Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Das Gespenst auf der Burg

Ein junger Mann von etwa neunzehn Jahren, wir wollen ihn Ernst nennen, war der Sohn eines sehr reichen und angesehenen Vaters.

Der alte Herr hatte seine Laufbahn als ein armer Kaufmannsgehilfe begonnen und war zu seinem Reichtum und Ansehen durch rastlose Tätigkeit, großen Verstand, und einen auf sein besonderes Geschäft vollständig gerichteten Sinn gelangt. Die Mutter war früh gestorben. Der Sohn war unter der Obhut eines zuverlässigen und pünktlichen Hauslehrers aufgewachsen.

Vater und Sohn saßen sich eines Abends beim Essen in der Art gegenüber, wie das gewöhnlich bei ihnen geschah, indem der Vater hastig die Zeitung überflog, ein Telegramm überlas und beantwortete, das der Diener auf silbernem Teller hereinbrachte, schnell einige Bissen zu sich nahm, ohne sich klarzumachen, was er eigentlich aß, zerstreut nach der Beschäftigung des Sohnes fragte und während der Antwort seine Gedanken schon wieder bei ganz anderem hatte, bei einer Angelegenheit seines Geschäftes.

Die beiden saßen sich in der Art gegenüber, wie das gewöhnlich bei ihnen geschah; und der junge Mann würde wohl nicht gedacht haben, daß irgend etwas hier nicht so war, wie es sein müßte, wenn er nicht am Tage ein Erlebnis gehabt hätte, das ihm sein ganzes gewohntes Dasein plötzlich fragwürdig erscheinen ließ.

Das Erlebnis war nur ganz gering gewesen. Er war in einen Handschuhladen gegangen, die Verkäuferin war eine junge Person, wohl die Frau des Besitzers, sie hatte ihre Kästen vorgeholt, seine Hand betrachtet und gemessen, dabei hatte sie den Kopf geneigt, und er hatte auf ein starkes dunkles Haar niedergesehen und auf eine goldige Haut mit leichtem Flaum der Wange, ein Ohrläppchen war zuerst erschienen, als sei es dem Körper fremd, plötzlich hatte sich eine rührende Zusammengehörigkeit herausgestellt. Rührend war die Zusammengehörigkeit gewesen. Ihn war ein eigenes Gefühl überkommen, eine Art von leichtem Schwindel, eine unbestimmte, glückliche und zu Tränen geneigte Sehnsucht, und der Trieb, über den Ladentisch weg diese Frau zu umarmen und ganz fest an sich zu ziehen; indem er diesen Trieb bekämpft hatte, war er verlegen geworden, hatte schnell ein beliebiges Paar Handschuhe genommen und bezahlt, und war aus dem Laden gegangen.

Am Nachmittag war er der Frau auf der Straße begegnet. Er hatte gegrüßt und sie hatte gedankt. Er hatte wieder das Gefühl gehabt, daß er sie an sich ziehen mußte, und er spürte, daß sie sein Gefühl bemerkt hatte, denn sie errötete.

Nun dachte er immer nur an die Frau; er wollte wieder in den Laden gehen, um etwas zu kaufen; eine Verlegenheit hielt ihn ab; er konnte seine Gefühle nicht von ihr trennen.

Am Abend also saß er dem Vater gegenüber, sah in das zerarbeitete Gesicht, die Augen, welche das aufgenommene Bild nicht dem Verstand zuschickten, daß es zum Bewußtsein kam; auf die unruhigen Hände, welche die Serviette ballten und knitterten, das Brot krümelten und hastig mit Messer und Gabel wirtschafteten; und plötzlich überkam es ihn, daß er ganz allein auf der Welt war.

 

Der Vater hatte der Kasse Anweisung gegeben, daß seinem Sohn verlangte Beträge bis zu einer gewissen Höhe ausbezahlt wurden. Ernst hatte keine großen Bedürfnisse und erhob immer nur kleine Summen, die im wesentlichen für seine Kleidung, ein mäßiges Taschengeld, und etwa einmal für ein Geschenk bestimmt waren. Am Morgen nach jenem Abend ging er zu dem alten, weißhaarigen Kassierer und verlangte tausend Mark. Der gute und treue Mann glaubte sich verhört zu haben, er fragte noch einmal. Ernst wiederholte die Summe, und aus beginnender Verlegenheit, weil er die Mißbilligung des alten Mannes spürte, sprach er laut und mit befehlshaberischem Ausdruck. Der Kassierer zuckte zusammen, als er den neuen Klang der Stimme hörte, sein Rücken beugte sich, er machte plötzlich eifrige, untertänige Bewegungen, schrieb schnell die Quittung aus, dann fragte er, in welchen Geldsorten der Herr den Betrag wünsche und zahlte auf die hart gegebene Antwort ängstlich aus.

Ernst konnte den künstlichen Ausdruck seines Gesichtes noch so lange aufrecht halten, bis er das Geld eingesteckt hatte; dann ging er, und eine eigene Angst überkam ihn über die Art seines Sprechens zu dem Kassierer, wie auch über das, was er vorhatte, das denn noch gar nicht klar überlegt war: er wußte nur, daß er wieder in den Handschuhladen gehen wollte.

