kommerzienrat starb, ein Verzeichnis mit Bildern hatte herausgeben können, welches über dreitausend Nummern enthielt, und einen Besitz hinterließ, der auf über eine Million geschätzt wurde. Der Sohn führte das Geschäft weiter und dehnte es aus, indem er vor allem einen Absatzmarkt in Ostasien fand; man konnte auch hier wieder die Überlegenheit der deutschen Industrie bewundern, welche sie durch die deutsche Wissenschaft hat. Für Ostasien wurden Götzenbilder gegossen; diese waren aber, natürlich soweit es das billige Material zuließ, treu nach alten Bronzen im Museum für Völkerkunde in der Hauptstadt geformt und schlugen dadurch den englischen Wettbewerb völlig aus dem Felde, denn dieser arbeitete nach Mustern, welche in England selber hergestellt waren. Der Enkel hatte studiert, große Reisen gemacht, er war ein halbes Jahr lang in Indien und China gewesen, und als er nun nach dem Tode seines Vaters, des zweiten Besitzers, die Fabrik übernahm, zu Anfang des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, da erwartete jeder, und mit Recht, ein noch weiteres Aufblühen des Unternehmens, dessen lange und hohe Häuser mit vielen rauchenden Schornsteinen nun stattlich dalagen, inmitten der schnurgeraden Straßen, welche inzwischen entstanden waren; deren vier- und fünfstöckige Häuser wimmelten von Menschen, welche zu einem großen Teil in der Fabrik ihr Brot fanden.

Der Gymnasialdirektor der Stadt war ein Witwer und lebte allein mit seiner einzigen Tochter, einem jungen und sehr schönen Mädchen. Anna, so hieß diese Tochter, leitete in Stille und mit Umsicht den kleinen Haushalt und half dem Vater bei seinen wissenschaftlichen Arbeiten; denn der alte Herr war Astronom; er besaß ein Teleskop, dessen Mangelhaftigkeit er oft beklagte und beobachtete mit ihm in klaren Nächten den Himmel; sein Name galt in der gelehrten Welt, wenn er auch nur sehr wenig veröffentlichte. Anna war eine gute Rechnerin und mußte ihm oft lange Berechnungen ausführen; aber auch bei den Beobachtungen gebrauchte er ihre jungen und scharfen Augen, und so geschah es oft, daß sie nachts bei ihm in dem Dachstübchen saß, in dessen Fenster das Teleskop aufgestellt war.

Menschen, welche viel die Gestirne betrachten, erhalten ein eigenes Wesen; sie werden, was die bürgerlichen Leute »Idealisten« nennen, denn sehr schnell bekommen sie die Bedingtheit alles dessen ins Gemüt, was den gewöhnlichen Menschen als unbedingt erscheint. Der Erdball selber ist ihnen ja nicht mehr, wie ein anderer Stern, den sie unendlich klein durch ihr Rohr erblicken, von dem sie nichts wissen, wie seine Bewegung im Weltenraum, und die bürgerlichen Geschäfte erscheinen im Gegensatz zu den ungeheuren Räumen und Zeiten, mit welchen sie rechnen, so klein, daß sie den Wertmaß der durchschnittlichen Menschen völlig verlieren. Man versteht, daß Anna sich nicht in den Gesellschaften der jungen Mädchen zeigte, und bei den Tanzvergnügungen und Ausflügen, welche eingerichtet wurden.

Es erregte großes Aufsehen in der Stadt, als der Dr. Maier, der junge Herr des großen Unternehmens, um Annas Hand anhielt. Aber man sagte sich freilich, daß ein so reicher Mann in der Wahl seiner Frau völlig frei war, denn eine Absage durfte er von keinem Mädchen befürchten und er brauchte nicht auf Vermögen zu sehen.

Anna ging mit ihrem Vater zu Rat. Sie sagte ihm, daß sie am liebsten bei ihm bleiben möchte; denn wohl habe sie sich schon gewünscht, einen Mann und Kinder zu haben, wie sich das ja jedes Mädchen wünscht, aber dann habe sie wieder an die gemeinsame Arbeit gedacht und an die tiefe Ruhe des Gemüts, welche die ihr verschaffe; denn so wenig sie zwischen Menschen komme, habe sie doch gesehen, daß alle Leute, welche sich in dem bewegen, was man Leben nennt, unruhig, zerfahren, zerrissen, gedankenlos und ziellos sind. Sie habe auch besondere Bedenken wegen des großen Reichtums des Bewerbers. Sie habe sich solchen ja nie gewünscht, er bedrücke sie, und sie fürchte, daß er sie belästigen werde; und so würde ihr viel lieber gewesen sein, wenn sich ein Bewerber gefunden hätte etwa in den Verhältnissen des Vaters.

Der Vater erwiderte, es sei ihm lieb, daß sie so ruhig überlege; er habe mit Absicht sie früh in die Kunde der Gestirne eingeführt, um sie von der gewöhnlichen menschlichen Albernheit fernzuhalten, welche eine zufällige Empfindung zum Herrn der Handlungen macht. Er müsse ihr zwei Dinge entgegenhalten. Das Weib ist geschaffen für Mann und Kind und alle andere Betätigung ist für sie nur Ersatz. Wenn sie keinen Widerwillen gegen den Mann hat, der um sie wirbt, so soll sie ihn annehmen, denn die Natur hat ihr die Selbsttätigkeit in diesen Dingen versagt, sie hat ihr nur ein Gefühl gegeben, das gegen einen Mann spricht, als Warnung vor unpassender Verbindung; jede ungewarnte Verbindung aber ist passend. Der Reichtum solle sie nicht beängstigen. Es komme ihm immer so vor, als ob die Menschen am Fuße eines Berges ihre Äcker bestellen, von dessen Gipfeln in dünnen Rinnseln das Gold herabfließt, ein Ackersmann könne ja wohl mit seiner Hacke das Gold verständig in diese oder jene Furche leiten, aber daß ein Rinnsal gerade über seinem Acker und nicht über dem des ebenso ehrlich arbeitenden Nachbarn erscheine, das sei nur Zufall. So müsse man denn den Reichtum nicht allzu schwer nehmen; und wenn man ihn verständig anwende, so könne man ja auch viele Vorteile von ihm haben.

