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Das Abiturientenexamen

Ein Offizier hatte in nicht ganz jungen Jahren eine junge Frau geheiratet. Kurz nach der Heirat hatte er den Abschied genommen, weil es der Frau in der Garnisonstadt an geistiger Anregung fehlte, und lebte nun als verabschiedeter Major in einer mittleren Residenzstadt. Es gab hier ein sehr gutes Theater, welches alle modernen Stücke aufführte; die ersten Künstler kamen und gaben Konzerte, und häufige Beiträge über wissenschaftliche Fragen erweiterten den geistigen Horizont der Zuhörer. Alle diese Kulturfaktoren benutzte die junge Frau eifrig, indessen der Major einen Stammtisch gleichgesinnter Herren gefunden hatte, an welchem man über die Tagesereignisse, wie über allgemeinere Fragen der Gegenwart seine Meinung austauschte.

Aus der Ehe war ein einziges Kind entsprossen, eine Tochter, welche nun allmählich heranwuchs. Der Major hatte sie nach dem Namen seiner Mutter Emma nennen wollen, aber seine Frau hatte ihn gebeten, ihr den Namen Nora zu geben, und so hatte sie denn den auch bekommen.

Die Gesellschaft in der Residenz war liberal gestimmt, da die Fürstin eine edle Begeisterung für die großen Fortschritte des menschlichen Geistes hegte, welche in den letzten Jahrzehnten gemacht waren, und so wurde denn auch ein Mädchengymnasium begründet. Die Majorin war Mitglied des beaufsichtigenden Ausschusses und hatte oft die Ehre, von der Fürstin in ein Gespräch gezogen zu werden.

Die Majorin setzte es durch, daß Nora das Gymnasium besuchte. Zwar meinte der Vater, ein Mädchen sollte lieber Strümpfe stopfen und die Nase in den Kochtopf stecken, damit sie einmal ihrem späteren Mann die Wirtschaft führen könne, und seine Freunde am Stammtisch teilten seine Ansicht, denn sie fanden, da das Mädchen ganz niedlich war und einmal Geld hatte, so kriegte sie auch einen Mann; aber die Mutter erklärte, Nora sei ihr Kind, die Zeiten haben sich geändert, sie sei Ausschußmitglied, der Besuch des Gymnasiums sei schwach, und die vornehmen Familien müßten mit gutem Beispiel vorausgehen, die Fürstin interessiere sich für Nora, und Nora sei wissenschaftlich begabt und es wäre schade, wenn eine solche Begabung durch die Beschäftigung mit Kochtöpfen und Windeln unterdrückt werden sollte, wie das ja früher freilich die Regel gewesen sei.

Man kann sich denken, daß Nora zunächst ganz der Meinung ihrer Mutter beipflichtete, und so besuchte sie denn die Tertia, sie besuchte die Sekunda, sie besuchte auch die Prima, und nun war sie so weit, daß sie das Abiturientenexamen machen sollte.

Inzwischen war ein junger Offizier, ein Neffe des Majors, für einige Zeit als Adjutant des Fürsten in die Residenzstadt gekommen, er hatte in unserer Familie den Besuch gemacht und war eingeladen, und ein Verkehr hatte sich entsponnen, wie es üblich ist. Der junge Mann hieß Egon.

Egon hatte ein Gespräch mit dem Major. Er beklagte, daß er so wenig von den Wissenschaften verstehe, denn was man auf den Korps gelernt habe, das vergesse man doch schon als Fähnrich, und als Leutnant habe man keine Zeit mehr zu Studien. Der Oheim hatte die Vorstellung, daß seine Tochter einmal Professor werden wolle, und fand, daß die Weiber heutzutage verrückt seien. Der Neffe seufzte und sagte, wenn man neben einem jungen Mädchen sitze, das studiere, dann wisse man immer nicht, was man sagen solle. Vom Tanzen könne man nicht sprechen, vom Schlittschuhlaufen auch nicht, von der neuen Rangliste auch nicht recht, und von den gelehrten Sachen verstehe man selber nichts. Ein Kamerad wisse eine Unmenge Witze, die erzähle er, aber davon wollten die gelehrten jungen Mädchen auch nichts wissen, und außerdem könne er selber keinen einzigen Witz behalten.

So kann man sich vorstellen, daß Egon und Nora sich nicht besonders nahe kamen, obwohl der Major das gern gesehen hätte, denn er sagte sich, daß Egon ein anständiger Kerl war und ein guter Offizier, die Mutter freilich fand ihn trivial, ihr wäre es lieber gewesen, wenn etwa ein bedeutender Künstler oder Gelehrter sich in Nora verliebt hätte.