Er ging die Straße hinunter, in welcher der Laden lag, aber als er an dessen Fenster kam, stellte er sich nur auf und sah mit scheinbar gleichgültigem Gesichtsausdruck die Auslagen an, dann schritt er weiter.

Wo ihn sein Weg führte, da hatte die alte Stadt sich nicht vergrößert. Am Ende der Straße kam eine schmale Treppe, die auf einen engen Platz leitete, von diesem ging ein Gäßchen ab, welches ins Freie blickte. Noch zogen sich eine Weile Gärten hin, dann folgte zur Linken ein Buchengehölz mit hellem Laub, das sich den Berg hinaufzog, und zur Rechten, in der Ebene, lagen die leicht wogenden Kornfelder, die noch einen grünlichen Schimmer hatten.

Ernst verfolgte seinen Weg ohne ein Ziel, er wäre gern umgekehrt, aber die Befangenheit trieb ihn vorwärts. Ein Fußsteig zweigte sich ab, der hinauf zur Burg führte. Die alte Burg lag seit dem Dreißigjährigen Krieg in Trümmern, es wurden mancherlei Sagen von ihr erzählt, alle von schauriger Art.

 

Die Sonne stand schon recht hoch am Himmel, als Ernst in den Bezirk der stillen Trümmer eintrat. In der einen Ecke des Burghofes wuchtete der dicke viereckige Turm, der in der Höhe seine dunkle Eingangspforte gähnend zeigte; an zwei Seiten stiegen aus hochgewehtem trocknem Laub die ausgefressenen Mauertrümmer der Wohnhäuser, deren Giebel noch abgestuft in den blauen Himmel ragten. Das Laub raschelte unheimlich in der Stille beim Schreiten.

Nun war da ein großer, behauener Stein in der Mitte des Burghofes, ein Stück aus einer Fensterbekleidung; auf den Stein setzte sich Ernst, und es geschah wohl nichts, als daß Fliegen summten. Die Sonne stieg und stand in der Mittagshöhe. Vielleicht schlief er ein. Denn es war ihm plötzlich, als wenn er aufwache durch Geräusch von Menschenstimmen, die durcheinander lärmten; es kam hinter der einen zerfressenen Mauerwand her, der an den Seiten die Giebel gegen den blauen Himmel standen. Ernst erhob sich und schritt durch die raschelnden Blätter zu der unförmigen Öffnung, in der vormals das Tor zum Hausflur geschlagen hatte. Da sah er Merkwürdiges.

In dem viereckigen Raum, der früher der Rittersaal gewesen, und an dessen einer Seite über dem verfallenen Kamin noch ein Stück des Schornsteins mit jahrhundertealtem, glänzendem Ruß inwendig zu sehen war, auf dem der Sonnenschein lag, auf dem unebenen Boden zwischen geknickten Brennesseln und zerstampftem Schöllkraut stand ein langer eichener Tisch mit plumpen Schemeln davor; über die schwere Tischplatte beugten sich aufgelehnt gierig trunkene Männer, welche das Fallen von Würfeln verfolgten, die einer aus einem ledernen Becher schüttete. Die Männer waren in alter kriegerischer Tracht, in Lederwams mit breiten Hüten, in ihren braunen und roten Gesichtern, über blonden Bärten, flammten blaue Augen; einen Augenblick war es still, als die Würfel durch die Luft fielen; als sie auf den Tisch klapperten, da kam ein vieltöniges Schreien und Rufen; auf der einen Seite des Tisches standen kostbare Sachen aus Silber: Leuchter, Becher, ein Becken; einer ergriff das Becken und rasselte mit ihm, vielleicht lagen Geldstücke in dem Becken; Fluchen erscholl und Lachen.

Plötzlich wendeten sich aller Augen auf die Türöffnung, in welcher Ernst stand. Eine augenblickliche Stille kam. Der eine der Soldaten schritt schwankend und stolpernd, spornklingend in hohen Reiterstiefeln auf Ernst zu, schob ihm den Arm unter und zog ihn an den Tisch. »Er muß mit würfeln,« wurde geschrien, der Würfelbecher wurde ihm in die Hände gedrückt; er schüttelte und warf die Würfel aus. Gierig sahen alle auf die liegenden Würfel; der eine pfiff, der andere strich sich leise fluchend den Bart, ein dritter sang einige Töne eines Gassenhauers; das Becken wurde vor ihn hingeschoben.

Ernst sah verwirrt auf. »Na, es gehört dir, du hast gewonnen,« schrie ein Mann, der ihm gegenüberstand. »Noch einmal. Dreimal wirft jeder.« Ernst nahm die Würfel in den Becher zurück, schüttelte und warf wieder. Alle schwiegen.