Nachdem der alte Mann diese Sätze mit ruhiger Stimme gesagt hatte, ergriff er die Hand seiner Tochter, drückte sie und fuhr fort: »Ich danke dir besonders, daß du nicht die Lügen vorgebracht hast, welche die Menschen sich ja selber machen, daß du mich nicht verlassen könntest und dergleichen. Ich bin im Absteigen und du bist im Aufsteigen. Es handelt sich darum, was für dich richtig ist.«

»Das weiß ich, Vater,« erwiderte Anna und küßte ihn auf die Stirn, und was die beiden nicht sagten, das fühlten sie, daß sie sich liebten.

Anna nahm die Bewerbung an, die Ehe wurde ohne lange Verlobungszeit geschlossen.

Als das junge Paar von der Hochzeitsreise zurückkam, erwartete der Vater sie am Bahnhof. Er schloß Anna in seine Arme und sah ihr ins Gesicht, es war ruhig und freundlich, wie immer. Sie sagte lächelnd zu ihm: »Du bist besorgt? Ich bin ja wohl durch dich verwöhnt. Aber er ist ein tüchtiger Mann, er denkt immer an seine Arbeit, und die Arbeit des Industriellen ist ja auch für die Menschen ebenso nötig wie die des Gelehrten.«

Am andern Morgen zeigte der junge Gatte seiner Frau die Fabrik. Sie hatte noch nie etwas von den Waren gesehen, die hier hergestellt wurden, so sehr sie sich auch zwang, sie wurde auf das tiefste verstimmt, als sie diese Abscheulichkeiten erblickte. Ihr Mann bemerkte es und lachte. »Es ist der Geschmack meines Großvaters, der hier herrscht,« sagte er, »ich selber will mich ja nicht mit deinem Gefühl für Kunst messen, aber daß ich dieses Zeug auch nicht schön finde, das wirst du mir gewiß glauben.« Sie sah ihn entsetzt an, er küßte sie auf die Stirn. Dann fuhr er fort: »Kein Mensch ist frei. Nur etwas höher müßte der Geschmack dieser Waren stehen, dann kaufte sie niemand. Mein Großvater hat das Richtige getroffen, weil er selber der Stufe der Leute angehörte, welche diese Dinge kaufen.«

Sie schwieg, er fuhr fort mit geläufiger Rede, indem er ihr Maschinen erklärte, über die Arbeiter erzählte, sie fühlte sich von feindseligen Blicken der Leute getroffen, er sprach davon, daß er Land angekauft habe, um jedem seiner Arbeiter ein Stück Garten zu geben, nur zehn Hundertteile der Leute hatten Gebrauch von seinem Anerbieten gemacht; er zuckte die Achseln und fuhr fort, daß man seine Vorstellungen von den Menschen bald herabmindere.

In einem Saal waren die Leute zusammengelaufen und standen gedrängt an einer Seite. Der Herr trat schnell näher, der Knäul löste sich; Anna sah, wie ein Ohnmächtiger auf der Erde lag und von einem andern Mann gehalten wurde. Ein Mann, wohl ein Meister, kam zu ihr, begrüßte sie und sagte, ihr Gatte habe ihn geschickt, um sie hinauszubegleiten, er könne sich ihr jetzt nicht widmen.

Sie ging mit dem Mann die Treppe nieder, da das Schweigen drückend wurde, so fragte sie, was geschehen sei. Der Meister erzählte, ein Arbeiter in der Bleikammer sei erkrankt. Die Arbeit in der Bleikammer sei ungesund, wenn einer ein halbes Jahr in dem Bleidunst gewesen sei, dann bekomme er eine Vergiftung; er könne ja wohl vielleicht wieder geheilt werden, aber ganz gesund werde er nie wieder. »Manche sterben?« fragte mechanisch Anna. »Jawohl, die meisten sterben,« erwiderte der Meister. »Finden sich doch immer wieder welche,« fuhr er fort. »In der Bleikammer wird ein schöner Lohn verdient. Mich brächte ja keiner hinein, ich denke an meine Familie. Aber das sagt sich eben nicht jeder.«

Anna wollte noch fragen, wie viele Leute so im Jahre sterben; aber sie brachte die Frage nicht über die Lippen. Sie war mit dem Mann vor dem Wohnhaus angekommen, dankte ihm und reichte ihm die weißbehandschuhte Rechte.

Als der Mann ging, machte sie eine entschlossene Wendung. Sie stieg nicht die Stufen zum Haus hinauf, sondern ging an die Gartentür, und schritt mit schnellen Schritten auf dem Weg der Stadt zu. Sie kam zu dem Hause ihres Vaters und bat ihn, daß er sie wieder zu sich nehme.

Der alte Mann hörte ihre Erzählung an, dann sagte er: »Wenn du ein Kind bekommen solltest, so würdest du das natürlich behalten wollen. Ich werde gleich zum Rechtsanwalt gehen und mit ihm alles besprechen. Du weißt, wir haben ein kleines Vermögen. Wir sparen jetzt auch noch jedes Jahr, solange ich lebe. Du kannst also ruhig in deine Zukunft blicken.«


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