Einmal an einem Sonntag war Egon bei den Verwandten eingeladen gewesen. Es hatte einen Gänsebraten gegeben; man hatte fröhlich gegessen, der alte Major hatte eine gute Flasche aus dem Keller geholt, und man hatte auch getrunken; und nun saß Egon mit Nora in der guten Stube, indessen die Hausfrau im Eßzimmer aufräumte und der Major in seinem Zimmer ein kleines Schläfchen machte. Durch den guten Wein hatte Egon die Angst vor der Gelehrsamkeit Noras etwas verloren und erzählte; und wie nun die Behaglichkeit, die Ruhe und Heiterkeit des Familienlebens auf ihn wirkte, und er an seine einsamen zwei Zimmer dachte und den Burschen, der die Hacken zusammenklappte und die Hände an die Hosennaht legte, da sprach er Nora von seinem Leben, und erzählte von seiner Mutter, wie die immer für seine Wäsche sorgte; und plötzlich, als er von der Mutter sprach, da wurde ihm klar, daß die Mutter an nichts dachte wie an ihn und immer nur für ihn sparte, und, ohne daß er wußte, wie das geschah, kamen ihm die Tränen in die Augen. Er erzählte von seinem Elternhaus, von seinem Arbeitsstübchen, wie die Mutter überall im Hause zugegen war, wie die Wäsche im Winter auf der großen Diele getrocknet wurde und im Sommer im Garten, wie sie die Sparkassenbücher der Dienstmädchen selber in Verwahrung hatte und ihnen die Aussteuer besorgte, wenn sie heirateten, und vieles andere.

Nora fragte ihre Mutter nach Egons Mutter. Aber die hatte keine rechte Erinnerung; sie fragte ihren Vater, und der wurde ganz munter, das war eine patente Frau, die hatte ihr Haus in Ordnung, und ein Lachen hatte sie, wenn man das hörte, dann konnte man nicht traurig sein. Die hatte Egon zu dem Kerl gemacht, der er war, denn mit dem Vater war nicht viel los gewesen; ja, Egon konnte wohl dankbar sein, da hatte er recht.

Es war ein mütterlicher Irrtum der Frau Major gewesen, als sie geglaubt hatte, Nora sei für die Wissenschaften begabt. Die Lehrerinnen fanden, sie sei unbegabt. Sie gab sich alle Mühe, das gute Mädchen, man konnte der Mutter auch den Kummer nicht antun, und so war sie immer geschoben bei den Versetzungen, denn schließlich war es immer noch möglich gewesen, sie in die höhere Klasse mitzunehmen, wenn sie durch besonderen Fleiß die großen Lücken ausfüllte, die sie in den hauptsächlichsten Wissenschaften besaß. Nun aber stand sie vor dem Examen, und die Lehrerinnen hatten keine Hoffnung, daß sie es bestehen würde. Nora hatte auch keine.

Die Lehrerinnen hätten ja nun wohl mit der Mutter sprechen müssen und hätten den Rat geben sollen, daß Nora noch ein halbes Jahr den Unterricht besuchte, um mit mehr Aussicht des Gelingens in das Examen zu gehen. Sie versuchten ja denn auch wohl, leise Andeutungen zu machen. Aber die Mutter bemerkte nichts von den Andeutungen, und es wäre sehr schwer gewesen, wenn man ihr nun geradezu hätte alles mitteilen wollen, denn trotzdem die Zeugnisse außer im Fleiß und Betragen doch immer nur recht schwach gewesen waren, glaubte sie fest an die große Begabung ihrer Tochter. Sie faßten deshalb den Entschluß, lieber Nora selber alles vorzustellen. Die Leiterin der Schule ließ sie auf ihr Zimmer kommen, eröffnete ihr alles, und sagte, es sei nun wohl das beste, wenn sie mit ihren Eltern Rücksprache nehme.

Inzwischen aber war die Zeit des Examens ganz nahe gerückt; die schriftlichen Arbeiten sollten schon am nächsten Tag beginnen, und in einer Woche sollte die mündliche Prüfung sein. Das war ein Tag, auf den sich die Mutter schon seit Jahren gefreut hatte. Seit Monaten schon sprach sie davon, daß sie an dem Tag eine große Gesellschaft geben wolle, in welcher Nora gefeiert würde. Sie hatte schon viele Vorbereitungen getroffen, zwar waren noch nicht die Einladungen verschickt, aber die nächsten Freunde waren ersucht, sich für den Tag frei zu halten, es wurde vorläufig mit der Kochfrau verhandelt und mit den Geschäften Rücksprache genommen.

Nora versuchte, der Mutter mitzuteilen, was die Leiterin ihr gesagt hatte, aber auf die ersten umständlichen Worte hörte die Mutter nur halb hin, dann wurde Nora immer ängstlicher, und schließlich sagte sie nicht das, was sie hatte sagen wollen, sondern redete von dem Kleid, das sie am Prüfungstag anziehen sollte. Und so ging sie denn am nächsten Tage mit den andern in das Prüfungszimmer, ohne daß sie der Leiterin eine Antwort brachte. Die Lehrerinnen glaubten, sie habe der Mutter alles erzählt und die wolle nun doch das Examen erzwingen, zuckten die Achseln über die elterliche Unvernunft und begannen die Prüfung.