Aber in diesem Augenblick ertönte ein lautes Schreien und Rufen von vielen Menschen; durch eine Mauerlücke drängten sich Leute, quollen; Bauern schienen es zu sein und Handwerker mit Sensen, Gabeln, Spießen, mit Gewehren, welche losgeschossen wurden. Einige der Soldaten stürzten, die andern zogen ihre breiten Pallasche und warfen sich fluchend auf die eindringende Menge; ein merkwürdiger Ton erscholl, wie ein Säbel auf einen Kopf schlug, ein stumpfer, trockner Ton; das Schreien nahm wieder überhand, zwei strauchelten von den Angreifern; die Soldaten wurden zurückgedrängt, immer mehr Angreifer quollen aus der Mauerlücke. Ernst merkte, daß er selber vornüber fiel. Er dachte: »Ich habe ja einen Schlag auf den Kopf bekommen.« Als er erwachte, schien die Sonne nicht mehr auf den Glanzruß des Schornsteins; sie war hinter dem einen hohen Giebel verschwunden.

Der Traum war in unheimlicher Weise eindrucksvoll gewesen. Er erhob sich von der feuchten Erde, da standen die Brennesseln und das Schöllkraut und andere Unkräuter, wie sie auf alten Schutthalden gedeihen; es war kühl geworden zwischen den Mauern, und ihn fröstelte. Er schritt auf die unförmige Öffnung zu, durch welche er in den Rittersaal gekommen war zwischen das fast mannshohe Unkraut.

Aber wie? Er hatte sich doch im Burghof gesetzt auf ein ausgebrochenes Mauerstück einer alten Fensterbekleidung; das hatte er doch geträumt, daß er in diesen Rittersaal getreten war? Vielmehr, der Soldat hatte ihm den Arm untergeschoben und ihn zu dem Tisch geführt? Aber war nicht das Unkraut geknickt und zerstampft gewesen von den vielen Männern? Nun stand alles unberührt.

Draußen, im Burghof, lag das Mauerstück, auf dem er sich niedergelassen hatte. Hier aber, in dem Rittersaal, hatte er gelegen, lang ausgestreckt, das Gesicht nach unten. Er spürte einen dumpfen Schmerz im Kopf und griff sich in die Haare. Er fühlte deutlich auf dem Schädel eine Anschwellung wie von einem Schlag, und es schmerzte ihn, wenn er sie berührte.

 

Es wurde eine Sage erzählt, daß im Dreißigjährigen Krieg Schweden in den Trümmern der Burg hausten, und daß sie einmal, als sie gerade eine reiche Beute verteilten von Plünderungen, durch Bauern und Bürger überrascht und totgeschlagen wurden. Ein Bürgersohn soll damals mit ermordet sein, der sich ihnen angeschlossen hatte und gerade mit ihnen um eine der gestohlenen Kostbarkeiten würfelte. Das Taufbecken und die großen Altarleuchter aus dem Dom waren bei dem Raub gewesen, die nun seit Jahrhunderten wieder ruhig an ihrer Stelle standen. Wie? Das Becken und die Leuchter hatte er ja erkannt? Das Becken hatte er ja durch die Würfel gewonnen?

»Abgeschmackt!« sagte er im schnellen Gehen vor sich hin, »abgeschmackt.« Es gab eine Sage, daß ein junger Mann aus der Stadt an einem Mittag auf der Burg eingeschlafen war und dasselbe erlebt hatte, wie er. »Abgeschmackt,« sagte er ärgerlich zum dritten Male und stampfte mit dem Fuß auf. Wer von uns würde sich nicht gegen das Grauen wehren, das aus einem solchen Erleben in uns aufsteigen will? Wer von uns würde das Erlebnis sich nicht ableugnen? Und was war denn wirklich an ihm? Nichts, als daß er glaubte, überzeugt zu sein, er habe sich im Burghof niedergesetzt. Aber wer behielt solche Kleinigkeiten im Gedächtnis, vor allem in der Schlaftrunkenheit! Schlaftrunken war er wohl gewesen, er war vermutlich in den Rittersaal gegangen, und dort mußte er sich wohl gesetzt oder gelegt haben.

Er ging nach Hause zurück, erst auf dem Weg am Berg, dann zwischen den Gärten, über den kleinen Platz, die Treppe hoch, die Straße, in welcher der Laden war.

Er kam an dem Laden vorbei; die Tür zum Laden war geöffnet, die Frau stand in der Tür und sprach mit einer Kundin. Langsam gingen ihre dunklen, ruhigen Augen; sie schien zu erschrecken aus ihrem Gleichmut, als Ernst grüßend vorbeischritt.

»Es ist eine Sünde, es ist eine Sünde,« dachte er bei sich, und war verwundert, daß er das dachte. »Wie komme ich auf ein solches Wort?« grübelte er. »Aber es ist wahr, es ist eine Sünde. Wie habe ich denn nur so gedankenlos sein können!«

Plötzlich blieb er stehen. Er hatte mit einem Male die Anschauung seines Vaters: der verlorene Blick, das Knüllen des Mundtuches und das maschinenmäßige Leben waren ihm plötzlich deutlich geworden. Es war, als ob ihn fröstelte. Und zum erstenmal ahnte er ganz entfernt, was von uns verlangt wird.


 << zurück weiter >>