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Das Menschliche

Eine kleine Abteilung von sechs Mann war bei einem Sturmangriff vereinzelt und hatte sich eingegraben. Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden keine Verbindung mehr mit ihrer Truppe gehabt, aber auch vom Feinde war nichts zu bemerken. Die Gegner waren Franzosen.

Als es wieder Nacht war, wurde ein Mann vorgeschickt, um zu erkunden. Er bewegte sich kriechend und möglichst ohne Geräusch vorwärts. Plötzlich machte eine Leuchtkugel das Gelände um ihn hell. Drei Schritte vor sich sah er einen Franzosen in derselben kriechenden Stellung wie er selber.

Die beiden sahen sich eine Sekunde lang mit weit aufgerissenen Augen an.

»Habe ich denn Angst?« dachte der Deutsche bei sich; »ich habe doch keine Angst.« Er dachte, daß er auf den Gegner anlegen müsse; er fühlte, wie der Franzose dasselbe dachte; keiner von ihnen legte an, und sie sahen sich nur mit weit aufgerissenen Augen ins Gesicht im Schein der Leuchtkugel.

Die Leuchtkugel erlosch und die beiden lagen sich lautlos im Dunkel gegenüber.

»Kamerad,« sagte endlich der Franzose, »ich bin kein Feigling, aber wenn man sich so ins Auge gesehen hat, dann kann man den andern nicht mehr töten.«

»Man muß seine Pflicht tun,« erwiderte der Deutsche.

Wieder entstand ein Schweigen. Dann begann der Franzose von neuem: »Wir wollen auseinandergehen, jeder zu seinen Leuten.«

»Das möchte ich ja wohl gern; nun haben wir noch miteinander gesprochen, und es ist doch auch nicht die Aufregung da, bei der man an nichts denkt. Aber wir dürfen nicht,« sagte der Deutsche.

Der Franzose stieß einen Fluch aus. »Ihr wundert euch immer, daß euch alle andern Leute hassen,« sagte er. »Jetzt könnte ich auf dich schießen, wenn es hell wäre.«

Der Deutsche dachte einen Augenblick nach, dann sagte er: »Gib dich mir gefangen.« Kaum war das Wort aus seinem Munde, als die Kugel des andern bei ihm vorbeisauste. »Das war eine Gemeinheit,« rief er, sprang auf und stürzte sich auf den Franzosen. Die beiden rangen miteinander, der Deutsche war in der Oberhand.

Wieder flog eine Leuchtkugel auf. Schüsse von der französischen Seite kamen, die Bewegung der Ringenden war wohl bemerkt. »Duck dich,« rief der Deutsche, und die beiden legten sich nebeneinander in Deckung. Die Schüsse hörten auf, die Leuchtkugel erlosch, die beiden hatten so dicht gepreßt gelegen, daß einer des andern Herz hatte fühlen können.

»Wieviel Kinder hast du denn?« fragte der Franzose. »Drei Jungen, ein Mädchen,« erwiderte der Deutsche. »Ich habe auch drei,« sagte der Franzose. »Es fallen schon genug Menschen,« fuhr er fort; »ich komme mit zu euch.«

Der Deutsche kroch mit seinem Gefangenen zu seinen Leuten zurück. Der Franzose wurde ausgefragt, er antwortete: »Ich hätte mich nicht gefangen zu geben brauchen, aber jetzt verlangt wenigstens nicht, daß ich etwas verraten soll. Vorlügen mag ich euch auch nichts, dazu bin ich zu müde.«

Der Mann, der ihn gefangen genommen, führte ihn zu seinem eignen Lager; der Franzose warf sich hin und schlief sogleich ein. Die andern sprachen leise miteinander, um ihn nicht zu stören; dann schliefen sie gleichfalls; nur der Wachtposten stand aufmerksam, lehnte sich einmal gegen die Rückwand des Grabens, suchte das Dunkel vor sich zu durchdringen, summte leise zwischen den Zähnen ein Lied und trat von einem Fuß auf den andern.

Die Drossel schlug, die Amsel rief, das Morgenrot kam, andere Vögel erhoben ihre Stimme; die Schläfer reckten sich, richteten sich einer nach dem anderen auf. Der Franzose betrachtete im Tageslicht alle. Nur der Mann, der ihn gefangen, sprach Französisch, er wendete sich an den und sagte, daß er Hunger habe. Die Deutschen besprachen sich, sie holten ihren eisernen Bestand aus dem Tornister, teilten mit dem Franzosen und aßen. Der Franzose hatte seine Feldstasche noch voll Branntwein: die Feldflasche ging um.

Es stellte sich heraus, daß der Gefangene und der Mann, welcher ihn gefangen, Kollegen waren: sie waren beide Oberlehrer. Bald waren sie in ein Gespräch verwickelt über die Methode, nach der man an den deutschen Gymnasien den französischen Unterricht erteilt.

Jetzt schossen die Franzosen von gegenüber; die Deutschen antworteten; der Franzose lachte und sagte, das Schießen werde nichts nützen. Er ging zu dem Loch, durch welches der Wachtposten auslugte; es war zu groß und er meinte, das könne gefährlich sein. Er nahm sein Taschentuch, knüpfte es an den vier Ecken zusammen, tat feuchten Lehm hinein und schob den Packen vor, ließ sich andere Taschentücher geben und arbeitete mit ihnen ebenso.

Die andern Soldaten setzten sich zu ihm und sprachen ihm die Worte vor, die sie kannten; er verbesserte ihre Aussprache und alle lachten. Dann zeigte er ihnen, wie ein Redner in einer Arbeiterversammlung spricht, indessen von hinten und beiden Seiten andere drängen, um auf das Pult zu kommen und auch zu reden, jedesmal wenn er sagte: » liberté«, dann gab er einem der Nebenbuhler einen Tritt, der ihn forttrieb. Die andern verstanden ihn, und zeigten ihm nun, wie eine solche Versammlung in Deutschland war; wenn der Redner das Wort »Proletariat« gebrauchte, dann haute er aus aller Kraft mit der Faust auf das Pult und sah sich über die Brille hin verwundert um.

Von der deutschen Seite her wurde ein neuer Vorstoß gemacht, und so bekamen die vereinzelten sechs Mann wieder ihre Verbindung. Als sie sich mit ihren Leuten vereinigt hatten, mußten sie sich von dem Franzosen trennen. Alle gaben ihm die Hand; als die Reihe an den Mann kam, der ihn gefangen, da sahen sich die beiden in die Augen und es war ihnen, als müßte das so sein, daß sie sich umarmten und zum Abschied küßten. Sie schämten sich nachher vor den andern ihres Gefühls. Jeder von denen tat, als ob er nichts gesehen habe.


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