Also am Tage des Examens war eine große Gesellschaft bei dem Major eingeladen. Auch ein Prinz, ein Verwandter des fürstlichen Hauses, hatte sein Kommen zugesagt. Alle Zimmer wurden umgeräumt. Das Schlafzimmer und die gute Stube wurden zum Essen hergerichtet, indem man die großen Schiebetüren auseinanderschob; nach dem Essen sollten die Tische fortgenommen werden, damit man tanzen konnte, das Herrenzimmer blieb, Noras Zimmer wurde Ablegeraum für die Damen, die Dienstmädchenkammer für die Herren, und so war alles weitere eingerichtet. Die Gäste waren für sechs Uhr geladen.

Gegen fünf Uhr kam Nora zurück. Sie ging zu ihrem Vater und weinte an seiner Brust, er streichelte ihr das Köpfchen und sagte, ihm sei es ganz lieb, daß sie durchgefallen sei, denn er wolle eine Tochter, die ein Frauenzimmer sei und nicht eine spitze Person mit einer Brille auf der Nase. Sie stampfte mit dem Fuß auf und erklärte, sie versuche die Prüfung nach einem halben Jahr nicht wieder, wie ihr die Lehrerinnen vorgeschlagen hätten, denn es sei nach Gunst gegangen, und eine andere, die nicht mehr gekonnt habe wie sie, sei durchgekommen. Und daß die Klassenlehrerin der Sekunda geweint hätte, als der Schulrat erklärt habe, daß sie durchgefallen sei, das sei ihr ganz gleichgültig, denn das wisse jede, daß die nur eine falsche Katze sei. Der Vater schob immer seine lange Pfeife zur Seite, die ihn störte, und streichelte ihr das Köpfchen oder wischte mit seinem Taschentuch ihre nassen Backen ab.

Hier nun kam die Mutter in das Zimmer. Sie hatte die Tafelordnung in der Hand, die sie ihrem Gatten geben wollte, indem sie ihn gleichzeitig daran zu erinnern dachte, daß er sich umziehen müsse.

Als der Major ihr alles sagte, sank sie auf einen Stuhl und weinte, indem sie Nora und den Major mit Vorwürfen überhäufte, von der Gesellschaft sprach, von der Lächerlichkeit, von dem Prinzen, und schließlich erklärte, sie habe getan, was in ihren Kräften gestanden, sie trage keine Verantwortung, und nun möge der Major zusehen, wie er alles mit der Gesellschaft in Ordnung bringe.

Der Major war berühmt durch seine Trinksprüche und seine witzigen Reden bei Gesellschaften. Er tröstete Nora und sagte, es werde ihm schon ein Witz einfallen, der sie herausreiße, sie solle jetzt nur sich umziehen, damit sie recht hübsch aussehe, wenn die Gesellschaft zusammenkomme. »Ach, hübsch bin ich ja auch noch nicht einmal,« rief sie schluchzend aus, »Egon mag mich auch nicht leiden.«

In diesem Augenblick aber trat Egon in das Zimmer. Er hatte den Hausdiener im Gymnasium beauftragt, ihm zu telephonieren, wenn die Prüfung beendigt sei, weil er als Erster Glück wünschen wollte. So hatte er denn das Unglück nun auch gleich erfahren und war zu den Verwandten geeilt, weil er dachte, daß er in der Verwirrung von Gesellschaft und verunglückten Prüfung vielleicht helfen könne.

Der alte Major sah Egon an, der die letzten Worte gehört hatte, Egon sah ihn an; der Major löste sich von seiner Tochter los und ging rasch aus dem Zimmer, und die Klinke war noch nicht ins Schloß gefallen, als Egon schon Nora im Arm hielt und die Weinende, Lachende, sich Sträubende herzhaft abküßte.

Es war kaum noch Zeit, daß Nora sich für die Gesellschaft anzog; sie kleidete sich mit einer Geschwindigkeit an, welche ihrem späteren Mann nachher immer rätselhaft war. Man kann sich denken, daß der Major bei Tisch eine sehr witzige Rede hielt, er verglich nämlich das Abiturientenexamen mit der Verlobung und fand, daß die Verlobung auch ein Examen ist, und daß es für ein Mädchen wichtiger ist, wenn sie in diesem Examen nicht durchfällt.

Nora war sehr glücklich. Sie sagte zu ihrem Bräutigam: »Du denkst immer, daß ich noch ein Kind bin. Aber ich weiß ganz genau, was mir fehlt. Morgen bitte ich meinen Vater, er soll an deine Mutter schreiben, daß sie mich bei sich aufnimmt, damit ich bei ihr lerne, was ich später wissen muß.«

Die Mutter sprach mit dem Prinzen über das Frauengymnasium; das Brautpaar hörte, wie sie sagte: »So oder so, es nützt einem Kind doch immer.«


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